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GEORG BAUDLER
Hamanns
sokratische Denkwürdigkeiten


Hamanns Londonerlebnis
Vernunft und Sprache
Hamann und Herder
Die Wörter haben ihren Wert, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen und ihre Begriffe sind in ihren Bestimmungen und Verhältnissen gleich den Münzen nach Ort und Zeit wandelbar.

Wie schon im vorigen Kapitel angedeutet, entstand HAMANNs erste Druckschrift, seine "Sokratischen Denkwürdigkeiten", aus dem Bemühen heraus, seinen Freunden, besonders KANT und BERENS, aber auch seiner Zeit im ganzen, die in London neu gewonnene Position des Denkens anschaulich und verständlich zu machen.

Das Werk ist kunstvoll aufgebaut. Am Anfang stehen zwei Vorreden (eine an das Publikum und ein in verschlüsselter Form an KANT und BERENS) die, wie bereits erwähnt, den Appell-Charakter der Schrift ausdrücken und den konkreten Bezug zum Leser herstellen, indem sie diesen zum Hören und zur lebendigen Auseinandersetzung bewegen wollen. Erst darauf folgt die eigentliche Einleitung, die verhältnismäßig umfangreich ist und sich mit der Frage einer lebendigen und sachgemäßen Philosophiegeschichtsschreibung befaßt. Wir haben bereits den Grundgedanken HAMANNs zu dieser Frage dargestellt: Ein philosophische Denker soll nicht wie ein totes Objekt "auf seine ersten Elemente zergliedert" und "als verstümmeltes Brustbild" dargestellt "gemalt" werden, sondern er soll, ähnlich wie die Tiere in den Fabeln ÄSOPs und La FONTAINEs, für die jeweilige Zeit neu zum Sprechen gebracht werden. Das ist die Aufgabe, die sich HAMANN in seiner Sokratesschrift gestellt hat.

Der Hauptteil der Schrift ist in drei Abschnitte unterteilt. Der erste und dritte Abschnitt enthalten biographische Elemente und umrahmen gewissermaßen den zweiten Abschnitt als den "Kern" der Schrift, der die Gedankenwelt des Philosophen SOKRATES zu Wort kommen läßt. Diesen "Kern" der Schrift, aus dem das Ganze ursprünglich herauswächst gilt es im einzelnen zu interpretieren: es ist im Grunde nur ein Wort des SOKRATES, das HAMANN im Hauptteil der Schrift behandelt: das Eingeständnis der Unwissenheit. HAMANN versucht die "Energie", die in dem berühmten SOKRATESwort "Ich weiß, daß ich nichts weiß" steckt, freizulegen und für die Menschen seiner Zeit wirksam werden zu lassen, indem er es in die verschiedenen Situationen stellt, auf die es bezogen ist.

HAMANN nimmt damit schon in seiner Zeit den heute in der Sprachwissenschaft geläufigen Gedanken vorweg, daß Worte ihre Bedeutung erst aus dem sprachlichen "Feld" gewinnen, in dem sie stehen. "Die Wörter haben ihren Wert, wie die Zahlen von der Stellt, wo sie stehen und ihre Begriffe sind in ihren Bestimmungen und Verhältnissen gleich den Münzen nach Ort und Zeit wandelbar". Sprache ist also in erster Linie nicht ein Instrument, um Wahrheiten für ewige Zeiten zu fixieren und zu speichern, denn je nach der konkreten Situation, in der ein Satz gesprochen wird, wandelt er seinen Sinn. Sprache aber ist ihrem Wesen nach immer auf eine solche konkrete Wirklichkeit bezogen und erwächst aus ihr. Sie ist Anspruch und Antwort.

Zuerst läßt HAMANN den Philosophen SOKRATES das Wort vom Nichtwissen zu KRITON, seinem Gönner und zu seinen Atheniensischen Mitbürgern sprechen. Es gewinnt dabei den Charakter einer Herausforderung, eines "frechen Geständnisses", ja einer "Beleidigung", "die man anfangs dem aufrichtigen Klienten nur deswegen vergeben hat, weil sie auf ihn selbst am schwersten zurückfiel". Es war eine "Blöße" und letzte Bedürftigkeit, die SOKRATES mit diesem Wort eingestand: die in der "Höllenfahrt" der Selbsterkenntnis gewonnene Einsicht, daß der Mensch in seinem Erkennen angewiesen ist auf das Hören jener Urkorrespondenz des Daseins, die von einer tödlichen Diskrepanz belastet ist. Dieses Bekenntnis vom letzten Angewiesensein auf ein schmerzliches Hören mußte den stolzen und vernünftigen Atheniensern wie den dumm-überheblichen Denkern der Aufklärungszeit ein Ärgernis, ein "Dorn im Auge" und eine "Geißel" auf ihrem Rücken sein.

Wie HAMANN selbst die Anregung KANTs und BERENS' zurückwies, an der Übersetzung der französischen Enzyklopädie mitzuarbeiten und sich dadurch in das Lager der Aufklärung zu begeben, so hat es auch SOKRATES abgelehnt, mit den Sophisten seiner Zeit zusammenzuarbeiten und ihr "Spiel" mitzuspielen. Der tiefste Grund für diese Ablehnung ist die selbstherrlich-stolze Eigenmächtigkeit dieser Philosophen, die sich in sich selbst abkapseln und verschließen und nicht mehr offen sind für den "Eigensinn des Zufalls", für die Wahrheit, die von außen kommt, für das hörende Vernehmen ihres Ursprungs. Sie gleichen Kartenspielern, "welche die Gesetze des Spiels brechen und das Glück desselben stehlen". Ihre Wissenschaft ist die der "geschwinden Finger", nicht das echte Bemühen um Wahrheit.

Zweitens hält HAMANN das Wort vom Nichtwissen mit dem Spruch zusammen, der über die Tür des Delphischen Orakels geschrieben war: Erkenne dich selbst! APOLL, der die Menschen mit diesem Spruch zur Selbsterkenntnis aufgefordert hatte, wies CHÄREPHON zu seinem Freund SOKRATES zurück, als er das Orakel nach dem weisesten Menschen seiner Zeit fragte. In diesem Zusammenhang gewinnt das Sokratische Nichtwissen den Charakter tiefster Erkenntnis und Weisheit. Derjenige hat sein eigenes Wesen am tiefsten und klarsten erkannt, der zum Bewußtsein des Nichtwissens und der Bedürftigseins vorgedrungen ist. Denn dieses Bewußtsein ist ein Indiz dafür, daß ein solcher Mensch zum hörenden Vernehmen der gnadenhaften Urkorrespondenz seines Daseins gelangt ist, die wenngleich gekreuzigt, doch die bleibende Quelle und Kraft des Lebens und Denkens ausmacht.

SOKRATES übertraf deshalb durch diese Erkenntnis sogar die großen Dramatiker SOPHOKLES und EURIPIDES an Weisheit, so sehr deren Dichtkunst von einer genauen Kenntnis des menschlichen Herzens zeugte; SOKRATES aber ist "in der Selbsterkenntnis weiter gekommen als jene und wußte, daß er nichts wußte"; er hatte eingesehen und erkannt, daß der Mensch in seinem tiefsten Wesesn angewiesen war auf das Hören der Wahrheit, die in ihrem Kern seiner Verfügungsgewalt entzogen war. "Diese Winke und Bruchstücke der ältesten Geschichte und Tradition" bestätigen die schon von PAULUS ausgesprochene Wahrheit, daß Gott sich auch unter den Heiden "nicht unbezeugt gelassen hat", auch wenn diese Völker ihre eigenen religiösen Wege gingen.

Nachdem HAMANN in diesen Gegenüberstellungen den Gehalt der Sokratischen Unwissenheit als existentielle Offenheit, als das ganze Wesen des Menschen von der Tiefe des gottmenschlichen Ursprungs her aufsprendende Bedürftigkeit, als Angewiesensein auf das Hören der Wahrheit deutlich gemacht hat, versucht er im folgenden Abschnitt, die Natur der Sokratischen Erkenntnis näher zu erörtern und von der modernen Skepsis seiner Zeit abzugrenzen. Dabei steller er "Empfindung" und "Lehrsatz" gegenüber. Beide verhalten sich wie "ein lebendes Tier und ein anatomisches Gerippe desselben". Das angebliche Nichtwissen, "der alten und neuen Skeptiker" ist ein Lehrsatz, den sie mit viel Scharfsinn und Beredtsamkeit zu beweisen suchen. Dadurch aber verraten sie, daß ihre Skepsis umgekehrt zum Sokratischen Nichtwissen nur eine besonders raffienierte und ausgeklügelte Form des selbstherrlich-stolzen Wissens ist. Denn: "Wissen sie nichts, was braucht die Welt einen gelehrten Beweis davon? Ihr Heucheltrug ist lächerlich und unverschämt". Durch ihre worgewandten und gelehrten Beweise zeigen sie, daß sie in ihrem Herzen einen mächtigen Widerwillen gegen das existentielle Bewußtsein des Nichtwissens und das hörende Vernehmen der Wahrheit vom Ursprung her hegen.

Damit wird deutlich, was HAMANN umgekehrt unter "Empfindung" versteht. Er meint damit keineswegs ein unverbindliches irrationales Gefühl; zwar spricht er später in den "Kreuzzügen des Philologen" von dieser Selbsterkenntnis als von einem "unmittelbaren Gefühl", das durch keine "ästhetische Gaukelei" ersetzt werden kann, doch dieses "unmittelbare Gefühl, ist gerade das Gegenteil eines unverbindlichen Schwärmens. Es meine eine letzte Ehrlichkeit des Menschen sich selbst und der realen Verfaßtheit seines Daseins gegenüber, die ihm den Weg bahnt zum Hören der Stimme des gekreuzigten Gottmenschen im unverfügbaren Abgrund des Herzens. Nur dieser Abstieg in die Tiefe, diese "Höllenfahrt". läßt den Menschen zu seinem gottmenschlichen Ursprung zurückfinden: sie "bahnt ihm den Weg zur Vergötterung".

"Empfindung" und Gefühl im Sinne eines irrationalen und unverbindlichen Schwärmens beurteilt HAMANN negativ. In einem Brief an LINDNER aus dem Entstehungsjahr der "Sokratischen Denkwürdigkeiten" schreibt er:
"Bauen Sie nicht auf die Empfindung ihres Glaubens, denn die ist öfters ein Betrug unseres Fleisches und Blutes, und hat die Vergänglichkeit desselben mit dem Grase und den Blumen des Feldes gemein."
Um diese Bedeutung des Wortes "Empfindung" kann es also bei der Charakterisierung der Natur des Sokratischen Nichtwissens nicht gehen. HAMANN erkennt offenbar dieses mögliche Mißverständnis und ersetzt deshalb im folgenden Abschnitt das Wort "Empfindung" ziemlich unvermittelt durch das Wort "Glauben". Wir müssen unser Nichtwissen, unsere unendliche Offenheit und Bedürftigkeit "glauben", ebenso wie wir "unser eigen Dasein und die Existenz aller Dinge außer uns" glauben müssen und auf keine andere Art ausmachen können. Nur der selbstherrlich verschlossene Mensch, der seine Vernunft nicht als Organ des hörenden Vernehmens der Wahrheit, sondern als Mittel zum "Selbst-Sehen-Wollen" mißbraucht, hat für diese elementaren Wahrheiten einen Beweis notwendig, was HAMANN "ebenso traurig als lächerlich" findet.

Damit ist gesagt, daß der Mensch, der diese Wahrheiten "glaubt", ihrer sicherer ist, als der, der sie - wie auch immer - "bewiesen" hat. HAMANN zeigt dies am Beispiel der Erfahrung des Todes:
"Was ist gewisser als des Menschen Ende, und von welcher Wahrheit gibt es eine allgemeinere und bewährtere Erkenntnis? Niemand ist gleichwohl so klug, solche zu glauben, als der, wie MOSES zu verstehen gibt, von Gott selbst belehrt wird zu bedenken, daß er sterben müsse."
Nur der ist der Wahrheit des Todes wirklich gewiß geworden, hat sie in ihrem Kern und Wesen erfaßt, der sie hörend erfahren und angenommen ("geglaubt") hat; die bloß feststellende Empirie kann ihm eine wirklich tiefe und tragfähige Erkenntnis darüber nicht vermitteln. Von dieser Tiefe und Tragfähigkeit aber, wie sie allein das hörende Vernehmen der Wahrheit vermittelt, ist die Sokratische Erkenntnis des Nichtwissens.

Hier wird unmittelbar deutlich, wie sehr HAMANN schon in seinem Erstlingswerk den Menschen und seine Fähigkeit des Erkennens von der Sprache her denkt; im Grunde ist hier schon da, was er später ausdrücklich sagt: Nicht der Mensch "erfindet" die Sprache, sondern die Sprache ist Ursprung des Menschen und wer nicht mehr in seinem Wesen ein Hörender ist und sein will, verschließt sich diesem seinem eigenen Ursprung, schneidet sich von der Quelle ab, die ihm ein volles Menschsein und ein sicheres Erkennen gewährt. HAMANN denkt den Menschen so, wie er ihn im Londoner Bibelerlebnis erfahren hat: als Wesen, das angewiesen ist auf das Hören des Wortes, dessen Augen erst aufgetan werden durch den Anspruch der gnadenhaften Urkorrespondenz seines Daseins und dessen wahres Erkennen deshalb ein "Sehen im Worte" ist. Deshalb beschließt und "besiegelt" HAMANN diese Darstellung der Sokratischen Unwissenheit mit einem Wort der Heiligen Schrift und einem versteckten, aber doch deutlichen Hinweis auf sein Londoner Bibelerlebnis:
"So jemand sich dünken läßt, er wisse etwas, der weiß noch nichts, wie er wissen soll. So aber jemand Gott liebt, der wird von ihm erkannt."
Hier ist ein deutlicher Einschnitt innerhalb des zweiten Abschnittes in den Sokratischen Denkwürdigkeiten. HAMANN hat SOKRATES als einen Menschen dargestellt, der sich seines eigenen Selbst, seines innersten Wesens als eines Menschen zutiefst bewußt und inne geworden ist: seiner Bedürftigkeit und unendlichen Offenheit, seiner "Unwissenheit". Im zweiten Teil des zweiten Abschnittes spricht HAMANN von dem Woraufhin der Sokratischen Offenheit; er geht nun genauer ein auf das Wort, das "seine Unwissenheit ersetzt", das in die Bedürftigkeit und Offenheit seines Wesens hineinspricht und das - so müssen wir im Blick auf das Londonerlebnis sagen - als vorgängiges Wort allererst selbst die Offenheit und das Hören "gezeugt" hat; er spricht nun von dem Wort, das dem hörenden Menschen einen Halt und Festigkeit gibt, wie ihn die autonome Vernunft nicht zu geben vermag. Dieses Wort, auf das hin SOKRATES ein Hörender war, ist das Wort seines "Dämon", seines "Genius", wie HAMANN gelegentlich übersetzt.

Was ist darunter genauer zu verstehen? HAMANN läßt die Frage bewußt offen. Er sagt nur, daß man "erstaunen" muß, zu sehen "von wievielen Sophisten hierüber mit so viel Bündigkeit geschrieben worden", obwohl SOKRATES selbst "hierin so unwissend gewesen, daß er einem SIMIAS darauf die Antwort hat schuldig bleiben wollen". Es ist eine Stimme, "die im Verborgenen liegt", "eine heimliche Weisheit"; und SOKRATES ganzes Bemühen bestand darin, seine Mitbürger "aus den Labyrinthen ihrer gelehrten Sophisten herauszulocken" zum Hören dieser Stimme, die auch in ihrem Herzen verborgen ist; er wollte sie wegführen "von den Götzenaltären ihrer andächtigen und staatsklugen Priester zum Dienst eines unbekannten Gottes". SOKRATES liebte und fürchtete diesen verborgenen "Dämon"
"als einen Gott, an dessen Frieden ihm mehr gelegen war, als an aller Vernunft der Ägypter und Griechen, dessen Stimme er glaubte, und durch dessen Wind der leere Verstand eines SOKRATES so gut als der Schoß einer Jungfrau fruchtbar werden kann".
Es wäre zu eng, diese Stimme einfach als die Stimme des Gewissens zu deuten. Es ist vielmehr jene Stimme "aus dem Abgrund unseres Herzens", die HAMANN durch das Londoner Bibelstudium zu Gehör gekommen war, es ist "das Seufzen eines Engels" in der Tiefe unseres Herzens, das oft nur für Gott hörbare "Geschrei" des ungestillten "Hungers", die Not unserer von Gott in uns hineingelegten Sehnsucht nach der Vollendung.

So gesehen ist der "Dämon" gewissermaßen die gerichtete und ins Absolute gesteigerte "Unwissenheit". Der Dämon "ersetzt" die menschliche Unwissenheit nicht durch ein göttliches Wissen; vielmehr ist dieser Dämon selbst ein "unbekannter Gott" und die Unkenntnis dieses Gottes ist gewissermaßen die äußerste Verschärfung der Sokratischen Unwissenheit und ihre klare Ausrichtung auf den persönlichen (weil sprechenden) Gott. Freilich fließen in der faktischen menschlichen Erfahrung menschliche und durch den "Dämon" gesteigerte Unwissenheit in eins zusammen; darum erscheint auch schon die in der Selbsterkenntnis erfahrene Unwissenheit als unaufhebbare und unendliche Bedürftigkeit. Der Unterschied zwischen menschlicher Unwissenheit und der Stimme des Dämon wird aber erfahrbar in der Unbedingtheit und Anspruchsmächtigkeit, mit der diese Stimme den Menschen zur Antwort (Verantwortung) fordert und ihm, sofern er sein Leben als solche Antwort versteht, Rückhalt, Frieden und todüberwindende Sicherheit gibt.

Das ist der gedankliche Kern der "Sokratischen Denkwürdigkeiten": Der Mensch ist seinem Wesen nach ein Hörender auf die Stimme des "Dämon" in seinem Herzen. Aufgabe des philosophischen Denkens ist es, dem Menschen seine Unwissenheit zu lehren, ihn zur Einsicht in seine Bedürftigkeit und sein Angewiesensein auf das Hören der Wahrheit zu führen und ihn dadurch seinem eigenen Wesen näher zu bringen. Denn die denkende Vernunft führt den Menschen ins "Labyrinth", in die "Unordnung", wenn sie "selbst sehen", "selbst offenbaren" will. Die Vernunft hat vielmehr den Menschen auf das Hören des Wortes hinzuführen, denn nur das "Sehen im Wort" führt ihn zur Klarheit. In den "Sokratischen Denkwürdigkeiten" zeigt HAMANN, daß dieses Wort, in dem der Mensch die Welt in ihrem wahren Lichte sieht, nicht unmittelbar das Wort Gottes in der Bibel ist. Entscheidend ist vielmehr, daß der Mensch auf die Stimme "aus dem Abgrund seines Herzens" hört.

Diese Stimme, nicht eigentlich das Bibelwort selbst war es ja auch, die HAMANN in London so tief und entscheidend getroffen hatte. Das Wort der Schrift hatte ihn auf diese Stimme des Herzens hingeführt, hatte den Weg freigeräumt zum Hören dieser Stimme; freilich konnte es das nur, weil es mit dieser inneren Stimme korrespondierte und letztlich mit ihr identisch war. Aber das letztlich verpflichtende Hören richtete sich auf das innere Wort. So haben Bibel und Vernunft im letzten dieselbe Aufgabe: die Wege freizuräumen zum Hören dieser Stimme, wenn auch die Intensität und Wirkkraft des Schriftwortes ungleich größer ist als die Kraft der Vernunft.

Hier erweist sich nochmals, daß HAMANN keineswegs dem Rationalismus der Aufklärung einen wie auch immer gearteten Irrationalismus gegenüberstellt. Vielmehr sucht auch HAMANN die klare, "vernünftige" Erkenntnis, aber er weiß, daß diese nicht möglich ist ohne die Bindung und Abhängigkeit: ohne Hören. Darum setzt er dem "Selbst-Sehen-Wollen" das "Sehen im Worte" gegenüber.

Um diese Interpretation zu untermauern, gilt es noch zu zeigen, wie schon Titel und Motto der Schrift auf diesen gedanklichen Kern hinweisen und ihn in sich schließen. Der vollständige Titel heißt: "Sokratische Denkwürdigkeiten für die lange Weile des Publikums zusammengetragen von einem Liebhaber der langen Weile." Die bewußte Doppeldeutigkeit des Wortes "lange Weile", die schon beim ersten Lesen auffällt, wird jetzt in ihrem Wortsinn deutlich: Zunächst ist sehr wohl damit die Müdigkeit und Lustlosigkeit der Menschen gemeint, die nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen. Ein "Liebhaber" dieser Müdigkeit und Lustlosigkeit aber ist HAMANN nicht, auch wenn er zur Zeit der Abfassung der "Sokratischen Denkwürdigkeiten" ohne Brotberuf lebt. Vielmehr verbirgt sich hinter dem Wort auch noch ein anderer Sinn: Es ist das Sokratische Nichtwissen, die scheinbare System- und Planlosigkeit, die aber nicht aus der Müdigkeit und Lustlosigkeit des Lebens entspringt, sondern aus der Anstrengungn des Hörens. Hörend erfährt der Mensch, daß der Abgrund des Todes, in den seine Korrespondenz mit der Welt abstürzt, nicht eine sinnlose Leere ist, sondern umfangen und getragen wird von einer gottmenschlichen Stimme, einer noch verborgenen und gekreuzigten Urkorrespondenz, die aber, weil göttlich, letztlich unzerstörbar ist und die in den Tod abstürzende Korrespondenz des Menschen mit der Welt von der tödlichen Diskrepanz zu befreien und unzerstörbar neu zu beleben vermag.

Darum ist der hörende Mensch im Grunde ein Wartender, einer, der die letzten Zusammenhänge noch nicht kennt, und der deshalb, statt sich in blinder Aktivität zu verlieren, sich dieses sein "Nichtwissen" eingesteht: seine Offenheit und Bedürftigkeit, die von ihm aus letztlich unaufhebbare, tödliche Leere in der Korrespondenz des Daseins, der er hörend zugehört und von der die Gestalt seines Lebens und seiner Autorschaft geprägt ist. HAMANN weiß aus dem Glauben heraus, daß sich Gott in unbegreiflicher Liebe in die tödliche Leere des Menschen hineingegeben hat und sich dem, der treu und redlich im Hören auf die Stimme des Gekreuzigten ausharrt, einst aus dieser Leere heraus als Fülle Gottes offenbaren wird.

Wenn deshalb HAMANN "für"  d i e s e  "lange Weile" des Publikums schreibt, dann nicht, um sie zu vertreiben, sondern um sie zu "zeugen"; sein Ziel ist es, die Menschen aus der Müdigkeit und Lustlosigkeit, aus dem "Labyrinth" in das ihre blinde Aktivität, ihr "Selbst-Sehen-Wollen", sie geführt hat, "herauszulocken" zu jener echten "langen Weile", deren "Liebhaber" HAMANN ist: zur Offenheit des Hörens und des Harrens auf die Vollendung. Diese "Eitelkeit", diese aus der Korrespondenz des Daseins aufbrechende innere Leere der Welt und des Menschen, erfährt jener Mensch, der sich und die Dinge absolut setzt, als Gericht; wer sich aber glaubend zu dieser Not und Bedürftigkeit bekennt und sie eingesteht, dem wird sie zur "Stimme", die im inneren Halt und Sicherheit gibt.

Mit dem Titel "Sokratische Denkwürdigkeiten" schließlich will HAMANN ausdrücken, daß er nicht die Absicht hat, ein gelehrter "Historiograph" des SOKRATES zu sein, sondern bloß den Menschen seiner Zeit einiges aus dem Gedankengut und dem Leben des SOKRATES zu bedenken geben will, das wert (würdig) ist, bedacht zu werden. Er will auf seine Zeit wirken, aber nicht, indem er durch ein abgerundetes, systematisches Werk die existentielle Unwissenheit des Menschen abtragen hilft, sondern indem er umgekehrt durch einige "Sokratische Denkwürdigkeiten" den Menschen seines Jahrhunderts wieder an diesese letzte Nichtwissen, diese innerste Offenheit und Bedürftigkeit seines Wesens zu erinnern sucht, damit er von dieser Offenheit zum Hören auf die Urkorrespondenz seines Daseins gelange.

Wie einst SOKRATES seine Mitbürger, so will auch HAMANN die Menschen seiner Zeit auf jenen "Dämon" aufmerksam machen, der in einem die Offenheit des Menschen "ersetzt" und ins Unendliche steigert. In den "Wolken", einer kleinen Nachschrift zu seiner Sokratesarbeit, in der er sich mit seinen Rezensenten auseinandersetzt, fügt er sich ganz bewußt in diese Rolle. Er vergleicht sich mit JOHANNES dem Täufer, dessen Aufgabe es war, dem Herrn die Wege zu den Menschen zu öffnen: Er nennt sich "die Stimme eines Predigers, dem das Publikum eine Wüste ist". Seine Sokratesschrift ist jene "thörichte Predigt", welche die Geschlossenheit weltlicher Weisheit und Gelehrsamkeit aufbrechen soll, um sie gerade dadurch vor dem Verfall zu bewahren.
LITERATUR - Georg Baudler, Im Worte sehen - Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns, Bonn 1970