tb-1cr-2Die Grenzen Gegenstand der Erkenntnis Definitiondow     
 
HEINRICH RICKERT
Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft
[5/7]

I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
DIE AUFGABE
DIE GESCHICHTLICHE SITUATION
DER HAUPTGEGENSATZ
NATUR UND KULTUR
BEGRIFF UND WIRKLICHKEIT
DIE NATURWISSENSCHAFTLICHE METHODE
NATUR UND GESCHICHTE
GESCHICHTE UND PSYCHOLOGIE
GESCHICHTE UND KUNST
DIE HISTORISCHEN KULTURWISSENSCHAFTEN
DIE MITTELGEBIETE
DIE QUANTITATIVE INDIVIDUALITÄT
DIE WERTINDIFFERENTE QUANTITÄT
DIE OBJEKTIVITÄT DER KULTURGESCHICHTE

"Gewiß war gegenüber einer Darstellung, die entweder mit subjektiver Willkür die Tatsachen fälschte oder mit  Lob  und  Tadel  ihre Erzählung durchbrach, das Verlangen Rankes nach  Objektivität  berechtigt und besonders im Gegensatz zur willkürlichen Geschichtskonstruktion mußte auf den notwendigen Respekt vor den Tatsachen hingewiesen werden. Darum jedoch zu meinen, daß die historische Objektivität in einer bloßen Wiedergabe der Tatsachen ohne ein leitendes Prinzip der  Auswahl  besteht, geht nicht an, selbst wenn Ranke es geglaubt haben sollte. In dem  wie es eigentlich gewesen ist  steckt ebenso wie im  idiographischen  Verfahren ein  Problem  und keine Problem lösung." 

"Der Historiker vermag als  Historiker  nicht zu entscheiden, ob die französische Revolution Frankreich oder Europa  gefördert  oder  geschädigt  hat. Das wäre eine  Wertung.  Dagegen wird kein Historiker im Zweifel darüber sein, daß die unter diesem Namen zusammengefaßten Ereignisse für die Kulturentwicklung Frankreichs und Europas  bedeutsam  und  wichtig  gewesen sind und daß sie daher in ihrer Individualität als  wesentlich  in die Darstellung der europäischen Geschichte aufgenommen werden müssen."


X.
DIE HISTORISCHEN
KULTURWISSENSCHAFTEN

Das Problem, um das es sich jetzt handelt, bezeichnen wir als das der  historischen Begriffsbildung,  da wir ja unter "Begriff" mit einer Erweiterung des Sprachgebrauchs  jede  Zusammenfassung der wissenschaftlich  wesentlichen  Bestandteile der Wirklichkeit verstehen. Diese Erweiterung ist berechtigt, sobald man eingesehen hat, daß begreifen und generalisieren  nicht  zusammenzufallen brauchen. Es gilt also, das leitende Prinzip  der  Begriffe zu finden, deren Inhalt ein Besonderes und Individuelles ist.

Von der Antwort auf diese Frage aber hängt nicht nur die Einsicht in den formalen Charakter der Geschichtswissenschaft, sondern schließlich auch die Rechtfertigung der materialen Einteilung in Natur- und  Kultur wissenschaften ab. Die Gliederung nämlich ist gerechtfertigt, wenn, wie ich glaube, sich zeigen läßt, daß eben  derselbe  Begriff der Kultur, als der einer sinn- und wertbehafteten Wirklichkeit, mit Hilfe dessen wir die beiden Gruppen von  Objekten  der Einzelwissenschaften gegeneinander abgrenzen konnten, zugleich auch das  Prinzip  der historischen oder der individualisierenden Begriffsbildung bestimmt. Wir kommen also jetzt endlich dazu, den  Zusammenhang  zwischen dem  formalen  und dem  materialen  Einteilungsprinzip aufzuzeigen und damit das Wesen der historischen Kulturwissenschaft zu verstehen.

Dieser Zusammenhang ist im Grunde einfach und muß sofort deutlich werden, wenn wir nun fragen, welche Objekte es denn sind, die wir nicht allein naturwissenschaftlich begreifen, sondern auch historisch individualisierend kennenlernen und nacherleben  wollen. 

Wir werden finden, daß wir an den Wirklichkeiten, mit denen keine  Werte  verknüpft sind oder die keinen Sinn tragen, den wir verstehen und die wir daher als bloße "Natur" im zuerst angegebenen Sinn betrachten, in den meisten Fällen auch nur ein im logischen Sinne naturwissenschaftliches  Interesse  haben, daß also bei ihnen für uns die einzelne Gestaltung  nicht  in ihrer  Individualität,  sondern gewöhnlich lediglich als  Exemplar  für einen mehr oder minder allgemeinen Begriff in Frage kommt. Mit den Kulturvorgängen dagegen, die sinn- und wertbehaftet sind und den Ereignissen, die wir zur Kultur als Vorstufen oder dgl. in Beziehung setzen, verhält es sich anders, d. h. unser Interesse ist hier auch auf das Besondere und Individuelle und dessen  einmaligen Verlauf  gerichtet. Also wollen wir sie auch historisch individualisierend kennenlernen.

Damit ist der allgemeinste Zusammenhang zwischen dem materialen und dem formalen Einteilungsprinzip der spezialwissenschaftlichen Methoden gegeben und auch den Grund dieses Zusammenhangs begreifen wir leicht. Die  Kulturbedeutung  eines Objekts, also der verständliche Wert und Sinn, den es trägt, beruth nämlich, soweit es als  Ganzes  in Betracht kommt, nicht auf dem, was ihm mit anderen Wirklichkeiten  gemeinsam  ist, sondern gerade auf dem, was es von den andern  unterscheidet  und daher muß die Wirklichkeit, die wir mit Rücksicht auf ihr Verhältnis zu den Kulturwerten als deren realen Träger betrachten, auch auf das Besondere und Individuelle hin angesehen werden.

Ja, die Kulturbedeutung eines Vorgangs  wächst  häufig in demselben Maße, je ausschließlicher mit seiner  individuellen  Gestaltung der betreffende Kulturwert oder das verstehbare Sinngebilde geknüpft ist. Nur die individualisierende historische Behandlung wird also dem Kulturvorgang gerecht, sobald er als Sinnträger oder in seiner Bedeutung für die Kulturwerte in Frage steht. Als Natur angesehen, d. h. unter  allgemeine  Begriffe oder  Gesetze  gebracht, würde er ein gleichgültiges  Gattungsexemplar  werden, für das ebensogut ein  anderes derselben Gattung  eintreten könnte und seine naturwissenschaftliche oder generalisierende Behandlung kann uns daher für sich allein nicht  befriedigen.  Sie ist zwar  auch  möglich, ja eventuell notwendig, da  jede  Wirklichkeit generalisierend aufzufassen ist, aber ihr Erfolg würde in diesem Fall der sein, daß sie das, "was nur gesondert ein Leben hat", um wieder mit GOETHE zu reden, "in eine  tötende Allgemeinheit  zusammenreißt". Deshalb reicht eine naturwissenschaftliche Darstellung des Kulturlebens, so berechtigt sie sein mag, als die einzige nicht aus.

Dieser Zusammenhang zwischen sinnvoller, wertbehafteter Kultur einerseits und individualisierender Geschichte andererseits führt aber sogleich noch einen Schritt weiter. Er zeigt nicht nur, warum bei der Erforschung von Kulturvorgängen die naturwissenschaftliche oder generalisierende Betrachtung für sich allein nicht genügt, sondern auch, wie der Begriff der Kultur die Geschichte als  Wissenschaft möglich  macht, d. h. wie durch ihn eine individualisierende Begriffsbildung zustande kommt, welche aus der bloßen  Andersartigkeit,  die sich wissenschaftlich nicht darstellen läßt, eine  darstellbare Individualität  heraushebt.

Wohl hängt nämlich die Bedeutung eines Kulturvorgangs durchaus von seiner individuellen Eigenart ab und wir können daher in der historischen Kulturwissenschaft nicht seine allgemeine "Natur" feststellen wollen, sondern müssen individualisierend verfahren. Aber andererseits ist es doch auch wieder nicht die  aller  Wirklichkeit anhaftende und wegen ihrer Unübersehbarkeit niemals erkennbare und darstellbare individuelle Mannigfaltigkeit, auf der die Kulturbedeutung eines Objekts als eines realen Trägers von verstehbaren Sinngebilden beruth, sondern auch vom kulturwissenschaftlichen Standpunkt aus kommt stets nur ein  Teil  des individuellen realen Gegenstandes in Frage, ja nur in diesem Teil besteht das, wodurch er für die Kultur ein "Individuum" im Sinnes des Einzigen, Eigenartigen und durch  keine andere  Wirklichkeit  Ersetzbaren wird. Das, was er mit den übrigen Exemplaren seiner Gattung im naturwissenschaftlichen Sinne, z. B. wenn es eine geschichtliche Persönlichkeit ist, mit dem "homo sapiens",  gemeinsam  hat und außerdem die unübersehbare Fülle seiner für die Kultur und ihren Sinn  gleichgültigen  individuellen Besonderheiten, das alles stellt der Historiker nicht dar.

Daraus ergibt sich, wie auch für die historischen Wissenschaften von Kulturvorgängen die Wirklichkeit in wesentlich und unwesentliche Bestandteile, nämlich in  historisch bedeutsame, sinntragende Individualitäten  und  bloßes Anderssein  zerfällt und das leitende Prinzip, das wir für die historische Begriffsbildung, d. h. für die Umformung des heterogenen Kontinuums der Wirklichkeit unter Beibehaltung ihrer Individualität und Besonderheit suchten, haben wir somit wenigstens in seiner allgemeinsten, wenn auch noch unbestimmten Gestalt gewonnen. Wir können jetzt  zwei Arten des Individuellen  als bloß Andersartigkeit und als Individualität im engeren Sinne voneinaner scheiden. Die eine Individualität fällt mit der Eigenart des  Wirklichen selbst  zusammen und geht in  keine  Wissenschaft ein. Die andere ist eine bestimmte  Auffassung des Wirklichen  und kann in Begriffe aufgenommen werden. Aus der unübersehbaren Fülle der individuellen, d. h. andersartigen Objekte berücksichtigt der Historiker zunächst nur die, welche in ihrer individuellen Eigenart entweder selbst als Träger .. von .. Sinngebilden .. Kulturwerte .. real .. verkörpern oder mit ihnen in Beziehung stehen und aus der unübersehbaren Fülle, die ihm jedes einzelne Objekt in seiner Andersartigkeit darbietet, wählt er sodann wiederum das aus, woran die Bedeutung des Sinnträgers für die Kulturentwicklung hängt und worin die  geschichtliche  Individualität zum Unterschied von der bloßen Andersartigkeit besteht.

Für die historische Begriffsbildung liefert der Begriff der Kultur als das  Prinzip zur Auswahl des Wesentlichen aus der Wirklichkeit ebenso, wie der Begriff der Natur als der Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine dies für die Naturwissenschaften tut. Durch die  Werte,  die .. an .. der .. Kultur .. haften und durch die Beziehung auf sie wird der Begriff einer darstellbaren historischen Individualität als eines .. realen .. Trägers .. von .. Sinngebilden erst  konstituiert. 

Die angegebene Art der Begriffsbildung ist ebenso wie die Scheidung der beiden Arten des Individuellen bisher in der Logik nicht beachtet worden. Man kann sie leicht übersehen, denn es treten, wie ich ausdrücklich hervorheben möchte, die historischen Begriffe, welche die historischen Individualitäten darstellen und sie aus der überall individuellen Wirklichkeit herauslöse, nicht so deutlich und klar zutage, wie das bei den naturwissenschaftlichen Begriffen der Fall ist. Den Grund dafür kennen wir bereits. Nur selten werden sie wie die allgemeinen Begriffe in  abstrakten Formeln  oder Definitionen dargestellt. Der Inhalt, aus dem sie bestehen, ist vielmehr meist von der Geschichtswissenschaft mit einer Fülle von anschaulichem Material sozusagen  bekleidet.  In einem anschaulichen Bild bisweilen geradezu  versteckt  lernen wir sie kennen, für dessen Entwerfung sie nur das Schema und den Leitfaden geben und wir sind dann geneigt, das Bild für die Hauptsache zu halten und in ihm ein Abbild der individuellen Wirklichkeit zu sehen. So konnte man sich darüber täuschen, welches  logische Prinzip  den zum Teil anschaulichen Darstellungen der Geschichte zugrunde liegt und über das, was historisch  wesentlich  ist, entscheidet. Ja, man konnte wohl gar denken, daß hier überhaupt kein Prinzip der Auswahl vorhanden sei, sondern die Geschichte einfach sage, was wirklich gewesen ist. Weil man dann mit Recht annahm, daß die bloße "Beschreibung" des Einzelnen noch keine Wissenschaft gibt, kam man auf den Gedanken, die Geschichte müsse zum Rang einer Wissenschaft erst  erhoben  werden und weil man nur das  eine  Prinzip der Begriffsbildung kannte, empfahl man ihr die generalisierende Methode der Naturwissenschaft. Auf diesem Weg war es dann unmöglich, das Wesen der Geschichtswissenschaft zu verstehen.

Zugleich erklärt sich aus dem  Übersehen des individualisierenden Auswahlprinzips  die auffallende Tatsache, daß vielfach den widersinnigen Versuchen, aus der Geschichte eine Naturwissenschaft zu machen, auch von logischer Seite, die nur das  eine  Prinzip der  generalisierenden  Auswahl herausgearbeitet hatte, zugestimmt worden ist.

Freilich werden sogar viele Historiker nicht zugeben wollen, daß das hier entwickelte logische Prinzip das theoretische Wesen ihrer Tätigkeit in richtiger Weise zum Ausdruck bringt, d. h. erst die Scheidung der  historischen Individualität  von der  unwesentlichen Andersartigkeit  ermöglicht, sondern sie werden meinen, daß sie außer einer Wiedergabe der Wirklichkeit nichts zu leisten hätten. Hat doch einer ihrer größten Meister ihnen ausdrücklich die Aufgabe zugewiesen, darzustellen, "wie es eigentlich gewesen ist".

Aber das beweist gegen die Richtigkeit meiner Ausführungen nichts. Gewiß war gegenüber einer Darstellung, die entweder mit subjektiver Willkür die Tatsachen fälschte oder mit  Lob  und  Tadel  ihre Erzählung durchbrach, das Verlangen RANKEs nach "Objektivität" berechtigt und besonders im Gegensatz zur willkürlichen Geschichtskonstruktion mußte auf den notwendigen Respekt vor den Tatsachen hingewiesen werden. Darum jedoch zu meinen, daß die historische Objektivität in einer bloßen Wiedergabe der Tatsachen ohne ein leitendes Prinzip der  Auswahl  besteht, geht nicht an, selbst wenn RANKE es geglaubt haben sollte. In dem "wie es  eigentlich  gewesen ist" steckt ebenso wie im  "idiographischen"  Verfahren ein  Problem  und keine Problem lösung. 

Wir werden dabei an eine bekannte Formel für die naturwissenschaftliche Methode erinnert, die ein Gegenstück zu RANKEs Formel bildet. Wenn KIRCHHOFF es als Aufgabe der Mechanik bezeichnet, "die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen  vollständig  und auf die  einfachste  Weise zu beschreiben", so steht dieser Satz zwar gewiß höher als das gedankenlose Gerede von der "reinen" Deskription, aber es ist damit ebenfalls  methodologisch  noch nicht viel gesagt, denn das ist gerade die  Frage,  wodurch eine "Beschreibung" "vollständig" wird und worin die "einfachste Weise" besteht.

Solche Wendungen dienen daher nur zur Verdeckung der methodologischen Probleme, nicht zu ihrer Lösung und so sehr die Logik als Wissenschaftslehre sich an den  Werken  der großen Forscher orientieren muß, so wenig braucht sie sich daher an deren  Wort  über das Wesen ihrer eigenen Tätigkeit zu halten. Mit Recht sagt ALFRED DOVE (1) von RANKE, daß er der einseitigen Teilnahme nicht durch Neutralität, sondern durch Universalität des  Mitgefühls  entgangen sei. Also selbst der Meister der "objektiven" Geschichte bleibt nach diesem Ausspruch seines besten Kenners auch als Forscher doch immer der mitfühlende Mensch und er ist dadurch vom Naturforscher, in dessen wissenschaftlicher Arbeit das "Mitgefühl" keine Rolle spielen kann, prinzipiell verschieden. Für den Historiker, dem es gelänge, sein Selbst auszulöschen, wie RANKE es sich gewünscht hat, für den gäbe es keine wissenschaftliche Geschichte mehr, sondern nur ein sinnloses Gewimmel von lauter bloß  andersartigen  Gestaltungen, die alle gleich bedeutungsvoll oder bedeutungslos wären und von denen keine eine historisches  Interesse  darböte.

Seine "Geschichte", d. h. seinen einmaligen Werdegang hat, wenn wir alles Seiende als bedeutungsfrei und ohne Beziehung zu Werten ansehen, ein  jedes  Ding in der Welt, ebenso wie jedes seine "Natur" hat, d. h. unter allgemeine Begriffe oder Gesetze gebracht werden kann und schon der Umstand, daß wir Geschichte meist nur von  Menschen  schreiben wollen und können, zeigt daher, daß wir dabei von  Werten  geleitet sind, die sinnvolles von sinnfreiem Geschehen trennen und daß es ohne leitende Werte keine Geschichtswissenschaft geben könnte. Daß hierüber überhaupt noch eine Täuschung herrscht, liegt nur daran: die Scheidung in Wesentliches und Unwesentliches mit Rücksicht auf die Kulturwerte ist zum größten Teil von den Autoren, die das historische Material überliefern, bereits vollzogen oder sie vollzieht sich für den Mann der empirischen Forschung als so "selbstverständlich", daß er nicht bemerkt, was hier vorgeht. Daher verwechselt man eine  Auffassung  der Wirklichkeit, die das sinnvolle Wirkliche heraushebt, mit der  Wirklichkeit selbst. Das Wesen dieser Auffassung und damit das Selbstverständliche zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen, bleibt die Aufgabe der Logik, denn auf diesem Selbstverständlichen beruth der Charakter der individualisierenden Kulturwissenschaft im Gegensatz zur generalisierenden Auffassung der wertindifferenten und sinnfreien Natur.

Wir sehen jetzt ein, warum es früher wichtig war, hervorzuheben, daß durch den  Wert gesichtspunkt die Kulturvorgänge sich von der Natur mit Rücksicht auf ihre wissenschaftliche Behandlung unterscheiden.  Nur  daraus wird der vom Inhalt der allgemeinen Naturbegriffe abweichende Inhalt der individuellen "Kulturbegriffe", wie wir jetzt vielleicht sagen dürfen, begreiflich, nicht aber aus einer besonderen Art der Wirklichkeit und um die Eigenart dieses Unterschiedes noch deutlicher hervortreten zu lassen, müssen wir daher im Gegensatz zur Naturwissenschaft, als einer auf den gesetzmäßigen oder allgemein begrifflichen Zusammenhang gerichteten Untersuchung, die sich um Kulturwerte und die Beziehung ihrer Objekte zu ihnen nicht kümmert, das historisch-individualisierende Verfahren ausdrücklich als ein  wertbeziehendes  bezeichnen.

Was dieses Wort bedeutet, ist leicht klarzumachen. Jeder Historiker muß es als Vorwurf gegen seine Wissenschaftlichkeit empfinden, wenn man ihm sagt, daß er das Wesentliche nicht vom Unwesentlichen unterscheiden könne. Er wird daher auch ohne weiteres zugeben, daß er nur das darzustellen hat, was "wichtig", "bedeutsam", "interessant" ist oder wie man sonst sagen mag und er muß geringschätzig auf den blicken, der froh ist, wenn er Regenwürmer findet. Das alles ist in  dieser Form  so selbstverständlich, daß man es nicht ausdrücklich zu sagen braucht. Trotzdem steckt gerade darin ein Problem und dieses Problem kann dadurch allein gelöst werden, daß man die Beziehung der geschichtlichen Objekte auf die  Werte  zu Bewußtsein bringt, die an den  Gütern  der Kultur haften. Wo diese Beziehung  fehlt,  da sind die Ereignisse eben "unwichtige", "bedeutungslos", "langweilig", ohne Sinn, den wir verstehen und da gehören sie nicht in die geschichtliche Darstellung hinein, während es für die Naturwissenschaft Unwesentliches in  diesem  Sinne nicht gibt. Es wird also durch das Prinzip der "Wertbeziehung" nur etwas  ausdrücklich formuliert,  das jeder  implizit  behauptet, wenn er sagt, daß der Historiker verstehen müsse, das "Wichtige" vom "Bedeutungslosen" zu  scheiden. 

Trotzdem ist unser Begriff der  Wertbeziehung  noch nach einer anderen Seite hin klarzustellen und besonders als ein rein  theoretisches  Prinzip gegen solche Begriffe abzugrenzen, mit denen er verwechselt werden könnte. Sonst kann der Anschein entstehen, als würden hier der Geschichte Aufgaben gestellt, die sie als  Wissenschaft  von sich weisen dürfte und müßte. Es ist ja ein weit verbreitetes Dogma, daß  jeder  Wertgesichtspunkt wenigstens aus den Einzelwissenschaften auszuschließen sei. Man habe sich auf das zu beschränken, was  wirklich  ist. Ob die Dinge  wertvoll  sind oder nicht, gehe den Historiker nichts an. Was ist hierzu zu sagen?

In gewissem Sinne ist dies vollkommen zutreffend. Der Historiker hat in der Tat  nicht  zu entscheiden, ob die Dinge  wertvoll  sind oder nicht, sondern nur darzustellen, was  wirklich gewesen  ist, denn er ist ein theoretischer, nicht ein praktischer Mensch und wir müssen daher noch zeigen, daß unser Begriff der Geschichte diesen Sätzen, wenn sie richtig verstanden werden, in keiner Weise widerspricht. Zu diesem Zweck wird es gut sein, das, was wir über  Wert  und  Wirklichkeit  und ihr Verhältnis zueinander mit Rücksicht auf den Begriff der Kultur bisher ausgeführt haben, zunächst noch einmal zusammenzufassen und vor Mißverständnissen zu schützen.

Werte sind keine Wirklichkeiten, weder physische noch psychische. Ihr Wesen besteht in ihrer  Geltung nicht in ihrer realen  Tatsächlichkeit.  Doch sind Werte mit Wirklichkeit  verbunden und von diesen Verbindungen haben wir zwei schon früher kennengelernt. Der Wert kann erstens an einem  Objekt  so "haften", daß er es dadurch zum  Gut  macht und er kann außerdem mit dem  Akt  eines  Subjekts  so verknüpft sein, daß dieser dadurch zu einer  Wertung  wird. Die Güter und die Wertungen lassen sich nun so ansehen, daß man nach der  Geltung  der mit ihnen verbundenen Werte fragt und dann festzustellen sucht, ob ein Gut den Namen des Gutes auch wirklich  verdient  oder ob eine Wertung mit  Recht  vollzogen wird. Das tun wir, wenn wir  praktisch  zu den Gegenständen Stellung nehmen wollen.

Doch erwähne ich das nur, um zu sagen, daß die historischen Kulturwissenschaften, wenn sie Güter und wertende Menschen untersuchen, auf  solche  Fragen  keine  Antwort geben können. Hiermit würden sie zum Aussprechen von Wertungen kommen und ein praktisches  Werten  der Gegenstände kann nie ihre geschichtliche Auffassung sein. Ob und wie weit die Geltung der Werte ein theoretisches Problems ist und welche Stellung die  Philosophie  zu den Werten einnimmt, brauchen wir an dieser Stelle nicht zu erörtern. Ein  geschichtliches  Problem ist die Geltung der Werte nicht und positives oder negatives Werten bildet nicht die Aufgabe des Historikers. Darin steckt das unbezweifelbare Recht der Meinung, welche Wertgesichtspunkte auch aus den geschichtlichen Wissenschaften entfernen will.

Das  wertbeziehende  Verfahren, von dem wir sprechen, ist also, wenn es das Wesen der Geschichte als einer theoretischen Wissenschaft zum Ausdruck bringen soll, auf das schärfste vom  wertenden  Verfahren zu trennen und das heißt: für die Geschichte kommen die Werte nur insofern in Betracht, als sie  faktisch  von Subjekten gewertet und daher  faktisch  gewisse Objekte als Güter bezeichnet werden. Auch wenn die Geschichte es also mit Werten zu tun hat, ist sie doch  keine wertende Wissenschaft.  Sie stellt vielmehr lediglich fest, was  ist.

Es ist nicht richtig, daß, wie RIEHL (2) einwendet, etwas "auf Werte beziehen" und es "bewerten" ein und derselbe unteilbare Urteilsakt des Geistes sei. Im Gegenteil, es liegen in der praktischen Bewertung und der theoretischen Wertbeziehung zwei in ihrem logischen Wesen prinzipiell voneinander  verschiedene  Akte vor, auf deren Verschiedenheit man bisher leider nicht genug geachtet hat. Die theoretische  Wertbeziehung  bleibt auf dem Gebiet der  Tatsachenfeststellung, die praktische Wertung dagegen nicht. Es ist eine Tatsache, daß Kulturmenschen bestimmte Werte als Werte anerkennen und danach streben, Güter hervorzubringen, an denen diese Werte haften und die infolgedessen sinnvoll werden. Nur mit Rücksicht auf diese  Tatsache,  die der Historiker meist stillschweigend voraussetzt und voraussetzen muß, nicht etwa mit Rücksicht auf die Geltung der Werte, nach der er als Mann der empirischen Wissenschaft nicht zu fragen braucht, zerfallen für die Geschichte die Wirklichkeiten in  wesentliche  und  unwesentliche  Bestandteile. Selbst wenn keiner der von den Kulturmenschen gewerteten Werte unabhängig von der Wertung  gelten  sollte, bleibt es doch auf jeden Fall richtig, daß für die Verwirklichung der faktisch gewerteten Werte oder für die Entstehung von Gütern, an denen diese Werte haften, nur eine bestimmte  Auswahl  von Objekten im All des Wirklichen  bedeutsam  ist und daß an jedem dieser Objekte wiederum nur ein bestimmter  Teil  seines Inhalts dafür in Betracht kommt, nämlich der, welcher ihn zum Träger des durch den Wert konstituierten Sinngebildes macht. Also auch ohne Wertungen durch den Historiker enstehen aufgrund einer theoretischen Beziehung der Gegenstände auf Werte historische Individualitäten im Unterschied von den bloß andersartigen Objekten.

Dabei wird selbstverständlich nicht allein das historisch wichtig und bedeutsam, was die Realisierung von Kulturgütern  fördert,  sondern ebenso das, was sie  hemmt.  Auch das Wertfeindliche hat einen Sinn, den wir verstehen. Nur das bloß Andersartige, Wertindifferente wird als unwesentlich ausgeschieden und schon dieser Umstand sollte genügen, um zu zeigen, daß ein Objekt als  bedeutsam  für die Werte und die Realisierung von Kulturgütern bezeichnen, gar nicht heißt, es werten, denn die Wertung muß immer entweder  positiv  oder  negativ  sein. Über den positiven oder negativen Wert, den eine Wirklichkeit hat, kann  Streit  herrschen, auch wenn ihre auf der Wertbeziehung beruhende Bedeutsamkeit  außer  Frage steht.

So vermag z. B. der Historiker als  Historiker  nicht zu entscheiden, ob die französische Revolution Frankreich oder Europa  gefördert  oder  geschädigt  hat. Das wäre eine  Wertung.  Dagegen wird kein Historiker im Zweifel darüber sein, daß die unter diesem Namen zusammengefaßten Ereignisse für die Kulturentwicklung Frankreichs und Europas  bedeutsam  und  wichtig  gewesen sind und daß sie daher in ihrer Individualität als  wesentlich  in die Darstellung der europäischen Geschichte aufgenommen werden müssen. Das ist keine praktische Wertung, sondern eine theoretische Beziehung auf Werte. Kurz, Werten muß immer  Lob  oder  Tadel  sein. Auf Werte  beziehen  ist  keins  von beiden.

Also gerade das ist unsere Meinung. Wenn die Geschichte Lob oder Tadel ausspricht, überschreitet sie ihre Grenze als Wissenschaft vom realen Sein, denn Lob oder Tadel läßt sich nur mit Hilfe eines Maßstabes von Werten begründen, deren  Geltung  nachgewiesen ist und das kann nicht Aufgabe der Geschichte sein. Darum wird freilich niemand dem Historiker  verbieten  wollen, auch wertend zu den Vorgängen Stellung zu nehmen, die er erforscht. Es gibt sogar vielleicht nicht ein einziges historisches Werk von Bedeutung, das  ganz  frei von positiven oder negativen Wertungen ist. Nur das ist hervorzuheben, daß dieses Werten nicht zum  Begriff  der historischen Begriffsbildung gehört, sondern daß durch die Beziehung auf den leitenden Kulturwert lediglich die historische Wichtigkeit oder Bedeutsamkeit der Vorgänge zum Ausdruck gebracht wird, die gar nicht mit ihrem positiven oder negativen Wert zusammenfällt und daß also eine individualisierende Begriffsbildung zwar nicht ohne theoretische Wertbeziehung, wohl aber ohne praktische Wertung logisch möglich ist.

RIEHL hat daher völlig recht, wenn er sagt, ein und dieselbe geschichtliche Tatsache gewinne, je nach der Verschiedenheit des Zusammenhangs, in dem der Historiker sie betrachtet, sehr verschiedene Akzente, ihr objektiver Wert dagegen bleibt derselbe. Das spricht jedoch nicht etwa, wie RIEHL meint,  gegen  die hier vorgetragene Ansicht, sondern dient nur zu ihrer  Bestätigung.  Der "objektive" Wert geht den Historiker, soweit er nur Historiker ist, nichts an, d. h. er hat nicht nach seiner Geltung zu fragen und gerade deshalb kann mit der Verschiedenheit des Zusammenhangs, d. h. mit der Verschiedenheit der leitenden Wertgesichtspunkte, unter denen der Historiker das Objekt theoretisch  betrachtet,  auch der "Akzent", d. h. die Bedeutung des Objekts für die verschiedenen, von verschiedenen Kulturwerten geleiteten Einzeldarstellungen verschieden sein.

Ebenso dient ein Einwand von EDUARD MEYER (3) nur dazu, meine Ansicht vom Wesen der historischen Begriffsbildung zu erläutern und zu  befestigen.  Ich habe, um zu zeigen, wie der Wertgesichtspunkt die Auswahl des Wesentlichen bedingt, darauf hingewiesen, daß die Ablehnung der deutschen Kaiserkrone durch FRIEDRICH WILHELM IV. historisch  wesentlich,  der Schneider, der seine Röcke machte, dagegen, obwohl ebenso wirklich, historisch  gleichgültig  sei. (4) Wenn MEYER dem entgegenstellt, daß freilich der betreffende Schneider für die  politische  Geschichte wohl immer gleichgültig bleiben werde, wir uns aber sehr wohl vorstellen könnten, daß er in einer Geschichte der Moden oder des Schneidergewerbes oder der Preise historisch wesentlich werde, so ist das gewiß richtig und insofern hätte ich statt des Schneiders als Beispiel eine andere Wirklichkeit wählen sollen, die für  keine  geschichtliche Darstellung wesentlich werden kann oder die Unwesentlichkeit des Schneiders für die politische Geschichte ausdrücklich hervorheben müssen. Abgesehen davon aber beweist doch gerade der Satz MEYERs, daß sich mit dem Wechsel des leitenden  Kulturwertes  auch der Inhalt der historischen  Darstellung  ändert und daß also die theoretische Beziehung auf den Kulturwert die historische Begriffsbildung bestimmt. Es zeigt sich zugleich von neuem, daß die  Beurteilung  des objektiven Wertes etwas ganz anderes ist als die historische  Beziehung auf  den Wert, denn sonst könnten nicht dieselben Objekte für die eine Darstellung wesentlich, für die andere unwesentlich sein.

Ist das Wesen der theoretischen Wertbeziehung und ihr Unterschied von der "praktischen" Wertung einmal klar, so braucht niemand zu fürchten, er komme, wenn er die Charybdis der alle Individualitäten verschlingenden generalisierenden Methoden vermeiden wolle, in die Scylla der unwissenschaftlichen Wertungen hinein und gehe dann als wissenschaftlicher Mensch ganz zugrunde. Diese Sorge hat wohl am meisten dazu beigetragen, daß sich die Historiker gegen die Anerkennung der Wertbeziehung als eines unentbehrlichen Faktors ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit sträuben und dementsprechend glaubte andererseits LAMPRECHT triumphierend auf diese meine Schrift hinweisen zu dürfen. Er meinte, daß nach meiner "ehrlichen" Darlegung der historischen Methode auch der Uneingeweihteste den grellen Widerspruch zum wirklichen wissenschaftlichen Denken nicht mehr verkennen könne und der wünschte darum meiner Schrift unter Historikern die allerweiteste Verbreitung, offenbar in der Meinung, sie würden, nachdem sie eingesehen haben, daß ihr Verfahren Wertbeziehungen voraussetzt, sich zu seinem "naturwissenschaftlichen" und angeblich wertfreien Verfahren bekehren. (5) Es muß jetzt klar sein, warum die Scheu vor Wertgesichtspunkten in der Geschichte ebenso unberechtigt ist wie LAMPRECHTs Triumph. Wertungen, die unwissenschaftlich wären, kann die individualisierende Geschichte so gut vermeiden wie die Naturforschung. Nur durch die theoretische Wertbeziehung steht sie zu ihr im Gegensatz, aber dadurch wird ihre Wissenschaftlichkeit nicht in Frage gestellt.

Um das Wesen und besonders die Bedeutung der Wertbeziehung für die Geschichtswissenschaft klarzulegen, füge ich noch folgendes hinzu.

Zunächst eine  terminologische  Bemerkung. Da man sich daran gewöhnt hat,  jede  Betrachtung unter Wertgesichtspunkten "teleologisch" zu nennen, so könnte man in der Geschichte statt von wertbeziehender auch von teleologischer Begriffsbildung sprechen und ich selbst habe das früher getan. Doch wird es besser sein, dieses vieldeutige und daher mißverständliche Wort entweder ganz zu vermeiden oder seine Bedeutung genau anzugeben und abzugrenzen. (6) Es muß nämlich nicht nur die theoretische Wertbeziehung streng von der Wertung unterschieden werden, sondern es darf auch nicht der Anschein entstehen, als solle durch eine "teleologische" Begriffsbildung in der Geschichte irgendetwas aus den bewußten Zwecksetzungen der Personen, von denen sie handelt,  erklärt  werden. Die Frage, ob das möglich ist, geht uns in diesem Zusammenhang nichts an, denn sie bezieht sich auf den  Inhalt  der Geschichte. Hier ist nur der methodische Gesichtspunkt zu Bewußtsein zu bringen, mit Hilfe dessen die Geschichte das heterogene Kontinuum der Wirklichkeit so formt, daß sie individuelle Gebilde umgrenzt. Worin der Inhalt dieser Gebilde besteht, kann die Wissenschaftslehre nicht entscheiden.

Vollends darf unter "Geschichtsteleologie" nichts verstanden werden, was mit der  kausalen  Auffassung der Wirklichkeit in Konflikt kommen könnte und es ist daher irreführend, die methodologischen Fragen, die hier erörtert werden, unter die Alternative  Kausalität oder Teleologie  zu bringen (7). Auch die individualisierende und wertbeziehende Geschichte hat die kausalen Zusammenhänge zu untersuchen, die zwischen den von ihr behandelten einmaligen und individuellen Vorgängen bestehen und die nicht mit den allgemeinen Natur gesetzen  zusammenfallen, so sehr man zur Darstellung der  individuellen Kausalverhältnisse  (8) auch der allgemeinen Begriffe als Begriffs elemente  historischer Begriffe bedürfen mag. Nur darauf kommt es an, daß das methodische Prinzip der Auswahl des  Wesentlichen  in der Geschichte, auch bei der Frage nach den  Ursachen,  von Werten abhängig ist, insofern nur die in ihrer Eigenart für die Realisierung der Güter  bedeutsamen  Ursachen in Betracht kommen und diese "Teleologie" kann in keine Art von Gegensatz zur Kausalität gestellt werden.

Das Wesen der wertbeziehenden Begriffsbildung wird noch mehr zutage treten, wenn wir daran erinnern, daß allein mit ihrer Hilfe die historischen Vorgänge sich als die Stadien einer  Entwicklungsreihe  darstellen lassen. Der vieldeutigste Begriff der "Entwicklung", der allgemein als die eigentlich  historische  Kategorie anerkannt wird, ist nämlich in der Geschichte durchaus von demselben Prinzip beherrscht, in dem wir den leitenden Gesichtspunkt der historischen Begriffsbildung überhaupt gefunden haben. Wir können unter historischer Entwicklung erstens nicht das verstehen, was sich beliebig oft  wiederholt,  wie die Entwicklung des Huhns im Ei, sondern es kommt dabei immer ein  einmaliger  Werdegang in seiner Besonderheit in Betracht und zweitens können wir diesen Werdegang nicht als eine Reihe vollkommen wertindifferenter Veränderungsstadien auffassen, sondern nur als eine Reihe von  Stufen,  die mit Rücksicht auf ein bedeutsames Ereignis selbst bedeutsam werden, insofern der Akzent, den ein Ereignis durch die Wertbeziehung erhält, sich auf seine Vorbedingungen  überträgt. Es ist also lediglich ein umfassenderer Ausdruck, der zugleich auf das nie rastende  Werden  der Wirklichkeit Rücksicht nimmt, wenn wir sagen, daß nur durch die individualisierende und wertbeziehende Begriffsbildung eine  Entwicklungsgeschichte  der Kulturvorgänge entsteht. Genau ebenso wie der Kulturwert die Individualität im engeren Sinne, d. h. den Inbegriff des durch seine Eigenart Bedeutsamen, aus der bloßen Andersartigkeit eines wirklichen Objektes heraushebt, so schließt er auch die geschichtlich wesentlichen Bestandteile eines zeitlich verlaufenden und kausal bestimmten Werdeganges zu einer historisch wichtigen  individuellen Entwicklung  zusammen.

Mit Hilfe dieses Begriffs der historischen Entwicklung läßt sich dann ferner beurteilen, was von der Behauptung zu halten ist, der Historiker treffe die Auswahl aus seinem Stoff nach  Graden historischer Wirksamkeit.  An und für sich  kann  dieser Satz etwas richtiges meinen, denn die historische Bedeutung vieler Ereignisse beruth in der Tat ausschließlich auf ihren  Wirkungen,  die sie auf Kulturgüter ausüben und so ist es oft nicht einzusehen, wie etwas historische Bedeutung erlangen soll, was sich nicht als wirkendes Glied in eine historisch bedeutsame Entwicklungsreihe einordnen läßt. Aber der Satz wird sofort falsch, wenn er sich gegen die Ansicht wendet, daß Wertgesichtspnkte für die Auswahl des Stoffes maßgebend sind. Die  historische  Wirksamkeit kann nicht mit der bloßen wertindifferenten Wirksamkeit überhaupt zusammenfallen, d. h. die Wirksamkeit kann für sich  allein  niemals das Kriterium dafür abgeben, was geschichtlich wesentlich ist.  Irgend welche Wirkungen übt ja jeder  beliebige  Vorgang aus. Wenn ich mit dem Fuß aufstampfe, zittert der Sirius, hat man gesagt und doch ist diese Wirkung, wie die meisten anderen, historisch ganz unwesentlich. "Historisch wirksam" ist vielmehr nur das, was historisch  bedeutsame  Wirkungen ausübt oder womit wir einen verstehbaren  Sinn  verbinden und das heißt wieder nichts anderes, als daß ein Kulturwert maßgebend ist für die Auswahl des geschichtlich Wesentlichen. Erst wenn aufgrund einer theoretischen Wertbeziehung bereits  feststeht,  was geschichtlich wesentlich ist, kann man rückwärts blickend nach den Ursachen oder vorwärtsblickend nach den Wirkungen fragen und dann das in die Darstellung aufnehmen, was durch seine Eigenart das Zustandekommen des historisch wesentlichen Ereignisses bewirkt hat.

Wenn man also, wie EDUARD MEYER (9) und mit ihm RIEHL (10) sagt,  nicht  nach Wertgesichtspunkten,  sondern  nach Graden historischer Wirksamkeit werde die Auswahl des Wesentlichen in der Geschichte getroffen, so ist das ein falscher Gegensatz, dessen Unhaltbarkeit nur durch die  Zweideutigkeit  des Ausdrucks "historisch wirksam" verdeckt wird. Der Satz, die Geschichte habe das  historisch  Wirksame darzustellen, ist, wenn er richtig sein soll, lediglich eine andere Formulierung dafür, daß sie es mit den für die Kulturwerte  wesentlichen  Wirkungen zu tun hat und weil niemals das Prinzip der bloßen Wirksamkeit das Prinzip der Wertbeziehung  ersetzen  kann, so ziehen wir unseren Ausdruck vor, denn er allein bezeichnet das  unzweideutig,  worauf es ankommt. Wo der Wertgesichtspunkt fehlt, der darüber entscheidet,  welche  Wirkungen geschichtlich wesentlich oder bedeutsam sind, ist mit dem Begriff der historischen Wirksamkeit als  Auswahlprinzip  noch gar nichts anzufangen.

Der Begriff der historischen Entwicklung ist endlich, um Mißverständnissen vorzubeugen, ausdrücklich von dem des  Fortschritt zu trennen und das hat wieder mit Hilfe des Unterschiedes von Wertung und Wertbeziehung zu geschehen.

Enthält die bloße Veränderungsreihe zu  wenig,  um mit der  geschichtlichen  Entwicklung gleichgesetzt zu werden, so enthält die Fortschrittsreihe dafür zu viel. "Fortschritt" meint, wenn das Wort überhaupt eine prägnante Bedeutung haben soll, soviel wie  Wertsteigerung,  Erhöhung des Wertes der Kulturgüter und jede Behauptung über Fortschritt oder Rückschritt schließt daher eine  positive  oder  negative Wertung  ein. Eine Reihe von Veränderungen einen Fortschritt nennen, heißt oft sogar behaupten, daß jedes folgende Stadium in höherem Maße einen Wert realisiert als das vorangegangene und eine solche Wertung kann nur der vollziehen, der zugleich etwas über die Geltung des Wertes aussagt, an dem er den Fortschritt  mißt.  Da aber die Geschichte nach der Geltung der Werte nicht zu fragen hat, sondern lediglich darauf Rücksicht nimmt, daß gewisse Werte faktisch gewertet werden, so kann sie auch niemals entscheiden, ob eine Veränderungsreihe ein Fortschritt oder ein Rückschritt ist.

Der Begriff des Fortschritts gehört deswegen in die Geschichts philosophie,  die ausdrücklich den am realen historischen Geschehen haftenden irrealen "Sinn" mit Rücksicht auf die darin zum Ausdruck kommenden Werte  deutet  und dann die Vergangenheit als wertvoll oder wertfeindlich zu  richten  unternimmt. Wie weit eine geschichtsphilosophische Darstellung dieser Art als Wissenschaft möglich ist, kann hier dahingestellt bleiben. Die  empirische  Geschichtsdarstellung hält sich von ihr fern. Jedes Richten wäre "ungeschichtlich" in der spezialwissenschaftlichen Bedeutung des Wortes Geschichte.

Um die Ausführungen über den Zusammenhang der individualisierenden Begriffsbildung mit der Wertbeziehung zum Abschluß zu bringen, ist jetzt nur noch ein Punkt hervorzuheben.

Wir sahen: der Historiker hat als Historiker nicht nach der Geltung der Werte zu fragen, die seine Darstellung leiten. Trotzdem wird er seine Objekte nicht auf irgendwelche  beliebigen  Werte beziehen. Er setzt vielmehr voraus, daß diejenigen, an die er sich mit seiner Darstellung wendet, wenn auch nicht diese oder jene besonderen Güter, so doch wie er selbst die allgemeinen Werte der Religion, des Staates, des Rechts, der Sitten, der Kunst, der Wissenschaft, mit Rücksicht auf welche das geschichtlich Dargestellte wesentlich ist, überhaupt als Werte  anerkennen  oder doch wenigstens als Werte  verstehen.  Deshalb war es bei Bestimmung des Kulturbegriffs nötig, nicht nur den Wertbegriff überhaupt als entscheidend für die Abgrenzung der Kulturvorgänge gegen die Natur zu betonen, sondern zugleich hervorzuheben, daß Kulturwerte entweder faktisch allgemein, d. h.  von allen  gewertet oder allen Gliedern der Kulturgemeinschaft als gültig wenigstens  zugemutet  werden.

Diese  Allgemeinheit  der Kulturwerte  erst  ist es, welche die individuelle  Willkür  der geschichtlichen Begriffsbildung beseitigt und auf der also ihre "Objektivität" beruth. Das historisch Wesentliche darf nicht nur für dieses oder jenes einzelne Individuum, sondern es muß  für alle bedeutsam  sein. Im Begriff der historischen Objektivität steckt unter philosophischen Gesichtspunkten freilich zugleich noch ein Problem. Doch können wir davon in diesem Zusammenhang absehen. Wir haben es hier nur mit der  empirischen  Objektivität der Geschichte zu tun, d. h. mit der Frage, ob der Historiker auf dem Gebiet des als Tatsache zu konstatierenden verbleibt und da muß klar sein, daß auch mit Rücksicht auf die Allgemeinheit der Kulturwerte die empirische Objektivität  prinzipiell  gesichert ist. Daß nämlich bestimmte Güter innerhalb einer Kulturgemeinschaft allgemein gewertet werden oder daß man den Gliedern der Gemeinschaft zumutet, die Wirklichkeiten zu pflegen, an denen diese Werte haften, also die Kultur zu fördern, ist ein  Faktum, das sich im Prinzip ebensogut wie jedes andere Faktum feststellen läßt und damit kann sich der Historiker begnügen.

Nur eins ist zur Bestimmung des individualisierenden Verfahrens mit Rücksicht auf den Begriff des allgemeinen Kulturwertes jetzt noch ausdrücklich hinzuzufügen. Wenn die im angegebenen Sinne "objektive" historische Darstellung nur von  allgemein  gewerteten Werten geleitet werden kann, so scheinen schließlich doch diejenigen recht zu haben, die sagen, daß es vom Besonderen und Individuellen als solchem eigentlich keine Wissenschaft gibt und das ist insofern in der Tat richtig, als das Besondere zugleich von  allgemeiner  Bedeutung  sein  muß, um in die Wissenschaft einzugehen und ferner nur das von ihr wissenschaftlich dargestellt wird, worauf diese seine allgemeine Bedeutung beruth. Ja, das ist sogar mit Nachdruck zu betonen, damit nicht der Schein entsteht, als bestehe die Geschichte in einer bloßen "Beschreibung" einzelner Tatsachen. Auch die Geschichte ordnet wie die Naturwissenschaft das Besondere einem "Allgemeinen" unter.

Aber ebenso gewiß bleibt trotzdem der Gegensatz des generalisierenden Verfahrens der Naturwissenschaft zum individualisierenden Verfahren der Geschichte  unberührt.  Nicht das allgemeine  Naturgesetz  oder der allgemeine Begriff, für den jedes Besondere nur ein "Fall" unter beliebig vielen anderen ist, sondern der  Kulturwert  ist das geschichtlich "Allgemeine" und der kann nur  am  Einmaligien und Individuellen allmählich zum Ausdruck kommen, d. h. sich mit Wirklichkeiten so verbinden, daß diese dadurch zu Kulturgütern werden. Beziehe ich also eine individuelle Wirklichkeit auf einen allgemeinen Wert, so wird sie dadurch  nicht  zum  Gattungsexemplar  eines allgemeinen Begriffs, sondern sie bleibt in ihrer  Individualität  bedeutsam als individueller Träger eines individuellen Sinngebildes.

Ich fasse noch einmal alles zusammen. Zwei Arten empirisch-wissenschaftlicher Arbeiten können wir  begrifflich  voneinander scheiden, ohne damit sagen zu wollen, daß sie  faktisch  überall getrennt sind. Nur die "reinen" Formen hebe ich heraus.

Auf der einen Seite stehen die  Naturwissenschaften.  Das Wort "Natur" charakterisiert sie sowohl mit Rücksicht auf ihren  Gegenstand  als auch mit Rücksicht auf ihre  Methode Sie sehen in ihren Objekten ein von jeder Wertbeziehung freies Sein und Geschehen und ihr Interesse ist darauf gerichtet, die allgemeinen begrifflichen Verhältnisse, wenn möglich die Gesetze kennen zu lernen, welche für dieses Sein und Geschehen gelten. Das Besondere ist für sie nur "Exemplar". Das gilt für die  Physik  ebenso wie für die  Psychologie.  Beide machen mit Rücksicht auf Werte und Wertungen keinerlei Unterschied unter den verschiedenen Körpern und Seelen, beide lassen das Individuelle als unwesentlich beiseite und beide nehmen in ihre Begriffe für gewöhnlich nur das einer  Mehrzahl  von Objekten  Gemeinsame  auf. Es gibt auch  kein  Objekt, das sich dieser im weitesten Sinne des Wortes naturwissenschaftlichen Behandlung prinzipiell entzieht. Natur ist die wertindifferent und generalisierend aufgefaßte seelisch-körperliche  Gesamtwirklichkeit. 

Auf der anderen Seite stehen die  historischen Kulturwissenschaften.  Zu ihrer Bezeichnung fehlt uns ein Wort, das dem Ausdruck "Natur" entsprechend sie zugleich sowohl mit Rücksicht auf ihren Gegenstand als auch mit Rücksicht auf ihre Methode charakterisieren könnte. Wir müssen daher  zwei  Ausdrücke wählen, die den beiden Bedeutungen des Wortes Natur entsprechen. Als  Kultur wissenschaften handeln sie von den auf die allgemeine Kultur werte  bezogenen und daher als sinnvoll verständlichen Objekten und als  historische  Wissenschaften stellen sie deren  einmalige  Entwicklung in ihrer Besonderheit und Individualität dar, wobei der Umstand, daß es Kulturvorgänge sind, ihrer historischen Methode zugleich das Prinzip der Begriffsbildung liefert, denn wesentlich ist für sie nur das, was als Sinnträger in seiner individuellen Eigenart für den leitenden Kulturwert Bedeutung hat. Sie wählen daher  individualisiernd  als "Kultur" etwas ganz anderes aus der Wirklichkeit aus, als die Naturwissenschaften es tun, wenn sie  dieselbe  Wirklichkeit  generalisierend  als "Natur" betrachten, da in den meisten Fällen die Bedeutung eines Kulturvorganges gerade auf der  Eigenart  beruth, die ihn von anderen unterscheidet, während umgekehrt das, was ihm mit anderen gemeinsam ist, also sein naturwissenschaftliches Wesen ausmacht, der historischen Kulturwissenschaft unwesentlich sein wird.

Was endlich den Gegensatz von  Körper  und  Geist  betrifft, so sind es zwar, wenn "geistig" so viel wie psychisch heißen soll, meistens geistige Vorgänge, mit denen die Kulturwissenschaften es zu tun haben, aber der Begriff der "Geisteswissenschaften" grenzt weder die  Objekte,  noch die  Methode  gegen die der Naturwissenschaften ab. Deshalb sollte man diesen vieldeutigen Ausdruck in der Methodenlehre ganz fallen lassen. Unter der Voraussetzung einer Gleichsetzung des Geistigen mit dem  Psychischen  hat er für die  logische  Einteilung der Wissenschaften in die zwei Hauptgruppen jede Bedeutung verloren. Ja, man kann geradezu sagen, daß eine prinzipielle Scheidung von Geist und Körper, falls damit nur die von Psychisch und Physisch gemeint ist, allein  innerhalb der Naturwissenschaften  von Bedeutung ist. Die Physik erforscht nur das physische, die Psychologie nur das psychische Sein. Die historischen Kulturwissenschaften dagegen haben keine Veranlassung, auf eine solche prinzipielle Scheidung überhaupt zu reflektieren. Sie nehmen in ihre Begriff Psychisches und Physisches  nebeneinander  auf, ohne diesen Unterschied ausdrücklich zu beachten. Mit Rücksicht hierauf ist der Ausdruck "Geisteswissenschaften" geradezu irreführend, solange man den Begriff des Geistes nicht genau bestimmt hat.

Nur wenn man mit dem Wort "Geist" eine Bedeutung verbindet, die sich von der des Ausdrucks "psychisch" prinzipiell  unterscheidet,  bekommt die Bezeichnung der nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen als Geisteswissenschaften einen Sinn, und eine solche Bedeutung hat das Wort früher gehabt. Aber da verstand man unter Geist etwas, wovon der Begriff eines  Wertes  unabtrennbar war, nämlich das "höher" entwickelte seelische Leben, das allgemein gewertete Formen und Eigenarten angenommen hat und diese können nur innerhalb einer  Kultur  entstehen. "Geistig" war also der Mensch zum Unterschied von bloß psychisch insofern, als er nicht ein bloßes Naturwesen, sondern eine  Kulturmensch  war. So kommt  diese  Bedeutung des Wortes "Geisteswissenschaft" im Grunde auf dasselbe hinaus, was wir unter Kulturwissenschaft verstehen und die Streitfrage wird dann terminologisch. Nur weil entweder die  alte  Bedeutung von "Geist" heute noch mitklingt oder weil man neuerdings geneigt ist, Geist als Namen für Sinngebilde zu brauchen, die überhaupt nicht psychisch-real sind, hält man am Terminus Geisteswissenschaften in den Kreisen der Einzelforscher fest, was man dort nie tun würde, wenn man darunter die Wissenschaften vom Psychischen verstünde. Dann wäre die Unangemessenheit des Ausdrucks sofort klar. Es verdankt der  heutige  Gebrauch des Wortes Geisteswissenschaft bei denen, die nicht die Psychologie zur "Grundlage" der Kulturwissenschaften machen wollen, somit nur seiner  Vieldeutigkeit  und damit zugleich einer prinzipiellen  Unklarheit  sein Dasein.

Auch folgendes muß man im Auge behalten. Was im neunzehnten Jahrhundert als etwas  Neues  groß geworden ist und seinem wissenschaftlichen Leben, im Gegensatz zu den vorangegangenen naturwissenschaftlichen Jahrhunderten, den Charakter aufprägt, sind  nicht  in erster Linie die Wissenschaften vom  Psychischen  gewesen. Das seelische Leben hatte man schon vorher erforscht und die neuere Psychologie knüpft, so erfreulich ihre Fortschritte auch sein mögen, zum größten Teil an die Psychologie des  naturwissenschaftlichen  Zeitalters an. Es ist kein Zufall, daß die Psychophysik von einem Mann geschaffen ist, der als Philosoph einen dem Spinozismus nahe verwandten Panpsychismus und jedenfalls eine gar nicht an der Geschichte orientierte Weltanschauung vertrat. Prinzipiell neu auf dem einzelwissenschaftlichen Gebiet sind im neunzehnten Jahrhundert vor allem die Leistungen der großen  Historiker  gewesen, die das  Kultur leben erforschten. Sie haben eine mächtige Anregung von der Philosophie des deutschen Idealismus erhalten, die ihre Probleme hauptsächlich dem geschichtlichen Kulturleben entnahm und dementsprechend auch den Begriff des "Geistes" bestimmte. Da dieser Sprachgebrauch veraltet ist und das, was man früher Geistesleben nannte, heute geschichtliches Kulturleben genannt wird, so gewinnt der Terminus der historischen Kulturwissenschaften, den wir systematisch begründet haben, auch sein, der heutigen Situation angepaßtes, geschichtliches Recht.

Schließlich führen diese Überlegungen wieder zu der früher zurückgeschobenen Frage, welche  Art  des Seelenlebens nach naturwissenschaftlicher Methode nicht erschöpfend behandelt werden kann und welches relative Recht daher die Behauptung besitzt, die Kultur dürfe auch wegen ihres  geistigen  Charakters nicht der Alleinherrschaft der Naturwissenschaft unterworfen werden.

In  der  Einheit, die dem Seelenleben zukommt, soweit es  nur  Seelenleben ist, konnten wir den Grund dafür nicht entdecken. Untersuchen wir dagegen das Seelenleben der historisch wesentlichen  Kulturpersönlichkeiten  und bezeichnen dieses als geistig, so finden wir darin in der Tat eine "geistige"  Einheit  von eigentümlicher Art, die jeder Bewältigung durch generalisierend gebildete Begriffe spottet. Deshalb kann die Meinung entstehen, es gebe eine spezifisch  geisteswissenschaftliche Methode  oder es müsse eine Psychologie geschaffen werden, die sich von der erklärenden, naturwissenschaftlich verfahrenden prinzipiell unterscheidet. Nachdem wir jedoch das Wesen dieser "geistigen" Einheit als beruhend auf  Wert beziehung verstanden haben, können wir diese Meinung als Täuschung durchschauen.

Wenn es gilt, das Seelenleben GOETHEs oder NAPOLEONs darzustellen, so läßt sich dabei gewiß mit den Begriffen der generalisierenden Psychologie nicht viel anfangen. Hier haben wir in der Tat eine  Lebenseinheit,  die nicht psychologisch zu "erklären" ist. Aber diese Einheit stammt nicht aus dem "Bewußtsein" als der logischen Einheit des Subjekts, sie stammt auch nicht aus der "organischen" Einheit der Seele, die  jedes  Ich zu einem geschlossenen Zusammenhang macht, sondern sie beruth darauf, daß mit Rücksicht auf Kulturwerte bestimmte psychische Zusammenhänge als Sinnträger zu  individuellen  Einheiten werden, die verschwinden würden, wenn man sie unter  allgemeine  psychologische Begriffe brächte. Die nicht zu generalisierende "geistige" Lebenseinheit ist also die individuelle Einheit der Kulturpersönlichkeit, die sich mit Rücksicht auf ihre Kulturbedeutung zu einem nicht zu trennenden  individuellen Ganzen  zusammenschließt. Nicht die Unteilbarkeit des realen Seelenlebens, sondern die des Sinngebildes ist dabei entscheidend. Mit dem heute üblichen Gegensatz von Natur und Geist als dem von Körper und Seele haben demnach diese "Lebenseinheiten" der Kulturpersönlichkeiten nichts zu tun und darum muß die Meinung, als bedürften wir, um solche Einheiten zu erforschen, einer "geisteswissenschaftlichen" Methode oder einer neuen Psychologie, verschwinden. Die geschichtlichen Einheiten sind nicht nur der heute schon vorhandenen naturwissenschaftlichen Psychologie, sondern  jeder  allgemeinen Theorie des seelischen Lebens entzogen. Solange man an der Einheit der Individualität, die auf ihrer durch keine andere Individualität ersetzbaren und insofern einzigartigen Kulturbedeutung beruth, festhält, kann sich ihr Wesen nur dem individualisierenden historischen Verfahren erschließen.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart 1986
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    Anmerkungen

    1) ALFRED DOVE, Ranke und Sybel in ihrem Verhältnis zu König Max, 1895. Ausgewählte Schriftchen, vornehmlich historischen Inhalts. 1898, Seite 191f.
    2) ALOIS RIEHL, Logik und Erkenntnistheorie. Die Kultur der Gegenwart I (Hg. PAUL HINNEBERG, 1907, Seite 101.
    3) EDUARD MEYER, Zur Theorie und Methodik der Geschichte, 1902.
    4) RICKERT, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Seite 325. Dritte und vierte Auflage, Seite 224f.
    5) CARL LAMPRECHT, Literarisches Zentralblatt, Nr. 2, 1899. Bezeichnend für den Wandel der Ansichten über Wertfragen in den letzten Jahrzehnten ist der Umstand, daß R. WILBRANDT gegen MAX WEBER den Vorwurf erhebt, er wolle aufgrund meiner Theorie der Kulturwissenschaften die Wertungen aus der Nationalökonomie entfernen und nur die theoretische Wertbeziehung anerkennen.
    6) Das habe ich auch seit der zweiten Auflage der "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbilung" durchgeführt und man sollte daher nicht mehr sagen, ich bezeichne das historische Verfahren als "teleologisch". Zur Klärung der Sache kann das nicht beitragen, da ich das, was man für gewöhnlich "Geschichtsteleologie" nennt, ablehne.
    7) Vgl. MAX ADLER, Kausalität und Teleologie im Streit um die Wissenschaft, 1904. Das Buch, das zum Teil der Bekämpfung meiner Ansichten dient, ist übrigens besser als ein Titel.
    8) Vgl. SERGIUS HESSEN, Individuelle Kausalität, Studien zum transzendentalen Empirismus, 1909. Die Schrift knüpft an meinen Begriff der historischen Kausalität an und bildet ihn in interessanter Weise weiter.
    9) EDUARD MEYER, Zur Theorie und Methodik der Geschichte, 1902
    10) ALOIS RIEHL, Logik und Erkenntnistheorie, a. a. O. Seite 101