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BERTHOLD KERN
Zur Erkenntnislehre
der Marburger Schule

[Vorgetragen in der Sitzung der Gesellschaft für
positivistische Philosophie, Berlin am 9. Dezember 1912]


"Den Empfindungen sprach Kant den Ursprung aus den Dingen, allem übrigen Erfahrungsinhalt den Ursprung aus der Sinnlichkeit und dem Verstand zu; auch die Empfindungen würden in ihrer Eigenart durch die Sinne bedingt. Damit wurde der Inhalt unserer Erfahrung zur bloßen Erscheinungen, und dieser trat als Grenzbegriff ein Ding-ansich gegenüber und mit ihm eine transzendente Wirklichkeit von unerkennbarem Charakter."

"Erst nachdem wir in der Erfahrung gelernt haben, die verschiedensten Veränderungen miteinander zu vergleichen und voneinander zu unterscheiden, gelangen wir zu so bestimmten Kennzeichnungen der erlittenen Veränderungen, wie wir sie in den mannigfachen Begriffen niederlegen, die wir als Empfindung zu bezeichnen pflegen. Einfach gegeben ist uns bei all dem nur das rohe Erlebnis einer Veränderung unseres Ichzustandes. Und die Marburger Schule hat durchaus recht, die schöpferische Mitwirkung unseres Denkens bei der Empfindung zu betonen."

"Die positivistische Philosophie führt unsere gesamte Begriffsbildung mehr oder weniger unmittelbar auf Erlebnisse zurück, erweist also diese Tatsachen der Erfahrung als die alleinige Grundlage aller Erkenntnis und wahrt der Erfahrung den Charakter der Untrüglichkeit."

Der auffallend beschleunigte Lebenszug der heutigen Zeit hat auch die Philosophie nicht unberührt gelassen. Auch sie hat an der regen Entwicklung des modernen Geisteslebens teilgenommen, mit Altem gebrochen und Neues geschaffen, bei all dem aber den forschenden Charakter des modernen Denkens auch ihrerseits durchaus gewahrt. Philosophische Systeme stehen heute nicht hoch im Wert, umso mehr aber der Bienenfleiß historischer Forschung und kritischer Läuterung des wissenschaftlichen Besitzes, seiner methodischen Mehrung und seiner Verwertung für die Pflege der Geisteskultur. Wie ein Schatten aus vergangenen Zeiten wirken die dogmatischen Titel eines sogenannten Neukantianismus, einer Naturphilosophie, eines Voluntarismus und dgl. mehr. Denn trotz aller herrschenden Streitfragen, die auch hier wie in jeder anderen Wissenschaft die Forschung anregen und beleben, ist die Philosophie der Neuzeit einheitlicher geworden als jemals zuvor, hat sie erkannt und anerkannt, daß in der Wissenschaft die verschiedensten Ausgangspunkte und Gesichtspunkte berechtigt sind, ja daß sie notwendig sind, um ihren Inhalt von allen Seiten zu beleuchten und erschöpfend zu behandeln, daß die verschiedenen Gesichtspunkte sich gegenseitig herausfordern und ergänzen, daß alle Wege uns dem einem gemeinsamen Ziel näher bringen. Hierdurch ist auch der Umfang des philosophischen Arbeitsgebietes so mächtig gewachsen, geht die Philosophie in der Tat wieder der umfassenden Beherrschung unseres gesamten Geisteslebens entgegen, die sie während des griechischen Altertums in so hervorragender Weise auf die Menschheitskultur ausgeübt hat. In geläuterter Abgrenzung ihrer Rechte greift sie so von Neuem in die mathematisch-naturwissenschaftlichen, in die rechtlichen, in die soziologischen und in das religiöse Gebiet hinüber und nimmt gleichermaßen aus ihnen die Forschungsergebnisse in ihren eigenen Arbeitskreis auf, um sie und sich in Inhalt und Kritik zu fördern und zu bereichern. Aber auch umgekehrt zeigen jene Wissenschaftsgebiete mehr und mehr das Bedürfnis, auch ihrerseits die Philosophie zu Rate zu ziehen und andererseits von ihren Grundlagen aus der Philosophie neue Gesichtspunkte, neue Methoden, neue Aufgaben und Arbeitsgebiete zu eröffnen und zu deren Ausbau beizutragen. Bei all dem aber muß den einzelnen Wissenschaften und so auch der Philosophie selber das Recht der Abwehr gewahrt bleiben gegen laienhafte Übergriffe, wie sie in solchen Perioden von lebhafter Geistesbewegung eine Gefahr bilden für die methodische Reinheit der einzelwissenschaftlichen Arbeit.

In diesem Sinne bleibt auch die positivistische Philosophie eine durchaus philosophische Disziplin, die seit den Zeitden des PROTAGORAS und des EPIKUR in der Philosophie ihr Bürgerrecht behauptet hat, aber auch den Wandlungen der Zeiten unterworfen gewesen ist und im vergangenen Jahrhundert sehr verschiedenartige Strahlungen hat aus sich hervorgehen lassen. Wenn wir heute von positivistischer Philosophie sprechen, so liegt in diesem Ausdruck keinerlei Gegensatz gegen andersartige Richtungen der philosophischen Forschung, umso mehr aber eine kampfesfreudiger Gegensatz gegen Skepsis auf der einen und gegen Metaphysik auf der anderen Seite. Nur auf dem festen Grund der Erfahrung zu fußen und diesen Grund nicht zu verlassen, aber ihn auch gegen jegliche Bekrittelung zu sichern und auszubauen bis zur umfassendsten Erkenntnis, das ist der Inhalt der Aufgaben, die gegenwärtig einer positivistischen Philosophie zu stellen sind.

Und hierin steht sie auf genau derselben Grundlage, die von der modernen Naturwissenschaft vertreten wird. In der Tat ist diese Arbeitsgemeinschaft vielleicht die engste, die zwischen zwei Wissenschaften geschlossen werden kann, eine Gemeinschaft zur gegenseitigen Stützung und Förderung, in der jeder Teil zum Gedeihen des andern nach seiner Art, nach seinen Methoden und nach seinen Kräften beizutragen vermag. Ich brauche dabei nur den Entwicklungsgedanken herauszugreifen, um an ihm, den die Biologie zur Entwicklungslehre ausgestaltet hat, zu zeigen, wie hier die naturwissenschaftliche und die historische Weltbetrachtung ineinander greifen, um ihre Grundlagen zu sichern und ihren Gesichtskreis zu erweitern. In denselben Rahmen fallen die naturwissenschaftlichen Grundbegriffe, ihre Wandlungen und ihre Kritik. Und noch enger ist das Band, welches mit den Naturwissenschaften die Mathematik und diese mit der Philosophie verknüpft zu einer geradezu unauflöslichen Bundesmacht von unermeßlicher Tragweite für unsere Gesamterkenntnis. Wenn die moderne Physik die mechanistische und mit ihr die dynamistische und energetische Naturauffassung in der Aufstellung des Relativitätsprinzips mit eiserner Konsequenz überschreitet, so stößt sich mit diesem übergeordneten Prinzip so weit in die philosophische Erkenntnistheorie hinein, daß sie dieser gar nicht mehr entbehren kann, um jenes Prinzip verstehen zu lassen und seine schärfste Rechtfertigung zu erbringen. Was heißt denn überhaupt Erkenntnis? Diese Frage türmt sich unabweisbar um das Problem des Relativitätsprinzips wie schließlich um alle naturwissenschaftlichen Endprobleme herum.

Am längsten haben ja die Naturwissenschaften für die Naturerkenntnis am naiven Schema der Abbildtheorie festgehalten. Erst HELMHOLTZ hat in seinen kritischen Erkenntnisfragen, auf die er in seinem umfassenden Denken ja unentrinnbar stoßen mußte, innerhalb der naturwissenschaftlichen Kreise in jene Anschauungsweise erfolgreich eine Bresche geschlagen, obwohl in einer unhaltbaren physiologischen Umdeutung der Ergebnisse kantischer Erkenntniskritik. Lassen wir diese Umdeutung beiseite und gehen auf den Kern der kantischen Lehre zurück, so sehen wir, wie hoch gerade KANT die Naturwissenschaften bewertet, indem er von der mathematischen Naturwissenschaft seinen Ausgangspunkt nimmt und den Tatbestand der naturwissenschaftlichen Erfahrung zur Grundlage macht für die Kritik unserer Erkenntnis.

Durch den Tatbestand der vollentwickelten Erfahrung legt er einen Querschnitt, um ihre Struktur zu untersuchen und festzustellen, welche Bestandteile in ihr enthalten sind; er ermittelt darin die sinnlichen Empfindungen, die räumlich-zeitlichen Anschauungsformen und die reinen Stammbegriffe des Denkens. Den Empfindungen sprach KANT den Ursprung aus den Dingen, allem übrigen Erfahrungsinhalt den Ursprung aus der Sinnlichkeit und dem Verstand zu; auch die Empfindungen würden in ihrer Eigenart durch die Sinne bedingt. Damit wurde der Inhalt unserer Erfahrung zur bloßen Erscheinungen, und dieser trat als Grenzbegriff ein Ding-ansich gegenüber und mit ihm eine transzendente Wirklichkeit von unerkennbarem Charakter. Unter diesen Umständen bedurfte der Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Erkenntnis, bedurfte die Gegenständlichkeit und Gesetzlichkeit der Erfahrung einer besonderen Rechtfertigung, die in der transzendentalen Methode geleistet wurde.

Diese an und für sich ja nur dürftigen Ausführungen habe ich nicht gemacht, um etwa KANTs Erkenntniskritik hiermit kennzeichnen zu wollen, sondern nur um die Angriffspunkte für die Arbeiten der Marbuger Schule (1) herauszustellen. Mit diesen Arbeiten hat die Marburger Schule nicht bloß erreicht, eine durchdringend Aufklärung über das Wesen und den Inhalt der kantischen Kritik herbeizuführen, sondern auch auf diesem Weg deren unhaltbare Teilglieder auszumerzen und ihren lebensfähigen Inhalt weiter auszubauen. So mußte die Ansicht fallen, daß die Empfindung uns als elementarer Bestandteil ohne weiteres gegeben ist, daß hinter ihr ein unerkennbares Ding-ansich lagert, daß sich zwischen dieses und die Erkenntnis die Formen unserer Sinnlichkeit einschieben. So mußte der Gegensatz zwischen Anschauung und Denken fallen und der Einsicht weichen, daß auch die Anschauung eine Funktion des Denkens ist und als solche das gegenständliche Denken einleitet.

Der "unverrückbare Leitgedanke" der Marburger Schule aber bleibt die "transzendentale Methode", ihre scharfe Ausprägung und ihr fortgesetzter Ausbau. Gegeben ist unserem Bewußtsein nichts, was nicht schon im Bewußtwerden durch das Denken bestimmt ist. Dieses Bestimmen geschieht durch Begriffe, die im Denken erzeugt werden. Auch die Empfindung wird dadurch zum Begriff, ebenso Zeit und Raum, die Zahl und die übrigen Kategorien, mittels derer wir einen Inhalt bestimmen und uns dadurch zum Bewußtsein und zur Erkenntnis bringen. Das Wesen des Denkens ist sein einheitlicher Zusammenhang, kraft dessen die in den Begriffen niedergelegten Funktionen des Denkens sich durchweg gegenseitig fordern und bedingen, kraft dessen alle Begriffe untereinander in gesetzmäßigen Beziehungen stehen. Die Gesamtheit dieser begrifflichen Beziehungen ergibt das System der reinen Erkenntnis. Von diesem System, wie es im Inhalt der Erfahrung enthalten ist, hat jede Untersuchung der Erkenntnis auszugehen und in ihm den Ursprung nachzuweisen, welchem die Begriffe als Erkenntnismittel ihren Sinn und ihre Geltung verdanken, ebenso wie die mathematischen Axiome und die allgemeinsten naturwissenschaftlichen Grundgesetze. Das ist die Bedeutung der transzendentalen Methode, die weder im Subjekt noch im Objekt, sondern jenseits beider, in dem ihnen beiden übergeordneten Inhalt der allgemeingültigen wissenschaftlichen Erkenntnis den Hebel ihrer Feststellungen und Ergebnisse sieht. Daher ist es die entscheidende Forderung der transzendentalen Methode, aus jenem Erkenntnisinhalt die Formen und Gesetze herauszuarbeiten, die ihm das tatsächliche Gepräge der im Denken erzeugten Einheit im Laufe der Entwicklung gegeben haben. Der Ursprung in diesem einheitlichen System und die Lage in ihm gibt somit den Erkenntnisbegriffen ihren allein rechtmäßigen Inhalt und ermöglicht dadurch dessen systematische Feststellung, die aber mit den fortschreitenden Wissenschaften auch fortschreitende Änderungen und Berichtigungen erfahren hat und weiter erfahren wird. Das ist der Inhalt der reinen, der nur aus dem Denken stammenden Erkenntnis, deren Anwendung auf die vom Denken unabhängige Wirklichkeit die gegenständliche Erfahrung bedingt. Das bedeutet einen methodischen Idealismus, der aus dem transzendentalen Prinzip entspring und zu einem kritisch geläuterten Realismus der Erfahrung führt. In diesem Realismus ist nicht mehr die Rede von den "Erscheinungen" im Sinne KANTs; trotzdem aber bleibt KANTs Ding-ansich ein Grenzbegriff für die Erkenntnis, ein nie erschöpfbares Ideal einer Totalerkenntnis. Jede derzeitige Erkenntnis ist demnach ein fortschreitender Versuch zur Herstellung eines einheitlichen Zusammenhangs im Gesamtinhalt unserer Erfahrung.

Das alles ist lediglich erkenntnistheoretisch gedacht, berücksichtigt also nur die logischen Beziehungen innerhalb des derzeitigen systematischen Gefüges unserer Wissenschaften. Nichtsdestoweniger hat die geschichtliche Entwicklung dieser logischen Beziehungen auch seitens der Marburger Schule, die ja den funktionalen Charakter unserer Erkenntnis und den logischen Zusammenhang ihres Werdens so scharf betont, eine hervorragende Bewertung gefunden, die den Einblick in den systematischen Ursprung unserer Erkenntnisbegriffe zu unterstützen vermag, wenn auch von einem anderen Gesichtspunkt aus, als die reine Erkenntniskritik ihn anlegt.

Einen wiederum anderen Gesichtspunkt legt die psychologische Forschung an, insofern sie nicht den objektiven Inhalt der Erfahrung, sondern den subjektiven Vorgang des Erfahrens und Erkennens zum Problem macht und an ihm das Zusammentreten und Zusammenwirken der elementaren Erkenntnisbestandteile bis zum schließlichen Endergebnis ermittelt. Sie zeigt damit, wie es im empirischen Sinn zugeht, daß aus dem rohen Material unserer Erlebnisse eine objektive Erkenntnis mit ihrem schöpferischen Gestaltungsgut hervorwächst. Das bringt uns die Ergebnisse der transzendentalen Forschung gewissermaßen menschlich näher und ist unbestreitbar ein wesentlicher Stein in der Aufklärung des Zusammenhangs zwischen der Erkenntnis und ihrem Gegenstand.

Nimmt die Psychologie hierbei ihren Gesichtspunkt im Subjekt, so nimmt ihn die Naturwissenschaft ganz und gar außerhalb jedes Subjekts in jener Wirklichkeit, die von der transzendentalen Methode der Erkenntniskritik uns aufgewiesen ist als eine stete Aufgabe unserer Erkenntnis, als Aufgabe, jene von unserem Denken unabhängige Wirklichkeit durch eben dieses Denken nach allen Richtungen hin zu bestimmen und sie dadurch unserer Erkenntnis zu unterwerfen. Dem naturwissenschaftlichen Interesse bleibt der psychologische Erkenntnisvorgang ebenso gleichgültig wie das System unserer Erkenntnismittel. Dieses Interesse frägt vielmehr über unsere Erlebnisse hinaus nach den "reinen" Vorgängen der entsubjektivierten Wirklichkeit, braucht aber deshalb nicht zu verkennen, daß wir jene Vorgänge nur durch eine subjektive Bestimmung mittels unserer Denkbegriffe der Erkenntnis zugänglich machen.

Ich glaube, diese Gedanken dahin zusammenfassen zu können, daß alle Wissenschaften, seien sie erkenntnistheoretischen, psychologischen oder naturwissenschaftlichen Geblüts, an ein und demselben Ziel und mit ein und denselben Mitteln arbeiten, daß verschiedenartig nur die Gesichtspunkte sind, von denen aus sie der Erkenntnis entgegenstreben, daß aber alle diese Gesichtspunkte nicht bloß berechtigt, sondern notwendig sind, um unsere Wirklichkeitserkenntnis erschöpfend zu gestalten und geläutert aus der verschiedenartigen Perspektive der Gesichtspunkte hervorgehen zu lassen.

Umso mehr aber muß vor dem leidigen Fehler gewarnt werden, die Gesichtspunkte und die aus ihnen hervorgehenden verschiedenartigen Betrachtungsweisen regellos durcheinander zu werfen. Gewiß stehen auch sie nicht beziehungslos und zusammenhanglos nebeneinander. Es ist vielmehr eine unerläßliche Aufgabe der Erkenntnistheorie, die Stellung derart unterschiedlicher Gesichtspunkte, Betrachtungsweisen, Untersuchungsmethoden und ihrer Ergebnisse innerhalb des Gesamtsystems unserer Erkenntnis zu ermitteln und zu bestimmen. Das ist eine Forderung der Einheit unserer Erkenntnis. So ist das Denken die logische Voraussetzung aller Erkenntnis und in seinen Formen ihr Skelett, gehört aber psychologisch zur deren Inhalt und ist naturwissenschaftlich eine Teilerscheinung der materiellen Gehirnfunktionen, worüber ich noch Näheres zu sagen habe. In all dem liegen keinerlei Widersprüche, nur daß wir uns der perspektivischen Systemverschiebungen bewußt bleiben müssen, die erst in einem übergeordneten Gesichtspunkt ihren gegenseitigen Ausgleich finden. Jeder einzelne solcher Gesichtspunkte trägt aber zur Vervielseitigung unserer Erkenntnis bei, läßt andere Inhalte in den Vordergrund treten und ihre erkenntnismäßige Bestimmung begrifflich immer erschöpfender ausbauen. So ist auch die transzendentale Methode nur ein Teilglied unter den Hilfsmitteln, die uns in der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung stehen, und läßt deshalb vielerlei Fragen offen, die sich von anderen Gesichtspunkten aus aufwerfen und eine Beantwortung fordern.

KANT und die Marburger Schule stehen vor zweierlei Grenzbegriffen, einerseits vor dem des Dings-ansich, richtiger ausgedrückt vor der Frage nach einer von unserem Denken unabhängigen Wirklichkeit, und andererseits vor einem Grenzbegriff des Denkens und hiermit vor der Frage nach dem Geltungswert unserer Erfahrung gegenüber jener von unserem Denken unabhängigen Wirklichkeit. Dieser Geltungswert wird als Tatsache vorausgesetzt, und er darf vorausgesetzt werden im Hinblick auf die tatsächliche Macht, die wir vermöge der Erfahrung über die Naturerscheinungen besitzen. Nichtsdestoweniger bleibt hier für die Erkenntnis eine Lücke: in welchem Verhältnis steht unser Denken zu jener von ihm unabhängigen Wirklichkeit? Diese beiden Grenzbegriffe stehen zusammenhanglos nebeneinander, und doch hat der Nachweis dieses Zusammenhangs eine grundsätzliche Bedeutung für die Einheit unserer Erkenntnis, die ohne ihn ihrem innersten Prinzip widerspricht und ohne ihn trotz all ihres Wertes ein bloßes Phantasiegebildet bleibt.

KANT konnte nicht umhin, die Natur ihrer Form nach als ein freies Zeugnis unseres eigenen Geistes, ihre Gesetzlichkeit als die Selbstgesetzgebung der Vernunft zu behaupten. Das kann aber den Ansprüchen einer vertieften Erkenntnis nicht genügen; vielmehr erwächst daraus mit Notwendigkeit die Frage, wieso die Wirklichkeit sich einem Begriffssystem fügt, dessen Ursprung nicht in ihr selber, sondern in einem heterogenen Prinzip, dem Denken, zu suchen ist. Und völlig heterogen stand in der Tat für KANT, dem der Entwicklungsgedanke noch fern lag, das Denken dem Ansich der Dinge zusammenhanglos gegenüber; nur über eine Welt der "Erscheinungen" konnte deshalb das Denken seine gestaltende Macht gewinnen und ausüben.

Auch hier stoßen wir auf dieselbe Grundfrage, die nur durch den Nachweis des Zusammenhangs zwischen jenen beiden Grenzbegriffen gelöst werden kann. Wenn aber der Nachweis dieses Zusammenhangs möglich ist, dann zerschellen an ihm die letzten Reste des kantischen Phänomenalismus, um einer unmittelbaren und unverschleierten Erkenntnis Platz zu machen, dann vollzieht sich auch die Auflösung des psychophysischen Dualismus, der lediglich in jener Erkenntnislücke sein Dasein fristet. Tatsächlich finden wir den gesuchten Zusammenhang vor, sobald wir mit der Marburger Schule die "gegebene Empfindung" und die "sinnlichen Anschauungsformen" überwinden und zurückgehen auf das elementare Erlebnis. Dieses bewahrt dann seinen Erkenntniswert als unmittelbarste und realste Tatsache, die wir kennen. Erkenntnislehre, Psychologie und Naturwissenschaft haben im Erlebnis ihren gemeinsamen Knotenpunkt, und deren ineinander greifende Verwertung ist zur Lösung der hier entwickelten Aufgabe unerläßlich.

Alle unsere Erfahrung wurzelt in unseren Erlebnissen, und diese bedeuten weiter nichts als Veränderungen, die unser lebender Organismus erleidet. Auf dem Gebiet des Geisteslebens, das ja vom Bewußtsein unabtrennbar ist, heißt Erleben das Bewußtwerden solcher Veränderungen. Dieses Bewußtwerden von Veränderungen unseres Ichzustandes setzt voraus, daß wir den voraufgegangenen und den gefolgten Zustand voneinander unterscheiden, und dieses Unterscheiden wieder schließt auch den Vergleich der beiden Zustände ein. Ja, das Bewußtwerden selber tritt erst in diesem Unterscheiden und Vergleichen zutage, es leuchtet gewissermaßen mit ihm auf. In dieser an und für sich also einheitlichen Grundfunktion unseres Denkens bestimmen wir demgemäß die erlittenen Veränderungen. Aber von einem bloßen Unterschiedsbewußtsein bis zur bestimmten gearteten Empfindung ist ein weiter Weg. Denn erst nachdem wir in der Erfahrung gelernt haben, die verschiedensten Veränderungen miteinander zu vergleichen und voneinander zu unterscheiden, gelangen wir zu so bestimmten Kennzeichnungen der erlittenen Veränderungen, wie wir sie in den mannigfachen Begriffen niederlegen, die wir als Empfindung zu bezeichnen pflegen. In der Empfindungen haben wir so ein verwickeltes Ergebnis einer ungemessenen Reihe von Vergleichungen und Unterscheidungen vor uns, ein Ergebnis, das nur vermögen einer langen erfahrungsgemäßen Einübung den falschen Schein eines einfach "gegebenen" psychischen Elements vorspiegeln kann; zugleich kommt hierbei auch das unmittelbare Wiedererkennen von Erlebnissen in Betracht, die wir bereits durch jene logischen Operationen in bestimmter Weise begrifflich gekennzeichnet haben. Einfach "gegeben" ist uns bei all dem nur das rohe Erlebnis einer Veränderung unseres Ichzustandes, wie sie bedingt ist durch die Einwirkungen der Umgebung auf uns. Und die Marburger Schule hat durchaus recht, die schöpferische Mitwirkung unseres Denkens bei der Empfindung zu betonen.

Die Entthronung der Empfindung von ihrem vermeintlich elementaren Sockel, der Nachweis ihres hochkomplizierten Charakters führt jedoch noch weiter abwärts auf der abschüssigen Bahn. Denn auch die Funktion des Unterscheidens und Vergleichens zeigt sich noch einer weiteren Analyse zugänglich. Diese Analyse führt dann zurück auf das Festhalten eines Inhalts vom Bewußtsein (das Gedächtnis) und die Reproduktion von Vergleichsinhalten aus dem Gedächtnis (die Erinnerung), sowie auf die elementaren Vorgänge der Assoziation von Bewußtseinsinhalten miteinander, die in ihrem rastlosen Wechsel das innerste Getriebe unseres Denkens bilden. Mit diesem Ergebnis stehen wir aber bereits mitten in der physiologischen Analyse der zugrunde liegenden Gehirnprozesse. Denn all jene Teilvorgänge können ebensogut als psychische wie als nervöse aufgefaßt und dargestellt werden; im letzteren Fall stehen ihnen ganz gleichsinnig die nervösen Reize, deren hinterbleibende Spuren, die nervöse Reizleitung und deren assoziative Folgeerscheinungen gegenüber. Tatsächlich haben wir damit eine Brücke betreten, die aus dem psychischen in das körperliche Gebiet hinüberführt, in welcher diese beiden Gebiete zusammenhängen und - vom Bewußtsein abgesehen - zusammenfallen. Der Zusammenhang zwischen Denken und Natur tritt uns damit schon näher vor Augen. Aber gerade jene Frage des Bewußtseins steht noch im Weg und bedarf der weiteren Erörterung.

Auch hierfür bietet das Erlebnis, in dem wir ja bereits körperliche und Bewußtseinsvorgänge sich haben verknüpfen gesehen, den entscheidenden Ausgangspunkt. Im Erlebnis ist der Vorgang des Erlebens und der Inhalt, der erlebt wird, ein ungeteilter Akt. Beides ist voneinander untrennbar und die Trennung, wenn sie im reflektierten Denken vollzogen wird, lediglich eine verschiedene Auslegung des Erlebnissesf, insofern wir dieses einerseits unter dem Gesichtspunkt unseres erlebenden Ichs und andererseits unter dem Gesichtspunkt des erlebten Inhalts betrachten. Im ersteren Fall fassen wir den Erlebnisinhalt zusammen als Inhalt eines fortgesetzt erlebenden Subjekts, im letzteren Fall fassen wir ihn zusammen als Inhalt eines erlebten und weiter erlebbaren Objekts. Beides hat seine volle Berechtigung. Denn die Wirklichkeit als Objekt bildet ein zusammenhängendes Ganzes, in dem wir selbst als ihre Teile enthalten sind; aber auch unser Ich bildet ein engeres, gleichfalls in sich selbst geschlossenes Ganzes. Die Erlebnisse gehören ihrem Inhalt nach zu beiden und können deshalb sowohl auf das eine als auf das andere als dessen Inhalt bezogen werden. Bei all dem aber bleibt der Erlebnisinhalt ein und derselbe, mögen wir ihn auf ein erlebendes Subjekt oder auf ein erlebtes Objekt beziehen.

Was wir erleben, sind lediglich Veränderungen, die sich in unserem Ichkomplex vollziehen. Wir erleben also zunächst uns selbst und sind in dieser Hinsicht Subjekt und Objekt zugleich. Wenn wir beide voneinander trennen, so bedeutet das für den Bereich unseres Ichs eine rein begriffliche Spaltung ein und desselben Bewußtseinsinhalts seitens unseres reflektierenden Denkens. Hier liegt der Ausgangspunkt für die Spaltung unseres Ichs in ein erlebendes, erkennendes Subjekt, das wir mit dem Begriff der Seele kennzeichnen, und ein der Erkenntnis zu unterwerfendes Objekt, welches wir als Leib vom bewußten Subjekt unterscheiden. Seele und Leib verlieren dadurch nicht ihre ursprüngliche Identität, wohl aber klafft der begrifflich erzeugte Spalt durch den verschiedenartigen Ausbau der beiderseitigen Inhalte immer weiter auseinander. Dieser Ausbau wird ein so verschiedenartiger durch das ihm zugrunde liegende Prinzip, demgemäß wir unter dem Gesichtspunkt des erlebenden (seelischen) Subjekts allen Erlebnisinhalt in der Form von Bewußtseinsvorgängen zu erörtern gezwungen sind, während der Gesichtspunkt des bloß erlebten Objekts vom Bewußtsein absehen läßt und dem Erlebnisinhalt in seiner Auslegung und Erläuterung besser gerecht zu werden vermag durch die Verwendung räumlich-materieller Erläuterungsformen.

In unseren Erlebnissen wie auch besonders in unseren Willenshandlungen fühlen wir unser Ich nicht durchweg als bestimmenden Faktor, sondern stoßen auf Abhängigkeiten und Widerstände. Diese beziehen wir auf ein Nicht-Ich, das wir nun von unserem Ich absondern und ihm als etwas Andersartiges gegenüberstellen. Das ist der Weg, auf dem wir den Begriff der Außenwelt gewinnen. In dieser Scheidung wird zugleich der Raumbegriff geboren, der die Absonderung hervorbeht und das Nicht-Ich kennzeichnet als etwas außerhalb unseres Ichs gelegenes. Dieser Außenwelt reihen wir alle diejenigen Bewußtseinsinhalte ein, die wir der objektiven Betrachtungsweise unterwerfen, und bauen sie als räumlich-materielles Gebilde aus. Auch hier bleibt die ursprüngliche Identität zwischen Subjekt und Objekt, also zwischen Bewußtseinsinhalt und Außenwelt durchaus in Kraftf; durch diese Art der Spaltung gelangen wir aber zu der allgemeineren Unterscheidung zwischen Bewußtsein und Natur, zwischen Geist und Stoff, zwischen geistiger und materieller Welt, die im ursprünglichen Erlebnisinhalt noch eine reale Einheit waren und erst im reflektierenden Denken begrifflich auseinander treten.

Unser Leib, sofern er der objektiven und räumlichen Auffassungsweise unterliegt, wird auf diese Art gleichfalls zu einem Teil jener Außenwelt und sondert sich dadurch noch entschiedener ab von demjenigen Ich, welches wir als erlebendes und bewußtes Subjekt begreifen und als Seele zu kennzeichnen pflegen. Es leuchtet daraus ein, daß wir eine grundsätzliche Trennung zwischen Ich und Außenwelt, zwischen Seele und Leib, zwischen Geist und Natur nie ohne Willkür und ohne Widersprüche vollziehen können, weil alle diese Trennungen doch nur in verschiedenen subjektiven Auffassungsweisen und rein begrifflichen Unterscheidungen eines an und für sich durchaus einheitlichen Wirklichkeitsinhaltes ihren Ursprung haben. Diese unauflösliche Gegenseitigkeitsbeziehung zwischen Subjekt und Objekt hat ja auch die Marburger Schule stets betont und durchgeführt.

Hiermit fällt uns die Lösung der gestellten Grundfrage nach dem Zusammenhang zwischen Ich und Nicht-Ich, also zwischen unserem Denken und einer von ihm unabhängigen Wirklichkeit ohne weiteres in den Schoß. Unser Denken, sofern es als Wirklichkeitsdenken auf Erkenntnis gerichtet ist, knüpft ja an den Erlebnisinhalt an und dieser Erlebnisinhalt wird dadurch zum Erkenntnisinhalt, daß er durch das Denken im Unterscheiden und Vergleichen begrifflich bestimmt wird. Im Erlebnis also fallen Wirklichkeit und Erkenntnis inhaltlich als identisch zusammen, die erlebte Wirklichkeit wird uns vermöge ihrer im Denken vollzogenen Bearbeitung bewußt, und Erkenntnis heißt nur ein immer deutlicheres, umfassenderes und schärferes Bewußtwerden der Erlebnisse in ihren Bestandteilen und in ihrem inneren Zusammenhang. Das Denken wird zur bloßen Fortsetzung der Einwirkungen der Außenwelt in unser Ich hinein, in welchem jene erlebten Einwirkungen weiter ausstrahlend denjenigen Wirkungskomplex erzeugen, den wir in objektiver Bestimmungsweise Gehirnprozeß, in subjektiver Bestimmungsweise Denken nennen. So sind wir selber in einem objektiven Sinn ein gleichartiger Teil jener Außenwelt, in einem subjektiven Sinn dagegen wird die Außenwelt auf dem Weg des Erlebnisses zu einem Teil unseres Bewußtseinsinhalts. Das ist zugleich der Zusammenhang zwischen Realismus und Idealismus in der Erkenntnistheorie, die sich beide erweisen als nur verschiedenartige Betrachtungsweisen, je nachdem wir den Gesichtspunkt von der Wirklichkeit aus oder von der Erkenntnis aus nehmen. Wie Objekt und Subjekt, so bedingen in der kritisch geläuterten Erkenntnis auch Realismus und Idealismus sich gegenseitig; der Streit um ihre Geltung ist lediglich ein Streit um den Gesichtspunkt, und dieser Streit erledigt sich allein dadurch, daß wir die Gesichtspunkte auch zueinander in die richtige Beziehung setzen.

Durch diesen Nachweis ist nun zwar jene Erkenntnislücke ausgefüllt und der Einheitsforderung unserer Erkenntnis Genüge getan, insofern das Denken und sein Gegenstand im Erlebnis auf das Engste zusammenhängen und teilweise sogar zusammenfallen, aber sofort erweitert sich auch die Frage, und zwar gerade aufgrund der Erkenntnislehre der Marburger Schule; denn diese übernimmt es, aus dem System unseres Erkenntnisinhaltes den Ursprung und das systematische Gefüge der Grundbegriffe und Grundgesetze nachzuweisen, mittels derer wir den Erlebnisinhalt erkenntnisgemäß bestimmen und sogar auf nicht erlebte Wirklichkeitsinhalte schließen. Wieso aber sind Begriffe und Gesetze, deren Ursprung im reinen Denken liegt, auf eine von diesem unabhängige Wirklichkeit anwendbar und wieso stimmt eine derart gewonnene Erkenntnis mit jener Wirklichkeit überein?

Diese Frage erfordert zunächst eine Feststellung der Bedeutung des Begriffs. Vielfach werden unsere Erkenntnisbegriffe als Symbole bezeichnet. Das mag zulässig sein, wenn man unter Symbol nur ein Merkmal, ein Zeichen versteht, ist aber falsch, wenn ihm die Bedeutung eines Sinnbilds untergelegt wird. Denn Begriffe, auch wenn sie sinnbildlich entstanden sind, haben erkenntnistheoretisch doch immer nur die Bedeutung logischer Namen ohne irgendeinen selbständigen Erkenntnisinhalt. Ihr Erkenntniswert liegt immer nur darin, daß sie uns auf die Erlebnisse, also auf erlebte Erfahrung zurückverweisen; nur in deren Reproduktion und wissenschaftlich gerechtfertigter Kombination liegt eine Wirklichkeitserkenntnis, in den Begriffen selbst dagegen nur ein System von Gedächtnisklammern, das nicht zu inhaltsleerer Begriffsspekulation ausarten, nicht subjektive Phantasmen als Wirklichkeitswerte ausgeben darf.

Immerhin haben wir im wissenschaftlichen Denken einzelnen Begriffen, wie Zahl, Zeit, Raum und Bewegung, eine derartige Durcharbeitung zuteil werden lassen, daß aus der bloßen Beziehung auf erlebte Erfahrung ein scheinbar selbständiges, fast nur noch im reinen Denken begründetes System geworden ist, das uns jene Rückbeziehung auf die Erfahrung geradezu vergessen und außer Acht setzen läßt. Die Mathematik und die mathematische Physik sind die vornehmsten Repräsentanten dieser Art von Begriffserweiterungen, deren Ergebnisse wir dann wieder zur Erfahrung in Beziehung setzen, indem wir sie auf den unmittelbaren Erfahrungsinhalt anwenden und an der Übereinstimmung zwischen beiden die erkenntnisgemäße Richtigkeit und Zulässigkeit der systematischen Begriffserweiterungen prüfen. In der Tat haben Mathematik und mathematische Physik diese Prüfung unwiderlegbar bestanden. Waren vorher in der Entwicklung solcher logischen Systeme Wirklichkeit und Denken auseinander getreten, so treten sie in dieser Rückbeziehung der Denkergebnisse auf die Erfahrung wieder zusammen. Immerhin wird dadurch der Schein einer Gegensätzlichkeit zwischen Wirklichkeitsinhalt und Denkinhalt hervorgerufen. Deren logisches Verhältnis liegt jedoch auf der hand. Es entspricht dem Schluß: B = A und B = C, also auch A = C, d. h. wenn das Erlebnis einen Wirklichkeitsvorgang darstellt und andererseits aus den Erlebnissen sich Erkenntnis ergibtf, so stimmt diese Erkenntnis auch mit der vom Denken unabhängigen Wirklichkeit überein, selbst wenn die Vermittlung tatsächlicher Erlebnisse bis in nebelhafte Fernen zurücksinkt. Darin liegt eine realistische Begründung des bekannten Ausspruchs von HEGEL von der Identität des Wirklichen und des Vernünftigen, nur daß diese Identität lediglich eine inhaltliche ist, im Gewand aber, gleich der mathematischen Gleichungsidentität, durchaus verschiedenartige Ausdrucksformen beibehält.

Hier tritt uns jedoch eine Frage in den Weg, und diese Frage bildet den Schwerpunkt des Problems, das uns hier beschäftigt: mit welchem Recht geht unser wissenschaftliches Denken über die unmittelbaren Erlebnisse hinaus? mit welchem Recht beanspruchen solche selbsterzeugten Systeme, wie die Mathematik und die mathematische Physik sie darstellen, einen Erkenntniswert für die Wirklichkeitsverhältnisse? mit welchem Recht beansprucht insbesondere die Marburger Schule, daß die Kategorien und Gesetze des reinen Denkens zur Bestimmung der Wirklichkeitsvorgänge geeignet sind und Erkenntnisse liefern, die irgendeinen Bezug auf die Wirklichkeit haben? Die transzendentale Methode der Erkenntniskritik sieht dieses Recht im Tatbestand der Wissenschaft, insbesondere der wissenschaftlichen Erfahrung, begründet. Aber wer steht uns für die Rechtmäßigkeit dieser Wissenschaft ein, also für die Voraussetzung, daß unsere gegenständliche Naturerkenntnis und ihr an der Bewegung systematisch orientierter Aufbau jene Wirklichkeit sachgemäß zu bestimmen und zu durchdringen vermag? Was bei all dem in Frage steht, ist eben immer wieder das Verhältnis des Denkens zur Wirklichkeit. Es könnte ja in dieser Art von Erkenntnis trotz ihrer mancherlei Erfolge vielleicht auch eine heterogene, dem inneren Wesen der Wirklichkeit keineswegs gerecht werdende Gewalttat unseres Denkens liegen.

Auf dem richtigen Weg führt uns auch hier wieder der Rückgang auf den Erlebnisinhalt. "Natur" ist ja nur der Erlebnisinhalt in objektiver, räumlich-materieller Gestaltungsform. Jener Erlebnisinhalt aber gehört gleichermaßen dem erkennenden Subjekt wie dem erkannten Objekt an. Die Regelmäßigkeiten und Zusammenhänge, die wir im Strom der Erlebnisse ermitteln und auf die Form von Gesetzen bringen, nehmen in objektiver Auffassung die Form der Naturgesetze an. Für die subjektive Auffassung dagegen bleibt dieser unser Erlebnisinhalt ein Strom von Bewußtseinsvorgängen, also von Vorstellungen, Vorstellungsverknüpfungen und Urteilen. Unter Abstraktion von deren wechselndem Inhalt ermitteln wir durch die logische Analyse zunächst, wie unser Denken sich tatsächlich vollzieht, und stellen die psychologischen Gesetzmäßigkeiten unseres Denkens fest. Auch diese Gesetzmäßigkeiten stammen somit aus dem Erlebnisinhalt, aus demselben Erlebnisinhalt, der uns gleichermaßen auch die allgemeinen Naturgesetze geliefert hatte.

Was wir damit gewonnen haben, ist aber zunächst bloß ein analysierender Einblick in den Knotenpunkt der Übereinstimmung zwischen Denken und Wirklichkeit, in ihren Keim, der in den Erlebnissen fußt und innerhalb ihrer hervorgeht aus der Befruchtung unseres Denkens durch die Einwirkungen der Außenwelt. Die aufgeworfene Frage jedoch greift weiter, sie greift auch nach dem vollentwickelten Inhalt unserer Erkenntnis. Denn jener Keim, der aus den Erlebnissen hervorsprießt, macht innerhalb unseres Denkens doch eine sehr umfassende Selbstentwicklung durch, deren Endergebnis erst auf den Namen der Erkenntnis Anspruch hat. Welche Bewandtnis hat es nun mit dieser Selbstentwicklung unseres Denkens gegenüber dem einfachen Erlebnisinhalt?

Hier bedarf es eines erläuternden Blicks auf die natürlichen Bedingungen des organischen Lebens. Denn aus ihm ist ja auch das Denken hervorgegangen als Hilfsmittel für die Befriedigung natürlicher Bedürfnisse durch eine Verwertung der äußeren Umgebung. Dieser Zusammenhang des Denkens mit den natürlichen Lebensbedingungen ist in der weiteren Entwicklung nie verloren gegangen, sondern immer ist das Denken von seinen primitivsten Ursprüngen an das wertvollste und wirksamste Hilfsmittel geblieben für die Erhaltung des Lebens durch eine Anpassung der Lebensbetätigung an die veränderlichen Lebensbedingungen. So steht auch die menschliche Erkenntnis zunächst im Dienst der Lebensbetätigung und die Not des Lebens ist es, die unser Denken erzwungen und auf die Umgebung, den Quell aller Lebensbedingungen, eingestellt hat. Erfolg oder Mißerfolg sind die Mittel gewesen, mit denen wir zur Erkenntnis der Außenwelt erzogen und unser Denken ihr angepaßt worden ist zur stetig fortschreitenden Übereinstimmung. So sehen wir auch in der geschichtlich verfolgbaren Zeit der menschlichen Geistesentwicklung unsere Erkenntisbegriffe der fortschreitenden Erfahrung folgen, mit ihr sich ständig erweitern, in fortgesetzt engerer Anpassung ihren Inhalt verändern und untereinander in eine immer schärfere und vielseitigere Beziehung treten, gerade dies genau entsprechend unserer durchdringenderen Einsicht in die gegenseitigen Beziehungen des Wirklichkeitsgeschehens in allen seinen Teilerscheinungen.

Unsere ganze Logik erweist sich letzten Endes als einer Erzeugnis der objektiven Wirklichkeit, die auf dem Untergrund der Erlebnisse und durch ihre Vermittlung uns jene Art des Denkens anerzieht, welche wir in der wissenschaftlichen Logik uns eigenes zu Bewußtsein bringen. Erst auf einem hohen Standpunkt menschlicher Entwicklung haben wir angefangen, die psychologischen Gesetzmäßigkeiten unseres Denkens festzustellen und anhand der Erfahrung die Tauglichkeit und Stichhaltigkeit dieses Denkens für den Erwerb allgemeingültiger Erkenntnis zu prüfen, haben wir angefangen, aus dem Tatbestand unserer Wissenschaften die Voraussetzungen festzustellen, an welche unser Denken gebunden ist, sofern es den Anspruch auf einen objektiven Wahrheitswert seiner Ergebnisse erhebt. Auf diesem Weg sind wir zu einer normativen Logik gelangt. Auch die in ihr formulierten Denkgesetze stammen somit aus demselben Erlebnisinhalt her, der uns gleichermaßen auch die allgemeinsten Naturgesetze geliefert hatte.

Wenn KANT sagt, die Naturgesetze seien ein freies Erzeugnis unseres Denkens, und wenn dementgegen die Naturwissenschaft sagt, die dem Denken zugrunde liegenden Gehirnprozesse werden von den Naturgesetzen beherrscht, so fällt beides in ein und dieselbe Tatsache zusammen: die gesetzmäßigen Zusammenhänge des Denkens sind zugleich diejenigen des Naturgeschehens, also die Gesetze jener Wirklichkeit, die in den Erlebnissen zu unserem unmittelbaren körperlich-geistigen Eigentum wird. Von einerlei Gesetzen wird die Wirklichkeit beherrscht, mögen wir sie in physischen oder in psychischen Formen bestimmen und zu unserer Auffassung bringen. Insbesondere das Kausalgesetz und das logische Gesetz vom Grunde erweisen sich als ein und dasselbe, nur in einem verschiedenen begrifflichen Gewand. Gerade diese Identität ist ja auch schon längst erkannt und allgemein anerkannt. In gleicher Weise stimmen auch die engeren Gesetze miteinander überein und ebenso die begrifflichen Beziehungen, welche sich aus den Erlebnissen und ihren Zusammenhängen für unsere Erkenntnis ergeben, mögen wir dabei den natürlichen oder den logischen Gesichtspunkt zugrunde legen.

Gehen wir zur Beleuchtung dessen nun nochmals auf die Erlebnisse zurück. Wir haben gesehen, daß in ihnen der Vorgang des Erlebens und der Inhalt, der erlebt wird, ein ungeteilter Akt ist. Erst dadurch, daß wir den Erlebnisinhalt das eine Mal als Bestandteil eines denkenden Subjekts, das andere Mal als Bestandteil eines gedachten Objekts auffassen, also ihn verschiedenartig auslegen und begrifflich verschiedenartig bearbeiten, erzeugen wir den Gegensatz zwischen Denken und Naturgeschehen. Dieser Gegensatz ist also kein ontologischer, sondern ein lediglich begrifflicher, den wir erzeugt haben, um ihn unter verschiedenartigen Gesichtspunkten betrachten, verschiedenartig beleuchten und erschöpfender bestimmen zu können. Bei allen solchen Denkoperationen dürfen wir aber die rückläufige Synthese nicht vergessen, müssen wir auch im diskursiven Denken wieder zusammenfügen, was wir zerlegt haben. Damit erst werden wir der Wirklichkeit und ihren Zusammenhängen gerecht, und damit erst begreifen wir vollständig den Zusammenhang zwischen Denken und Natur, den wir nur aufgelöst hatten im Interesse einer Sonderbeleuchtung der untergeordneten Zusammenhänge. In dieser rückläufigen Synthes erst findet unsere Erkenntnis ihren Abschluß. In ihr findet auch das transzendentale Prinzip als logischer Ausdruck für den realen Zusammenhang zwischen Denken und Natur seine abschließende Begründung und die transzendentale Methode ihre tiefste Rechtfertigung.

Erst im abgelaufenen Jahrhundert übrigens hat sich die wirkliche und begründete Erkenntnis eines einheitlichen Zusammenhangs im gesamten Bereich des Naturgeschehens und annähernd gleichzeitig auch die Erkenntnis eines ebenso einheitlichen Zusammenhangs im Bereich des reinen Denkens vollzogen. Dem naturwissenschaftlich gerichteten Monismus der jüngsten Zeit steht ebenso konsequent in den Lehren der Marburger Schule gewissermaßen ein logischer Monismus gegenüber, der die selbständige Einheit des reinen Denkens auf das Schärfste betont. Wird jenem die Hinneigung zu einem kritiklosen Materialismus vorgeworfen, so hat die Marburger Schule den Vorwurf eines einseitigen Rationalismus über sich ergehen lassen müssen. Nichtsdestoweniger ist die Marburger Schule mit dem Unternehmen, unsere Erkenntnisbegriffe und Erkenntnisgesetze nach dem Prinzip des Ursprungs durchweg aus dem reinen Denken zu entwickeln, in vollem Recht. Denn in den gegenseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten der Erkenntnisbegriffe untereinander spiegeln sich nur die Wirklichkeitszusammenhänge wieder, und jene Vorwürfe heben sich ohne weiteres auf in der übergeordneten Erkenntnis, daß auch unser Denken seinen Ursprung voll und ganz in jener Wirklichkeit hat, die wir von einem anderen Gesichtspunkt aus als Natur bestimmen. Denken und Natur werden so voneinander wechselweise abhängig als gleichartige, nur in der begrifflichen Auffassung verschiedenartig gefärbten Bestandteile ein und derselben Wirklichkeit. Erst hier vollendet sich die Einheit unserer Erkenntnis.

Nachdem ich aber bis zu diesem Ergebnis gelangt bin und auf dem beschrittenen Weg die klärenden und sicheren Schrittes weiterführenden Leistungen der Marburger Schule beleuchtet und gewürdigt habe, kann ich nicht Halt machen, ohne die einleitende Frage zu Ende zu führen: was ist denn nun nach all dem der Inbegriff dessen, was wir Erkenntnis nennen? jener Prozeß, der eine unendliche Aufgabe darstellt? Die Beantwortung dieser Frage enthält auch das entscheidende Wort, welches über den Wert der Erfahrung das richtende Urteil fällt. Ein unphilosophischer Positivismus kann sich mit dem Bescheid begnügen, daß die Erfahrung den Wert der Nützlichkeit hat. Aber für eine positivistische Philosophie ist der Erkenntniswert der Erfahrung das A und O, welches über das Existenzrecht dieser philosophischen Richtung entscheidet. Unerläßlich ist es deshalb, uns nochmals die Handhaben zu vergegenwärtigen, welche jene Frage ohne Rückhalt und ohne Umschweifen beantworten lassen.

Unter fortgesetzter Anwendung der unterscheidenden und vergleichenden Denkfunktion bringen wir uns den Erlebnisinhalt zum Bewußtsein, bestimmen ihn immer genauer und lgen die Ergebnisse nieder in Begriffen, die in ihrem Gesamtgefüge den Inhalt unserer Erkenntis bilden. Die Begriffe sind logische Namen, die zwar letzten Endes immer auf die Erlebnisse und deren Zusammenhänge zurückverweisen, aber doch ihrem Ursprung und Inhalt nach Ergebnisse jenes Unterscheidens und Vergleichens bleiben, also samt und sonders nicht als objektive Wirklichkeitsbestandteile angesprochen werden dürfen. Die Wirklichkeit ist das, was wir erleben und Erkenntnis ist das logische Ergebnis aus dem Inhalt jener Erlebnisse, also ein selbständiges Produkt des Denkens. Begriffe, Urteile, Schlüsse und Gesetze sind lediglich Arten, mit deren Hilfe wir die objektive Wirklichkeit untersuchen, bestimmen und erläutern. Als Ergebnisse des Unterscheidens und Vergleichens sind mit logischer Notwendigkeit alle unsere Erkenntnisbegriffe relativ, und unsere Erkenntnis bewegt sich durchweg in solchen Relationen, denen die Erlebnisse als absolute Werte zugrunde liegen. Aber auch diese absoluten Werte der Erlebnisse kommen uns erst durch den Akt des Unterscheidens und Vergleichens zum Bewußtsein und nehmen damit gleichfalls von vornherein in der Erkenntnis einen Relationscharakter an.

In den verschiedenartigsten Mißverständnissen dieses Tatbestandes liegen all die skeptischen, phänomenalistischen und idealistischen, aber ebenso die naiv-realistischen Verfehlungen begründet, die den Wert unserer Erkenntnis so unheilvoll herabgesetzt oder verdunkelt haben und in der Gegenwart noch immer einem Agnostizismus Vorschub leisten. Im Gegensatz hierzu läßt uns jener psychologische Einblick in das Wesen des Erkenntnisprozesses in diesem Grad die unmittelbarste, schärfste und vielseitigste Waffe erkennen zur Zergliederung, Beleuchtung und Auffassung des Erlebnisinhalts und des im Erlebnis uns unmittelbar mitbeteiligenden Wirklichkeitsinhalts. Mögen wir den Substanzbegriff in der Form der Materie, der Atome, der Elektronen oder des Äthers verwenden, mögen wir den zeitlosen Funktionsbegriff oder den zeithaltigen Kausalbegriff heranziehen, mögen wir in den Formen räumlicher Bewegung oder raumlos-psychisch denken und beschreiben, das alles hat die gleiche Berechtigung, sofern wir uns bewußt bleiben, daß alle diese Begriffe nur Hilfsmittel sind, um uns die logische Diskussion der Erlebnisse und ihrer Zusammenhänge möglichst bestimmt und erschöpfend zum Ausdruck zu bringen. Mit diesem Erkenntnisprozeß allerdings werden wir nie zu Ende kommen; denn der durchgehende und einheitliche Zusammenhang aller Wirklichkeitsinhalte ermöglicht eine unerschöpfliche, eine geradezu unendliche Fülle von Unterscheidungen und Vergleichungen d. h. von Bestimmungsweisen jenes in den Erlebnissen uns durchströmenden Wirklichkeitsinhalts, seiner inneren Zusammenhänge und wechselseitigen Beziehungen. Das bedeutet aber keineswegs eine Einschränkung unserer Erkenntnisfähigkeit, noch weniger ein unerkennbares Ding-ansich, das sich hinter unseren Erlebnissen versteckt, sondern ganz im Gegenteil eine stete Möglichkeit und unbegrenzbare Aufgabe, unsere Erkenntnis bis in die tiefsten Abgründe hinein zu verschärfen und auszubauen.

Jenes unerkennbare Ding-ansich verdankt seine Entstehung lediglich der Abbildtheorie. Solange die Erkenntnis in der Erreichung von wahrheitsgetreuen Abbildern der Wirklichkeit ihr Ziel und ihren Höhepunkt sah, waren Tür und Tor geöffnet für den Streit um die Zuverlässigkeit sowohl unserer Sinneswahrnehmungen als unseres Denkens, waren sie geöffnet für den Triumphzug des Skeptizismus, des Phänomenalismus und des Agnostizismus. KANTs Kritizismus schien die Abbildtheorie endlich überwunden zu haben, und dennoch hat er sie nicht überwunden. Denn aus dem unerkennbaren Ding-ansich als dem Urgrund der Erscheinungen lugt sie offenkundig wieder hervor. Deshalb nur galt ihm die "Erscheinung" nicht als vollwertige Erkenntnis, und deshalb auch sah sich der nachkantische Idealismus veranlaßt, ein von der Erkenntnis unabhängige Wirklichkeit überhaupt über Bord zu werfen und den Erkenntnisinhalt selber als alleinige Wirklichkeit anzusprechen. Lediglich der zähe Glaube an irgendeine Art von Abbildungsvorgängen gewährt ja auch noch heutzutage dem naiven Realismus und dem Materialismus seine volkstümlichen Stützen.

Es ist ein großes Verdienst der Marburger Schule, gegen alle diese Schlacken der Abbildtheorie mit scharfem Besen vorgegangen zu sein und den kantischen Kritizismus in diesem Sinn gereinigt und fortgebildet zu haben. Gänzlich überwunden aber wird die Abbildtheorie erst durch die schärfste Formulierung des Satzes, daß unsere Erkenntnis mit ihr auch nicht das Geringste zu tun hat, daß die Erkenntnis ein Akt von durchaus selbständigem Gepräge ist, der gar keine Abbilder liefern will, sondern auf dem Untergrund des Unterscheidens und Vergleichens im weitverzweigten Gefüge unseres Denkens die Methode bedeutet, mit der wir den Inhalt des Wirklichkeitsgeschehens in unser geistiges Besitztum aufnehmen, beschreiben und erläutern.

Daß wir zur Erläuterung hierbei vielfach von "Fiktionen" mit Erfolg Gebrauch machen und auch schon in einfacheren Formen der Beschreibung uns solcher "Fiktionen" bedienen, hat VAIHINGER in seiner "Philosophie des Als ob" großzügig und umfassend dargelegt. Daß wir aber durchweg und auch schon in der ursprünglichen Auffassung der Wirklichkeitsvorgänge "Fiktionen" erzeugen, ist zu weit gegangen und beeinträchtigt den Unmittelbarkeitswert unserer Erkenntnis. Denn die Begriffe, die wir zur Kennzeichnung des Erlebnisinhalts gebrauchen, sind keine Fiktionen; sie sind vielmehr völlig frei von selbständigem Inhalt, sind lediglich logische Namen, die wir zur Kennzeichnung der Erlebnisinhalte verwenden, um diese im Gedächtnis niederzulegen, um sie zu reproduzieren und uns gegenseitig über sie verständigen zu können. Als bloße Namen erlangen sie einen Inhalt immer nur dadurch, daß sie uns auf die Erlebnisse selber zurückverweisen. Auch hier, in der systematischen Fiktionstheorie unserer Erkenntnis bis in deren ursprünglichste Begriffe hinein, sehen wir noch einen verschleierten Rest der Abbildtheorie verborgen, insofern der Fiktionscharakter der Begriffe einen Gegensatz bedeutet gegen deren unmittelbaren Erkenntniswert, mit anderen Worten: insofern der Fiktionscharakter einem wahrheitsgetreuen Abbildcharakter gegenübergestellt wird. Demgegenüber ist zu betonen, daß wir uns z. B. unter den Stoffbegriffen nichts anderes vorstellen als einen räumlichen Ausdruck für den erlebten Zusammenhang sinnlicher Vorgänge, unter "Ursache und Wirkung" nichts anderes als einen zeitlichen Zusammenhang, unter einem "Funktionsbegriff" nichts anderes als ein ganz allgemeines Abhängigkeitsverhältnis verstehen. Fiktionen kommen bei alledem nicht in Frage.

Um jenes Phantasiegebilde der Abbildtheorie mit seinen letzten Wurzeln auszurotten, bedarf es deshalb noch der ausdrücklichen Feststellung, daß mit einem Abbild der Wirklichkeit, selbst wenn ein solches möglich wäre, unserer Erkenntnis auch nicht das Mindeste genützt sein würde. Denn selbst ein solches Abbild würde auch seinerseits erst dadurch zur Erkenntnis führen, daß wir seinen Inhalt mittels der unterscheidenden und vergleichenden Denkfunktion bearbeiteten, beleuchteten und uns so zu einem klaren und erschöpfenden Bewußtsein brächten.

Von grundlegender Bedeutung aber ist dieses Ergebnis für die positivistische Philosophie insofern, als es unsere gesamte Begriffsbildung mehr oder weniger unmittelbar auf die Erlebnisse zurückführt, also diese "Tatsachen der Erfahrung" als die alleinige Grundlage aller Erkenntnis erweist und der Erfahrung den Charakter der Untrüglichkeit wahrt. Der Ausbau der Erfahrung in einem forschenden, kritischen und der Theorie zustrebenden Sinn, das ist der Weg, den die positivistische Phiosophie verfolgt, - ein Weg, der durch alle anderen Wissenschaftsgebiet führt und ihrer Mitwirkung bedarff, ihre Ergebnisse, Gesichtspunkte und Methoden sich nutzbar macht und nur einer intoleranten Einseitigkeit feindlich gegenübersteht.
LITERATUR - Berthold Kern, Zur Erkenntnislehre der Marburger Schule, Zeitschrift für positivistische Philosophie, Bd. 1, Berlin 1913
    Anmerkungen
    1) In seinem Vortrag "Kant und die Marburger Schule" (veröffentlicht in den Kant-Studien, Bd. 17, Heft 3) hat kürzlich Paul Natorp das Verhältnis dieser Schule zu Kant kurz dargelegt.