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GEORG CURTIUS
Jakob Grimm

"Die Geschlechtsbezeichnung steht in enger Beziehung zum Götterglauben. Denn auch der Götterglaube beruth auf der Personifikation des Natürlichen. Wenn die Griechen die Flüsse als Götter verehrten, die Quellen als Nymphen, so geschah das offenbar aus demselben Grund, aus dem sie die betreffenden Wörter einerseits männlich, andererseits weiblich gebrauchten."


Hochgeehrte Anwesende!

Die großen Taten deutschen Geistes und deutschen Mutes, deren bewundernde Zeugen wir sind, rühren nicht ausschließlich von denen her, welchen wir an erster Stelle dafür zu danken haben. Daß wir Deutsche endlich nach so vielen Jahrhunderten einig zusammen stehen, dazu haben auch jene Helden im Reich der Kunst und Wissenschaft mitgewirkt, die längst ein Gemeinbesitz aller deutschen Landschaften und leuchtende Vorbilder für alle deutschen Stämme geworden sind. So führt die Dankbarkeit aus der gewaltigen Gegenwart uns stets wieder in vergangene Zeiten zurück, da das gesät war und keimte, was neu aufgegangen ist und Früchte zu treiben beginnt.

Jene Jahrzehnte, welche in Frankreich die große Revolution unmittelbar vorbereiteten, haben Deutschland einen reichen Kranz von Männern gebracht, welche die Wissenschaft in neue Bahnen lenkten. Zu Ende der sechziger Jahre sind die beiden HUMBOLDTs, in den siebzigern NIEBUHR und CARL RITTER geboren. Das eine Jahr 1785 brachte drei Gelehrte von weitestem Ruf: DAHLMANN, BOECKH und JAKOB GRIMM. So begründete sich, während man drüben sich gewaltsamen Umgestaltungen versuchte, allmählich in Deutschland der friedliche Neubau der deutschen Wissenschaft. Von den genannten Namen ist keiner so bekannt wie der Name GRIMM. Die Kinder- und Hausmärchen, von den Gebrüdern GRIMM herausgegeben, sind in alle deutschen Häuser gedrungen, das deutsche Wörterbuch von JAKOB und WILHELM GRIMM ist für jedermann geschrieben, viel besprochen und hoffentlich manchem bekannt, der sonst nicht gerade in Wörterbüchern zu blättern pflegt. Und wer auch etwa nur den ersten Band des großen Nationalwerks aufgeschlagen und einen Blick auf die beiden ernsten und milden Gesichter geworfen hat, die uns dort im Bild entgegentreten, der bringt, sollte ich meinen, eine freundliche Stimmung mit für Alles, was diesen Namen angeht, der ja auch in der politischen Geschichte einen hellen Klang hat. Märchen freilich und ein vielbändiges Wörterbuch scheinen auf den ersten Blick wenig mit einander gemein zu haben. Märchen, eine Zauberwelt für groß und klein erschließend und die Aufzeichnung und Beschreibung unzähliger und deutscher Wörter, möchte man meinen, sei etwas sehr Verschiedenes. Jenes fordere etwas vom Dichter, nämlich dies: das Wörterbuch - und damit alles andere als poetische Auffassung, vielmehr nur klares Verständnis, scharfe Bestimmtheit, reiche Belesenheit. Wie es dennoch kommt, daß derselbe Mann beides und noch viel anderes in seinem Geiste trug und gestaltete, wollen wir erwägen und es versuchen, uns annähernd ein Bild jener geistigen Werkstätte zu machen, in der einer der größten Gelehrten unserer Zeit, ja ein in vieler Hinsicht unvergleichlicher Forscher und edler Mann mit festem Sinn lange Jahre hindurch waltete.

Einen beträchtlichen Teil seines Lebens hat uns JAKOB GRIMM selbst beschrieben mit jener Einfachheit, die den Grundzug seines Wesens ausmacht. Er war eines hessischen Amtmanns Sohn, in Hanau geboren, von neun Kindern, unter denen sechs zu reifen Jahren gelangten, das zweite. Auf ihn folgte, nur um ein Jahr jünger, sein Bruder WILHELM, durch Gleichheit des Strebens ihm so eng verbunden, daß die beiden Brüder mit kurzen Unterbrechungen ihr ganzes Leben unter einem Dach zubrachten. 11 Jahr war JAKOB alt, als ihm 1796 der Vater, damals in Steinau, starb. Bei den beschränkten Mitteln der Mutter mußte eine Tante in Kassel helfen, daß die Knaben die dortige Schule zur Vorbereitung auf die Universität besuchen konnten. In Marburg studierten sie dann Rechtswissenschaft und hier fand JAKOB den einzigen Mann, dessen Einfluß auf seine ganze Entwicklung er sein Leben lang dankbar rühmte, den damals noch jugendlichen großen Juristen von SAVIGNY. Durch diesen, dem er durch Eifer und Geschick Achtung und Zuneigung eingeflößt hatte, kam ihm zuerst man seltenes Buch zu Gesicht, durch ihn gelangte er 1805 zu einem längeren Aufenthalt in Paris, um seinen Lehrer dort bei dessen gelehrten Arbeiten zu unterstützen. Die reichen Schätze der Bibliothek waren in Paris JAKOB GRIMMs Hauptfreude. Doch kehrte er 1806 heim, um nun seine Laufbahn im kurhessischen Staatsdienst anzutreten. Er erhielt "den Zutritt bei Sekretariat des Kriegskollegiums" mit 100 Talern Gehalt und fungierte mit Puder und Zopf bis zum Eindringen der Franzosen unter dem Titel "Kriegssekretär". Doch widerten ihn diese Geschäfte an und trotz des Schmerzes, den er als Deutscher über den Umsturz aller Verhältnisse empfand, war es für GRIMM eine Erlösung, als er vom importierten König JEROME als dessen Privatbibliothekar mit angesehenem Gehalt angestellt wurde. Der Wissensdurst des neuen Gebieters war nicht der Art, seines Bibliothekars Dienste sonderlich in Anspruch zu nehmen. Desto mehr Zeit blieb diesem für eigene Studien übrigt, die nun immer entschiedener der Poesie, vor allem gerade im Gegensatz zum herrschenden Franzosentum der vaterländischen Dichtung, in ihrer älteren Periode und dem deutschen Altertum überhaupt, sich zuwandte. Erst die bewegten Jahre der Befreiungskriege unterbrachen die emsige Arbeit. Nach der Rückkehr des Kurfürsten und des Zopfes war JAKOB GRIMM hessischer Legationssekretär im Hauptquartier der Alliierten, später beim Kongreß in Wien. Der schlichte junge Mann paßte wohl wenig in die Gesellschaft der Diplomaten. Er klagt in seinen Tagebüchern über die trostlose Zeitvergeudung. Von allen den zahlreichen Teilnehmern am Kongress war er wahrscheinlich der einzige, welcher seinen Aufenthalt in Wien benutzte, um Slawisch zu lernen, ein Wissen, das ihm bald in mehr als einer Beziehung nützlich wurde. Mehr war GRIMM in Paris an seinem Platz, wo er im Auftrag des preußischen Staatskanzlers von HARDENBERG deutsche, von den Franzosen entführte Bücherschätze mannhaft reklamierte. Von da an ließen ihn die lieben Bücher nicht wieder los. Die beiden Brüder wurden an der Bibliothek in Kassel angestellt und führten von 1816 - 1829 ein Leben stiller gesammelter Arbeit. NIcht alles freilich war in Kassel idyllisch. Als der Bibliothek die Ehre zuteil wurde, unter eine andere Oberaufsichtsbehörde, nämlich unter das kurfürstliche Oberhofmarschallamt, gestellt zu werden, forderte dies eine besondere Abschrift des umfassenden Bücherkatalogs, und eineinhalb Jahr kostbarer Zeit mußten dieser Laune geopfert werden. Zum hohen Gehalt der sonst verwünschten Franzosenzeit brachten es die treuen Hessin in dieser ihrer Heimat nie wieder, so daß selbst Nahrungssorgen nicht ausblieben. Und dennoch nennt JAKOB GRIMM diese Zeit eine selige, denn sie gewährte im reiche Muße für eigene Arbeiten. Bei weitem die meisten deutschen Gelehrten sind und waren Universitätslehrer und sicherlich liegt im Beruf wissenschaftlicher Mitteilung und Unterweisung, so wie im täglichen Verkehr mit der strebenden Jugen eine Fülle von Anregung. Aber für die Brüder GRIMM, die eine fast ganz neue Wissenschaft aufzubauen und eine unübersehbare Masse des Stoffes zusammenzutragen, zu sichten und auszunutzen hatten, war diese nicht allzusehr unterbrochene Muße durch nichts anderes zu ersetzen. In dieser Kasseler Stille sind die Gedanken für die meisten jener großen Werke gereift, die nach und nach ans Tageslicht traten und viele von ihnen wurden ausgeführt. So lieb war den Brüdern die Heimat, daß sie 1817 einen Ruf an die neu gegründete Universität Bonn aufschlugen. Aber als ihnen 12 Jahre später nach einer empfindlichen Zurücksetzung von Seiten der hessischen Regierung ein Wirkungskreis in Göttingen angeboten wurde, nahmen sie diesen an. In unserer leicht beweglichen Zeit begreifen wir es kaum, wie schwer den Brüdern der Umzug von Kassel in das nur wenige Meilen entfernte Göttingen war, wie ungern sie den heimischen Boden verließen, obgleich in Göttingen treue Freunde und Fachgenossen ihrer warteten. 44 Jahre also zählte GRIMM, als er sein erstes Lehramt antrat. Er war überhaupt keine lehrhafte Natur. "Besser lernen als lehren", lautete sein Spruch. Er freute sich des Stoffes selbst, den er bearbeitete, er wies diesen samt den Gedanken, die er in ihm weckte, den Lesenden oder Hörenden vor, wie ein Sammler die geliebten Stücke, die er zusammengebracht hat, freilich nicht, ohne die großartigsten Schlüsse daraus zu ziehen. Aber das Gestalten, Gliedern, Teilen und Zusammenfassen, das Anpassen an das Verständnis des Aufnehmenden, worin die Kunst des Lehrens besteht, lag ihm ferner. Gegen jede Art von Systematik empfand er eine vielleicht übermäßige Abneigung. So kommt es, daß beide GRIMMs - denn in dieser Hinsicht waren die Brüder nicht sehr verschieden - immer mehr Gelehrte als Lehrer geblieben sind, obwohl es natürlich keineswegs an empfänglichen Naturen gefehlt hat, die auch aus den mündlichen Vorträgen der trefflichen Männer wichtige Anregungen in sich aufnahmen. Es ist bekannt, wie diese Göttingische Zeit, bis dahin eine glückliche und namentlich durch dauernde Freundschaften, die sich dort anknüpften, gehobene, ein durchaus unerwartetes Ende nahm. König ERNST AUGUST trat seine Regierung des Landes Hannover 1837 damit an, daß er die 4 Jahre vorher von seinem Vorgänger anerkannte, von allen Beamten beschworene Verfassung aufhob. Ratlos und schwankend ließ das Land den Gewaltstreich über sich ergehen. Die Universität Göttingen aber hielt es für ihre Pflicht, nicht zu schweigen. Es erfolgte der Protest der sieben Professoren, lauter Männer von höchsten Ansehen in der Wissenschaft, von denen wir ja so glücklich sind, einen in unserer Mitte zu haben. Die Brüder GRIMM waren unter ihnen. Alle traf die sofortige Entlassung aus ihren Ämtern, JAKOB GRIMM mit zwei anderen überdies noch die Weisung, das Land Hannover binnen dreien Tagen zu verlassen. Wie JAKOB GRIMM, der sonst am politischen Leben sich nicht in besonderem Maße beteiligte, diese damals ganz Deutschland mächtig bewegende Angelegenheit auffaßte, hat er selbst in der kleinen Schrift über seine Entlassung in seiner kernigen und innigen Weise gesagt. "Weder nach Beifall gelüstet hat mir, noch vor Tadel gebangt, als ich so handelte wie ich  mußte."  "Denn wozu sind Eide, wenn sie unwahr sein und nicht gehalten werden sollen?" Diese beiden Aussprüche geben die Summa des Ganzen. Es ist die Stimme des Gewissens, es ist echt deutsche Gewissenhaftigkeit, welche diese Männer in einer Zeit trauriger Haltungslosigkeit antrieb, mit Einsetzung ihrer ganzen Stellung einfach ihre Bürgerpflicht zu erfüllen und damit ein Beispiel zu geben, das nicht verloren geblieben ist.

Als Vertriebener mußte JAKOB GRIMM in seinem Geburtsland eine Zuflucht suchen. Drei Jahre konnte er sich in Kassel wieder ganz in seine Arbeiten vertiefen, die ihn bald über die erlittene Unbill trösteten. Der Wissenschaft aber und dem deutschen Volk brachte diese Amtsentsetzung den Plan zum deutschen Wörterbuch ein. Denn der Gedanke, den beiden GRIMMs eine lohnende Arbeit zu verschaffen, war der äußerste Antrieb zu diesem großen in Leipzig entworfenen und von hier aus fortgeführten Unternehmen. Doch sollte glücklicherweise der äußere Anlaß bald fortfallen. FRIEDRICH WILHELM IV. machte in diesem wie in anderen Fällen gut, was in früheren Jahren gefehlt hatte. Er gewann 1841 beide Brüder für die Berliner Akademie. In ehrenvollster Weise wurden sie berufen, sie hatten, wie alle Akademiker, das Recht, Vorlesungen an der Universität zu halten, ohne aber durch irgendwelche Verpflichtungen dazu in der freien Verwendung ihrer Zeit beschränkt zu sein.

So begann der letzte, mehr als 20-jährige Abschnitt in JAKOB GRIMMs Leben.

Es war ein großer Tag für die Berliner Studentenwelt, als JAKOB GRIMM seine Vorlesungen eröffnete. Er war es nicht gewohnt, vor einer so großen Zuhörerschaft zu sprechen. Die Bewegung des Herzens, das bei ihm stets sehr lebhaft schlug, hemmte den Fluß seiner Gedanken. Nach einigen Sätzen trat eine längere Pause ein, aber völlig ruhig und sinnend blickte der Redende in die Kastanienbäume vor dem Fenster und lautlose Stille herrschte unter den Hunderten, bis er das Wort wieder gefunden hatte. Im Jahre 1846 und dann wieder 1847 trat nach dem Beispiel anderer sogenannter Wandervereine eine Germanistenversammlung zusammen, bestimmt, alle der deutschen Vorzeit zugewendeten Gelehrten in sich zu vereinigen, zuerst in Frankfurt, dann in Lübeck. Das waren wohl die Tage, in denen JAKOB GRIMM, dem geborenen Präsidenten dieses Vereins, die höchste und freudigste Anerkennung zuteil wurde. Es war ein unvergeßlicher Augenblick, als in Travemünde bei Lübeck, wo ein Festmahl veranstaltet wurde, die GRIMMs wieder mit DAHLMANN an einem Tisch saßen und JAKOB GRIMM bei einem Trinkspruch angesichts des deutschen Meeres dem alten Freund gerührt in die Arme fiel. Es waren Stunden der reinsten vaterländischen Erhebung, denen noch kein Mißklang deutschen Haders beigemischt war, wie er im folgenden Jahr sich so bald einfand. Doch auch 1848 durfte der deutsche Mann in der Frankfurter Nationalversammlung nicht fehlen, wo er indessen im Kampf der Parteien sich wenig wohl fühlte und selten das Wort ergriff.

Die große moderne Stadt Berlin war JAKOB GRIMM eigentlich sehr fremdartig, aber bald fand er die guten Seiten heraus, richtete sich sein Leben in seinem Sinne ein und arbeitete so rastlos wie immer. Seine Lust an der Natur trieb ihn oft in den Tiergarten, dessen entlegendste Teile er gern durchstreifte und wer ihn dort in dieses Nachdenken versunken lustwandeln oder auch, etwa in einem Buch blätternd, durch die Linden der Akademie zueilen sah, wird auch, ohne von ihm zu wissen, von dem Mann mit dem glänzenden Blick und den bis ins hohe Alter raschen Bewegungen den Eindruck einer mehr als gewöhnlichen Persönlichkeit davongetragen haben. Das GRIMMsche Haus war ein gastlich geöffnetes und JAKOBs Zimmer konnte niemand betreten, ohne eines freundlichen Empfanges und erfrischender Anregung sicher zu sein. Der 75-jährige sollte noch den Schmerz erleben, seinen Bruder WILHELM zu Grabe zu geleiten. Drei Jahre später, am 20. September 1863, erlag er selbst einer kurzen Krankheit, liebevoll gepflegt von der edlen Frau und den Kindern seines Bruders, die ihm ein eigenes Hauswesen ersetzten.

Die Summe seines wissenschaftlichen Strebens beschreibt uns JAKOB GRIMM selbst mit folgenden Worten: "In die rauhen Wälder unserer Vorfahren suchte ich einzudringen, ihrer edlen Sprache und reinen Sitte lauschend. Weder die alte Freiheit des Volkes blieb mir verborgen, noch daß es schon, bevor des Christentums Segen ihm nahte, sinnigen, herzlichen Glauben hegte." Es sind damit die Hauptseiten jener Wissenschaft berührt, deren Begründung aus dürftigen Anfängen die große Tat seines Lebens ist, der Wissenschaft vom deutschen Altertum. Bedeutende wissenschaftliche Schöpfungen, namentlich historisch-philologische, kommen nur dadurch zustande, daß zwischen dem Forschenden und seinem Stoff eine Art von Verwandtschaft besteht. Bei JAKOB GRIMM war das in hohem Grade der Fall. Mag er nun deutschen Glauben und deutsche Sagen oder deutsche Sitte und Sprache behandeln, überall ahnen wir, derselbe Volksgeist, welcher jene Anschauungen und Formen hervorbrachte, ist auch im Darstellenden lebendig, so sehr wie in irgendeinem Sohn der deutschen Erde. Verwandtes wird unablässig zueinander gezogen. So ist GRIMM immer von inniger Freude zu seinem Gegenstand ergriffen und diese Freude teils sich von selber dem Lesenden mit. Eine scheinbar trockene Untersuchung, ja eine bloße Aufzählung erhält bei ihm einen eigentümlichen, man kann sagen, poetischen Reiz. Ohne solche nie versiegende Lust, ohne die Heiterkeit der Seele, die daraus entsprang, wäre doch auch ihm wohl der Fleiß erlahmt, dessen er bedurfte, um so Gewaltiges auszuführen. Die deutsche Altertumswissenschaft, zu Endes des vorigen Jahrhunderts nur eine Liebhaberei weniger Bücherfreunde, steht nach dem Tod der GRIMMs reich entwickelt und in mehrfacher Hinsicht als Muster für verwandte Bestrebungen da. Darauf ruht ja eben der großen Zusammenhang der Wissenschaften untereinander, daß jede bedeutendere Leistung in einer von ihnen, auch auf andere vorbildlich einwirkt. Versuchen wir uns in diesem Sinne klarzumachen, in welcher Verbindung JAKOB GRIMMs ganzes Streben mit einigen Hauptrichtungen vor und neben ihm steht.

In der sogenannten Periode der Aufklärung und während des langen Abschnittes, da die Philosophie die ersten Geister unseres Volkes mehr als alles beschäftigte, war für das stillere Leben der Völker in fernen Jahrhunderten wenig Empfänglichkeit. Einer der ersten, welcher erkannte, daß es auch außerhalb der geschulten Gedankengänge der Gelehrten und außer der mehr oder weniger kunstvollen Dichtung einzelner hochbegabter Menschen eine Welt des Denkens und Empfindens gab, war HERDER. Bei ihm finden wir gelegentlich tiefsinnige Worte auch über die Vorzeit der deutschen Sprache. "Vieles ist versunken", sagt er, wir müssen es wieder emporheben", "in unseren Sprachwurzeln ist malende Musik". Bei ihm beginnt die Unterscheidung von Natur- und Kunstpoesie. Diese Keime gingen auf bei den sogenannten Romantikern. Jetzt kam die Zeit, da man das anspruchslose Lied des Schnitters, des Fischers bei seiner Arbeit, der Mutter an der Wiege emsig hervorzog, da man ein kerniges Sprichwort bewundern, an einem altväterischen Brauch Gefallen finden lernte und die, so schien es wenigstens, weniger gebundene Poesie des Orients wie des Mittelalters der klassischen gegenüberstellte. Diese Bestrebungen haben auf die Brüder GRIMM, die mit einem der kühnsten Romantiker, ACHIM von ARNIM, eng befreundet waren, wesentlich eingewirkt.

Aber es zeigt sich noch ein ganz anderer Zusammenhang. FRIEDRICH AUGUST WOLF hatte zu Ende des 18. Jahrhunderts der Philologie zuerst höhere Ziele gesteckt und durch seine tief einschneidenden Untersuchungen über HOMER gezeigt, wie die gepriesenste Dichtung des Griechenvolkes etwas ganz anderes sei, als das Werk eines einzelnen "Genies", mit dem man bis dahin glaubte auskommen zu können. WILHELM von HUMBOLDT wurde von da aus zu Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Geisteskraft angeregt, die ihn vor allem auf die geheimnisvollste und unmittelbarste Betätigung dieser Geisteskraft bei den Völkern, die Sprache, führten. Es waren Aufgaben gestellt, deren Lösung nur gerade begonnen wurde. Man forderte eine Wissenschaft, die das ganze Altertum nach den verschiedensten Seiten und in allen seinen Äußerungen umspannte. Während man aber bei dieser Forderung wesentlich nur an die griechische und römische Welt dachte, erfüllte sie sich ungeahnt auf einem wenig beachteten Gebiet. Das klassische Altertum, das WOLF im Auge hatte, ist so unendlich vielseitig, daß es höchstens durch ein Zusammenwirken Vieler in jenem großen Maßstab durchforscht werden kann, den man nun anlegte. Von den großen klassischen Philologen und Archäologen haben die umfassendsten und vielseitigsten, wie WELCKER, BOECKH, OTTFRIED MÜLLER es nicht vermocht, den verschiedenen Seiten der antiken Welt, also der Sprache, der redenden und bildenden Kunst, dem Glauben, der Sitte und dem Staatsleben, auch nur annähernd gleichmäßig gerecht zu werden. Auch sie waren doch immer nur in Teilen des großen Gebietes wirklich heimisch. Das  deutsche  Altertum dagegen, dem die bildende Kunst und ein entwickeltes politisches Leben fast ganz abgeht und dessen Literatur nicht so massenhaft ist, konnte schon eher von der eminenten Kraft eines Einzelnen umspannt werden. Und diese hervorragende Kraft steckte in JAKOB GRIMM. Man darf es aussprechen. Er ist gleichsam das Urbild eines Philologen, wie man ihn seit WOLF suchte. Freilich hatte auch er seine Schranken. Er blieb insofern Romantiker, als ihn die dunklen Anfänge zu jeder Zeit mehr reizten als die helle Erfüllung. Aber dennoch hat er sich von einem gewissen Streben in's Unbestimmte und Regellose, das in seinen früheren Arbeiten hervortritt, mehr und mehr losgemacht. "Je mehr ich mich beschränke", schrieb er 1820, "desto größeren Erfolg spüre ich bei mir." Diese Beschränkung war freilich, am Vermögen anderer gemesen, riesige Ausdehnung. Denn selbst über die deutschen Grenzen hinaus zu den Romanen, Slawen, Finnen zu schweifen, scheute er sich nie. Den Begriff  deutsch  zog er so weit, daß auch der skandinavische Norden und das Angelsächsische und Englische mit hinein gehörten. Aber er steckte sich überall deutliche Ziele und verfolgte diese mit jener nie rastenden Arbeitslust, die ihn nie verließ. Vor allem beschäftigte ihn die Sprache, die schon als Mittel zu allem weiteren die erste Stelle einnahm. Aber daneben erwuchs ihm die "deutsche Mythologie". Indem er vereinzelte Notizen über deutschen Götterdienst sammelte, vor allem aber den Spuren des deutschen Heidentums in Sagen und Märchen nachging, deckte er hier eine unendliche Fülle auf. Die Sitte unserer Vorfahren verfolgte er besonders in alten Rechtsgebräuchen, die Poesie vorzugsweise in  der  Gattung, die am wenigsten von einezlnen Menschen gemacht werden kann, im Epos, über dessen wahres Wesen er die tiefsinnigsten und treffendsten Aufschlüsse brachte. Das alles konnte nur gelingen durch eine Hingebung an den Stoff, wie sie wohl nie größer da gewesen ist und kaum ohne jenes lebendige Nationalgefühl, das GRIMMs gesamte Forschung beseelt, erreichbar war. Die vielseitigste Rezeptivität war bei ihm mit der höchsten Produktivität verbunden. "Wo Sie das alles herhaben, weiß Gott", schrieb ihm einmal sein Freund LACHMANN. Allerdings lag in dieser Art zu schaffen auch manche Gefahr. JAKOB GRIMM arbeitete rasch und ohne zu feilen. So bedurfte sein Schaffen dringend des Korrektivs kritischerer Geister, unter denen eben LACHMANN hervorragt. Auch traf es sich glücklich, daß WILHELM GRIMM, weniger kühn und umfassend, aber auf beschränkteren Feldern fein und sorgfältig, dem verwegeneren JAKOB zur Seite stand. JAKOB GRIMM ist offenbar da am meisten an seinem Platz, wo das unbewußte Geistesleben unseres Volkes in Betracht kommt. Vielleicht verführte ihn das, diesen unbewußten Geistesleben hie und da einen weiteren Spielraum anzuweisen, als ihm gebührte. Aber  ein  Gebiet des Volkslebens gibt es, das so gut wie ganz dieser Sphäre des Unabsichtlichen und Unbewußten anheimfällt. Zur Sprache, die er redt, trägt der Einzelne durch bewußtes Schaffen so gut wie gar nicht hinzu. Die Sprache empfängt der Einzelne vielmehr von seinem Volk als eine ihn wesentlich bindende und bestimmende Macht. Sie ist in aller Stille von ungezählten Generationen geschaffen. Hier also, auf dem Gebiet der Sprache, konnte JAKOB GRIMM jene seine Hauptrichtung am besten bewähren. Hier hat er in der Tat das Höchste geleistet. Wie er die deutsche Sprache im innigsten Zusammenhang mit dem Leben und der Art unseres Volkes auffaßte, so hat niemand auch nur annähernd irgendeine Sprache zu ergründen gewußt. Darum bleibt seine "deutsche Grammatik", obwohl nicht ganz zu Ende geführt, unbestritten das bedeutendste seiner Werke, ein Werk, von dem man sagen kann, daß 50 Jahre nach seinem ersten Erscheinen zwar vieles darin Enthaltene von der unaufhaltsam fortschreitenden Wissenschaft überflügelt ist, daß aber auch wesentliche darin gegebene Anregungen, die weit über die deutsche Sprache hinausgingen, noch jetzt nicht völlig ausgebeutet sind. Eben deshalb wird es gestattet sein, auf diese bedeutendste Seite von GRIMMs Wirken noch etwas genauer einzugehen.

Im Jahre 1819 hat JEAN PAUL ganz im Sinne seiner Zeit unsere liebe deutsche Muttersprache zum Gegenstand von Verbesserungsversuchen gemacht. Das Morgenblatt enthielt Briefe des geistreichen Humoristen, in denen dieser unter anderem jenem  s  den Krieg erklärte, welches wir in der Mitte zusammengesetzter Wörter wie Glückskind, Hungersnot, Liebesdienst zu sprechen pflegen. JEAN PAUL konnte in vielen Fällen einen Scheingrund für sich anführen. Was Glücks, was Hungers ist, sieht jeder: der Genitiv der Wörter Glück, Hunger, aber einen Genitiv Liebes von Liebe kennt unsere Sprache nicht. Folglich, schloß JEAN PAUL, fort mit diesem widersinnigen Schnörkel! Die Antwort des "Herrn Kriegssekretär Grimm", wie ihn JEAN PAUL nennt, ist bezeichnend für dessen ganz Auffassung der Sprache. Sie gipfelt in dem Satz: "Jean Pauls Regel ist gänzlich falsch, weil er die Sprache wie etwas von heute betrachtet." Diesen Satz "die Sprache ist nichts von heute" könnte man als das Motto über GRIMMs grammatische Schriften setzen. Positiv gefaßt, enthält er die Forderung, daß die erste Frage eines jeden, der über ein Wort oder eine Wortform Auskunft sucht, sei es auch innerhalb seiner Muttersprache, die sein muß, wie sah es früher damit aus? Diese Einsicht scheint ungemein nahe zu liegen. Und doch hatte sie niemand vor JAKOB GRIMM bestimmt in sich ausgebildet. Bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts gab es in der Behandlung der Sprachen eigentlich nur zwei Standpunkte. Der eine war der rein empirische und damit praktische. Man lernte Wörter und Wortformen nur zu dem Zweck, sich mit einem fremden Volk, sei es mündlich oder durch Vermittlung der Schrift, in Verbindung zu setzen. Auf die Muttersprache, die wir ja von selbst verstehen und sprechen, würde dieser Standpunkt gar keine Anwendung finden. Der andere Standpunkt ist der philosophische. Man fragte dreist nach dem warum, nach den Gründen des Sprachgebrauchs, ja man drang mit jener Keckheit, durch die so oft der Dilettant sich vom Kenner unterscheidet, zu der letzten Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache überhaupt vor. Ob diese von Gott geschaffen oder von den Menschen erfunden sei, das war ein Lieblingsproblem des 18. Jahrhundertes und viele glaubten allen Ernstes es mit einer kleinen Reihe von Schlußfolgerungen endgültig lösen zu können. Kein Wunder, daß über unsere Muttersprache sich jeder einbildete mitreden, daß mancher sie durch frein ausgeklügelte Vorschläge meinte verbessern zu können. FRIEDRICH der Große, bekanntlich kein sonderlicher Verehrer des Deutschen, das ihm plump und unfein erschien, gab unseren Dichtern den Rat, des volleren Klanges wegen jedem Infinitiv auf  en  den Vokal  a  beizufügen, also lebena, fragena, statt leben, fragen zu sagen. Glücklicherweise wurde dieser Rat von niemand befolgt.

Kurz vor jenem Streit über das  s  war eine andere sprachverbessernde Richtung, die Deutschtümelei, diese Karikatur wahrhaft vaterländischen Sinnes im Schwunge und nicht so ganz unbegreiflich, denn selbst im letzten Sommer gingen die Wogen gegen alle  Fremdwörter  in unserer Sprache ziemlich hoch. Man wollte also die Fremdwörter mit Stumpf und Stiel ausrotten, hatte aber damals so wenig wie neuerdings eine Ahnung von der Schwierigkeit, das Fremde vom Heimischen zu unterscheiden. So wurde selbst das Wort  Nase  verpönt, weil man sich einbildete, es sei aus dem lateinischen  nasus  entlehnt. Man brachte dafür höchst geschmackvoll das Wort "Gesichtserker" in Vorschlag, womit man freilich erst recht ins Undeutsche geriet, denn der zweite Bestandteil des Wortes (Erker) ist gerade wirklich ein Fremdwort, das wahrscheinlich mit dem lateinischen  arcus,  Bogen, zusammenhängt. Zu solchem Treiben stand nun JAKOB GRIMM im vollsten Gegensatz. Für ihn ist die Beobachtung die Seele der Sprachforschung. Festzustellen, was früher war und daraus erkenen, wie das, was ist, geworden ist, was sein Ziel. In die Sprache versenken will er sich, von ihr lernen, nicht sie hofmeistern, Freude am Einheimischen und Echten wecken, indem er es in seiner Mannigfaltigkeit aufdeckt, nicht den Wächter spielen, der ängstlich aufpaßt, daß man nicht irgendeinen von des Nachbars Garten herübergefallenen Apfel aufgreift. In seiner tieferen Auffassung vom Wesen der Sprache konnte GRIMM, wie wir sahen, an HERDER anknüpfen. Nach HERDER verfolgte WILHELM von HUMBOLDT eine mehr spekulative, aber in der hochen Achtung vor dem in der Sprache sich bekundenden Geisteslben mit GRIMM zusammentreffende Richtung. Wir wissen, daß JAKOB GRIMM durch einzelne Schriften WILHELM von HUMBOLDTs lebhaft angeregt wurde. Dennoch bestehen zwischen beiden Forschern wichtige Unterschiede. JACOB GRIMM zeigt  nicht  da seine Stärke, wo er allgemein sprachliche Fragen behandelt. Seine weit verbreitete kleine Schrift über den Ursprung der Sprache enthält viel Schönes und Sinniges, steht aber ohne Zweifel weit zurück gegen die großartige, weit umschauende Weise, in der solche Probleme von WILHELM von HUMBOLDT behandelt werden, den seltsamerweise JAKOB GRIMM in jener Schrift gar nicht berücksichtigt. Viel näher verwandt war seinen Bestrebungen die neu begründete vergleichende Grammatik. Drei Jahre vor dem ersten Erscheinen von JAKOB GRIMMs deutscher Grammatik trat FRANZ BOPP mit seiner Erstlingsschrift hervor. BOPP erwies mit Hilfe des Sanskrit den weiten Zusammenhang der bedeutendsten europäischen Sprachen, darunter auch des Deutschen mi dem indischen und persischen Orient und begann jene tief einschneidenden Zerlegungen der Sprachformen in ihre Elemente, die man nicht unpassend Sprachanatomie genannt hat. Die große Bedeutung dieser Richtung hat GRIMM von Anfang an erkannt und sich beständig mit ihr in Verbindung erhalten. Aber seine Ziele waren doch auch davon verschiedene. GRIMM will, wie er selbst sagt, von unten nach oben vordringen, das heißt von der reichen Mannigfaltigkeit der einzelnen Sprachen zu dem, was vielen unter ihnen gemeinsam ist, während BOPP von oben nach unten fortschreitet, das heißt vom sicher erkannten Gemeinsamen aus die Vielheit, in die es zerfiel, betrachtet. Beide Richtungen bedürfen notwendig einander, beide treffen zusammen in der historischen Betrachtungsweise. Aber während die vergleichende Grammatik sich vorzugsweise in frühen, jenseits aller gleichzeitigen Überlieferung liegenden Perioden der Sprachgeschichte bewegt, hat es die GRIMMsche Forschung mit späteren, durch Denkmäler bezeugten Zeiten zu tun. Und fast unübersehbar ist der Gewinn, den JACOB GRIMM durch seine die deutschen Sprachen im weitesten Sinne umfassenden, sie bis in ihre feinsten Verzweigungen verfolgenden Untersuchungen der Sprachwissenschaft überhaupt zugeführt hat.

Ihm verdanken wir die bestimmte Einsicht in die Art, wie sich Sprachen örtlich und zeitlich gliedern. Was Mundarten oder Dialekte sind, hatte vor ihm niemand klar erkannt. Das Vorurteil ist noch jetzt nicht ganz ausgerottet, ein Dialekt sei gleichsam eine verdorbene oder rohe Sprechweise. Aber JAKOB GRIMM hat gezeigt, daß Mundarten - wie das schon der Name passen ausdrückt - vielmehr die natürlichen Varietäten einer Sprache und an sich ebenso berechtigt sind wie die natürlichen Bruchteile eines Volkes, die Stämme. Mundartliche Formen haben also für den Sprachforscher untereinander völlig gleichen Anspruch auf Beachtung. Allerdings geht aus einer der Mundarten bei höher entwickelten Völkern im Laufe der Zeit das hohe Gut einer von allen Stämmen anerkannten Schriftsprache hervor, für uns das Hochdeutsche, das sich bekanntlich erst seit der Reformationszeit diese Stellung errungen hat. Nach Begründung einer solchen allgemeinen Schriftsprache bleibt der Gebrauch der Mundarten vorzugsweise auf die weniger gebildeten Volksklassen beschränkt und erscheint daher, namentlich da vielfach Volks- und Schriftsprache durcheinander gemengt werden, in unvorteilhaftem Licht, während alles wirklich Volkstümliche, als naturwüchsiger Ausdruck des ungeschulten Sprachlebens, die Wissenschaft ganz vorzugsweise anzieht.

Der örtlichen Mannigfaltigkeit steht die zeitliche zur Seite. Hier zog JAKOB GRIMM mit scharfen Strichen die drei großen Perioden des Hochdeutschen: Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch und tat, was mehr sagen will, die tiefsten Blicke in den Entwicklungsgang unserer Sprache überhaupt. Der alten Sprache und nicht bloß der deutschen, ist die sinnliche Fülle des Klanges, die Buntheit der volltönenden Endungen eigen, die im Laufe der Zeiten mehr und mehr abnimmt. Dem gothischen  tuggono  entspricht unser  Zungen,  wir loben heißt auf Althochdeutsch  lopemes,  sie salbten  salpotun.  An diesen volltönenden Lautgebilden des Gothischen und Altdeutschen hatte GRIMM eine besondere Freude und doch war er weit davon entfernt, diesen Sprachperioden den Vorzug vor jüngeren zu geben. Er erkannte vielmehr mit dem weiten Blick des großen Forschers, daß in der Zerstörung dieser schönklingenden aber schwerfälligen Formen ein Fortschritt liege, der Fortschritt vom Sinnlichen zum Geistigen und daß jüngeren Sprachperioden durch bestimmtere Ausprägung des Wortgebrauchs und durch die Gelenkigkeit der Formen reichlich ersetzt werden, was sie an Klangreichtum eingebüßt haben. So kommt es, daß GRIMM in seinem Alter gerade die Vorzüge  derjenigen  Sprache deutscher Abstammung, die diesen Prozeß am weitesten durchgeführt hat, der englischen ganz besonders hervorhob.

Ein Lieblingsgebiet des Sprachlebens ist für JAKOB GRIMM die Welt der Laute. Für das Verständnis dieser Welt hat er, weit über den Bereich des Deutschen hinaus, geradezu schöpferisch gewirkt. indem sein Ohr mit innigem Wohlbehagen den mannigfaltigen Veränderungen der Vokale lauschte, entdeckte er zwei von Haus aus verschiedene Arten lautlichen Wandels. Unser Wort  Vater  lautet auf Althochdeutsch  vatar,  der Plural  vetir.  Der Grund der Veränderung liegt im  i  der zweiten Silbe. Dieses  i  fordert die Verwandlung eines  a  der vorhergehenden Silbe in das ihm näherliegende  e,  wodurch dann eine Art Harmonie zwischen den beiden Silben hergestellt wird. Dieser Lautwandel, der sich erst weiter verbreitete, als die Quelle desselben, das  i,  schon meistens dem  e  gewichen warm nannte er  Umlaut.  Auf ihm beruth ein großer Teil unserer Plurale:  Bruder Brüder, Land Länder  und im Verbum unserer starken Konjugation  nahm nähme, schob schöbe, fuhr führe.  Ganz anderer Art ist ein zweiter, in allen deutschen Sprachen noch weiter ausgedehnter Vokalwandel. Viele unserer Wortstämme entfalten sich, wie JAKOB GRIMM es gern nannte, in einem Dreiklang:  finde fand gefunden, Binde Band Bund, fließen floß Fluß,  andere wenigstens in doppeltem Vokalklang:  schreibe schrieb, ziehe zog.  Während jener erste Wandel einen äußeren Anlaß im Laut der Nachbarsilbe hat, scheint diesem eine innerliche Begründung beizuwohnen. Insofern hier eine Abstufung der Laute stattzufinden scheint, nannte GRIMM diesen Wandel  Ablaut.  Er hielt ihn für einen uralten besonderen Schmuck der deutschen Sprachen. Das war nicht durchaus richtig; die Wissenschaft faßt diese Dinge jetzt zum Teil anders, aber GRIMM bleibt das Verdienst auch hier wenig Beachtetes erschlossen, wichtige Unterschiede zuerst erkannt und mi fein ersonnenen Ausdrücken präzise bezeichnet zu haben. Auf seinen "Ablaut" stützte GRIMM nun auch seine Einteilung der Verba. Solche Verba, welche Kraft genug besaßen, die Vergangenheit durch den Ablaut auszudrücken, wie  webe wob, falle fiel, sauge sog,  nannte er seiner Vorliebe für bildliche Ausdrücke gemäß  starke  Verba, die übrigen dagegen, das heißt die große Mehrzahl, welche zu jenem Zweck gleichsam eines äußeren Mittels, nämlich einer angefügten, aus anderem Stamm erwachsenen Silb bedurfte, wie  hege hegte, lobe lobte, sage sagte, suche suchte  nannte er  schwache  Verba. Die erste Klasse, bis dahin meist als unregelmäßig und damit gewissermaßen als ein Strafabteilung behandelt, erschien nun im Licht der altertümlichsten und frischesten Bildungsweise.

Noch viel durchgreifender und bleibender waren GRIMMs Entdeckungen für die Konsonanten. Hier konnte er zwar an wichtige Vorarbeiten des nordischen Sprachforschers RASK anknüpfen, aber die volle Erkenntnis dessen, was wir Leute vom Handwerk wieder mit einem GRIMMschen Wort  Lautverschiebung  nennen, bleibt sein Verdienst und darum gebrauchen die Engländer für dieses Gesetz mit vollem Recht den Namen GRIMMs Law. Dergleichen Betrachtungen stehen, obwohl, wie ich glaube, mit Unrecht, gewöhnlich im Geruch trockenster Stubengelehrsamkeit, so daß ich es nicht wage, darauf näher einzugehen. Aber soviel läßt sich sagen: da wo bisher eine beliebige Lautvertauschung stattzufinden schien, erkannte JAKOB GRIMM Gesetz und Regel. Daß das deutsche  Vater  dasselbe Wort mit dem lateinischen  pater  sei, hatte man natürlich längst gesehen. Aber bis auf JAKOB GRIMM wußte niemand zu sagen, warum aus  pater  nicht etwa  bader  oder  wader  geworden sei. Dergleichen hielt man für eine ganz willkürliche, zufällige Verwandlung, etwa so wie Kinder gewisse Laute nur unvollkommen hervorbringen oder wie Ausländer unser Deutsch radebrechen. Für die Wissenschaft aber, die der geistigen so gut wie die der natürlichen Welt, gibt es nichts Zufälliges. JAKOB GRIMM erkannte, daß  jedem p  der verwandten Sprachen deutsches  f  oder  v  und  nur  dieses enstpräche. Für unser  zwei  heißt es auf Sanskrit  dva  auf Gothisch  tvai.  Jedes ursprüngliche  d  verschiebt sich im Gothischen und Niederdeutschen zu  t,  im Hochdeutschen zu  z.  Wer Englisches oder Plattdeutsches in's Hochdeutsche übersetzt, übt fortwährend praktische Lautverschiebung: englisch  ten,  plattdeutsch  tain,  hochdeutsch  zehn;  englisch  door,  platt  dor,  hochdeutsch  Tür.  Wer, ohne beim Plattdeutschen aufgewachsen zu sein, FRITZ REUTER oder CLAUS GROTH liest, findet in diesen einfachen Regeln den Schlüssel zum Verständnis zahlloser Wörter. Daß man davon für das Erlernen, namentlich des Englischen, nicht längst allgemeineren Gebrauch macht, würde unbegreiflich sein, wenn nicht der Sprachunterricht fast durchweg gegen die Berührung mit der Wissenschaft sich äußerst spröde verhielte.

Alle diese Dinge werden vielleicht von vielen von Ihnen, hochgeehrte Anwesende, für klein und äußerlich gehalten, obwohl ohne sie alle Sprachforschung in der Luft schwebt. Aber GRIMMs Sache war es auch gar nicht, dabei stehen zu bleiben. Fast noch eigentümlicher zeigt er sich in der Wortforschung.

Wie gelingt es dem Menschen, wie gelingt es unserem Volk, die unendlich mannigfaltige Welt der Dinge durch jene tönenden Zeichen auszudrücken, die wir Wörter nennen? Alle Kräfte der Seele haben dazu mitgewirkt, aber keine so wesentlich wie die Einbildungskraft. Die Sprache ist durch und durch bildlich. Das Leibhaftige und mit den Sinnen Wahrnehmbare dient als Bild des Geistigen und Begrifflichen. Auch das dichterische Schaffen besteht im Hinstellen und Gestalten bedeutungsvoller Bilder. Insofern kann man sagen, daß in der Bildlichkeit der Sprache die Poesie der Sprache enthalten ist. Es ist eine Poesie vor aller wirklichen Poesie der Sprache enthalten ist. Es ist eine Poesie vor aller wirklichen Poesie, ein Dichten  im  Wort, noch nicht  mit  dem Wort. Zum Verständnis dieser Bilder gehört eine besondere Begabung, so wie unsere Märchen von Menschen erzählen, welche die Stimme der Vögel verstehen. Und hier ist JAKOB GRIMM der Begabtesten einer. Wenn nach anderen Richtungen hin andere Sprachforscher ihm ebenbürtig sind, so steht GRIMM im Erlauschen dieser in der Sprache verborgenen Volkspoesie unübertroffen da.

Der Dichter weiß auch die unbelebte Welt zu beseelen, die Fable läßt nicht nur Tiere, sondern auch Blumen und Bäche reden. So personifizieren viele Sprachen, darunter auch die unsrige, die natürlichen und geistigen Vorstellungen, indem jedes Wort sein Geschlecht erhält. Gott schuf, heißt es in der Genesis, den Menschen nach seinem Bilde. So gestaltet der Mensch die Dinge nach dem seinigen. "Das grammatische Geschlecht", sagt JAKOB GRIMM, "ist eine in der Phantasie der menschlichen Sprache entsprungene Ausdehnung des Natürlichen auf alle und jede Gegenstände. Durch diese wunderbare Operation haben eine Menge von Ausdrücken, die sonst tote und abgezogene Begriffe enthalten, gleichsam Leben und Empfindung empfangen." Offenbar sind die natürlichen und geistigen Eigentümlichkeiten des männlichen wie des weiblichen Geschlechts der Grund, warum man das Wort  männlich,  jenes  weiblich  faßte und bietet umgekehrt das Fehlen jeder Vergleichbarkeit mit dem einen oder dem anderen die Erklärung dafür, daß andere Wörter gleichsam als unentwickelte Kinder oder unbelebte Schattenwesen geschlechtlos aufgefaßt wurden. Nicht zufällig ist der kräftige  Fluß  oder  Strom  männlich, die liebliche  Quelle  und die bewegliche  Welle  weiblich, der nasse Stoff aber,  das Wasser,  geschlechtslos. Dem festen  Baum  steht die Gesicht und Geruch erfreuende  Blume  und  Blüte  zur Seite, während das  Holz  so wenig wie das  Eisen,  das  Silber,  das  Gold  einer Personifizierung wert geachtet wird, wohl aber der vernichtende  Stahl.  Von einer Notwendigkeit kann hier nirgends die Rede sein, da die Phantasie eine bewegliche und in verschiedenstem Sinne erregbare ist. Aber ebensowenig herrscht in diesen Dingen Willkür. Gewisse durchgreifende Analogien hat JAKOB GRIMM mit seinen Sinn herauszutasten gewußt und meisterhaft versteht er es, die Bedeutung der ganzen Erscheinung in helles Licht zu stellen. Die Geschlechtsbezeichnung steht in enger Beziehung zum Götterglauben. Denn auch der Götterglaube beruth auf der Personifikation des Natürlichen. Wenn die Griechen die Flüsse als Götter verehrten, die Quellen als Nymphen, so geschah das offenbar aus demselben Grund, aus dem sie die betreffenden Wörter einerseits männlich, andererseits weiblich gebrauchten. Himmel und Erde als ein Paar zu betrachten, aus dessen Ehebund die übrige Welt entsteht, ist eine uralte Anschauung. Aber eigentümlich deutsch ist es, daß wir der Mond und die Sonne sagen und auch das in der Sprache wie in der Sage, wo der Mond und die Sonne als Bruder und Schwester erscheinen. So läßtuns die Geschlechtsbezeichnung Blicke auch in die dem einzelnen Volke besonderen Anschauungen tun.

Wir müssen es uns versagen, den großen Forscher weiter auf seinen Wegen zu begleiten. Gerade in diesen Dingen, die man das Klein- und Stillleben der Sprache nennen kann, zeigt sich GRIMM am größten, hier entfaltet er am meisten jene ihm in hohem Grad zukommende Eigenschaft, die wir mit dem in fremde Sprachen unübersetzbaren Worte  sinnig  bezeichnen. Denn von allem, was der unvergleichliche Mann gesagt und geschrieben hat, empfangen wir den Eindruck, daß die Gedanken aus der eigensten Art seines Geistes und Gemütes hervorgewachsen sind. Wenn wir von ihm in seiner "Geschichte der deutschen Sprache" durch Betrachtungen über Wörter und ihre Bedeutung in das frühe Leben der Hirten, der Ackerbauer, der Jäger eingeführt werden, wenn uns das Wörterbuch den mannigfaltigen Sinn eines deutschen Wortes - das wir kannte und doch  so  nicht kannte - an fein gewählten Beispielen aufweist, überall spüren wir den Atemzug des frischesten Geisteslebens, überall prägt sich jene innige Freude, ja man könnte sagen, Weihe aus, mit der JAKOB GRIMM arbeitsvoll, doch mühelos den Gängen der Sprache nachspürt.

Übrigens ist JAKOB GRIMM nicht ausschließlich ein gelehrter Schriftsteller. Ich denke dabei weniger an die Märchen. Denn bei diesen kam es ja wesentlich auf das Sammeln und Nacherzählen an, auch soll nach glaubwürdigen Mitteilungen hieran WILHELM, der ein vorzüglicher Erzähler war, den größeren Anteil haben. JAKOB GRIMM aber hat es zu aller Zeit geliebt, gelegentlich den Bücherstaub abzuschütteln und von Dingen zu reden, die auf allgemeine Teilnahme rechnen dürfen. Als er sein Amt in Göttingen mit einer lateinischen Rede anzutreten hatte, wählt er als Thema das Heimweh. Als er daraus vertrieben war, schrieb er die schon erwähnte Schrift "meine Entlassung". Später hat er seinem Freunde LACHMANN, seinem Brude WILHELM, 1859 SCHILLER eine Gedächtnisrede und 1860 dem Alter eine Art von Schutzrede in der Berliner Akademie gehalten, wie er denn in seinen späteren Tagen überhaupt an diesem Ort gern über Stoffe von ähnlicher Bedeutsamkeit, z. B. über Frauennamen aus Blumen und "über das Gebet" redete und selbst über Eindrücke auf einer skandinavischen und italienischen Reise berichtete.

Auch über die Sprache JAKOB GRIMMs ist ein eigentümlicher Zauber gegossen. Sie ist weder besonders fließend noch sehr eindringlich und von aller bewußten Kunst so weit wie möglich entfernt, vor allem ihm durchaus eigen, sehr reich an Bildern, besonders aus der Pflanzenwelt, für die er eine Vorliebe hatte, bisweilen für den ferner stehenden befremdlich, indem ältere und seltenere Wendungen nicht ohne Eigensinn hervorgezogen werden. Und dennoch hat JAKOB GRIMM uns Einzelnes hinterlassen, das man zum Schönsten zählen darf, was in deutscher Prosa geschrieben ist. So erzählt er z. B. in seiner kleinen Schrift über das Wort des Besitzes seinem hochverehrten Lehrer SAVIGNY, wie er vierzig Jahre früher in Marburg zu dessen hochgelegener Wohnung emporgestiegen, wie gerne er bei ihm verweilt, wie er schon durch den Anblick seiner gewählten Bibliothek beglückt sei. Diesem Marburger Tag vergleicht er dann einen Berliner Tag, an dem er nach einem Spaziergang, von seiner Schwägerin "Dortchen" mit allen seinen Orden sorglich geschmückt, beim Minister von SAVIGNY an des Königs Geburtstag zur Tafel erscheint, um in einer ihm ziemlich fremden glänzenden Gesellschaft Platz zu finden, von dem aus er vergebens versucht, den ihm teuren Mann in einem Trinkspruch zu feiern. Und wenn er nun das Ganze damit schließt, daß er es in seiner kindlich offenen Weise sehr deutlich merken läßt, wie viel behaglicher es ihm beim jungen Professor, als beim Minister gewesen sei, so gibt das ein Bild aus dem Leben der Besten unserer Zeit voll Feinheit und Laune, in dem sich die ganze freie und zartbesaitete Seele des edlen, schlichten Mannes in liebenswürdiger Weise ausspricht.
LITERATUR - Georg Curtius: Jakob Grimm, Vortrag gehalten am 10. Februar 1871 im Gewandhaussaal Leipzig, Leipzig 1871