cr-4 LotzeLotzeLotzeL. StählinF. CheliusF. GoldnerH. Pöhlmann    
 
OTTO CASPARI
Hermann Lotze
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"Unwiderleglich hatte  Kant dargelegt, daß unser Intellekt klar und logisch nur in den transzendentalen Formen  von Raum und Zeit denken kann; dennoch hatte er bei der Auflösung der Erscheinungen in diese Grundformen einen letzten Rest behalten, den er über diese Formen hinüberschob, und ihn als ein problematisches Etwas oder als ein  Etwas bezeichnete, von dem man weder sagen könne, es sei zu denken möglich, noch ganz unmöglich. Eben diesen irrationalen Rest eines völlig undenkbaren Überraumzeitlichen haben die Epigonen  Kants zur Grundlage ihrer Konstruktionen gemacht."


V.
Die Kritik der Lehre Lotzes

So erhebend uns LOTZEs Weltanschauung, die uns vor kurzem in ihren Grundzügen PFLEIDERER so schön wiedergegeben und EDUARD von HARTMANN von seinem Gesichtspunkt der Identitätslehre scharf kritisiert hat, anmutet, so verfällt dieselbe doch in einem höheren Maß wie andere einem schwerwiegenden Widerspruch. Es erklärt sich das aus LOTZEs Eigenartigkeit der Untersuchung. Indem er genau nach allen Seiten hin abwägt, gewinnen wir aus seinen Arbeiten eine große Fülle von Anregungen, wir lernen von ihm, wie man die Einseitigkeiten einer oberflächlichen Anschauung zu beseitigen hat, und erhalten durch ihn allemal einen Einblick in alle Schwierigkeiten und in die volle Tiefe eines Problems. Aber in diesen scharfsinnigen Einzelanregungen mehr, als in einem Überblick über die Konsequenz und Widerspruchslosigkeit seiner Gesamtanschauung, suchen wir die hervorragenden Verdienste LOTZEs. Freilich hatte sich LOTZE ein sehr großes weitreichendes Ziel gesteckt; denn nicht sowohl den gewöhnlichen metaphysischen Idealismus der FICHTE, SCHELLING, HEGEL, als ebensosehr den kritischen Realismus HERBARTs, und mehr noch den gewöhnlichen Empirismus der Briten wollte er überwinden. - Gewiß muß man zugeben, daß er sich über alle diese genannten Richtungen erhebt, und man darf den heutigen Empiristen ebenso wie den Idealisten zurufen: "Studiert Lotze!" Von der hegelschen Richtung und der Dialektik unterschied er sich, wie wir sahen, hinsichtlich seiner scharfen Trennung der Formen des Seins (der Existenzen) und der logischen Grundformen, ebenso von der sich daran anlehenden modernen Identitätslehre von Denken und Sein, die es dahin bringt, die reale Negation mit dem logischen Widerspruch zu vermischen und zu verwechseln. Den kritischen Realismus HERBARTs konnte er nicht völlig gutheißen, weil auch hier, wie wir sahen, dem Satz vom Widerspruch eine Rolle zuerteilt wurde, die dahin führte, eine logische Norm der sogenannten Widerspruchslosigkeit aufzustellen, die sich der Natur des Intellekts widersetzte, und welche schließlich dazu zwang, alle empirisch-tatsächlichen Erscheinungen für einen widersprechenden Schein zu halten, um so das letzte Wirkliche und Wahrhafte in einer Art von absoluter Einfachheit zu suchen, die im Grunde nur überempirisch, rein metaphysisch-transzendent und überhaupt  nicht faßbar  sein konnte. Den Empirismus und seichten Sensualismus widerlegte LOTZE durch seinen Rückgang auf KANT, mit dem er im Hinblick auf die Kritik der praktischen Vernunft anerkannte, daß man den tiefsten Halt als Idee und Regulativ, oder besser den wahren Wert des Weltalls und seiner Erscheinungen niemals gewinnen und herleiten kann als eine bloße Resultante von Empfindungsmöglichkeiten, Vorstellungsbewegungen und Gesetzen eines psychologischen Mechanismus; denn eben ein solcher Mechanismus mit seinen Förderungen und Hemmungen der Teilchen bliebe sinnlos und unverständlich, wäre allen Teilchen nicht  ursprünglich und gleichzeitig mitgegeben  und eingeboren ein inneres Schätzungsvermögen für den Wert eines aufrecht zu erhaltenden Gesamterlebnisses als Lebensidee, die allen Teilchen eben dieses Mechanismus erst hinsichtlich ihres Wirkens Sinn, Leben und Verständnis gibt. Dieser Grundwert ist nach LOTZE die Idee des Guten, und der sich daraus herleitende Ethizismus ist LOTZEs tiefsinnige Weltanschauung. Aber eben um die Fassung dieses Grundwertes wird die Kritik mit ihm zu rechten haben.

Die Erkenntniskritik der von KANT aufgestellten Lehre konzentriert sich vorzugsweise auf die Unterscheidung von Ding-ansich und Erscheinung. Es ist hier nicht der Ort, zu erörtern, wie KANT auf diese eigentümliche Trennungsweise in unserer erkenntniskritischen Auffassung gekommen war. Wenn aber bekanntlich die Kritik KANT sehr bald entgegenhielt, daß man ohne diese wunderliche Trennung seine Philosophie nicht versteht, und sich bei all dem getrieben fühlt, dieselbe wieder zu verwerfen und loszuwerden, so dürfen wir ihr nicht unrecht geben. Fügen wir im weiteren hinzu, daß dieses eigentümliche Begriffsgebilde vom Ding-ansich in der Folge die Spekulation ebensosehr beherrscht hat, wie ehedem die Begriffe vom Unendliche und Endlichen. Wollen wir die ganze Welt verstehen, so müssen wir das Unendliche erfassen, und doch ist eben dieses so groß und indeterminabel, daß wir es nicht zu fassen imstande sind, weil wir als endliche Wesen anschaulich  nur das Endliche  begreifen und verstehen. Überblicken wir mit dem Verstand das All, so zerlegt es sich in eine Summe von Relationen, deren Gewebe und ins Unfaßbare sich verlängernde Gespinst von Raum und Zeit uns nur deutlich wird durch die Hinzufügung eines sogenannten Absoluten, das als ein Letztes diese Relation trägt und die Fragen nach ihrem Sinn und ihrer Bedeutung zum Abschluß bringt.
    "Der eigentümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt", so drückt sich  Kant aus, "ist der: zu der bedingten Erkenntnis des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit derselben  vollendet wird." (22)
Alle Spekulation war zu jeder Zeit darauf gerichtet, eben dieses Unbedingte und Unendliche als das zusammenhaltende Band des Alls (als Idee) zu ergründen.

Aber die Frage, die hiermit entstand, war die: Ob dieses Unbedingte nur einen ewig erhabenen  Wert  einschließt, oder ob man diesen Wert substanzialisieren darf, um, wie FICHTE darunter ein Ich-ansich, ein Wesen oder eine Person oder aber ein Etwas verstehen darf, das wie bei ARISTOTELES das unbewegt Bewegende war. Diese Frage: ob das Unbedingte ein Wesen, eine Substanz oder substantiale Macht war, die ein ansich strenges Substrat aufweist, ist bekanntlich eine schwerwiegende Grundfrage der Metaphysik. War schon von jeher die Unklarheit der Begriffsfassung bezüglich der Trennung und des Verhältnisses vom Unendlichen zum Endlichen ein großes Kreuz für die Philosophie gewesen, und blieb sie ein solches ebenfalls in der Geschichte der neueren Philosophie seit DESCARTES, so mußte sich das aus dieser Unklarheit entspringende Unheil jetzt nur noch steigern; denn solange man mit SPINOZA (um nur diesen als einen der stärksten Anhänger dieses Gegensatzes zu nennen), das Unendliche als das  schlechthin Unfaßbare (Indeterminable)  erkannte gegenüber dem Endlichen, als erkennbar Faßbaren, konnte eine Definition über die Einheit des Unendlichen im Endlichen nur das  Faßbare-Unfaßbare,  d. h. ein hölzernes Eisen bedeuten.

Der Überblick über den geschichtlichen Verlauf der philosophischen Epigonenzeit nach KANT zeigt uns, daß alle hervorragenden Denker am Grund- und Fußpunkt ihrer Philosophie ein derartiges hölzernes Eisen niedergelegt haben, an dessen Lufthaken sie ihr architektonisch entwickeltes Gedankengebäude aufzuhängen versuchen. Die Kritik hat dargelegt, daß hier eine Reihe von schiefen und haltlosen Anschauungen zusammenkommt, um das philosophische Denken irre zu leiten. Unwiderleglich hatte KANT dargelegt, daß unser Intellekt klar und logisch nur in den transzendentalen Formen  von Raum und Zeit  denken kann; dennoch hatte er bei der Auflösung der Erscheinungen in diese Grundformen einen letzten Rest behalten, den er über diese Formen hinüberschob, und ihn als ein problematisches Etwas oder als ein Etwas bezeichnete, von dem man weder sagen könne, es sei zu denken möglich, noch ganz unmöglich. Eben diesen irrationalen Rest eines völlig undenkbaren Überraumzeitlichen haben die Epigonen KANTs zur Grundlage ihrer Konstruktionen gemacht. Wie PLATON bei KANT in deutlichen Nachklängen aufweisbar ist, und nach ihm sich ein Reich der Ideen in der Vernunft  über alle Bedingungen des Verstandes und aller raumzeitlichen Erfahrung erhebt,  so bei seinen idealistischen Nachfolgern. Die Scheidung des Alls in ein Diesseits (Raum, Zeit und Kategorien) und ein  toto coelo [himmelweit - wp] hiervon verschiedenes Jenseits, als ein Unausdenkbares (unfaßbares) Unendliches, gewinnt von neuem Boden. Die letzte unbedingte Grundbedingung wurde daher nicht mehr im Universum selbst und seinen immanenten Beziehungen und Formen, und nicht als Wertregulativ in diesen selbst, sondern vielmehr in einem  deux ex machina [Auftauchen einer Gottheit mit Hilfe einer Bühnenmaschinerie - wp]  über und außer ihm gesucht.  Zu dieser Wendung hin auf PLATONs absolutes Jenseits mit seinen überweltlichen Göttern (Ideen) und dem obersten Gott des Guten, war der Zeitgeist zu Beginn dieses Jahrhunderts ganz besonders vorbereitet. Mystizismus, Romantik und ins Unanschauliche sich vertiefende Herzensregungen hatten dem Geist die Unart beigebracht, alle Form- und Intellektgesetze zu mißachten und sich in den Abgrund eines gänzlich formlosen Wesens zu vertiefen, das man völlig über die Grundformen von Raum und Zeit hinausleiten konnte, als ein sogenanntes Allervollkommenstes (ens realissimum), dem man alle Existenzen und Bedingungen ontologisch unterordnen kann. So entstand der moderne Unbegriff eines Absoluten = einem überraumzeitlichen idealen Wesen, als Muster für das durch KANT nicht erkannte Ding-ansich, als einschränkenden Grenzbegriff, dessen Kritik ohne Zweifel doch zunächst hätte hinführen sollen auf die Untersuchung einer jeden denkbaren Grenze und auf ein Zusehen, ob eine solche Veranlassung bieten kann: das All zu spalten in ein logisch-reales Diesseits und in ein  toto coelo hiervor verschiedenes Jenseits,  in welchem  allein  das sogenannte Absolute als ein übergreifendes absolutes Wesen Platz nahm. Hiermit hatte man zugleich wieder angeknüpft an SPINOZAs Lehre des unfaßbaren (indeterminablen) Unendlichen, gegenüber dem völlig verschiedenen Endlichen, und war zugleich übergetreten in eine Einheitslehre (als Absolutismus), die über alle Vielheit und Form indeterminabel, und vom Verstand und Intellekt durchaus unerkennbar, hinauslag. Hätte LOTZE, der sich mit HERBART, mit HEGEL und den Empiristen oft so scharfsinnig auseinandersetzte, sich über die Fehlerhaftigkeit der Gedankengänge seiner Zeit kritisch erhoben, so hätte er vor allem den Begriff des sogenannten Absoluten und damit im Zusammenhang des absolut indeterminablen Unendlichen einer Kritik unterziehen müssen.

Einige wenige Spuren ausgenommen, hat LOTZE aber eben diese schwerwiegenden Gedankengebilde unserer modernen Zeit nicht weiter untersucht (23). Diejenige oberflächliche Auffassung so vieler Kantkritiker freilich, nach welcher das sogenannte Ding-ansich umhüllt war, teilte er nicht, und oft wiederholte er dem gegenüber, was denn die Erkenntnis in aller Welt noch mehr wolle und verlangen könnte, als daß sich die Dinge eben untereinander  erscheinen.  Hinwiederum erkannte er gegen die Empiriker recht wohl, daß die Summe der Erschinungen haltlos auseinander fließt, wäre nicht in allen die Spur einer Idee, welche als ein unbedingt Wertvolles und Sinnvolles (also in diesem Sinne ein Unbedingtes), das sie zusammenführt wie die gesetzliche Grundform die Teilchen eines Kristalls. Wie nun diese Idee zu fassen, und ob man dieselbe als einen unbedingten höchsten Wert (als feste Norm oder als höchstes Postulat) anerkennen, oder aber, ob man diese Idee als ein Wesen oder eine Person substantialisieren darf, das war die prinzipielle Frage. Nimmermehr freilich durfte man das in diesem Sinne Unendliche hinstellen, als das  Grundverschiedene  von allem endlich Raumzeitlichen, um es als absolutes Ding-ansich anzusetzen. Je mehr man aber die altklassischen Philosophen, insbesondere, wie schon oben erwähnt, PLATON von Neuem zum Vorbild nahm, je mehr versuchte man die Ansicht zu rechtfertigen, daß es ein Gebiet des  rein Übersinnlichen  und Intelligiblen gäbe, das als ein Reich der Idee  toto coelo [himmelweit - wp] von allen raumzeitlichen Erscheinungen  verschieden  war. Was nun auch das Ding-ansich sein mochte, und so wenig es der Verstand in der Vorstellung erreichen konnte, innerhalb jenes Intelligiblen als einem schlechthin Unendlichen, mußte es substantialisiert werden. Wie bezüglich PLATONs Kritik der ARISTOTELES bereits gerichtet war: wie die Ideen als starre Hypostasen [Vergegenständlichungen - wp] eines  völlig Transzendenten  raumzeitlich und überraumzeitlich intelligibel widerspruchslos zu denken waren, so mußte jetzt die Kritik von Neuem fragen, ob man auch hier unter einer Erfassung des substanzialisierten Dings-ansich als eines Absoluten, und als  unfaßlich Unendlichem,  nicht etwa nur einer Täuschung unterlag, d. h. ob man hiermit angab etwas zu denken und zu bestimmen, was man eben niemals irgendwie denken und bestimmen konnte. Genau, wie man bei SPINOZA in Verwunderung gerät, sobald wir sehen, wie er im Unendlichen, das er als das  schlechthin Unfaßliche  völlig vom Endlichen und somit auch von unserem endlichen Geist trennt, eben dieses Unfaßlich aber als  amor Dei intellectualis [intellektuelle Liebe zu Gott - wp] plötzlich  erfaßt  haben wollte, so auch hier. Das durch kein Denken Erfaßbare sollte ohne alles Denken rein und voll, wenn auch intelligibel  erfaßt  werden. Indessen, was sich vor dem  Denken  als ein hölzernes Eisen ausweist, nämlich das Unendliche als Faßbar-Unfaßliches, das kann gewiß auch unter dem Licht eines rein Intelligiblen und Idealen  keinen Wert  erlangen und zwar weder als Substanz noch als Wesen überhaupt.

So verhielt es sich auch mit dem kantischen Ding-ansich. Die Kritik des Dings-ansich, als ein rein Intelligibles, oder als ein übersinnlich Unendliches und als reine Substanz, muß anheben mit der Untersuchung über das Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen. Sollte es sich dabei zeigen, daß das sogenannte Unendliche, genau wie die übrigen raumzeitlichen Kategorien, nur  innerhalb der Relation eines sinnlichen Schemas klar erfaßt werden kann,  und ein schlechthin Unbedingtes und Unvergängliches als eine Form oder Regulativ nur  innerhalb raumzeitlicher Beziehungen denkbar und vorstellbar  ist, so würde hiermit jenes schlechthin Übersinnliche, als ein völlig Undenkbares,  überflüssig werden.  Diese Untersuchungen sind indessen von den Epigonen KANTs nicht geführt worden. Im Gegenteil immer mehr hatte man sich den griechischen Anschauungen des PLATON hierüber wieder genähert. Die Gegensätze von Sein und Schein und von einem  unerkennbar  Wirklichen gegenüber der endlichen, vergänglichen auffaßbaren Sinnlichkeitswelt tauchten von Neuem auf. Es geschah dies nicht nur in der idealistischen Richtung der FICHTE, SCHELLING, HEGEL, sondern ebensosehr auch in der transzendenten Richtung von SCHOPENHAUER und HARTMANN. Auch HERBART findet diesen  absoluten Gegensatz  in einer rein übersinnlichen Norm als ein schlechthin  Widerspruchsloses,  das ihm in einem solchen Sinn ein absolut Einfaches in einer ansich  absoluten  Position war, auch ihm gestaltete sich die ganze Erfahrungswelt, weil sie diesem  übersinnlichen Ideal  nicht nachkam, zu einem bloßen empirischen Schein, den man umgestalten und bearbeiten muß. Auch hier ist es also, wie dargelegt, der schärfste Gegensatz der uns entgegenspringt zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, zwischen dem Endlichen und dem absolut hiervon verschiedenen Unendlichen, zwischen Sein und Schein, zwischen Idee und Erscheinung, Einfachheit (Einheit) und Vielheit und was dergleichen Formulierungen mehr waren. Wie DESCARTES und SPINOZA diesen Gegensatz in der unendlichen Substanz nicht überwinden konnten, ebensowenig KANT, bei dem er sich einführte durch den Gegensatz der Ding-ansich-Idee und der sinnlichen Erscheinungswelt raumzeitlicher Formen. Nicht anders in der nachkantischen Philosophie. Auch hier  der schroffste Gegensatz  von einheitlicher Idee und vielheitlicher, vergänglicher Sinneswelt als Erscheinung. Man darf behaupten, daß sich DESCARTES, und mehr noch SPINOZA in der nachkantischen Epigonenphilosophie eine neue Geltung eroberten. Auch für LOTZE war das der Fall, auch von ihm muß die Kritik bekennen, daß er um seine Weltanschauung abzuschließen in den Absolutismus verfiel. Freilich gewinnt er diesen Abschluß seines Philosophierens nicht rein dogmatisch, und seine Lehre über die Grund- und Ursubstanz, welche er als eine  Allpersönlichkeit  anspricht, ist keine schlechthin dogmatische Voraussetzung, die, wie man wohl gemeint hat, der religiösen Atmosphäre der Göttingische Zunft entsprang, sondern kritisch nach den eingehendsten Erwägungen sieht sich LOTZE gleichsam gezwungen seine so klar entwickelte Vielheitslehre zum Teil wieder  preiszugeben  gegen den spinozistischen Grundbegriff einer in sich absoluten einheitlichen  Allsubstanz,  welche nach ihm aber zugleich als eine Allpersönlichkeit aufgefaßt werden sollte.

Man wird nicht leugnen können, daß in der Anlage seines Systems eine solche Konsequenz nicht lag; denn in ebenso hohem Maß, wie das Wesen der Allpersönlichkeit, betonte LOTZE auch die  Autonomie  der einzelnen Psychen als Individuen und Einzelpersönlichkeiten,' und deshalb gerät er in eine Antinomie, in welche zu stürzen schon so vielen beschieden war. Dieselbe überblickt man, sobald wir das Verhältnis von Einheit und Vielheit überblicken.

Wird die  Vielheit  der Einzelnen derart  betont, daß sie autonome (freie) Individuen als psychische Persönlichkeiten  repräsentiert, so wird durch die Autonomie dieser Einzelnen die strengen  Einheit der in allen lebenden Allpersönlichkeit durchlöchert.  Umgekehrt betonen wir mit Nachdruck die freie und allwirkende individuelle  Persönlichkeit  der Ursubstanz,  so verflüchtigt  sich hiermit die persönlich  freie Autonomie der Einzelne, und es sinken diese herab zu bloßen Modifikationen oder Phantasiespielen des ihnen übergeordneten absoluten, persönlichen All und Einen.  Wir überblicken ja wohl alle die Motive, welche das subtile [tiefgründige - wp] Nachdenken LOTZEs hinüberführten zu jener metaphysischen Substantialisierung des höchsten Wertbegriffs, aber wir wollen uns deshalb doch nicht die Schwierigkeiten verhehlen, die hierdurch entstehen. Auf den Begriff des spinozistischen Unendlichen als dem Absoluten überhaupt zurückzugehen, das sehen wir, lag im Geist der Zeit, dem sich der einzelne Denker schwer entziehen kann. Indessen wird die Kritik nicht davon ablassen, diesen spinozistischen Unendlichkeitsbegriff auf seine Bestandteile hin zu untersuchen, und ihm beständig den Unendlichkeitsbegriff eines LEIBNIZ entgegensetzen, in welchem neben der unendlichen Zentralmonade auch die übrigen selbständigen Monaden als kleine, ebenso unendliche Wesen ihren Platz finden. Es hätte LOTZE vielleicht näher gelegen, sich das Verhältnis von Einheit und Vielheit zurechtzulegen mit Hilfe einer Umbildung und gleichsam Modernisierung von LEIBNIZ' Weltordnung. Wer hielt ihn denn ab, den proklamierten Absolutismus seiner Anschauung maßvoll auf eine unendliche Konstitution von Monaden zurückzuführen, in deren Verfassung die höchste Zentralmonade mehr koordiniert und als erster Diener derselben figurierte. Es wäre doch höchst fragwürdig, ob eine solche Weltanschauung, die den Weltabsolutismus der Ordnung gegen eine Weltkonstitution (um uns der so naheliegenden staatswissenschaftlichen Termine zu bedienen), eintauscht, weniger edel, weniger erhaben und ethisch wäre. Ein auch von uns sehr verehrter Anhänger LOTZEs, EDMUND PFLEIDERER, der bezüglich der oben angedeuteten Antinomie meine Bedenken teilt (24), sagt, daß sich für das von LOTZE aufgestellte Allwesen,
    "das ebensosehr  für sich ist, wie es  für ander lebt, und ohne sich über diesen seinen Gliedern oder seine Glieder über sich zu verlieren, kaum ein schlagenderer Ausdruck finden läßt als ihn das einfache Wort der Bibel uns lehrt, wenn sie sagt:  Gott ist die Liebe."
Ich kann PFLEIDERER indessen nicht voll und ganz zustimmen; denn wir lieben nicht aus vollster Tiefe was unter unst steht und was wir, wie unsere eigenen Glieder, absolut beherrschen und bewegen, wir lieben wahrhaft nur, was uns ebenbürtig entgegentritt, wie andere uns nahekommende oder sich koordiniert mit uns  ergänzende  Wesen oder Individuen. Wenn Gott die Liebe ist, weshalb sollte sie nicht ebenso, und vielleicht noch tiefer und besser, im Organismus von drei verschiedenen Persönlichkeiten des Höchsten, als in einer nur ansich absolut einfachen und  einzigen  Allpersönlichkeit, zum Ausdruck kommen, die doch nur  ihre Teile  und Glieder lieben kann. Ein solcher Organismus braucht nicht etwa mit dem Substrat der Dreieinigkeit in kirchlicher Hinsicht verwechselt zu werden. Denn hier sind  drei  Personen gemeint, die stets auseinander sein  müssen,  und trotzdem genau  eine  Person sein  sollen.  Weshalb sollte es im unerforschlichen All nicht mehrere einander ebenbürtige unendliche Zentralmonaden geben, welche in Liebe einander ergänzen und in Tiefe durchdringend das Weltall beherrschen? Vielleicht wird man das Polytheismus [Vielgötterei - wp] und Heidentum schelten. Indessen brauchen wir wohl kaum hinzuzufügen, daß von der rein sinnlichen Ausdrucksweise dieser Auffassung im Heidentum und Griechentum, bis zu der viel mehr spekulativen und philosophischen, der auch unsere christliche Trinitätsanschauung unterstellt ist, noch ein weiter Weg ist. Wir führen diese theologischen Gedanken hier nur an, um die Einsicht in die Schwierigkeiten offen zu halten bezüglich der oben erwähnten Antinomie zwischen Einheit und Vielheit, der LOTZE verfallen ist, und die er zugunsten einer abstrakten und an das Spinozistische streifenden Lehre von der absoluten Allpersönlichkeit gelöst hat. Unverkennbar hat LOTZE einen Gedankengang von LEIBNIZ rückwärts zu SPINOZA vollzogen, ein Weg, der sich in einer ähnlichen Weise auch bei KANT verfolgen läßt. Der große Zug der Zeit in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hatte auch LOTZE, wie schon mehrfach hervorgehoben wurde, mit sich fortgerissen.

Untersuchen wir aber kritisch die Gründe, welche einen nach empirisch-sinnlicher Seite so umfangreich gebildeten Kopf wie LOTZE in die platonisch-spinozistische Lehre, bezüglich der Setzung einer übersinnlichen rein metaphysischen Einheit als Absolutes hinüberführen konnte, so können wir eine Erklärung hierzu allein in der eigentümlichen Auffassung des Unendlichkeitsbegriffs auffinden, über welche er ebenso wie die Mathematiker und die Philosophen des Mittelalters und der neueren Philosophie dazu neigte, ein schlechthin Relationsloses, mit dem Verstand also  Unfaßbares  und  Indeterminables,  somit schlechthin Übersinnlich-Abstraktes, aufzusuchen.

Da der Mechanismus der Endlichkeiten mit der endlosen Kette seiner Bedingungen in sich wertlos und unverständlich sinnlos blieb, mußte ein schlechthin Unbedingtes (als Idee) hinzukommen, das allem nur erst Sinn und Verständlichkeit verlieh. Das wird man zugeben müssen, nur dies aber nicht, daß jenes Unbedingte als Idee Wert und Regulativ, zugleich eine wesenhafte Substanz und Persönlichkeit sein mußte, und ferner, daß es ein schlechthin Übersinnliches und somit  toto coelo Verschiedenes  von allen sinnlichen Endlichkeiten war, sodaß eine  metabasis eis allo genos [willkürlicher Sprung auf ein anderes Gebiet - wp] eintrat, der sich der Intellekt nicht fügen kann. Das den Verstand tief drückende Problem zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit und dementsprechend: zwischen raumzeitlicher Sinnlichkeit und übersinnlicher Norm, hatte LOTZE keiner besonderen Untersuchung unterzogen. Wie so vielen Denkern, vor allem auch KANT, schien auch ihm dasselbe von seiten des Verstandes (Intellekts)  gänzlich unlösbar,  oder doch nur allein dahin lösbar, daß die vielheitlichen Endlichkeiten (als raumzeitliche Relationen) nur eine unvollkommene bloße Scheinwelt repräsentieren, hinter der  grundverschieden  davon, eine überraumzeitliche substantiale Einheit (als ein indeterminables schlechthin Absolutes und Transzendentes) gesetzt werden muß. So geriet er dann in denselben Widerspruch, wie alle seine Zeitgenossen, um ähnmlich wie ehedem SPINOZA, dem verstandesmäßig schlechthin Indeterminablen  dennoch  eine sehr klare (determinable) Bestimmung zuteil werden zu lassen. Hatte SPINOZA das schlechthin  Unfaßbare  als die Liebe aufgefaßt, FICHTE, SCHELLING, HEGEL als absolutes Welt-Ich, als Weltseele oder absolute Weltidee und dgl. mehr, SCHOPENHAUER als Wille, andere als Unbewußtes, so hatte LOTZE den Nachdruck, ähnlich wie CHRISTIAN FRIEDRICH KRAUSE, dabei auf den Wert der individuellen Persönlichkeit gelegt, und sein Unfaßbares ist daher die unendliche absolute Allpersönlichkeit.

Da sich nun aber der Verstand kritisch nicht um sich selbst bringen läßt, wird er eben diese Wendung stets  als ein Unfaßbar-Faßbares, d. h. als ein hölzernes Eisen hinstellen,  mit dem sich nichts anfangen läßt, und bei dem die philosophische Weltauffassung nicht stehen bleiben kann.

Werfen wir dieser Lösung gegenüber, die wie sich erhellt hatte alle Vorzüge und Fehler des reinen Idealismus aufweist, nochmals einen Blick auf die Auffassung HERBARTs, so ergibt sich, daß derselbe, um die größtmögliche Widerspruchslosigkeit zu erreichen, die oben bezeichnete  metabasis eis allo genos  nicht beging, und bei der Feststellung des tatsächlichen Mechanismus, bzw. bei der Vielheit realer Wesen im Grunde stehen blieb. Aber unverkennbar war ihm eben diese Vielheit, indem sie ohne allen und jeden Widerspruch (d. h. nach HERBART ohne jede Negation und Relation) gedacht werden sollte, zu einem völlig übersinnlichen und unfaßbaren rein metaphysischen Abstraktum erstarrt, das sich mit der konkreten Sinnlichkeit und dem raumzeitlich Empirischen (das Wechselwirkung, Werden und Veränderung einschloß) gar nicht mehr vermitteln ließ. Wenn die Idealisten und LOTZE auf eine abstrakte übersinnliche (somit unfaßbare) Einheit als Absolutes hinsichtlich des Unbedingten und der Idee geraten, so hatte HERBART die starr unfaßliche, übersinnliche Vielheit ansich gesetzt. Ob aber das unerkennbare Unendliche ansich eine unfaßliche Einheit, oder eine unfaßliche Vielheit schlechthin übersinnlich einfacher Wesen bildet, bleibt sich im Grunde gleicht. HERBARTs kritischer Realismus ebensowenig wie der Idealismus der Epigonen KANTs und derjenige LOTZEs hatte das Problem gelöst. Die Philosophie lief daher Gefahr nach diesen vergeblichen Anstrengungen von Neuem in einen Skeptizismus zu versinken, oder aber es war Aufgabe nach einer Lösung bezüglich der Antinomie von Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit bzw. von raumzeitlicher Endlichkeit und Unendlichkeit zu suchen.


VI.
Hinweis auf die neue Aufgabe
der Philosophie.

Ein Rückblick auf die Erkenntniskritik nach KANT läßt uns erkennen, daß die rein metaphysischen Richtungen des Idealismus sowohl in der Form, die ihnen FICHTE, SCHELLING, HEGEL und die seinen erteilte, als auch in der pessimistischen Weise, wie sie die transzendente Richtung der SCHOPENHAUER-HARTMANN zur Geltung brachte, sich überlebt haben. Diese Richtungen gehen zugrunde am Widerspruch des Transzendenten (als Ding-ansich und als Idee); denn eben dieses war das Unfaßbare, es sollte aber als Idee zugleich allem  immanent,  für alle also dennoch innerlich erfaßbar sein. -

Auch der kritische Realismus HERBARTs hatte sich mit Rücksicht auf eine eigentümliche überempirische Fassung des Widerspruchs, nach welcher, wie wir sahen, alles Einzelne von Relationen und Negationen gänzlich befreit gedacht werden sollte, und das gesuchte Widerspruchslose  zugleich als das schlechthin Relationslose und absolut Einfache hingestellt wurde,  in eine abstruse Metaphysik- und Prinzipienlehre hineingearbeitet, die ansich unhaltbar war. LOTZE sahen wir, hatte nach Seiten seiner naturphilosophischen Darlegungen, indem er sich zugleich mehr zu LEIBNIZ zurückwandte, diese Prinzipienlehre einer Umbildung unterzogen, dasselbe geschah von Seiten ROBERT ZIMMERMANNs, der sich seinen Standpunkt kritisch gewann durch einen Vergleich der Monadologien LEIBNIZ' und HERBARTs (25). Während LOTZE auf dem Fundament seines naturphilosophisch entwickelten Psychismus eine Ethik und Ästhetik aufstellte, welche ihrem Prinzip und ihrer Idee gemäß von Neuem ins Transzendente (Unfaßbare und absolut Übersinnliche) überschlug, verfolgte ZIMMERMANN bezüglich dieser Lehren einen anderen Weg, der HERBARTs Ansicht wieder näher kam.

Überblicken wir alle Richtungen, so erkennen wir, daß sich die neueste Philosophie in eine schwierig zu lösende Antinomie hineingearbeitet hat. Auf der einen Seite derselben stehen die Idealisten und Rationalisten, welche von einer Generalidee des Alls ausgehen, dieselbe aber spinozistisch indeterminabel,  d. h. schlechthin übersinnlich und unfaßbar und überempirisch transzendent hinstellen,  um von hier aus rein aprioristisch starre und gegen die Instanzen der veränderlichen, sinnlichen Natur und Erfahrung  unhaltbare Konstruktionen  zu unternehmen. Nebendem aber finden wir dann zugleich die Realisten (Herbartianer), die der Erfahrung Rechnung zu tragen suchen, dabei aber in den früher angegebenen Widerspruch hineingeraten. Andererseits aber sind diesen Richtungen gegenüber die modernen Empiristen, Sensualisten und Positivisten zu beachten, welche von den Tatsachen induktiv ausgehen, bei ihren reinen Induktionen aber die Einheit als leitende allgemeine Gesamtidee (Regulativ) einbüßen. Sofern einige der Empiristen und Positivisten aber scheinbar auch von einer leitenden Gesamtidee reden, so gewinnen sie dieselbe doch nur als eine sogenannte Resultante, die, weil sie zu verschiedenen Zeiten je nach Umständen  verschieden, sich für alle Zeiten auch nicht als ein Regulativ logisch beweisbar, d. h. notwendig und verbindlich feststellen läßt.  Strebte die Partei der Idealisten, mit Hinblick auf PLATON ins  rein übersinnlich und überempirisch Transzendente,  so blieben nun jene haften am rein individuell Sinnlichen und Emprischen, das in tausend einzelnen ethisch-ästhetischen Geschmacksurteilen auseinanderstrahlt, die sich nur zufällig, und in verschiedenen Zeitläufen verschieden, zu einer  Resultante  und Hypothese verdichten, die sich in der Ethik keine verbindliche, mustergültige Autorität zumessen kann. Hier also bei den Empiristen und Positivisten wird die verbindliche Autorität als Regulativ empirisch  nie gefunden,  und dort bei den rein platonisierenden Idealisten hüllt sich diese Autorität in einen unfaßbaren Schleier und Nebel des rein Transzendenten, das sich mit dem faßlichen Wechsel und der empirischen Veränderung ebensowenig wie mit dem Individuellen und sinnlich Mannigfaltigen der Natur vermitteln kann, weil es seiner überempirischen Starrheit halber zu übersinnlich-unfaßbar und unzugänglich ist.

Suchen wir nach den Gründen, welche diesen schwerlastenden Bann der angegebenen Antinomie erzeugt haben.

Der Gegensatz zwischen dem Sinnlichen und einem Übersinnlichen, als ein Gegensatz  toto coelo,  ist älter als die Geschichte der Philosophie, und läßt sich zurück verfolgen bis auf die Anschauungen, welche in prähistorischer Zeit den Gegensatz vom sinnlichen Leib und der sich unsichtbar hiervon im Tod abscheidenden Seele erzeugten. -

Es ist hier jedoch nicht der Ort, das zu erörtern (26). Wichtig aber ist es darauf hinzuweisen, daß sich später dieser Gegensatz am stärksten entfaltete in der Philosophie der Eleaten, welche die Begründer eines Unbegriffs wurden, der durch seine rein metaphysische und überempirische  Starrheit  für das an die Sinnlichkeit und Anschaulichkeit gebunden Denken  jede  Handhabe verlor. Mit dem Unbegriff eines schlechthin Transzendenten und einer reinen überempirischen  jenseitigen Idee  wurde später von PLATON von neuem an diesen so entstandenen  unfaßbaren Gegensatz  angeknüpft. In der neueren Philosophie sehen wir ihn sogleich wieder auftauchen, nachdem die Scholastiker die Begriffe von Unendlich und Endlich in eben diesen unversöhnlichen Gegensatz bereits hineingepreßt hatten. DESCARTES und SPINOZA gaben der Unendlichkeit ihrer Ursubstanz keinen anderen Ausdruck, dem Denken gegenüber erschien dieselbe rein indeterminabel als  deus ex machina, der als ein hölzernes Eisen neben dem Ganzen des Universums schwebt. In die neueste Philosophie aber ist die absolute Ausschließbarkeit und Undenkbarkeit des Gegensatzes von Endlich und Unendlich hineingekommen  durch Kants Anlehnungen an Platon und die Eleaten. (27)

Denkbar und determinabel waren nach KANT nur die endlichen Erscheinungen, unbegreiflich schlechthin die reine Idee des Dings-ansich, das der Glaube und die Postulate der praktischen Vernunft als ein unfaßbar Unendliches und Absolutes nebendem zu fordern schien. Die unlösbare Antinomie zwischen der praktischen und der reinen Vernunft bei KANT hat ihre Wurzeln im Gegensatz der  toto coelo  zwischen dem Endlichen und Unendlichen gesetzt war, und zwar nach dem Muster eleatisch-platonischer Denkweise.

Während so die Eleaten, die Platoniker und Idealisten die völlige Impotenz des Denkens und sinnlichen Vorstellens bezüglich der Erfassung des Unendlichen aussprachen, war es bekanntlich ARISTOTELES, der bereits nach einer  Vermittlung  dieses scheinbar unversöhnlichen Gegensatzes suchte. Zu diesem Zweck wurde von ihm zunächst die  ins Endlose  führende Reihe als wertlos und als eine sogenannte schlechte Unendlichkeit verworfen, weil eine solche nur ins Abstrakte und Blaue hinführt. Eine solche Unendlichkeit erscheint nur als ein ewiges Unfertiges und nicht Zustandekommendes, aber nicht als wahrhaft Unvergängliches und somit nicht als ein wahrhaft Unendliches. Jene chimärische Unendlichkeit gleicht dem Faß der Danaiden, das den Menschen äfft, weil er  vergißt gleichzeitig nach dem Boden zu suchen,  um das fließende Wasser neben dem zu behalten, um so daß Faß samt seinem nötigen Inhalt ewig (unendlich) wälzen zu können. Die Platoniker suchten, ebenso wie die Eleaten dem ARISTOTELES gegenüber, nach einem schlechthin  beharrenden Unendlichen  (das ansich ein Starres war), ein solches konnte selbstverständlich  sinnlich nie gefunden  werden; denn im Sinnlichen war alles zugleich ein Werden, Verändern und lebendiges Wechseln. ARISTOTELES aber war der Lösung nahe, doch seine Denkweise war der platonischen  zu sehr verwandt,  als daß er dieselbe hätte voll und ganz durchführen können. Wohl erklärte er, daß die wahre Unendlichkeit kein überempirisch  rein Beharrendes  (Unbedingtes, Absolutes etc.) sein kann, sondern ebensosehr auch ein relativ Werdendes und Wechselndes war, aber trotz dieser Betonung legte er hinterher doch schließlich wiederum einen besonderen  Nachdruck  auf die Beharrung und als er versuchte das wertvoll Unendliche nach seiner Naturseite durch ein anschauliches Schema zu erfassen, da gestaltete sich ihm die gefundene ewige Bewegung zu einer Kreisbewegung und einem starren Unbewegt-Bewegenden. Beharrung und Wechsel (Sinnliches und Übersinnliches) schienen ihm in diesem Schema eines Unbewegt-Bewegenden  ausgeglichen.  Bei genauerem Hinsehen ersieht man jedoch bald, daß die  freie Bewegung  und das wahre Werden und Verändern aller  autonomen Teile  innerhalb dieses Schemas nicht besteht, oder doch nur zum Schein besteht, da alle Eigenbewegungen der Einzelnen übergriffen, bevormundet und teleologisch streng beherrscht werden durch das übergeordnete Schema des Unbewegt-Bewegenden als ein absolut ruhendes und starres Zentrum in einem  gänzlich hiervon verschiedenen Fluß des übrigen Kreises.  So ist es also dennoch das übergeordnete schlechthin  Beharrende,  das herrschend vorgreift und die freie Fort- und Gegeneinanderbewegung  der Teile  zum Schein herabdrückt. Hätte ARISTOTELES, anstatt der gefundenen und sich widersprechenden starren und beharrenden Bewegung eine wirkliche und wahrhaft werdende und veränderliche Bewegung des Mittelpunkts samt ller übrigen Teilchen suchen wollen, so hätte er Mittelpunkt und Kreis, d. h. das vorausgesetzte Ganze selbst in Teile schneiden müssen. Jeder von diesen Teilen hätte dann eine besondere Ebene mit einem autonomen Zentrum erfordert, und wären nun auch hiermit diese Teile scheinbar  auseinandergefallen,  so hätten sie diesen Schein doch widerlegen können durch die  Vollführung  einer  Gemeinschaftsbewegung  in der gemeinsamen Anerkennung einer Norm. Diese Bewegung, die ansich der Norm gegenüber frei ist, und nur als sittliche freie Aufgabe unter allen Einzelnen besteht, führt hin auf eine tiefere Weltanschauung, unter dem Licht der Ethik und Ästhetik. Diese Aufgabe aber fehlt den aristotelischen Teilen, und deshalb bleiben  sie ohne relativ freies individuelles Eigenleben  und erscheinen  gebunden  wie die Teile eines Kadavers, die von einem lebendigen Punkt gedreht und von einem Zentrum aus gleichsam galvanisiert werden. Setzte PLATON und die Seinen, bzw. die reinen Idealisten die starre und schlechthin übersinnlich beharrende Unendlichkeit, die ein  toto coelo  Geschiedenes war von allem Endlichen und seinem Verändern und Werden, so wird uns durch den Stagiriten hiermit das Schema einer teleologischen Unendlichkeit geboten, in welcher, wie dargelegt, nur der Mittelpunkt wirkt, die Teile aber unselbständig erscheinen, da sie unfrei und botmäßig dem omnipotenten Ganzen zu folgen  absolut gezwungen sind.  Indessen, wie dem auch sei, ARISTOTELES macht zumindest den Versuch, die Idee der Unendlichkeit sinnlich im Hinweis auf die Kreisbewegung zu schematisieren, und so Übersinnliches und Sinnliches, Einheit und Vielheit, Unbedingtes und Bedingtes, Beharrendes und Werdendes wirklich zu versöhnen und damit den sich dazwischen schiebenden Gegensatz, als einen solchen, der wie bei PLATON  toto coelo  gesetzt war,  zu überwinden.  Interessant nun ist es zu bemerken, daß KANT in der Antinomie, in welche uns die "Kritik der reinen Vernunft" hineinführt: zwischen Ding-ansich und sinnlicher Erscheinung, als Platoniker uns entgegentritt, während er durch die spätere Hinzufügung der "Kritik der Urteilskraft" den ausgleichenden Versuch des ARISTOTELES wagt, indem er durch den Hinweis auf eine im Sinnlichen herrschenden Teleologie und durch die Betonung des Schemas einer Einheit in der Mannigfaltigkeit, der Idee als Ding-ansich eine mehr sinnlich evidente Ausprägung gibt. Es ist heute Mode geworden, KANT nur in seinem ersten Hauptwerk (in der "Kritik der reinen Vernunft") zu studieren, um von hier aus den Platz zum Glauben, bzw. zu einem Hinweis für den rein übersinnlichen und überempirischen Kanon der praktischen Vernunft zu gewinnen. Gewöhnlich ist hier der Punkt, wo man sich bezüglich der sogenannten Unendlichkeit nun wieder auf PLATON und die schlechthin übersinnlich reine Idee (das sogenannte Absolute) beruft, und übersieht, daß ein solcher Kanon nicht zu schematisieren und zu sensifizieren ist, sodaß er völlig  unfruchtbar  in der Luft hängen bleibt. KANT hat jedoch diese Lücke zumindest gefühlt, und ist seinen kurzsichtigen Epigonen zuvorgekommen. Er hat die Schematisierung, bzw. die relative Sensifizierung seiner Idee  in der "Kritik der Urteilskraft" zu vollziehen gesucht,  und hat sich in diesem Bestreben somit von PLATON zu ARISTOTELES hinübergewandt.

Die nachkantischen Epigonen zeichnen sich darin aus, daß sie ähnlich wie PLATON sich von Neuem eines Prinzips bedienen, das wie der platonisch-eleatische Unendlichkeitsbegriff eine  rein übersinnliche Idee,  ein schlechthin unschematisierbares Transzendentes, als sogenanntes Ding-ansich (übersinnlich Absolutes), zum Ausgangspunkt ihrer Konstruktionen machen. Eine Schematisierung im aristotelischen Sinn, die in Mathematik und Ästhetik und ästhetischer Teleologie jedesmal hinsichtlich eines sensifizierbaren  Ur-  und  Musterbildes  hätte abschließen müssen, unterließen sie. Im Gegensatz hierzu wurde ihnen die Ästhetik überhaupt nur ein  untergeordnetes Glied  eines reinen Denkens aus dem Gesichtspunkt der übersinnlich erhabenen Idee.

Viel näher der aristotelischen Auffassung des Unendlichkeitsbegriffs, der durch eine logisch-mathematische Schematisierung eine Versöhnung und einen Ausgleich zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem für Vernunft und Verstand (Intellekt) zumindest anbahnt, stehen unter den Philosophen der vorkantischen Zeit LEIBNIZ, und in der neuesten Philosophie die Herbartianer. LEIBNIZens Begriff der Harmonie, ebenso wie HERBARTs eigentümliche philosophische Vermählung von Ethik und Ästhetik, bezeugen das Bestreben: der übersinnlich, unbegreiflichen (indeterminablen) Idee zugleich einen sinnlich vermittelnden Ausdruck zu verleihen. Die Beweggründe, die KANT in der "Kritik der Urteilskraft" dazu führten, das Ästhetische "als ein Symbol des sittlich Guten" zu gebrauchen, suchten zumindest die Herbartianer zu verstehen.

Die Kritik dieser aristotelisch-mathematischen Bestrebungen fällt zusammen mit der Beurteilung der aristotelisch-teleologischen Denkweise überhaupt. Wie schon oben erwähnt, finden die Kritizisten in dieser Denkweise, das nur teleologisch prästabilierte  Scheinteile  sich hier bewegen, die einer Harmonie und Symmetrie  gehorchen,  ohne daß sie unter Umständen hierbei etwas Sittliches fühlen und inhaltlich frei erstreben, da ihnen eine relative Freiheit in der Eigenbewegung nicht gestattet ist. Alle Teile stehen daher unter dem Druck eines streng teleologischen Dogmatismus, dem zu gehorchen sie allerorts absolut  gezwungen sind.  Indessen, mag auch sowohl bei LEIBNIZ wie auch in HERBARTs Metaphysik noch deutlich ein Stück von eleatischer  Starrheit  bezüglich der Ausgestaltung der Uridee als  allgemeinstes Musterbild  des Weltalls bestehen geblieben sein, immerhin müssen wir das richtige Bestreben hier anerkennen, das die genannten Denker dahin führt, die Idee und Norm nicht als ein absolut und rein  Übersinnliches (Indeterminables)  zu betrachten, sondern dieselbe eines relativ sinnlichen Ausdrucks für fähig zu halten. Wie schwer sich übrigens selbst moderne Forscher noch über ARISTOTELES zu erheben imstande sind, beweist am besten LIEBMANN, der bezüglich der Ansichten von PLATON ganz richtig die Unbrauchbarkeit derselben hervorhebt, bei der starren Herrschaft der aristotelischen Entelechie [sein Ziel in sich selbst zu haben - wp] aber Halt macht. Ihm sind, ähnlich wie bei LEIBNIZ, die Teilchen alle kleinste Entelechien, die einem Zweckstreben (unter deren angeborenen Herrschaft sie als solche stehen) absolut  gehorchen.  Er findet so, daß diese Elemente ideotypisch sind. Damit aber werden dieselben  wieder unfrei und starr.  Im Hinblick auf die modernen biologischen Probleme ist gerade  diese Starrheit abzuweisen,  zugunsten einer relativ freieren individuellen Adaptionsbewegung, die sich wahlfähig, bald typisch regulativ, bald irregulativ zu verhalten imstande ist. Die Entelechie ist daher nicht  ante rem [vor der Sache - wp] auch nicht fest  in re [in der Sache - wp], sondern wir man (die Spontaneität und Wahlfähigkeit der Teilchen betonend) sagen darf  per res [durch die Sache - wp].

Will man nun den  vollen und ganzen Kant  erfassen, um die Gedanken  aller seiner kritischen Grundlehren  gleichmäßig zu würdigen, so darf man daher nicht wieder in die platonischen Irrgänge und in die vorher kritisierten aristotelischen Bestrebungen zurücklenken, in denen zwar ein richtiger Anlauf gegeben war, welcher aber doch hinsichtlich der anerkannten absoluten und dogmatischen Teleologie nicht zum Ziel führte.  Daher ist man genötigt das Schema der Idee und Norm von Neuem zu suchen, und zwar bei Vermeidung aller Fehler, welche die verschiedenen Richtungen sich zuschulden kommen ließen. -
LITERATUR - Otto Caspari, Hermann Lotze in seiner Stellung der durch Kant begründeten neuesten Geschichte der Philosophie und die philosophische Aufgabe der Gegenwart, Breslau 1895
    Anmerkungen
    22) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Seite 307 (bei KIRCHMANN)
    23) Eine nicht unwichtige Stelle hierüber findet sich in LOTZEs "Metaphysik" (1841), Seite 54.
    24) Siehe PFLEIDERER, Lotzes philosophische Weltanschauung in ihren Grundzügen, Seite 61.
    25) Vgl. "Leibniz und Herbart", ein Vergleich ihrer Monadologien (gekrönte Preisschrift von ROBERT ZIMMERMANN, Wien 1849.
    26) Vgl. CASPARI, Urgeschichte der Menschheit, Bd. I, zweite Auflage, Seite 380 und Bd. II, Seite 115; ferner: CASPARI, Zusammenhang der Dinge, Seite 299.
    27) Vgl. hierüber auch ERNST LAAS, Idealismus und Positivismus - eine kritische Auseinandersetzung.