ra-2cr-4Der RelationsbegriffDer Totalitätsbegriff    
 
HARALD HÖFFDING
(1843-1931)
Die Wertungsphilosophie
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"Unsere höchsten Bestrebungen scheinen gerade die nutzlosesten zu sein; sie sind aber Wogen zu vergleichen, die zu uns zu gelangen vermochten und deshalb auch wohl noch weiter zu gelangen vermögen. Ich bin überzeugt, daß das Beste, was ich besitze, mich überleben wird. Nein, kein einziger meiner Träume wird verloren gehen; andere werden diese aufnehmen, werden sie mir nachträumen, bis sie dereinst in Erfüllung gehen."

Die drei Verhältnisse zwischen den inneren und den äußeren Bedingungen der Erkenntnis, die AVENARIUS unterschied, können wir benutzen, um den Unterschied zwischen den drei in der jüngsten Zeit auftretenden Gruppen von philosophischen Versuchen zu charakterisieren. Die systematische Gruppe ist wesentlich dadurch charakterisiert, daß sie das Gleichgewicht zwischen dem Bedürfnis und der Befriedigung oder zwischen dem Vermögen und der Arbeit voraussetzt (also  E = R).  Die erkenntnistheoretisch-biologische Gruppe legt das Hauptgewicht darauf, daß vom Dasein andere und größere Forderungen an unser Vermögen gestellt werden können, als dieses völlig zu befriedigen imstande ist (also  E < R).  Die dritte Gruppe endlich betont, daß es einen Überschuß an Drang und Vermögen geben kann (also  E > R),  was zu einer Wertung des Daseins und zu einem Trachten über das Gegebene hinaus führt. Die heutigen Vertreter der letzten Anschauung zerfallen in zwei Abteilungen, indem GUYAU und NIETZSCHE eine innere Verwandtschaft darbieten und einen Gegensatz zu eucken.htmlEUCKEN und JAMES' mehr objektiven Gedankengang bilden. EUCKEN hat eine entschieden systematische Tendenz, da es seine Überzeugung ist, daß eine tiefergehende persönliche Lebensanschauung sich nicht ohne die bestimmte Voraussetzung einer absoluten Ordnung der Dinge, einer "intelligiblen Welt" behaupten läßt. Er findet hier einen Anknüpfungspunkt an den spekulativen Idealismus der früheren deutschen Philosophie, für dessen Erneuerung er kämmpft. JAMES steht hier etwas freier. Er betont die persönliche Erfahrung und die Notwendigkeit, mit einem offenen Horizont zu arbeiten, im Gegensatz sowohl zur naturalistischen wie zur supranaturalistischen Dogmatik. Mit Bezug auf die Weise, wie der Einzelne sein Bedürfnis auslegt, und auf die Hilfe, die er zu finden glaubt, um dasselbe zu befriedigen, werden sich nach JAMES' Auffassung stets verschiedene Richtungen im geistigen Leben geltend machen.

Da GUYAUs und NIETZSCHEs Leben und Wirken abgeschlossen vorliegen, und da ihre Werke wegen deren Form auf größere Kreise Einfluß erhalten haben, als es gewöhnlich mit philosophischen Arbeiten der Fall ist, werde ich eine eingehendere Charakteristik dieser Forscher geben.

GUYAU NIETZSCHE fußen alle beide auf dem Boden der Entwicklungslehre und hoffen auf die Entstehung höherer Lebensformen. Diese Hoffnung stützen sie auf die Kraft und Gesundheit des Lebens, - auf die Überzeugung, daß es eine überströmende Fülle von Energie gibt, die in unserer jetzigen Erfahrung und unter unseren jetzigen Lebensverhältnissen nicht zur Äußerung und zum Abfluß gelangt. Sie stellen dem Nein des Pessimismus ein kräftiges Ja entgegen, - der eine in innig bewegter Stimmung und mit sanfter Resignation beim Wechsel und der Vergänglichkeit der Werte, der andere mit Trotz und Verachtung vor der Vergangenheit und mit unbändiger, schließlich krampfhafter Hoffnung auf die Zukunft.

Ein Hauptproblem ist beiden die Beziehung zwischen Instinkt und Reflexion, zwischen der ungeteilten Energie des Lebens auf dessen früheren Stufen und dessen geteiltem Wirken während des Fortschreitens der Kultur und der Reflexion. Seitdem dieses Problem gegen Ende des 18. Jahrhunderts zuerst von ROUSSEAU, LESSING und KANT aufgenommen wurde, hat kein anderer es so energisch gestellt wie die beiden Schriftsteller, mit denen wir uns hier beschäftigen. Beide polemisieren sie gegen den einseitigen Intellektualismus und stützen sich auf das Gefühls- und Willensleben, das sich nie gänzlich in klare, rationelle Formen ausgestalten lasse. Während bei der zweiten Gruppe die von außen gegebene Fülle drohen kann, das Denken zu überwältigen, ist es hier die von innen, aus der inneren Welt des Gemüts emporsteigenden Fülle, die das Denken bis an dessen Grenze treibt.

Hiermit steht es in Verbindung, daß ihre Darstellungen an der Grenze zwischen Philosophie und Poesie stehen. Stimmung und Leidenschaft sind an jedem Punkt mitbetätigt, nicht immer zum Nutzen und Frommen der Klarheit und Konsequenz der Untersuchung, wohl aber zum Vorteil der literarischen oder sogar agitatorischen Wirkung, die ihre Schriften üben. Ihre Gedanken erhalten zum großen Teil ihre Bedeutung mehr als Symptome dessen, was sich in den Gemütern derjenigen regt, die am stärksten vom Leben der Gegenwart ergriffen sind, denn als aktive Beiträge zur Behandlung von Problemen. Dies gilt in ganz besonderem Grad, was NIETZSCHE betrifft.

Noch einen anderen Ähnlichkeitspunkt gibt es: sie sind beide krank, und ihre Gedanken und Werke sind größtenteils in fortwährendem Kampf mit der Krankheit entstanden. Dies ist für den Wert ihrer Gedanken nicht entscheidend. Es könnte ja Gedanken geben, die über das Leben Licht verbreiteten, und die gerade nur unter solchen Verhältnissen entstehen könnten. Das Grenzterritorium zwischen Gesundheit und Krankheit könnte ja ganz besonders fruchtbar sein. Wir müssen daher vor allen Dingen die Bedeutung und Gültigkeit ihrer Gedanken untersuchen, und erst, nachdem wir diese Prüfung angestellt haben, können wir benutzen, was wir von ihren individuellen Verhältnissen wissen, um uns ihre Geistesrichtung zu erklären.


I. Jean Marie Guyau

GUYAU ist ein Beispiel früher Reife. Schon als zwanzigjähriger Jüngling (er war 1854 geboren) gewann er den Preis der französischen Akademie der Wissenschaften für eine Geschichte der Nützlichkeitsmoral von EPIKUR an bis zur Gegenwart. Seine ersten Studien widmete er namentlich PLATON und KANT; zugleich wurde er von seinem Stiefvater FOUILLÉE stark beeinflußt. Sein glänzendendes Darstellungsvermögen und seine eingehende kritische Energie lenkten die Aufmerksamkeit auf seine Arbeit und ließen diese sogar bei Männern, die in derselben stark kritisiert wurden, z. B. bei SPENCER, Anerkennung finden. Während seiner fortgesetzten Studien näherte er sich den von ihm angegriffenen Anschauungen etwas mehr, und in seinen positiven Darstellungen fällt es ihm nicht selten schwer, Einwürfen zu entgehen, die er selbst gegen die englische Schule erhoben hatte. Namentlich ästhetische, ethische und religionsphilosophie Probleme beschäftigtenn ihn. Nagende Zweifel an der Bedeutung unserer Werte fürs Dasein verfolgen ihn seit seiner Jugend, und geben sich nicht nur in philosophischen Schriften, sondern auch in Gedichten (Vers d'un philosophe) Ausdruck. Sein ursprünglicher, platonisierender Glaube an die Rationalität erblich unter dem vereinten Einfluß der Reflexion und der Brustkrankheit. Obgleich er später wieder an der Möglichkeit der idealen Bedeutung des Lebens festhielt, behielt er doch den klaren, philosophischen Blick für die Schwierigkeit des Problems. Einen französischen Zug hat man darin gefunden, daß die Innigkeit der Stimmung bei ihm so oft von der Klarheit des Gedankens begleitet ist. Er weiß, daß viele seiner Ideen und Hoffnungen Jllusionen sind; er hält aber an ihnen fest, wenn sie nur fruchtbare Jllusionen sind; er hält aber an ihnen fest, wenn sie nur fruchtbare Jllusionen sind, die das Denken und das Wollen zu energischen Arbeiten zu bringen imstande sind (das Gedicht  Jllusion féconde).  Er hat in einem vorgerückten Stadium der Krankheit den Untergang klar vor Augen, er wünscht aber seinem letzten Gesang  (La cicade)  alle seine Liebe zu den Menschen einzuhauchen. Es gibt kaum irgendeinen anderen Schriftsteller, der wie er gezeigt hat, welche Innigkeit und Hoheit das Leben besitzen kann, selbst wenn alle Dogmen als Jllusionen betrachtet werden. Sonst lebte er - von der Krankheit abgesehen - unter glücklichen Verhältnissen. Forschend und dichtend, liebend und geliebt, näherte er sich dem Tod mit dem völligen Bewußtsein vom Ausgang der Krankheit. Er starb 1888 in Mentona. Sein Grabstein trägt folgende Zeilen aus einer seiner Schriften: "Unsere höchsten Bestrebungen scheinen gerade die nutzlosesten zu sein; sie sind aber Wogen zu vergleichen, die zu uns zu gelangen vermochten und deshalb auch wohl noch weiter zu gelangen vermögen. Ich bin überzeugt, daß das Beste, was ich besitze, mich überleben wird. Nein, kein einziger meiner Träume wird verloren gehen; andere werden diese aufnehmen, werden sie mir nachträumen, bis sie dereinst in Erfüllung gehen. Es ist den immer wieder dahinsterbenden Wogen zu verdanken, daß das Meer imstande ist, sich das Gestade und das ungeheure Bett, in welchem es sich bewegt, zu gestalten."


A. Kritik der englischen Ethik (1879)

Schon in GUYAUs kritischer Arbeit finden wir Andeutungen seiner definitiven Auffassung. Es sind namentlich drei Einwürfe, die er gegen die Ethik der englischen Schule erhebt.

Die Engländer lehren, die Moral entspringe wesentlich aus kluger Berechnung (BENTHAM) oder aus Vorstellungsassoziation (HARTLEY, die beiden MILLs) oder aus natürlicher Wahl (DARWIN), oder aus Anpassung an die Lebensverhältnisse (SPENCER). Sie gründen die Gültigkeit und Erhaltung der Moral auf bestimmte innere und äußere Entwicklungsverhältnisse. Das moralische Gefühl ist eine Naturerscheinung, die der Mensch nur als eine objektive Gewalt betrachtet, weil er nicht gemerkt hat, wie sie entstanden ist. Das unwillkürliche und unbewußte Wachstum des moralischen Gefühls ist der Hauptgegenstand der englischen Ethik. Hier verstrickt diese sich aber nach GUYAUs Ansicht in einen Widerspruch und arbeitet sich selbst entgegen. Denn eben diese englischen Theorien müßten ja dem Menschen die Augen öffnen und ihm zeigen, welche Bewandtnis es mit der Natur des geheimnisvollen moralischen Gefühls hat. Dasselbe erscheint als ein Trug, von dem man sich befreien könnte. Die Reflexion wird auflösen, was sich rein unwillkürlich gestaltet hat.

Aber, - hat hier denn eine wirkliche Entwicklung stattgefunden? Die Engländer setzen als letzte Grundlage das egoistische Selbsterhaltungsbedürfnis voraus, und bleibt dieses doch nicht immer dasselbe, wenn auch noch so viele Berechnungen, Assoziationen und Anpassungen hinzukommen! Die Fähigkeit zur uninteressierten Hingabe läßt sich nicht mittels solcher Faktoren erklären. Damit ist aber nicht gesagt, daß uninteressierte Sympathie eine ursprüngliche Tendenz wäre. Was die Engländer als ursprünglichen Egoismus auffassen, ist nach GUYAU etwas anderes und etwas mehr, das tiefer liegt als Egoismus oder Sympathie. Es ist ein Drang nach Tätigkeit, nach Entfaltung und Erweiterung, der sich überall regt, wo das Leben gesund und kräftig ist. Dieser Drang braucht nicht über andere Wesen hinauszugehen, kann aber im Gegenteil zur Verbindung mit anderen und zum Arbeiten für diese führen. Also nicht erst durch viele Zwischenglieder hindurch, sondern schon in seinem ersten Keim enthält der Drang des Menschen eine Möglichkeit der Hingabe an ein umfassenderes Leben als das rein individuelle. GUYAU entwickelt hier einen Gedanken, der schon bei VAUVENARGUES und ROUSSEAU zum Vorschein gekommen war, den er diesen jedoch nicht entlehnt zu haben scheint.

Wenn somit der Nachdruck auf den inneren, von äußeren Veranlassungen zum Teil unabhängigen Drang zum Wirken und zur Entwicklung gelegt wird, erhält unser Streben nicht - wie es in der Nützlichkeitsmoral die Konsequenz wird - den Charakter eines bloßen Mittels. Dann kann es sich so verhalten, daß wir leben, um zu wollen und zu handeln, nicht nur umgekehrt.  Il faut vivre pour vouloir et agir!  [Wir leben um zu wollen und zu handeln. - wp] Die Gegenwart darf weder der Zukunft noch der Vergangenheit geopfert werden. Eben im Willensakt liegt ein Zweck:  il y a dans la volonté quelque chose de définitf!  [Der Wille ist etwas Definitives. - wp]


B. Ethik (1885)

Seine Ethik gründet GUYAU auf den Begriff des Lebens im weitesten Sinne dieses Wortes, nach welchem der Gegensatz zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten wie auch zwischen dem Egoistischen und dem Sympathischen wegfällt. Das Leben äußert sich als ein Bedürfnis des Wachstums, der Erhaltung, der Fortpflanzung, der Erweiterung. Mittels der Biologie will GUYAU den Schwierigkeiten abhelfen, in welche die Engländer sich durch ihre psychologische Begründung verwickelt haben; doch gibt er zu, daß eigentlich schon DARWIN und SPENCER eine biologische Grundlage nachgewiesen haben. Eine Hauptsache ist ihm, daß die Zwecke schließlich nicht vom Bewußtsein erzeugt werden, wenn dieses sich Zwecke aufstellt: der Vorgang besteht nur darin, daß man sich dessen bewußt wird oder sich zum Gegenstand dessen macht, was sich schon unbewußt zur Geltung gebracht hat. Die Zwecke kommen also nicht gänzlich von außen her.

Die Ethik wird daher die Lehre von den Mitteln, mit deren Hilfe der der von der Natur selbst gestellte Zweck - das Wachstum und die Entfaltung des Lebens - sich erreichen läßt. das ethische Hauptgebiet lautet: Entfalte dein Leben in allen Richtungen! Sei ein möglichst reicher Mensch, sowohl was die Innigkeit als den Umfang deiner Bestrebungen betrifft! Deshalb, lebe in Gemeinschaft mit anderen und bilde deine Fähigkeit aus, möglichst viel in Gemeinschaft zu leben! - Die Pflicht ist nur ein Überströmen des Lebens, das gebrauch zu werden und sich hinzugeben verlangt. Sie rührt nicht von Zwang und äußerer Notwendigkeit her, sondern ist der Ausdruck einer Kraft. In der Symathie oder dem Altruismus tritt diese überströmende Kraft besonders hervor. Der Egoismus ist dagegen das Anzeichen einer Verengung, einer Isolation und beruth zuguterletzt auf einer Jllusion. Die höchste und überdies am tiefsten in der Natur begründet Tugend ist der Hochsinn (la générosité [Großzügigkeit - wp]).

GUYAU suchte der Kritik, die er selbst gegen die Engländer gerichtet hatte, dadurch zu entgehen, daß er auf das Unbewußte und Unwillkürliche zurückging. Er übersieht jedoch die verschiedenen Möglichkeiten - mithin die verschiedenen Problem -, die am Übergang aus dem Unbewußten ins Bewußte und aus dem Unwillkürlichen ins Willkürliche liegen. Es ist nicht gesagt, daß das Bewußte das Unbewußte gänzlich erschöpft oder diesem durchaus entspricht, und ein ähnliches Verhältnis findet zwischen dem Willkürlichen und dem Unwillkürlichen statt. Mittel setzen einen Zweck voraus, und die Ethik kann keine Mittel suchen, ohne zu wissen, welchem Zweck dieselben dienen sollen. Was wir zum Zweck machen, beruth wieder darauf, was wir für wertvoll halten. Die mittelbaren Werte (die Mittel) setzen die unmittelbaren Werte voraus. Mit letzteren muß man deshalb anfangen, und ohne Hilfe der Psychologie lassen sie sich nicht finden. Eine empirische Lehre von den Werten muß die Grundlage abgeben, und gibt es mehrere fundamentale Werte, die sich nicht auf einen einzigen reduzieren lassen, so entsteht hier aller Ethik gleich zu Anfang eine Schwierigkeit. Nur solange man sich in vager Allgemeinheit bewegt, genügt eine Berufung auf die Biologie. Sobald bestimmte Fragen gestellt werden, taucht der Wertbegriff empor. Hiervon liefert GUYAU selbst ein Beispiel. Gegen BOURGETs Behauptung, es sei willkürlich und dogmatisch, zwischen natürlichen und unnatürlichen Gefühlen und Trieben zu unterscheiden, verficht GUYAU (in seiner Schrift "L'art au point de vue sociologique", Seite 375), es könne sehr wohl einen Unterschied des Wertes geben, selbst wenn die verschiedenen Zustände mit gleich großer Notwendigkeit entstünden. Es gebe ein Kriterium des natürlichen Werts (valeur naturelle), das in der Kraft und dem Umfang des Lebens wie auch im Bewußtsein und Lustgefühl, die dessen innere Offenbarung seien, zu suchen sei. - Es leuchtet jedoch ein, daß wenn das "Leben" nicht mit "Bewußtsein und Lustgefühl" verbunden wäre - wie kräftig und umfassend es auch sein mag - kein Wertbegriff aufgestellt werden könnte und keine ethische Diskussion möglich wäre.

Das Bedürfnis, das durch die Zunahme des Lebens an Kraft und Umfang befriedigt wird, ist aber auch ja unwillkürlich und instinktiv; wird es denn nicht geschwächt werden, wenn es als Gegenstand der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens hervorgezogen wird? - Dies war die Hauptschwierigkeit, die GUYAU bei den Engländern gefunden hatte, und von der er deshalb seine eigene Theorie zu befreien suchen mußte. Er meint, die Vernunft lähme einen Instinkt nur, wenn sie in einer anderen Richtung geht als der letztere, oder wenn es ein Vorteil ist, daß sie denselben ersetzt. Keins von beiden ist aber hier der Fall. Die unwillkürliche Hingabe und Entfaltung hat ihre große praktische Bedeutung. Die Lust zum Wagen entspringt aus dem Überschuß des Lebens an Kraft, der Hoffnung und Glauben erzeugt und hierdurch ermöglicht, was sonst nicht möglich sein würde. In kühner Bewegung des Denkens, in begeisterter Aufopferung äußert sich diese Kraft und Gesundheit des Lebens. Die einzige Sanktion, welche die Zukunftsethik anerkennen wird, ist die Lust am Wagen (le plaisir de risque). - Ich sehe nicht ein, weshalb die Engländer sich nicht ebensowohl auf diese Gründe berufen könnten; tatsächlich tun sie es dann auch, und zwar in höherem Maße als GUYAU, da ihre Ethik mehr empirisch ist als die seine. Könnten Klugheit, Assoziation und Anpassung nicht zu etwas Wertvollem führen, so würden sie nicht die stetigen Wege sein, auf denen die Entwicklung fortschreitet.


C. Ästethik (1884)

GUYAUs Ästhetik bietet ein interessantes Beispiel dar, wie ein Problem sich den Verhältnissen der verschiedenen Zeiten gemäß auf verschiedene Weise stellen kann. Früheren Forschern, wie KANT und SCHILLER, viel später auch noch SPENCER, erschien es als die Aufgabe, der Kunst inmitten und trotz des Kampfes des Lebens Raum zu schaffen. Sie nahmen ihre Zuflucht zu demselben Gedanken, der bei GUYAU eine so große Rolle spielt, indem sie darauf hinwiesen, daß ein Überschuß an Energie zu ähnlichen Funktionen wie den im Lebenskampf angewandten benutzt wird, nur machten sich jetzt Bild und Spiel, nicht aber die Wirklichkeit des Lebens selbst geltend. Gegen diese ganze Richtung der Ästhetik sagt GUYAU: Wir suchen in der Kunst gerade ein reicheres und volleres Leben, als das gewöhnliche Leben zu bringen vermag; die Kunst ist eine Erweiterung des Lebens, schaden nur, daß wir das Bild und das Spiel zu Hilfe nehmen müssen, um dieselbe zu erreichen. Das Unwirkliche ist keineswegs eine Bedingung der Kunstschönheit, sondern gerade eine Begrenzung, welche sich dieselbe gefallen lassen muß. Während des künstlerischen Schauens entsteht der Wunsch, das zu werden, was wir betrachten, und es ist der Kummer des Dichters, daß er sich nicht mit der ganzen Fülle des Lebens eins machen kann (das Gedicht  Le mal du poéte).  Deswegen steht nach GUYAUs Auffassung die Naturschönheit höher als die Kunstschönheit.

Hiermit steht es in Verbindung, daß GUYAU behauptet, alle Sinne wirkten zum Schönen zusammen. Ein Trunk Milch an einer Senne kann wie eine ganze Pastoralysmphonie wirken. Alle Seiten unseres Wesen sind mitbetätigt, - durch Wahrnehmung, durch Erinnerung, durch Phantasie. Schön nennt GUYAU eine Einwirkung, die das Gefühl, das Denken und das Wollen zugleich erregt und Lust an diesem gesamten Wirken erweckt. Immer mehr wird aller Genuuß und alles Lustgefühl das Gepräge der Schönheit erhalten, so daß der Unterschied, der in einem Zwischenstadium der Entwicklung zwischen dem Angenehmen und dem Schönen zu machen ist, wegfallen wird; dieser Unterschied ist nur dadurch bedingt, daß das Tierische noch so große Gewalt im Menschen hat. Dann werden auch das Ästhetische und das Ethische in der Behauptung der natürlichen Werte des Lebens miteinander zusammenfallen. Zuletzt wird es sich erweisen, daß kein Künstler eigentlich etwas anderes als sein eigenes Leben darzustellen vermag, - und der Wert seines Werkes wird auf dem Wert dieses Lebens beruhen! - Wer GUYAUs Schriften liest, wird sich bei dieser Äußerung des Gedankens nicht erwehren können, daß sie sich auf GUYAUs eigene Schriftstellertätigkeit beziehen läßt, die überall vom großen Eros durchdrungen ist, der die Seele seines Lebens war.


D. Religionsphilosophie (1887)

GUYAUs merkwürdigstes und bedeutendstes Buch ist das, welches die "Irreligion der Zukunft" behandelt. Es zeigt eine glückliche Vereinigung der eingehendsten Kritik mit dem innigsten Gefühl, mit der völligen Überzeugung, daß die Zeiten der Religion vorüber sind, und mit der vertrauensvollsten Hoffnung, daß eine hohe und ideelle Lebensanschauung nie der Bedingungen ermangeln wird, welche ihre Entwicklung verlangt. Sein Titel ist gegen die Versuche gerichtet, eine Zukunftsreligion zu konstruieren, zugleich jedoch gegen die "Antireligion", indem das Werk den inneren Zusammenhang des religiösen Standpunktes mit dem Standpunkt, der ihn ablösen soll, behauptet.

Das religiöse Problem steht nach GUYAU in einer engen Verbindung mit dem ethischen und dem ästhetischen. Alle drei Gebiete treffen seiner Ansicht nach im Begriff des Lebens zusammen. Im konzentrierten persönlichen und sozialen Leben treten alle drei Elemente hervor, und erst hierdurch kommt jedes für sich zu seinem Recht. Die Religion beginnt freilich als eine Art mythologischer Physik; die intellektuellen Elemente sind aber doch nicht die vorwiegenden. Das Grundlegende sind die Erfahrungen des Menschen in der Gemeinschaft des Lebens, in der er lebt. Diese Gemeinschaft des Lebens dehnt er unwillkürlich über das ganze Dasin aus, so daß Götter und Menschen eine einzige große Gesellschaft bilden. Die Religion ist nicht nur Anthropomorphismus, sondern auch besonders Soziomorphismus. Die Verschiedenheit der Religionen beruth namentlich darauf, welche Art von Gesellschaft man sich das Universum denkt, ob als eine Familie oder als ein Reich, - und im letzteren Fall, ob von einem Vater oder einem Tyrannenn regiert. - Der soziale Charakter der Religion äußert sich am entschiedensten im Kult, mittels dessen der Mensch mit den Göttern Gemeinschaft findet. - Allmählich wird sowohl der religiöse Kult als die religiösen Vorstellungen sublimiert und idealisiert. Innerer Kult tendiert zum Ablösen des äußeren Kults, und die Mystik verdrängt die Mythologie. Der Gipfel ist erreicht, wenn Gott als das personifizierte moralische Ideal erscheint. - Als wesentliche Züge aller Religion hebt GUYAU hervor: die mythologische Erklärung der Natur, die in der höheren Religion als Glaube an Wunder fortgesetzt wird - einen Kreis von Dogmen als absolute Wahrheiten - und den Kult als einen Kreis von Handlungen mit übernatürlichen Wirkungen. Wo diese drei Dinge nicht anzutreffen sind, will GUYAU nicht von Religion reden.

Die Auflösung einer Religion findet nicht direkt und von außen statt, sondern dadurch, daß ihre inneren Lebensbedingungen wegfallen. Dies geschieht wieder langsam, je nachdem sich Industrie, Wissenschaft, Individualismus und selbständige Ethik entwickeln. Unter diesen Faktoren legt GUYAU der unabhängigen individuellen Überzeugung das meiste Gewicht bei: letzterer Faktor ist es vorzüglich, der einer Religion den Sieg über eine andere verschafft hat; dieser wird schließlich zur graduellen Auflösung jedes dogmatischen Systems und mithin zuletzt zum Aufhören der Religion führen. Dieser Auflösungsprozeß kann lange dauern; die Ideen wirken aber ununterbrochen und unmerkbar; - sie schreiten vorwärts, wenn sie auch zuweilen - wie müde Soldaten - während des Marsches schlafen.

Der schließliche Mangel an Religion (l'absence finale de religion), die Irreligion, ist aber nicht dasselbe wie Antireligion, der vollständige Gegensatz der Religion. Dieselbe soll im Gegenteil ein höherer Grad der Religion und der Zivilisation werden, indem das Beste des religiösen Lebens nach dem Wegfall des Dogmas an Kraft und Umfang wachsen wird. Das Ewige der Religion ist gerade das Streben, wodurch sie erzeugt wurde, - der Drang, jenseits der nackten Tatsache zu gelangen und einen größeren Zusammenhang zu finden. Der menschliche Geist ist wie die Schwalbe: ihre langen Schwingenn eignen sich nicht zum Fliegen an der Erde. wohl aber zu hohem und kühnem Flug in freier Luft; es kommt nur darauf an, daß sie sich von der Erde zu erheben vermag, und dies fällt oft schwer; das unvergängliche Trachten nach dem Ideal wird dem Geist aber immer wieder Luft unter die Flügel zuführen. Dieses Trachten wird sich stärker als vorher regen, wenn es sich aus der Religion aussondert. Nur wird man weniger das Bedürfnis fühlen, eine bestimmte Sprache zu finden, in der sich die ewigen Rätsel ausdrücken lassen: diese werden für sich selbst reden. Die letzten Hypothesen werden stets einen ausgeprägt individuellen Charakter behalten. Keine Religion ist imstande, alles auszudrücken, was die einzelne Persönlichkeit in ihrer ganzen Eigentümlichkeit enthält oder nötig hat. Jeder muß seinen eigenen Gott oder seine eigene Bibel erzeugen. Verschiedene Überzeugungen können sowohl nebeneinander unter den Menschen bestehen, wie verschiedene Pflanzen in demselben Erdboden gedeihen können. Namentlich werden die ethischen Elemente der Religion erhalten bleiben und freigemacht werden. Schon jetzt tendiert die Religion bei den edelsten Menschen dahin, mit der Liebe eins zu werden. - Die Stimmung gegen das Leben und das Dasein wird keine einfache und beständige sein; sie wird wechseln und schwanken. Die Entwicklung dauert ja schon seit einer Ewigkeit, - und herausgekommen ist doch nur eine Welt wie diese mit allen ihren Disharmonien und mit aller Unsicherheit ihres Laufs! Je mehr der Mensch sich mittels einer Art idealer Soziologie ins gedamte Dasein hineinlebt, umso mehr wird die Betrübnis zunehmen: das Denken ist Schmerz und nicht nur Licht. Gott selbst müßte, wenn er existierte, den größten Schmerz fühlen, weil er als unendliches Wesen seine Ohnmacht, Hilfe zu bringen, am bittersten fühlen müßte. Die Totalstimmung wird aber das Gepräge der Erhabenheit tragen, so daß der Kummer des Strebenden nur ein Element des Lebensgefühls wird. Der Überschuß an Kraft wird Hoffnung, Glauben und die Lust zum Wagen erzeugen. Selbst dem Tod, "der größten Neuigkeit des intellektuellen Lebens nächst der Geburt", steht der Strebende mit unerschütterlicher intellektueller Festigkeit gegenüber. Notre derniére douleur reste aussi notre derniére curiosité! [Unser letzter Schmerz ist auch unsere letzte Neugier. - wp]

Letzte Äußerung ist für GUYAUs unermüdliche Denkarbeit charakteristisch, die mit seinem tiefen Ernst, seiner wehmütigen Stimmung und seiner großen Resignation Hand in Hand ging. Man hat von ihm gesagt, er schiffe auf dem unendlichen Meer, ohne jemals Anker zu werfen. Kann man aber je ein für allemal Anker werfen? - Was das religiöse Problem betrifft, hat er so tief gegraben wie nur wenige andere, und er gewahrte deutlich die Notwendigkeit der Frage, ob die Konzentration des Lebens, welche die Religionen zu ihren klassischen Zeiten bedingten, verschwinden kann, ohne durch Äquivalente ersetzt zu werden. Er versuchte, hier die Kontinuität auf dem Gebiet der geistigen Werte zu behaupten, obschon er meint, der Begriff der Religion ist für diese Werte nur dann gültig, wenn sie in einer gewissen Form auftreten. Die Kontinuität zwischen Religion und Irreligion betont er jedenfalls so stark, daß das Beste der Religion (zugleich auch, was bei deren Entstehung die eigentliche Tendenz gewesen ist) in der Irreligion erhalten bleiben muß.
LITERATUR - Harald Höffding, Moderne Philosophen, Vorlesungen gehalten an der Universität in Kopenhagen im Herbst 1902, Leipzig 1905