ra-2 F. BrentanoJ. FriedmannR. GeijerF. KleinP. Rée    
 
NATHANAEL DRANSFELD
Der Zusammenhang des
Wissens mit dem Gewissen

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"Uns gilt die Blutrache als der Moral und dem Gesetz zuwiderlaufend, den Korsen aber bis in die jüngste Zeit und allen Völkern der Vorzeit schien sie sittliche Pflicht. Wir haben in ihr den ersten Versuche einer Begründung des Rechtsschutzes zu sehen. Das Eigentumsrecht wurde überall peinlich beobachtet, war aber bei manchen Völkern noch heiliger geachtet als bei uns und der Diebstahl wurde von den Bewohnern der Antillen mit qualvollem Tod bestraft, während er auf Otaheiti unbekannt war; dagegen ließen ihn die Spartaner zur Übung in der Kriegslist gern zu. In Betreff des Mordes mag man sehr frühzeitig die Erfahrung gemacht haben, welch unerträglicher Zustand dabei herauskam, wenn in einer Menschenhorde kein Mitglied seines Lebens, seines erkämpften Beutestückes und Eigentums mehr sicher war und diese Erfahrung bildete sich zu einem bestimmten Wissen aus, mittels welches bei allen zivilisierten Völkern der Mord als abscheulich gilt, - wiewohl in Zeiten sittlicher Verwilderung, so im rohen Mittelalter, ein Menschenleben nicht gerade viel galt."

Es sind Gemütspostulate, gegen welche aber der Verstand niemals streiten darf. Wenn nun hiernach der Wunderglaube aus dem Wissen, wie es für sich ist, ausgeschlossen wird, so vergesse man doch nicht, daß hiermit durchaus nicht das Recht des Christen, Wunder zu glauben, ja nicht einmal die Möglichkeit eines wunderbaren Wirkens Gottes (welches vielleicht als eine Vermittlung zwischen der schöpferischen und erhaltenden Tätigkeit gedacht werden könnte, da wir doch wohl nur von der letzteren, nicht von der ersteren, etwas wahrnehmen) geleugnet werden soll; wie denn uns auch diejenigen sich zu widersprechen scheinen, welche jede Möglichkeit eines Wunders leugnen und doch beten, wenn sie in Not geragen: aber zu erforschern, welche seelischen Regungen und, welche äußeren Tatsachen den Wunderglauben als Sache des Fühlens und Begehrens rechtfertigen, das darf nicht Aufgabe dieser Untersuchung sein, in welcher wir es nur im Wissen zu tun haben und dasselbe, seiner Natur nach, als vom glaube.htmlGlauben unabhängig - gegenüber dem Wahn einer Vermengung beider - darzustellen haben. Zwar haben wir das Wunder noch von einem andern uns erst von befreundeter Seite aufgezeigten Gesichtspunkt zu betrachten, nach welchem wir berücksichtigen müssen, daß ja "wer nur immer das Böse (Übel) in der Welt als eine Störung (Sünde) und nicht als etwas notwendiges anerkenne, der auch das Wunder als empirisches und historisches Faktum mit noch ganz anderen Mitteln bestreiten müsse, als mit Berufung auf die logischen und die Naturgesetze und mit einigen naturhistorischen Daten"; allein so dankbar wir für diese Auffassung waren und für so richtig wir sie halten: den Gang dieser Untersuchung wenigstens wird sie nicht aufhalten oder wesentlich verändern können. Denn einerseits: setze man nun das Übel als notwendiges, oder als Störung und Folge derselben (Sünde) voraus (z. B. den Tod alles einzelnen) so ist es für den Menschen dasselbe: er trachtet nämlich, es los zu werden oder doch zu vermindern. Soweit die Übel nun in der ganzen Natur begründet sind, steht dies gar nicht oder doch sehr unvollkommen in seiner Macht (vergleiche Stürme, Erdbeben, Mißwuchs, viele Krankheiten) soweit sie jedoch in seiner eigenen Natur liegen, vermag er sie zu vermeiden oder abzuschwächen und zwar mag er sie ausschließlich mittels des hinzukommenden Wissens zu vermeiden oder abzuschwächen, wie Leidenschaften, sittliche Gebrechen, Vorurteile, Furcht, Irrtum, Streit, Mängel im Staat und im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. Und wie verhalten sich nun dem Übel gegenüber die Wunder, die Wunder, welche doch zufolge der Kirchenlehre geschehen sind um
    1) die allmächtige in den Weltlauf stets auf neue eingreifende Schöpferkraft Gottes zu erweisen

    2) das aus der Sünde erfolgte Übel - zunächst provisorisch bis zu Vollendung des Gottesreiches - hinwegzunehmen, welche zwar keine Durchbrechung der Naturgesetze, aber über dieselbe erhabene Fakten sein sollen (als solche im Denken vorgestellt werden.)
Die biblischen Wunder (zumal die neutestamentlichen) wollen sämtlich das Gute fördern und das Böse mindern - denn wir finden ja kein einziges, das einen bösen Zweck hätte - aber sie tun dies nur ganz zeitweise, lassen übrigens dem Übel seinen Lauf und lassen vollends die Frage nach seiner Entstehung unbeantwortet. Sie leisten also dem Menschen für sein Leben nicht einmal dasjenige, was ihm sein Wissen leistet und daraus folgt, daß wir die Wunder überall entbehren können, - nur natürlich in der Religion und im Glauben nicht - und daß der Wunderglaube dem Wissen schädlich ist. Wenn es doch z. B. in der ganzen Welt beispiellos ist, daß aus Wasser jemals Wein geworden wäre, so kann es ja dem Wissen völlig gleichgültig sein, ob das einmal (bei der Hochzeit zu Kanaa) geschehen sein  soll;  ja selbst, wenn es einmal geschehen  wäre,  ein für uns undenkbarer Fall - so würde dieser eine Fall gegenüber den vielen gegenteiligen gar nichts ausmachen. Nehmen wir hinzu, daß selbst das christliche Hauptwunder (der Auferstehung und Gottheit des Religionsstifters) dem Christentum nicht originell ist, sondern z. B. in der Religion der Iranier, Inder und Azteken, räumlich und zeitlich getrennt vor diesem sich vorfindet, so fällt jeder Grund weg, warum wir erstens dem Wunderglauben einen Einfluß auf unsere Untersuchung gestatten und zweitens denselben nicht aus dem Wissen überhaupt ausschließen sollten. Hiermit  bleibt jedoch die christliche Religion für sich unberührt, wie sie ist;  es ist nur gesagt, daß innerhalb des Wissens ihre Tatsachen durch das Denken aufgelöst werden; vermeidet man  dies aber innerhalb des Glaubens aufs strengste -  und es muß vermieden werden - so bleiben jene Tatsachen für sich bestehen und wirken auf den Menschen ein. Es muß dies der Grundsatz der Kirche sein und ist es im Grunde stets gewesen; die unglaubliche Vermengung von Glauben und Wissen aber ist daher gekommen, weil die Kirche zu den Zwecken ihrer weltlichen Herrschaft das Wissen nicht entbehren konnte. Es ist in unserer Zeit wohl schon ausgesprochen worden, daß eine Weiterentwicklung der Philosophie nur von einer  Verbindung der Ideen  mit dem  naturwissenschaftlichen Geist  zu hoffen sei und andererseits hinzugesetzt, daß eine Versöhnung des christlichen und des wissenschaftlichen Geistes noch immer nicht gelungen sei. Wir unsererseits wollen hier in der Kürze bemerken, daß wir den ersten Satz für richtig, den zweiten aber nur im folgenden Fall nicht für sinnlos befinden: Nur dann nämlich, wenn das Wissen und die Religion streng von einander geschieden werden als zwei Gebiete, die gar nichts miteinander gemein haben, wenn das eine nicht mehr durch das andere verfälscht wird und diese Erkenntnis wie ein helles Licht strahlen wird - erst dann kann man in gewissem Sinne von einer Versöhnung reden und nur so wird auch Toleranz möglich sein. Dies scheint uns auch der einzige und zugleich sichere Weg, um den einzelnen wie die Gesamtheit vor Gewissenskämpfen und Umsturzideen zu bewahren. Wenn man nämlich von vornherein weiß, daß der Glaube gar nicht ins Wissen, sondern durchaus nur in andere Seelenkräfte des Menschen gehört, so kann man, selbst wenn man zu solchen Sätzen gelangt, welche dem Glauben zu widersprechen scheinen, diesen selbst nicht verletzen. Denn umgekehrt widersprechen ja auch  alle religiösen Sätze (Dogmen) allem Wissen,  ohne daß dieses dadurch verändert würde. Nur eins ist doch nicht zu übersehen. Während es nämlich längst klar ist, daß das Wissen sehr wohl ohne die Religion existieren kann, so wird es sich erst zeigen müssen, ob die Religion fortleben kann, ohne sich das Hilfsmittel des Wissens zu bedienen und sich auf dasselbe überhaupt zu berufen und zu stützen (wie sie das seit der Reformation nicht mehr tut, welche letztere wir auch aus  diesem  Grund sehr hoch schätzen müssen.) Sollte sie dieses Letztere nicht vermögen, so würde das ihren Untergang bedeuten, selbst wenn dann noch eine lange Periode hindurch die christliche Kirche ein Bedürfnis für viele Menschen sein sollte.

Natürlich vermögen daher die sogenannten theologischen "Mittelparteien" weiter nichts, als diesen Scheidungsprozeß und damit die Sache der Wahrheit, aufzuhalten; und gegen diese, nicht etwa gegen den Glauben der streng kirchlichen Partei, welcher höchstens im oben genannten Fall sich selbst richten würde, hat daher zum Ende des 19. Jahrhunderts die Philosophie ihre Verteidigung des Wissens zu richten; übrigens besteht aus jenen fast die gesamte heutige Theologie. - Hiermit hätten wir das Verhältnis von Glauben und Wissen zum wenigsten für den hier vorliegenden Zweck erschöpft, und da nun auch das Sittliche (die Moral) bei allen Völkern abgetrennt vom Offenbarungsgehalt der Religionen in gleichen Grundzügen vorhanden ist, so dürfen folgende Sätze als teure Errungenschaften aus den Geisteskämpfen der letzten Jahrhunderte zurückbehalten werden.
    1) Der Glaube ist und war niemals ein Wissen, denn dieses stammt aus der Erfahrung oder stimmt doch, wo es über sie hinausgeht, mit derselben überein.

    2) Dagegen bedient sich der Glaube ohne Bedenken derselben Form wie das Wissen, ohne dessen Inhalt zu haben, und er wendet ohne weiteres die Eigenschaften und Zustände irdischer Dinge an, um Bestimmungen über die jenseitige Welt zu treffen. (Schlüsse über dieselbe zu ziehen.)

    3) Er tut das alles, um dem Fühlen und Wollen zu genügen, aus dem er stammt; und es ist daher kein Wunder, daß der Glaube, wenn er sich um das Wissen nicht mehr kümmert, sondern schrankenlos dem Gemütspostulat alles opfert (Orthodoxie, Askese, Schwärmerei, selbst der Rationalismus) daß er dann also in einen Zwiespalt mit dem Wissen gerät und dieses unterdrücken will - wovon wir nur allzuviel Proben haben. Aber das Wissen - als die ursprüngliche Kraft des Menschen, siegt, weil er  allenfalls wohl ohne Glauben eine Zeit lang,  aber  niemals ohne Wissen, als Mensch existieren kann  und siehe - herrliche versöhnliche Wahrheit, Licht in der Nacht des Zweifels: auch das Wissen bringt hervor und führt mit sich einen Glauben den Glauben des Wissens, der sich in praktischer Beziehung zum Gewissen vollendet "Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind", aber der wunderlose Glaube ist das reinste Kind des Wissens.
Wenn der wissende Mensch das Universum um sich her und sich selbst als aus diesem stammend wahrnimmt, so bringt diese Wahrnehmung notwendig das Gefühl und niemals kommt ein Gefühl ohne Wahrnehmung zustande - zugleich der Abhängigkeit und der Bewunderung, der Demut und des Stolzes, der Furcht und der Sicherheit, der Kraft und der Ohnmacht - hervor; es erzeugt weiter den Willen und niemals kommt ein Wille ohne Wahrnehmung zustande (ausgenommen bei krankhaften organischen Zuständen) tätig zu sein innerhalb gewisser Gesetzt und die Frucht dieser Arbeit zu haben, aber auch zu leiden, soweit das unabwendbar ist, z. B. im Schuldgefühl, wenn man über seine Grenzen hinausgeschritten ist (wogegen die Versöhnung die Wiederherstellung dieser Grenzen). All das ist Glaube, weil es, obwohl aus einem Wissen entsprungen, dennoch zur Sache des Fühlens und Wollens wird; ja wir könnten es einen geoffenbarten Glauben nennen, wenn uns nicht Fälschung sprachlicher Begriffe überhaupt, sowie im besonderen das Mißverständnis derjenigen zuwider wäre, welche glauben, daß Offenbarung nur zu gewissen Zeiten wenigen Personen zu Teil geworden sei und mit dem Wissen nicht zusammenhänge, während sie doch die Offenbarung, die nur wenigen zuteil geworden  sein soll,  hoch über das Wissen stellen, welches doch wenigstens allen zuteil werden  kann.  Es ist also ein unbegründeter Vorwurf, wenn man, wie das öfters von solchen geschieht, einen Menschen deswegen anklagt, weil er nur dasjenige glauben wolle, was er wüßte. Es gibt ferner heute kaum einen unbrauchbareren Satz, als den, freilich von Gegnern der Offenbarung, aber nicht von Freunden des Wissens erfundenen: "Wo das Wissen aufhört, da fängt der Glaube an." Sondern erstens leitet, wie wir oben sahen, das Wissen auf Glauben hin, zweitens aber: wo in Wirklichkeit das Wissen, d. h. jede Wahrnehmung, jedes Gefühl aufhört, da hört auch der Glaube auf, der ohne jene nicht mehr denkbar ist. Es war bereits gesagt und kann nicht oft genug mit Befriedigung wiederholt werden, daß dieser Glaube in keinem Punkt der sogenannten Vernunft widerspricht.  Wenn nun hiernach der Wunderglaube aus dem Wissen, wie es für sich ist, ausgeschlossen wird, so vergesse man doch nicht, daß hier mit durchaus nicht das Recht des Christen Wunder zu glauben, noch selbst die Möglichkeit eines wunderbaren Wirkens Gottes (welches vielleicht als eine Vermittlung zwischen seiner schöpferischen und der erhaltenden Tätigkeit gedacht werden könnte, da wir doch nur von der letzteren, nicht aber von der ersteren in den Naturvorgängen etwas wahrzunehmen imstande sind) geleugnet werden soll; wie denn auch diejenigen sich zu widersprechen scheinen, welche jede Möglichkeit eines Wunders leugnen und doch beten, sobald sie in Not geraten: aber zu erforschen, welche seelischen Regungen und welche äußeren Tatsachen den Wunderglauben (als Sache des Fühlens und Begehrens) rechtfertigen, das darf nicht Aufgabe dieser Untersuchung sein, in welcher wir es "nur" mit dem Wissen zu tun haben und dies seiner Natur nach als vom Glauben unabhängig, gegenüber dem Wahn einer Vermengung beider, darzustellen haben. 

Ist nur noch zu bemerken, daß so hoch wir auch den oben gedachten Begriff der "Vernunft" stellen, auf welchen das vorige Jahrhundert als auf seinen neu erstrittenen Besitz so stolz war dennoch unser Zeitalter nicht nur berechtigt, sondern wohl auch verpflichtet wäre, anstelle von "Vernunft" die Ausdrücke "Wissen und Gewissen" zu gebrauchen. Die Vernunft vom Verstand (d. i. von trennenden, verbindenden und beziehenden Denken) zu unterscheiden; hat man schon im gewöhnlichen Leben große Mühe; dagegen sind durch "Wissen und Gewissen" die gesamten geistigen Tätigkeiten, nämlich die Wahrnehmungen und Begriffe (untermischt mit Beziehungen und Wissensarten) sehr wohl bezeichnet. - Übrigens ähnelt das Wissen jedem Glauben darin und hat gleiches Geschick mit ihm, daß es viel angefochten wird. Es ist gar nicht zu verwundern, wenn die unwissende Menge, welche eine Sache am liebsten nach dem ersten Eindruck und nach der Wirkung auf ihre Lust oder Unlust beurteilt, ebenso die Offenbarungsreligion wie das Wissen und den mit ihm übereinstimmenden Glauben, verwirft, sobald sie von beiden keinen Nutzen oder Schaden mehr erwartet. Aufgabe des Staates aber ist es, wahres Wissen, welches seiner Natur nach nicht ohne Nutzen sein kann, zu verbreiten und zwar auch stets für besondere Pflanzstätten der Wissenschaft (Universitäten, Akademien, Lyzeen) zu sorgen, da ohne solche eine dauernde Erhaltung des Wissens nicht möglich wäre; und er braucht über Befolgung seiner Gesetze nicht in Sorge zu sein. Den Glauben des Wissens dagegen umfassend und für alle ergreifend darzustellen, ist eine bis jetzt nicht gelöste Aufgabe; wer es vermöchte, würde die bisherige Geschichte der Religion beschließen. Es erhellt nun übrigens, warum in diesem ganzen theoretischen Teil der Abhandlung, das das Gewissen lediglich aus dem Wissen abgeleitet wird, vom Offenbarungsglauben im besonderen nicht die Rede sein kann - es geschah dies bisher nur, um die Begriffe festzustellen - desto mehr wird im zweiten Teil die praktische Bedeutung, welche derselbe für das Gewissen teils besitzt, teils beansprucht, anzudeuten sein. (1)

Von den meisten ist das Gewissen einstimmig als "die Fähigkeit, ein sittliches Urteil über sein eigenes Wollen und seinen sittlichen Wert zu fällen", bezeichnet worden (so in CHRISTIAN von PALMERs evangelischer Pädagogik und WUTTKE, christliche Sittenlehre, was natürlich ein Wissen vom Sittlichen voraussetzt. Aus letzterem Grund wird es dann auch öfters ein Bewußtsein genannt; übrigens wird es allen drei Seelentätigkeiten zugeschrieben. Gegenüber diesen etwas unbestimmten neueren theologischen Erklärungen berührt es angenehm, in der älteren Dogmatik weit festere zu finden. Es heißt da z. B. das Gewissen in drei Beziehungen
    1) Erkenntnis der Regeln des Gesetzes (Richtschnur)
    2) Anwendung dieser Regeln auf die Handlungen (Zeuge)
    3) das sittliche Urteil selbst (Richter)
Hier wird doch wenigstens das Erkennen vorangestellt (2); aber es ist bei allen diesen Erklärungen gar nicht deutlich betont, daß dem Gewissen allemal eine Erfahrung zugrunde liegen muß, ehe es für das Wollen und Begehren in Kraft treten kann. Wenn der Mensch sich nicht mit einem Wissen bespricht, so kann ich keinem bestimmten Fall sittliches  oder  unsittliches Handeln herauskommen. Nach der dogmatischen Erklärung soll das Sittliche, welches mit dem Guten identifiziert wird, als das dem Willen Gottes enstprechende, von vornherein feststehen und dem Menschen mittels der natürlichen Fähigkeit des Gewissens wohl bekannt sein, so daß er sich für das Sittliche oder seinen Gegensatz, das Böse, entscheiden könne, wobei er übrigens immer zu letzterem neige und zu ersterem nur durch lange Übung geneigt werde. Der Schluß ist richtig, aber er ist aus einem ganz andern Grund, als aus den sehr unbestimmten Vordersätzen, abzuleiten. Wir vermissen nämlich bei denselben die doch so einleuchtende Erfahrung, daß das sittliche Gute durchweg ein Erwerb des Menschen mittels der Arbeit des Wissens ist, das Böse aber dann geschieht, wenn er entweder ohne irgendein Wissen oder doch gegen sein besseres Wissen auf dasselbe hinauskommt. Wieder kann der gewöhnliche Sprachgebrauch dies lehren. "Ich habe es nicht gewußt" wird, sofern man nur Unkenntnis voraussetzen kann, lieber als Entschuldigung angenommen, als der bloße Widerspruch gegen einen Tadel. Allerdings schützt ferner Unkenntnis des Gesetzes vor Strafe nicht, weil eben Staatsgesetze als notwendig und allgemeingültig vorausgesetzt werden müssen. Es heißt hier: er  muß  das wissen. Man sagt ferner: "was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß" und man beruft sich auf "sein bestes Wissen und Gewissen". Nun aber konkrete Fälle. Wenn ein zweijähriges Kind beim Spiel in einen Brunnen fällt und ertrinkt, so wird kein Mensch von seinem gewissenlosen Leichtsinn reden. Man wirft ein, hier sei ja noch kein Selbstbewußtsein und daher die Frage nach dem Gewissen unnütz; aber das ist es eben, was man in anderen Fällen vergißt und worauf wir hinaus wollen. Wenn nämlich die Mutter dasselbe schon sehr oft vor dem Brunnen gewarnt, es wohl gar deswegen bestraft hat und nun vielleicht das Kind trotz allen Rufens doch auf den Brunnenrand geklettert war, so steht die Sache schon anders; das Kind hat schon gegen ein, wenngleich noch unsicheres und unbestimmtes Wissen gehandelt, hat eine gewisse Schuld. Denn wer wollte wohl wagen, von Schuld zu reden, wo gar kein Wissen ist. Ein Erwachsener, welcher sehr erhitzt oder des Schwimmens unkundig, in ein Wasser geht und zu Schaden kommt, heißt mit Recht gewissenlos; kannte er aber wirklich die Tragweite seiner Handlung nicht, so ist er nur unwissend. In der Praxis ist es dasselbe; aber unsittlich nur im ersten Fall, weil gegen das Wissen gehandelt ist, durch welches man den Trieb hätte unterdrücken können. Sei es, daß jemand wissentlich oder unwissentlich Gift nimmt, so wird es ihm in jedem Fall schlecht bekommen; doch nennen wir es schlecht gehandelt nur im ersten Fall. Diese Handlung kann in zwei Fällen gut oder schlecht sein, gerade so wie ein Abführmittel bei starken Verdauungsstörungen tödlich oder heilkräftig wirken kann, je nachdem Erkältung oder Überladung des Organs zugrunde liegt. Übrigens, wenn zwei dasselbe tun, so ist es oft nicht dasselbe. NAPOLEON und CÄSAR waren beide Tyrannen, aber dieser zum Wohl, jener zum Weh; jener wirkte abstoßend, dieser anziehend auf die Menschen. Dieselben Worte wirken im Munde des einen Menschen "wie ein Scherz, des andern wie eine Beleidigung. Während kaltes Wasser sonst alles abkühlt, erhitzt es doch den gebrannten Kalk und eine Handlung kann in einem einzigen Fall gut, in allen anderen bekannten schlecht sein und umgekehrt. Gerade wie ein Bienenstich im Falle von Muskelrheumatismus heilkräftig wirken soll, so half VOLTAIRE durch beißenden Spott, den man fälschlich frivol genannt hat, viel Aberglauben aufräumen; aber LAS CASAS, der durch Überführung der Neger nach Amerika ein Wohltäter der Menschheit werden wollte, verursachte den Jammer der Sklaverei.

In der Tat müßten diejenigen, welche die Begriffe "gut und böse" als von außen gegeben und a priori feststehend betrachten, in nicht geringe Verlegenheit geraten, wenn sie aufgrund ihrer Behauptung einmal genötigt würden, in jedem einzelnen Fall anzugeben, was denn nun hier eigentlich sittlich und was unsittlich sei. Dergleichen auf die Unerforschlichkeit der Ratschlüsse Gottes etc. zu schieben, befriedigt unser Bedürfnis nicht und heißt soviel, als sich ins Asyl der Unwissenheit flüchten; denn die Verlegenheit und Seelenpein, welche entsteht, wenn man trotz seines Handelns nach bestem Gewissen Anstoß erregt, hat wohl mancher schon erfahren. - Die Auskunft, das der menschlichen Unvollkommenheit zuzurechnen, ist sehr veraltet; denn jeder bemüht sich, das Übel loszuwerden und es geht doch nicht - und auch mit der Weisheit, es käme eben alles auf die Umstände an, ist es gar nicht getan: denn erstens kann man nicht alle Umstände wissen, zweitens aber noch viel weniger alle bei seinem Handeln in Betracht ziehen. Man hat gesagt, gut sei das, was unserer innersten Natur zusage, böse aber, was ihr feindlich und verderblich sei und besonders der Materialismus hat sehr richtig betont, dann aber einseitig behauptet, an die Stelle von "gut und böse" sei vielmehr zu setzen  "mir gut"  und  "mir böse";  also es seien dies egoistische Begriffe, aus welchen sich in der Folge durch *Abstraktion die sittlichen entwickelt hätten, wie denn tatsächlich ein Buschmann dem ihn dringlich ausforschenden Missionar als Beispiel einer  guten  Handlung nichts Besseres zu nennen wußte, als wenn es ihm gelänge, einem anderen die Frau zu rauben, als Beispiel einer  schlechten  aber, wenn ein anderer ihm seine eigene Frau raubte. (3) Es ist begreiflich, daß Richtungen, die einander bekämpfen, auch sehr extrem werden und der Materialismus kann doch trotz seines hohen Verdienstes nur halb Recht haben. Denn was den Egoismus betrifft, so wird er von einer gewissen Grenze an widersinnig, da der Mensch in der Welt nicht allein lebt; und dann geht es wirklich nicht immer an, zu tun, was einem selbst zusagt, sondern, was andern zusagt; oft freilich auch umgekehrt. Auch SPINOZA kennt die Begriffe von "gut" und "böse" als Gegensätze in seinem übrigen System nicht, aber für das sittliche Gebiet (in der Ethik) sieht er sich genötigt, sie zuzulassen (Ethik, Teil IV, Vorrede: "unter gut verstehe ich das, von dem wir gewiß wissen, daß es uns nützlich ist, unter schlecht, das, von dem wir gewiß wissen, daß es uns hindert, etwas Gutes zu erreichen): es mag dies bei diesem berühmten Denken kein Widerspruch in seinem Geist oder System sein, aber es ist eine Unbestimmtheit, welche zu Mißverständnisse führen kann. Nach ihm gibt es im Naturzustand kein Unrecht und es wäre da schlecht: höchstens, was keiner will und keiner Mag; aber auch im Bürgerzustand gibt es kein einziges Ding, was von allen für gut oder von allen kein einziges Ding, was von allen für gut oder von allen für schlecht gehalten würde (Ethik, Teil IV, Lehrsatz 37, E 2). KANT bemerkt mit Recht, daß das Gewissen allgemeingültig nur dann sei, wenn es interesselos, "mit Vermeidung aller Privatgefühle" seine Urteile fällte. Wenn z. B. jener BRUTUS in Rom seine Söhne als Vater begnadigte, als Konsul aber hinrichten ließ, so handelte er gewiß nicht nach Privatgefühlen. Die Geistesstärke, welche ihm aus der Überzeugung entsprang, daß die Existenz der Republik von seinem Handeln abhänge, ist nur so denkbar, daß ein festes Wissen den Ausschlag gab und infolgedessen der Affekt seiner Liebe zu den Söhnen durch den noch stärkeren der Liebe zum Vaterland abgeschwächt wurde. Das Wissen bestimmt und leitet die Handlung; die Affekte sollen nur seine Begleiter sein (beim sittlichen Handeln). Denn das ist es eben: das Wissen ist stabil und verändert sich langsam - auch nur dann, wenn ihm durch ein unklares (zumeist verbindendes) Denken Elemente zugeflossen sind, die keinen seienden Untergrund haben - dagegen sind das Gefühl und Begehren sehr veränderlich und der Affekte wegen unzuverlässig für das sittliche Handeln. Soll letzteres zustande kommen, so müssen die Affekte fortwährend durch ein Wissen reguliert werden. Das ist die Grundlage aller Moral von jeher gewesen (eine freilich auch immer wieder durch die Affekte unterdrückte), und welche Seelenkämpfe, welches Leid könnten uns erspart werden, wenn sich die Menschen gewöhnten,  ihr Wissen als den Leiter und die erhebenden Affekte als Begleiter ihres Handelns zu nehmen. 

Aus diesem Gesichtspunkt erklärt es sich übrigens, weshalb in der Moral aller Völker trotz der unleugbar überinstimmenden Grundzüge wieder derartige Verschiedenheiten vorhanden sind, daß dieselben Dinge dem einen als sittlich, dem ander geradezu als unsittlich, bzw. teils begehrenswert, teils abscheulich erscheinen. Will man hier nicht auf's neue zu abgestandenen, sich selbst auflösenden Theorien "von einer Verschiedenheit der sinnlichen und geistigen Erkenntnis oder zu einer solchen natürlichen Offenbarung Gottes, welche nur einem Volk besonders zuteil geworden, von andern aber nur geahnt sei (Trübung des Gewissens) als zum Asyl der Unwissenheit seine Zuflucht nehmen, so kann Licht hier nur die Überzeugung geben, zu welcher wir nun ein Recht haben, daß der Standpunkt und der Grad des Wissens hier ein ziemlich verschiedener gewesen, (4) (hier gilt das Wort: sie haben es nicht besser gewußt), daß die Menschen auch öfters ohne Wissen und gegen dieses bloß rohen ungestümen Naturtrieben folgend, (aus Bequemlichkeits-, Nützlichkeits- und Standesrücksichten) gehandelt haben.

Die sogenannte "Trübung des Gewissens" kommt dann faktisch nur auf ein trübes Wissen hinaus, wobei denn natürlich das Ergebnis des letzteren, als welches wir das Gewissen feststellten, ebenso beschaffen sein muß. Von vornherein schließen wir die Ansicht aus, als ob, wenn anderwärts eine Sitte als verabscheuungswürdig gilt, sie es auch den Bewohnern des Landes, in welchem sie gültig ist, gewesen sei; vielmehr hielten diese sie natürlich allemal für das Richtige. Hierfür einige eklatante Beispiele: Uns gilt die Blutrache als der Moral und dem Gesetz zuwiderlaufend, den Korsen aber bis in die jüngste Zeit und allen Völkern der Vorzeit schien sie sittliche Pflicht. Wir haben in ihr den ersten Versuche einer Begründung des Rechtsschutzes zu sehen. Das Eigentumsrecht wurde überall peinlich beobachtet, war aber bei manchen Völkern noch heiliger geachtet als bei uns und der Diebstahl wurde von den Bewohnern der Antillen mit qualvollem Tod bestraft, während er auf Otaheiti unbekannt war; dagegen ließen ihn die Spartaner zur Übung in der Kriegslist gern zu. In Betreff des Mordes mag man sehr frühzeitig die Erfahrung gemacht haben, welch unerträglicher Zustand dabei herauskam, wenn in einer Menschenhorde kein Mitglied seines Lebens, seines erkämpften Beutestückes und Eigentums mehr sicher war und diese Erfahrung bildete sich zu einem bestimmten Wissen aus, mittels welches bei allen zivilisierten Völkern der Mord als abscheulich gilt, - wiewohl in Zeiten sittlicher Verwilderung, so im rohen Mittelalter, ein Menschenleben nicht gerade viel galt. Und zwar unterscheidet man zwischen dem Totschlag, bei welchem die Überlegung des Täters durch leidenschaftliche Affekte gehemmt war und zwischen dem Mord, d. h. dem gegen besseres Wissen mit kalter Berechnung und unterdrückter Leidenschaft ausgeführtem Totschlag. Das Wissen und damit das Gewissen gilt dem Menschen im letzteren Falle nichts; im ersteren besitzt er sie nicht, beidemale der Affekte wegen: denn wer noch bedenken kann, daß ein Menschenleben unersetzlich und, wie sein eigenes unwiderbringlich ist, der kann sich, auch im Fall der Notwehr, zur Tötung eines Menschen nicht verirren. - Ganz ähnlich steht es in geschlechtlicher Beziehung, wo eheliche und andere Satzungen frühzeitig als notwendig und heilsam erkannt sind. Daß diesem Zustand eine ehelose Vorzeit entweder überall oder teilweise vorangegangen ist, wo der geschlechtliche Verkehr in hetäristischer Art bei zufälliger Begegnung erfolgte, das kann die Wissenschaft von Gewissens wegen nicht behaupten und beweisen, aber wohl vermuten, da die wissenschaftlich festgestellte Sitte der Verwandten heiraten auf einen noch weit natürlicheren Zustand zurückschließen läßt. Im südlichen Indien wurden nämlich Ehen von einer Brüderzahl mit mehreren Schwestern geschlossen (5) und auf den Hawaii-Inseln besaßen Brüder gemeinsam ihre Frauen, Schwestern ihre Männer (6), wobei nur an das Schwagerrecht zu erinnern wäre, welches die Bibel dem Bruder eines verstorbenen Hebräers auferlegte (5. Mose 25, 5-10) (eine Satzung, die übrigens bei vielen Völkern, /bei den Mongolen, Eskimos, Koluschen im nordwestlichen Amerik, den Ostjaken in Sibirien, Negern der Goldküste, den Insulanern des Tschadsees, Papuanen Neu-Kaledoniens, denen man doch gewiß keine Beziehungen zum Judentum zutrauen kann/ angetroffen wird) und daß ferner der Erzvater JAKOB nacheinander zwei Schwestern heimführte. Man könnte nun diese vereinzelnten Gebräuche ebensowohl als örtliche Verirrungen, wie als notwendige Vorstufen zu einer strengen Ehe auffassen. Höchst lehrreich jedoch ist die Betrachtung, wie es üblich geworden, Ehen zwischen Blutsverwandten zu vermeiden. Wenn die Ehe mit der leiblichen Schwester dem Inka in Peru (7) und fast ebenso den Pharao in Ägypten vorgeschrieben war, wenn in der Königsfamilie auf Hawaii (8) dasselbe geschah, wenn der König der Guantschen auf Teneriffa in Ermangelung anderer ebenbürtiger seine Schwester ehelichte und die Häuptling der Sakalaven auf Madagaskar (9) ebenso verfuhren, so ist dies offenbar aus Standes- und Nützlichkeitsrücksichten geschehen; wenn aber in Altpersien die Ehe mit Schwester und Mutter erlaubt (10) und Verwandtschaften als verdienstliches Werk angesehen wurden (11), wenn die Hellenen die Vermählung von Halbgeschwistern zuließen, die Veddas auf Ceylon dem jüngeren Bruder gestatten, seine Schwester zu ehelichen (12), wenn die Aleuten und Konjaken jegliche Blutschande für erlaubt halten, so muß man gestehen, daß in den letzteren Fällen, sofern nicht noch religiöse Wahnideen hineinspielen, einzig der Trieb und die Lüsternheit etwaig Bedenken gar nicht hat aufkommen lassen. Wenn nun aber eine große Reihe unstete und kindlich sorglose Menschenstämme, großen Abscheu vor der Blutschande hegen, wie denn die Australier die Ehe nicht einmal innerhalb desselben Stammes zugeben (13), auch die Huronen, Irokesen, Hottentotten, Kaffern, Fan-Neger, die Battas auf Sumatra dieselbe unter Verwandten verbieten, (14) und wenn andererseits die Hindus das Verbot auf den sechsten Verwandtschaftsgrad ausdehnen, (15) so bleibt nichts übrig, als daß diese Völker auf eine Ahnung, ein natürliches Gefühl, welches ihnen dies wiederriet, geachtet haben. Bei uns hat sich diese Ahnung zu einem Wissen ausgebildet, da beobachtet worden ist, daß Gebrechen, wie Taubheit, Augenschwäche, Unfruchtbarkeit, Blödsinn, Geistesstörungen, welche die Eltern eventuell beide geerbt haben, sich in gesteigertem Maß auf ihre Nachkommen vererben müssen (obgleich freilich selbst diese Beobachtung nicht unbezweifelt ist). (16) Da nun diese Erfahrung von so kindisch sorglosen Menschenstämmen bei ihrer ganzen Lebensweise gar nicht gemacht werden könnte, so kann ihre Abscheu höchstens auf einer Ahnung beruth haben. Interessant ist auf geschlechtlichem Gebiet noch die Bemerkung, daß, während wir z. B. auf die Jungfräulichkeit der sich neu vermählenden Mädchen großen Wert legen, dies an vielen Orten, z. B. bei den Chinesen, garnicht der Fall ist, welche ihre Töchter zur Vorbereitung für die Ehe, genauso wie wir in ein Pensionat, ihrerseits in die Tee und andere öffentliche Häuser schicken. Andere Schwankungen und die bald sehr lockeren, bald strengen Gebräuche können hier übergangen werden, da alle angeführten uns nur den nachstehenden Satz erweisen sollten: daß nämlich die höhere und reinere Form auch auf diesem Gebiet erst dann möglich geworden ist, wenn ein neues besseres Wissen hinzukam und auf Gefühl und Begehren bestimmend (veredelnd) wirkte.

Wenn daher auch in der zivilisierten Welt Stimmen laut geworden sind und darunter nicht die schlechtesten (GOETHE, GUTZKOW), welche die Ehe als einen unnatürlichen, des Gebildeten unwürdigen Zwang und als barbarisches Joch verwarfen, teilweise dagegen die "freie Liebe" eingeführt wissen wollten, so werden diese eben so lange verstummen und auf Realisation ihrer Wünsche warten müssen, bis ein allgemeiner Zustand des Menschengeschlechts erreicht sein wird, in welchem ein höheres Wissen und ein dadurch veredeltes Gefühlt die jetzigen schädlichen Folgen der Ehelosigkeit unmöglich macht. Und das bleibt abzuwarten.  Es ist schon von Natur dafür gesorgt, daß, ebenso wie im einzelnen Menschen das Wissen dem Handeln voraufgehen muß, so auch im ganzen das theoretische Wissen der Praxis entsprechend lange voraufgeht, so daß durch die Antizipationen des stillen Denkers der sittliche Fortschritt der Menschheit nicht im mindesten gestört werden kann. 

Ferner kommt nun hier der berüchtigte Kannibalismus oder die Menschenfresserei, in Betracht als etwas, das erst bei zunehmendem Wissen überwunden wird. Gewisse Ansichten, welche behaupten, daß allein die Lehren der christlichen Religion imstande gewesen seien, die Anthropophagie [Kannibalismus - wp] zu überwinden, vergessen völlig, daß zugleich mit dem Evangelium auch stets die Segnungen der Kultur den Wilden mitgeteilt worden sind, ja größtenteils ohne diese jenes gar nicht Eingang gefunden haben würde. Wiederum läßt sich, wie oben beim Hetärismus, nicht behaupten, daß, wie jener eine Vorstufe der Ehe, so dieses wahrhaft gräßliche Laster eine allgemeine notwendige Entwicklungskrankheit unseres Geschlechts gewesen sei, da es mit Ausnahme der Papuanen und Polynesier nicht über ganze Völkergruppen verbreitet ist oder war, sondern nur vereinzelt in Australien und Amerika, häufiger in Afrika auftritt, in Asien beinahe gänzlich fehlt, in Europa fast ausschließlich einer früheren Vorzeit angehört. (17) Aber während es bei Tieren selten vorkommt, daß sie ihre eigene Art fressen, so ist das bei Menschen doch im ganzen so häufig, daß man wieder fragen muß, wie sich denn eigentlich das Wissen und Gewissen hierbei verhalten habe. Ohne Zweifel sehr ohnmächtig. Sie haben es eben nicht besser gewußt: Denn das glaube man doch ja nicht, daß Kannibalen mit ihrem Treiben eigentlich selbst unzufrieden gewesen seien; sonst hätten sie es eben nicht getan. Dem Verfasser ist durch persönliche Mitteilung die Erzählung eines Naturforschers bekannt geworden, welcher allerdings ähnliches vermutet hat. Derselbe erzählt, er habe auf seiner Reise bei einem Negerstamm Afrikas Knochenüberreste gesehen, welche er, obgleich sie absichtlich von den Wilden zur Seite geschafft worden wären, sofort als Überreste einer Kannibalenmahlzeit erkannt habe. Die Gelegenheit benutzend, habe er die Wilden harmlos gefragt, was denn das für Knochen seien. Sie hätten ihm in ziemlicher Verlegenheit geantwortet, es seien die Knochen eines Tieres und dabei den Namen eines solchen genannt, von dem er als Kenner der Landessprache wohl wußte, daß er ebenso wenig existierte, wie das angebliche Tier selbst, so daß sie ihm also offenbar etwas vorgelogen hätten. Daraus will er nun schließen, daß jenen das Gewissen geschlagen hätte. Der Vorfall ist nicht nur glaubwürdig, sondern auch sehr lebensvoll; aber er beweist nicht, was er soll. Denn wenn es nicht kindische Furcht vor dem fremden, klugen und mächtigen Europäer war, Furcht, daß er sie um ihre Mahlzeiten bringen oder ihnen selbst ein ähnliches Ende bereiten könnte, nun, so war es vielleicht eine gewisse Scheu, welche sie vor ihm empfanden oder endlich eine Ahnung, daß es des Menschen würdiger sei, sich dieses Lasters zu enthalten und daß ihm das durch sein Wissen gelinge, wovon ja der Europäer ein redendes Zeugnis war. Vielleicht gelang es auch dem Reisenden nur nicht, das Vertrauen der Neger zu gewinnen. Es geschieht oft, daß diese fürchten, etwas zu verlieren, wenn sie ihre vermeintlichen Geheimnisse offenbaren sollen. (18) Wir fragen einfach, wenn es eine solche Ahnung nicht gäbe, wodurch es dann möglich gewesen wäre, daß andere Völker diesem Laster abgeschworen haben? Fragen wir nach den Ursachen des letzteren, so bleibt, wenn wir gewisse Wahnvorstellungen, als könne man schätzenswerte Eigenschaften des verzehrten in sich aufnehmen; (19) wenn wir ferner das Motiv der Rachsucht - um dem erschlagenen Feind die schimplichste Bestattungsart zuteil werden zu lassen, - endlich religiöse Wahnideen (so den Menschenschmaus bei den Opfern im alten Mexiko (20) und bei den gutmütigen Battas auf Sumatra (21) abrechnen, faktisch kein Grund weiter übrig als sinnliche Gier, ein lüsterner Appetit, der besonders, nachdem man einmal gekostet hat, unwiderstehlich ist. Denn die Entschuldigung, daß die menschliche Natur dringend einen Wechsel zwischen Pflanzen- und Fleischkost verlange und daher die Maoris, weil sie kein vierfüssiges Landtier auf Neuseeland angetroffen hätten, durch einen unwiderstehlichen Naturtrieb zur Menschenfresserei getrieben worden wären, ist schon nicht wahrscheinlich, weil sich in Indien mehr als 100 Millionen Bewohner ausschließlich mit Pflanzenkost begnügen, wird aber hauptsächlich dadurch entkräftet, daß auch auf den Marquesasinseln und der Hawaiigruppe, sowie in Taiti, wo doch Hunde und Schweine genug gezüchtet wurden, (22) das Laster ebensowohl angetroffen worden ist. Nur  die  Erfahrung läßt sich noch hinzufügen, daß, wie sich bei den Njamnjams (am Gazellennil) und bei den Monbuttus am Uelle, einem durch die Halbkultur überraschenden Stamm, herausgestellt hat, der Genuß von Hundefleisch der erste Schritt zur Anthropophagie und ihr Begleiter zu sein pflegte. (23) Wie kommt es nun, daß dieser Trieb den Wilden fortwährend überwältigt und z. B. unter uns Europäern fast unmöglich ist, jedenfalls aber nur in äußerster Notlage hat aufkommen können, wie denn allerdings bis in unser Jahrhundert, das Verzehren von Menschenfleisch, so bei der letzten Belagerung von Messina (24) und nach der Schlacht von Leipzig (25) vorgekommen sein soll.

Es war das  schrankenlose Walten des sinnlichen Triebes, eines Begehrens, welches durch kein Wissen gehemmt und reguliert wurde und dann die Macht der Gewohnheit, die zur zweiten Natur wird.  Das Wissen besitzt eine gewaltige Macht, die Affekte sich unterzuordnen und abzuschwächen, freilich nicht, während dieselben stattfinden, aber weil es dieselben voraussehen und verhüten kann. Man denke einmal von uns Europäern unser Wissen und unsere Sitte hinweg, welcher fortwährend läuternd auf die Triebe wirken, - und Wildheit, Mordlust, ja Ansätze zur Anthropophagie brechen aus der ungezügelten Erregung der Natur hervor, wie einige Szenen der französischen Revolution und später die Kommunarden von 1871 gezeigt haben.  Welche Macht des Wissens und welche Arbeit, die in im verborgen liegt.  Erst vom rohen Naturzustand zur Halbkultur der Jäger und Hirtenvölker, welch' ein mühseliger Weg, von da zu Ackerbau, ein Übergang, der durch mehrere Geschlechter langsam sich vollziehen muß, wenn nicht Rassentod eintreten soll (wie bei den Indianern) endlich zur reichsten Kultur. Und jeder Kulturmensch muß im Grund diese drei Entwicklungsstufen durchmachen.

Aber das halten wir für unser Recht nach dem vorigen hier auszusprechen, daß niemand ein Glied in dieser Kulturwelt sein kann, wer nicht bei allem einzelnen, was er fühlt und begehrt, denkt und redet, genießt und leidet, vor allem, was er glaubt und handelt, jedesmal von einem Wissen sich bestimmen läßt, daß er somit alles mit Gewissen tut, mithin, daß er im ganzen dasselbe tue auf dem Gebiet seines Bewußtseins, was SCHLEIERMACHER spezielle auf religiösem Gebiet als höchstes Ziel für den Menschen hinstellte, daß er nämlich alles  mit Religion  (d. i. in religiöser Stimmung) aber nicht  aus Religion  (d. i. aus äußeren religiösen Rücksichten, Zwecken und Bedürfnissen) tun solle. Inwiefern ohne ein Wissen als praktischen Antrieb keine gewissenhafte Handlung zustande kommen kann, das einzeln auszuführen, kann als die Aufgabe des nächsten Teiles hier übergangen werden. Man darf aber nicht sagen, das Wissen sei nur die Sache weniger, sondern jeder Mensch hat in ganz verschiedenem Grad Anteil daran und nur hierin besteht seine Macht, seine beste Freude und Glück. Gerade weil dieses Bewußtsein unsere Zeit erfüllt, können wir diesen Abschnitt nicht schließen, ohne einem Gefühl des tiefsten Bedauerns und der Entrüstung zugleich Ausdruck zu geben, daß noch immer seitens einer parteiischen Richtung, welche die Segnungen der Kultur und der Wissenschaft mitgenießt, aber nicht einmal die elementaren Grundsätze derselben, geschweige denn ihren Inhalt versteht, noch achtet, sondern nur die Form der Wissenschaft für ihre Zwecke mit sich führt, daß also seitens dieser gefälschte und verdunkelte Meinungen unter das Volk geworfen werden, welche das Wissen als entbehrlich für den Menschen, zumal im Verhältnis zum Glauben, als Feind der sittlichen Entwicklung, welche doch vielmehr ohne jenes nicht denkbar ist, überhaupt als in mancher Hinsicht schädlich, verdächtigen. Zum Beispiel "Die Moral", sagen sie, "täte es durchaus aus nicht allein, könne keinen sittlichen Menschen machen; es müsse noch eine ganz besondere Glaubensmoral hinzukommen. Aber wenn man wieder unter Moral  nicht die bloße Furcht vor dem Gesetz  versteht, was in aller Welt soll es dann tun? Wenn der Materialismus eines LAMETTRIE und HELVETIUS, welcher die menschlichen Ideale ignoriert, die Moral bezweifelt und verdächtigt, so begreift man das und schmäht dies nicht wie jene tun, sondern korrigiert es nur aus der Erfahrung herau, wenn aber eine Richtung, die dem Menschen sonst lauter Ideale vorhält, ihm selbst das Ideal seiner Moral raubt, so weiß man kaum, wie man so ein Verfahren nennen soll. Hier hilft auch nicht die Ausflucht, solche und ähnliche Urteile seien nur gegen das Halbwissen gerichtet; denn dieses richtet sich selbst, diese Art des Wissens, welches eine Summe von Vorstellungen aufnimmt, aber nicht verarbeitet, und nun mittels eines unklaren Denkens jeder Art gefälschte Urteile und Erkenntnisse hervorbringt oder phantastische Gebilde, welche lediglich in die schönen Künste gehören, auch in das Wissen mit einmischt; sie erweist sich als fruchtlos und gegen Schatten braucht niemand zu kämpfen. Sache des Staates aber wäre es, wenn er sich nicht selbst schädigen will, die Verbreitung solcher Wahnideen, d. h. das öffentliche Aussprechen solcher Urteile, zu verbieten (wie ja auch Schmähungen des Glaubens mit Recht verboten sind). Wenn uns nun dieser erste theoretische Teil gezeigt hat, wie das Wissen die erste und letzte Ursache des Gewissens ist und wie ihm dabei das Gefühl und Begehren, mit welchen es zwar einen gemeinsamen Ursprung hat und in der menschlichen Seele notwendig zusammenwirkt, von welchen es aber der Wirkung nach sehr verschieden ist, untergeordnet sein müssen; so bliebe noch hinzuzufügen, daß das Gewissen nicht, wie es öfters geschehen ist, benutzt werden kann, um das Dasein übernatürlicher Dinge und Ereignisse (Wunder) zu bezeugen. Denn erstens wird es nirgends, auch in der heiligen Schrift nicht, in einer solchen Bedeutung, sondern  nur von der natürlichen Erkenntnis  gebraucht (26) (besonders Römer 2,15 auch 21) zweitens sagten wir, daß alles natürliche in gewissem Sinne auch ein übernatürliches sei und besonders drittens leitet das Wissen seiner Natur nach den menschlichen Geist in das Gebiet des Glaubens, indem es ihn an seine eigene unendliche Abkunft erinnert, mit den erhabensten Vorstellungen erfüllt und hiermit zugleich seinem Gefühl und Begehren Genüge zu tun imstande ist.
LITERATUR - Nathanael Dransfeld, Der Zusammenhang des Wissens mit dem Gewissen und seine praktische Bedeutung - Ein zeitgemäßer Beitrag zur Lehre vom Gewissen - Halle 1887
    Anmerkungen
    1) Die Unterscheidung, welche man neuerdings machen will, daß "Verstand" ausschließlich die Fähigkeit bedeute, "die Ursachen" zu erkennen und also auch den Tieren zukäme, während die Vernunft der Komplex auch aller übrigen geistigeren Fähigkeiten sei (letzterer sei also ein ganz allgemeiner Ausdruck) ist doch kaum wesentlich. Denn da der Verstand mit den von ihm unterschiedenen Tätigkeiten des Fühlens und Begehrens zusammenwirken muß (nicht für sich allein besteht), so braucht man kein neues Wort für ihn zu erfinden.
    2) Es ist zweifellos, daß auch im System des Pädagogen A. COMMENIUS das  Wissen  in unserem Sinne als Ursache jedes Gewissens vorgestellt wird (Didactica magna, 1638, Kap. 4,1. "Es gibt drei Stufen der Vorbereitung für die Ewigkeit. 1) Das Kennenlernen seiner selbst 8und aller Dinge in der Umgebung; 2) Das Sichbeherrschen und 3) das Richten zu Gott. 4) "es folgt daraus, daß die Welt nichts enthält, was der mit Vernunft und Sinnen begabte Mensch nicht fassen könnte."
    3) Wieder ist die Sprache hier lehrreich. Wir sagen: Der Zucker schmeckt  gut  (weil angenehm) und der Wermut  schlecht  - bloß wegen der Wirkung auf unser Geschmacksorgan - während der Kranke erklärt, es sei ihm gut, bzw. schlecht (zumute).
    4) So findet sich im 1. Korintherbrief, 8 im ganzen Kapitel nur  eine  Auseinandersetzung darüber, wie die verschiedenen Grade des Gewissens lediglich durch verschiedene ihnen entsprechende (analoge) Grade des Wissens bedingt sind; so fast wörtlich in 1 Kor. 7.
    5) BAIERLEIN, Nach und aus Indien, Seite 249
    6) MORGAN, Seite 453
    7) GARCILASSO, Comentarios reales, Bd. I, Seite 86
    8) ELLIS, Reise durch Hawaii, Hamburg 1827, Seite 246f
    9) SIBREE, Madagaskar, Seite 280
    10) DUNCKER, Geschichte des Altertums, Bd. II, Seite 356
    11) HAUG, Beilage zur "Allgemeinen Zeitung" 1872, Seite 5573
    12) TYLOR, Anfänge der Kultur, Bd. I, Seite 51
    13) CAPTAIN GRAY bei Eyre Central-Australia, Bd. II, Seite 330
    14) CHARLEVOI, Nouveau France, Bd. III, Seite 284
    15) COOLEBROOKE, Essays of the Hindus, London 1858, Seite 142
    16) KLUNZINGER, Bilder aus Oberägypten, Stuttgart 1877, Seite 191, fand im bereich von ganz Ägypten trotz der überwiegend häufigen Basenheiraten die Annahme der Entartung durchaus nicht bestätigt.
    17) NEHRING, Zeitschrift für Ethnologie, 1884, Seite 83 - 96
    18) SPROAT bemerkt in seiner "Anthropological Review", London 1868, Bd. IV, Seite 370, aus eigener Erfahrung treffend: Ein Reisender muß Jahre lang unter den Wilden, wie einer der ihrigen gelebt haben, ehe seine Ansicht über ihre geistigen Zustände irgendeinen Wert beanspruchen kann.
    19) TYLOR, Urgeschichte der Menschheit, Seite 167, erzählt einen Fall, wo jemand das Herz eines Rebellen habe verzehren wollen, um seinen Mut dadurch zu stärken.
    20) PRESCOTT, Conquest of Mexiko, Bd. I, Seite 78
    21) von ROSENBERG, Der malaiische Archipel, Seite 33f
    22) GERLAND, Waitz Anthropologie, Bd. VI, Seite 158
    23) SCHWEINFURTH, Im Herzen Afrikas, Bd. I, Seite 442, Bd. II, Seite 98
    24) SCHAAFHAUSEN im Archiv für Anthropologie, Bd. IV, 1870, Seite 247
    25) Bericht eines Augenzeugen in RODENBERGs deutscher Rundschau, Bd. 28, Berlin 1881, Seite 432
    26) So findet sich im I. Kor. 8 im ganzen Kapitel nur  eine  Auseinandersetzung darüber, wie die verschiedenen Grade des Gewissens lediglich durch verschiedene ihnen entsprechende (analoge) Grade des Wissens bedingt sind; so fast wörtlich in Vers 7.