ra-2 ra-2ra-2H. RickertG. CohnH. Dietzel    
 
WERNER SOMBART
Ideale der Sozialpolitik

"Es ist in jüngster Zeit die Frage aufgeworfen worden: ob denn die modernen, humanen Bestrebungen insbesondere zum Schutz der sogenannten Schwachen leicht unsere Rasse körperlich und seelisch zu degenerieren drohen und damit den Anfang vom Ende aller menschlichen Kultur bedeuten würden. Es wird alsdann aufgrund solcher Erwägungen das Postulat aufgestellt, daß die Sozialpolitik vor allem die Tüchtigkeit unserer Rasse zu bewahren und zu fördern geeignet sein muß."

"Es sind vornehmlich zwei Erwägungen, die zu einer Verethisierung der Sozialpolitik Anlaß gegeben haben. Die erste ist die, daß auch das wirtschaftliche Handeln der ethischen Wertung unterliegt. Die andere Erwägung, die zur Usurpation des sozialpolitischen Gebietes durch die Ethik geführt hat, ist die, daß ein blühendes Wirtschaftsleben oder wie es meistens heißt, eine möglichst reichliche Güterproduktion, unmöglich das Endziel menschlichen Streben sein kann, daß vielmehr der wirtschaftliche Erfolg selbst nur Mittel zum Zweck eines im Licht der Ethik menschenwürdigen Daseins sein darf."

"Der Sozialpolitik ein Ideal von der Ethik geben lassen bedeutet das Bekenntnis, daß das von altersher sittlich Erlaubte die Schranken bildet, innerhalb deren gewirtschaftet werden darf. Damit aber werden der Entfaltung der produktiven Kräfte Fesseln angelegt, die eine gedeihliche Entwicklung des Wirtschaftslebens behindern. Nicht das Sittliche darf die Schranke sein, innerhalb deren gewirtschaftet wird, sondern umgekehrt die wirtschaftliche Notdurft bildet die Schranken, innerhalb deren das Sittliche verwirklicht werden kann."

Vielleicht von allen sozialen Wissenschaften im traurigsten Zustand der Verwahrlosung befindet sich in der Gegenwart die Wissenschaft von der Politik. Wer behaupten wollte, sie stände heute auf dem Nivea etwa der aristotelischen Lehren, würde, scheint mir, ein sehr wohlwollendes Urteil über die Leistungen unserer Generation fällen. Fortschritte in letzter Zeit sind so gut wir gar keine gemacht. Das neueste, größere Werk auf diesem Gebiet der Wissenschaft - das sich "Politik" nennende Buch des in manchen Kreisen immer noch viel gelesenen verstorbenen Leipziger Professors WILHELM ROSCHER (1) - hätte ruhig ein Menschenalter früher veröffentlich werden können und wäre doch schon bei seinem Erscheinen veraltet gewesen: Von den mannigfachen Errungenschaften der sozialen Forschung in den vergangenen Jahrzehnten enthält es auch nicht einen Hauch. Leute, die nach 1850 geboren sind, verstehen es kaum noch. Ähnlich steht es mit den meisten übrigen wissenschaftlichen Bearbeitungen der Politik. Und die scharfe Kritik JOHN STUART MILLs scheint mir heute mehr noch als da er sie zuerst aussprach, am Platz zu sein (2). Der nächsten Zeit wird es hoffentlich vorbehalten sein, Versäumtes nachzuholen. Wobei es beim gegenwärtigen Stand vor allem ankommt, ist: Bausteine zu einer modernen Theorie der Politik zu liefern, insbesondere die auf anderen Gebieten der Sozialwissenschaft gewonnene Erkenntnis für die Politik nutzbar zu machen. Einen bescheidenen Beitrag zu diesem Werk sollen die folgenden Blätter bringen. Sie enthalten zunächst einige allgemeine Bemerkungen über Begriff, Wesen und Zweige der Politik, um daran eine spezielle Untersuchung über die Bedeutung des Ideals auf einem bestimmten Gebiet der Politik - der Sozialpolitik - anzuschließen.


I.

Zu leidlicher Klarheit ist der allgemeine Begriff der Politik geführt worden. Ich will ihn im wesentlichen in der von HOLTZENDORFF (3) festgestellten Fassung übernehmen.  Danach  ist die "Politik als Wissenschaft" als eine besondere Fachwissenschaft, die von Staat und Gesellschaft handelt, abgegrenzt und ihr Objekt und Inhalt bestimmt als "die (auf Grundlage gegebener Verhältnisse) außerhalb der Rechtspflege zu bewirkende Realisation der Staatszwecke". HOLTZENDORFF bemerkt erläuternd dazu:
    "Nicht das Vorhandensein ansich, sondern der Gebrauch und die Wirkungen der für die Durchführung der Staatszwecke verfügbaren Mittel ist das für uns Entscheidende. Sehr richtig nennt  Schleiermacher  die praktische Politik  wirksames Handeln.  Die Idee der Handlung für den Staat und seine Zwecke ist daher die oberste Vorstellung, von welcher in der Politik ausgegangen werden muß ... Die handelnden Subjekte, welche die Politik als Wissenschaft voraussetzen oder ins Auge zu fassen hat, sind daher die oberste Vorstellung, von welcher in der Politik ausgegangen werden muß ... Die handelnden Subjekte, welche die Politik als Wissenschaft vorauszusetzen oder ins Auge zu fassen hat, sind daher die Staatsgewalt mit ihren persönlich wirkenden Organen in der Staatsregierung. Sie sind die überall vorkommenden, zwar nicht ausschließlichen, aber doch schlechthin notwendigen Träger der politischen Handlungsfähigkeit."
Wobei der Ausdruck "Staat" im weiteren Sinne des "öffentlichen Körpers" aufzufassen sein dürfte, denn wir werden doch auch z. B. die Gemeindepolitik unter dem weiteren Begriff der Politik mitzuverstehen haben. Ganz allgemein handelt es sich also um die bewußt ausgeübte Tätigkeit öffentlicher Körper.

Können wir so die wohl allgemein angenommene Begriffsbestimmung der praktischen Politik zu der unsrigen machen, so verläßt uns die herrschende Lehre schon in dem Augenblick, wo wir nach einer befriedigenden Systematik der Politik fragen.

Es dürfte sich empfehlen, zwei große Gebiete der Gesamtpolitik zu sondern, je nach der Wirkungssphäre der Staatstätigkeit, die entweder darauf gerichtet ist, die  Interessen  der Gemeinschaft gegenüber anderen Gemeinschaften zu wahren: "äußere", "nationale" Politik oder darauf, die soziale Ordnung im Innern in bestimmter Richtung zu ändern, anzuwenden oder zu ergänzen: "innere" oder "soziale" Politik im weitesten Sinne. Nur mit letzterer haben wir hier zu schaffen. Sie umfaßt auch denjenigen Zweig der Politik, um dessen genauere begriffliche Erfasung uns hier zu tun ist: die "Sozialpolitik" im engeren, eigentlichen Verstand.

Was ist Sozialpolitik?  Das ist eine Frage, auf die keineswegs, wie der Außenstehende zu meinen geneigt sein könnte, die Antwort bereit liegt. Von einer herrschenden Begriffsbestimmung ist hier gar keine Rede. Im günstigsten Fall hat der einzlne Autor seine private Auffassung und begriffliche Fixierung, meistens wohl gar keine. Das gilt heutzutage als statthaft, unter Umständen ein ganzes Buch über "Sozialpolitik" zu schreiben, ohne zu wissen, was mit diesem Wort für ein klarer Begriff bezeichnet ist. In dem Riesenhandwörterbuch der Staatswissenschaften fehlt das Stichwort "Sozialpolitik" ganz und gar! Und das im sogenannten "Zeitalter der Sozialpolitik"!

Wollte man die Vulgärauffassung des Begriffs  Sozialpolitik  feststellen, so könnte man, glaube ich, Sozialpolitik definieren als den Inbegriff derjenigen innerpolitischen Maßnahmen, welche seit dem Beginn der proletarischen Bewegung ergriffen sind, um die andrängende Lohnarbeiterschaft zu befriedigen oder zumindest zu beruhigen; als diejenige Politik also, deren Ergebnis die - begrifflich übrigens nicht minder unklare (4) - "soziale" Gesetzgebung ist. So meint z. B. Freiherr von HERTLING in seinen Untersuchungen über "Naturrecht und Sozialpolitik" (5), "populär" sei der Begriff  Sozialpolitik  im Sinne der speziellen Aufgaben geworden, "welche sich an die Lage, die Bedürfnisse und die Forderungen der arbeitenden Klassen anknüpfen". "Allmählich begann man", sagt er, (6) "von einer sozialen Frage zu sprechen, bis man sich plötzlich, auch bei uns, einer festgeschlossenen sozialen, der sozialdemokratischen Partei gegenüber fand und nun alsbald von den Regierungen die Maßregeln beraten wurden, um die gefährlichen Bestrebungen derselben zu bekämpfen und die Übelstände, durch welche sie hervorgerufen worden war, zu beseitigen. Seit dem Jahr 1877 nehmen die sozialen (!) Debatten in den Verhandlungen des Deutschen Reichstags einen breiten Raum ein. Die Gesetzentwürfe der Regierungen und die Anträge der Parteien sind mehr oder weniger durch sozialpolitische Erwägungen beeinflußt. Sozialpolitik ist die Losung unserer Zeit." Einer ganz verwandten Auffassung verdankt offenbar der "Verein für Sozialpolitik" seinen Namen. Daß die Wissenschaft von solchen Äußerlichkeiten sich bei ihrer Arbeit der Begriffsbestimmung nicht darf beeinflussen oder gar leiten lassen, liegt auf der Hand. Sehen wir uns also nach vorhandenen Begriffsbestimmungen um, die weniger den Charakter der historischen Gelegenheitsdefinition tragen.

Bekannt ist die Definition ADOLPH WAGNERs: "Unter Sozialpolitik im allgemeinen verstehen wir diejenige Politik des Staates, welche Mißstände auf dem Gebiet des Verteilungsprozesses mit Mitteln der Gesetzgebung und Verwaltung zu bekämpfen sucht." (7)

Auch diese Definition befriedigt mich nicht. Zunächst trägt sie ebenfalls den Stempel der Gelegentlichkeit. Wie es üblich geworden ist, in ganz äußerlicher Weise die neuere Nationalökonomie dahin zu charakterisieren, daß sie "mehr Nachdruck auf das Verteilungsproblem" legt, während die ältere "das Produktionsproblem" mehr in den Vordergrund gestellt hat, so will auch ADOLPH WAGNER, offenbar im Gegensatz zu einer (älteren) Produktions = "Wirtschafts"politik eine neuere Verteilungs = "Sozial"politk unterscheiden.

Aber es sprechen noch gewichtigere, sachliche Bedenken gegen seine Definition. Zunächst frägt man sich, warum eine Verteilungspolitik gerade mit dem Namen  Sozialpolitik  belegt werden soll? Es besteht auch nicht der geringste Zusammenhang zwischen Ausdruck und Sache. Dann aber, selbst wenn man sich über dieses Bedenken hinwegsetzen wollte, scheint mir der Hauptmangel jener Begriffsbestimmung darin zu liegen, daß sie der Unbestimmtheit und Systemlosigkeit geradezu Vorschub leistet.

Denn der Begriff der "Verteilungspolitik" ist ein so dehnbarer, daß man die heterogensten Dinge unter ihm zusammenfassen kann. Und aller Wert der Begriffsbildung soll doch gerade darin liegen, daß wir Ordnung und System in die Betrachtung der lebendigen Mannigfaltigkeiten bringen. "Verteilungspolitik" wären z. B. Maßnahmen zur Regelung des Lohnvertrages, wäre alle Armenpolitik, wäre die Versorgung hungernder Hausweber mit Arbeit, wäre die Versicherungspolitik und vieles andere mehr.

Dazu kommt, daß sich bei einer ganzen Reihe von Maßnahmen gar nicht feststellen lassen wird, ob sie zur "Produktions"- oder zur "Verteilungs"politik zu rechnen sind. Wohin gehört der Arbeiterschutz? wohin die Einführung des Maximalarbeitstages? Schließlich krankt jede Definition an dem Übelstand, daß sie gewaltsam aus dem Bereich der Sozialpolitik Maßnahmen ausschließt, die zwar der "Produktionspolitik" angehören, aber im allerengsten Zusammenhang mit der "Verteilungspolitik" stehen; ich denke z. B. an die moderne Agrargesetzgebung, an die "Organisation des Handwerks", an Kartellpolitik, an die Behandlung der Konsumvereine, der Börse, usw. usf. Wir werden also nach besserem suchen müssen.

Eine Definition, die mir auf die richtige Fährte zu führen scheint, ist die von BRÜLL im Artikel "Sozialpolitik" im Staatslexikon (8). Danach ist "Sozialpolitik oder Gesellschaftslehre im engeren Sinne ... derjenige Zweig der Staatswissenschaften, welcher sich mit den Beziehungen der öffentlichen Gewalt zu den einzelnen produktiven Ständen und zu deren gegenseitigen Interessen namentlich auf wirtschaftlichem Gebiet befaßt". Wenn wir von der Verwechslung zwischen Wissenschaft der Politik und praktischer Politik absehen, so krankt diese Definition vor allem an zu großer Unbestimmtheit. Dem Verfasser hat wohl etwas Richtiges und Greifbares vorgeschwebt, er hat es aber doch nicht zu fassen gewußt. Das zeigt sich im weiteren Verlauf seines Artikels, der sich wesentlich mit der Arbeiterpolitik in neuerer Zeit befaßt und den fruchtbaren Kern der eigenen Begriffsbestimmung nicht zu verwerten weiß.

Wir finden also hier nicht, was wir suchen: eine brauchbare Abgrenzung des Begriffs  Sozialpolitik.  Andere Bemühungen von einiger Bedeutung, diesen Begriff festzulegen, sind mir nicht bekannt geworden. So bleibt nichts anderes übrig, als selbst die Begriffsbestimmung vorzunehmen.

Wenn ich recht sehe, können wir in der gesamten Wirtschaftspolitik (9), mit der wir es hier allein zu tun haben, zwei wesentlich voneinander verschiedene Arten von Maßnahmen verfolgen. Unterschieden zwar nicht immer im Bewußtsein des Politikers, also in der Zwecksetzung, wohl aber stets in der Wirkung. Entweder nämlich die politische Maßnahme bezieht sich auf das Bestehen und Vergehen eines bestimmten Wirtschaftssystems bzw. seiner Bestandteile oder nur auf das Wohl und Wehe einzelner Wirtschaftssubjekte. Unter einem Wirtschaftssystem will ich eine von bestimmten Prinzipien beherrschte bestimmte Ordnung des Wirtschaftslebens einer Gesamtheit von Menschen verstehen. Die Unterscheidung der einzelnen Wirtschaftssysteme würde nach der Wahl des Unterscheidungsmerkmals verschieden ausfallen. Wenn wir uns bis auf weiteres mit dem von BÜCHER (10) angenommenen Kriterium - dem Weg von der Produktion zur Konsumtion - begnügen wollen, so ergeben sich uns Eigenwirtschaft, städtische Tauschwirtschaft und kapitalistische Verkehrswirtschaft als die historisch überlieferten Wirtschaftssysteme. Bekanntlich bestehen alle drei - oder, wenn wir die sozialistische "Eigenwirtschaft" auf einer höheren Stufenleiter als ein viertes Wirtschaftssystem bezeichnen wollen, alle vier - Wirtschaftssysteme in den modernen Kulturstaaten nebeneinander weiter. An sie gliedern sich die sozialen Klassen (11) an: Junkertum und Bauernschaft als Repräsentanten verschiedener Formen der urwüchsigen Eigenwirtschaft, das Kleinbürgertum als Vertreter der lokalen Tauschwirtschaft, die Bourgeoisie als Klassenausdruck der kapitalistischen Verkehrswirtschaft in ihrer konservativ-monarchischen Gestaltung, das Proletariat in ihrer Tendenz zur Sozialisierung und Demokratisierung.

Was Bestandteile eines Wirtschaftssystems sind, dürfte einleuchtend sein: abgesonderte Sphären gleichartigen Wirtschaftslebens, sonach mit gleichmäßig interessierten Personengruppen: Teilen sozialer Klassen, die unter Umständen, obwohl Glieder  eines  Körpers in einen Gegensatz zueinander treten können. Je höher, komplizierter das Wirtschaftssystem, desto mannigfaltiger die Gliederung. So finden wir die meisten Schattierungen in den Reihen der die kapitalistische Verkehrswirtschaft in ihrer Aufwärtsentwicklung repräsentierenden Bourgeoisie: agrarische, industrielle und kommerzielle Bourgeoisie.

Damit dürfte das Verständnis für die oben gemachte Unterscheidung wirtschaftspolitischer Maßnahmen gewonnen sein: jene erste Kategorie bezieht sich (hat zum Zweck oder zumindest zur Folge) auf die Existenz, die Förderung oder Vernichtung eines Wirtschaftssystems oder seiner Bestandteile, oder wie wir jetzt auch dafür einsetzen können: einer sozialen Klasse oder ihrer Gruppen - heißt also: sie gestaltet die Wirtschaftsordnung in einer der betreffenden Interessengemeinschaft fördersamen oder nachteiligen Weise. Beispiele: Bauernbefreiung, Handelsverträge, Börsenform, Beschränkung des Hausiererhandels oder der Warenmagazine, Befähigungsnachweis, Arbeiterschutz usw. Dieser Kategorie wirtschaftspolitischer Maßnahmen schroff gegenüber steht nun jene andere, die sich - ohne Bezug auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem und die ihm entsprechende Klassenzugehörigkeit - mit dem Ergehen einzelner, beliebig zusammengekommener Personen befaßt. Hierhin gehören beispielshalber: die Armenpolitik mit ihrem Appendix der modernen Zwangsversicherung; viele Gebiete der Genossenschaftspolitik; viele Zweige der Finanzpolitik: z. B. die Einkommensteuerpolitik, die lediglich die für den sozialen Theoretiker wie Praktiker gleich bedeutungslose Unterscheidung in arm und reich, vermögend und unvermögend kennt (während z. B. die Politik der Besteuerung von Gewerbe- oder Handelsbetrieben etc. sehr wohl der ersteren Kategorie von Maßnahmen angehören kann, sofern eine Begünstigung oder Benachteiligung der Groß- oder Kleinbetriebe, des Kapitalismus oder Handwerks Zweck oder Folge ist) usw.

Der Leser wird bereits vermuten, was ich mit dieser Unterscheidung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen bezwecke: ich will die erstere Kategorie als Sozialpolitik aussondern. Demnach ergibt sich für uns folgende Begriffsbestimmung:  Unter Sozialpolitik verstehen wir diejenigen Maßnahmen der Wirtschaftspolitik, die Erhaltung, Förderung oder Unterdrückung bestimmter Wirtschaftssysteme oder ihrer Bestandteile zum Zweck oder zur Folge haben.  Ihr gegenüber stelle ich alsdann die  Personalpolitik:  jene Maßnahmen, die sich auf das Wohlergehen einzelner Personen oder Gruppen von solchen beziehen, ohne Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Wirtschaftssystemen, also auch bestimmten sozialen Klassen. Die Gründe, welche für meine Terminologie zu sprechen scheinen, sind diese:

1. es wird damit gleichsam eine  Wirtschaftspolitik erster Klasse  herausgehoben und von anderen Maßnahmen unterscheidbar gemacht. Das ermöglicht es, das Wichtige vom Unwichtigen, das Dauernde vom Vorübergehenden zu sondern. Denn auch verhältnismäßig unbedeutende Maßnahmen, aus denen eine Beeinflussung der wirtschaftlichen Ordnung in einer bestimmten Richtung erfolgt, müssen sich uns als unvergleichlich viel wichtiger einprägen denn noch so umfassende personalpolitische Maßregeln. Ob eine mehr oder weniger große Anzahl von Leuten statt Armengeld lieber mehr oder weniger hohe Renten aus einer Versicherungskasse bezieht, ob mittels der Einkommenssteuer den reichen Leuten eine größere oder geringere Quote ihrer Erträge abgenommen werden, ob hungernde Leinewebe von den Erträgnissen eines Wohltätigkeitsbazars oder aus den Kassen des Militärfiskus durch Barmherzigkeitsaufträge susteniert [ernährt - wp] werden und dgl. ist von einer unendlich geringeren Bedeutung für das gesamte Wirtschaftsleben und somit Leben einer Gemeinschaft überhaupt, als z. B. die Frage: ob durch eine arbeiterschützende Maßregel eine Verdrängung oder Konservierung des gewerblichen Kleinbetriebes erfolgt, ob eine bestimmte Politik zur Abnahme oder Zunahme der Bauernwirtschaft führt, ob eine steuerpolitische Maßnahme die großen Bazare hebt oder hemmt, ob eine Verfügung die Existenz der Hausindustrie verlängert oder verkürzt, ob durch einen Handelsvertrag eine Verkümmerung oder Belebung der großen Industrie erfolgen wird usw. usf.

2. Fassen wir, wie ich es tue, die auf die Gestaltung des Wirtschaftssystems bezüglichen Maßnahmen zusammen, so bringen wir  Ordnung  in die bunte Reihe wirtschaftspolitischer Vorgänge. Es gibt soviel ich sehe keinen besseren Gesichtspunkt, um Zusammengehöriges zusammenzustellen, Disparates zu unterscheiden. Die klare Erfassung einer Politik der Wirtschaftssysteme bringt uns das System der Wirtschafspolitik. Es ergibt sich aus einer Gruppierung der ein bestimmtes Wirtschaftssystem fördernden Maßregeln, durch eine Sonderung der die einzelnen Zweige und Gebiete dieses Wirtschaftssystems berührenden Vornahmen usw. Und es ist eine Systematik, die aus der "Natur der Sache" hergenommen ist, nicht einer vorübergehenden historischen Begebenheit ihre Entstehung verdankt.

Fragt sich

3. ob es nicht eine Wirklichkeit ist, jene eine Gruppe wirtschaftspolitischer Maßnahmen als  "Sozial politik zu  bezeichnen.  Ich glaube ganz und gar nicht.

Was zunächst den "Sprachgebrauch" anbetrifft, der ja stets bei wissenschaftlichen Namengebungen berücksichtigt werden sollte, so ist er in unserem Fall wie wir sahen meist so unentschieden, daß er jedenfalls einer beliebigen Verwendung des Wortes "Sozialpolitik" nicht direkt im Wege steht. Ich glaube sogar, daß vielen ein Sinn, wie wir ihn dem Wort beilegen, dunkel vorschwebt: vgl. die oben mitgeteilte Definition des Staatslexikons. Jedenfalls kommt der Sprachgebrauch der einzig klaren Definition, derjenigen ADOLPH WAGNERs (Sozialpolitik = Politik zur Beseitigung der beim Verteilungsprozeß sich ergebenden Mißstände), nicht mehr zu Hilfe als der unsrigen. Das  Wort  "Sozial"politk aber findet seinem Sinn nach offenbar am besten eine Anwendung auf Maßnahmen, die sich auf die Gestaltung der "sozialen Ordnung" erstrecken. Braucht man es hierfür also, wie ich es vorschlage, so decken sich Inhalt und Ausdruck wörtlich.


II.

Wenn wir nun im Folgenden, nachdem wir den Begriff der Sozialpolitik festgestellt haben, einiges beizubringen versuchen wollen, das ihre Wesenheit zu charakterisieren imstande ist, so wird sich offenbar eine doppelte Aufgabe für uns ergeben: einmal nämlich zu prüfen, was aller Politik, also auch der Sozialpolitik, Sinn und Bedeutung ist, sodann aber zu ermitteln, was gerade der Sozialpolitik zum Unterschied von anderen Zweigen der Politik an Eigenart zukommt.

Über den ersteren Punkt müssen, da hier keine Abhandlung über Politik schlechthin zu schreiben ist, einige wenige Andeutungen genügen, um unseren Standpunkt zu präzisieren. Wenn alle Politik, um mit SCHLEIERMACHER zu sprechen, "wirksames Handeln" ist, so beruth sie offenbar auf der  Idee der Realisierbarkeit frei gewählter Zwecke Nicht als ob es sich um die willkürliche und beliebige Verfolgung planlos gesteckter Ziele handeln könnte: Das hieße einem träumerhaften Utopismus huldigen, der weder dem Leben seinen Inhalt entnimmt noch ihn dem Leben einwirkend zurückgibt. Aber doch in dem Sinne, daß die Politik wie alles "wirksame Handeln" unverträglich ist mit dem Gedanken einer vom Einzelwillen unbeeinflußbaren Naturnotwendigkeit des Geschehens. Ich habe unlängst an anderer Stelle (12) Gelegenheit gehabt, darauf hinzuweisen, daß das auf einer Verwechslung der Standpunkte des sozialen Theoretikers, der nur eine kausale Notwendigkeit kennt und dem des politisch Handelnden beruth, wenn man die freie Realisierbarkeit selbstgewählter Zwecke nicht zu vereinigen weiß mit dem Gedanken strenger Kausalität im sozialen Leben. In etwas anderer Fassung hat demselben Gedanken JOHN STUART MILL einmal einen klaren Ausdruck gegeben, wenn er sagt (13): "Die Lehre von der Abhängigkeit des sozialen Fortschritts von unabänderlichen Gesetzen ist in vielen Köpfen verbunden mit dem Glauben, daß der soziale Fortschritt durch die Anstrengung von Individuen oder durch die Maßregeln von Regierungen nicht in beträchtlichem Maß beeinflußt werden kann." Das ist ein Irrtum. "Daraus, daß alles, was geschieht, darunter auch menschliche Willensakte, die Wirkung von Ursachen ist, folgt nicht, daß Willensakte, selbst jene einzelner Individuen, nicht Ursachen von großer Wirksamkeit sein können." MILL verweist dann auf die Tätigkeit des Schiffsleiters in einem Seesturm und fährt fort: "wie ausnahmslos auch die Gesetze der sozialen Entwicklung sein mögen, sie können nicht ausnahmsloser oder strenger sein als die der Naturkräfte und doch kann der menschliche Wille diese in Werkzeuge seiner Absichten verwandeln und der Grad, in welchem er dies tut, macht den Hauptunterschied aus zwischen dem wilden und dem höchstzivilisierten Menschen."

In aller Politik, als einem "wirksamen Handeln" lassen sich darum auch als die beiden wesentlichen Bestandteile unterscheiden: der Zweck und die Mittel zu seiner Verwirklichung. Sofern dieser Zweck als  ein besserer,  verglichen mit dem bestehenden als erstrebter Zustand erscheint, insofern er dem realen  status quo  als in der Ideenwelt fertiger vergleichsweise gegenübergestellt wird, können wir ihn als das politische  Ideal  bezeichnen, dessen Verwirklichung die politischen Maßnahmen herbeiführen sollen.

Vom politischen Ideal zu sprechen, ist im folgenden unsere Absicht.

Welches - so müssen wir zuerst fragen - kann wohl überhaupt die Stellung der Wissenschaft diesem gegenüber sein? Offenbar eine zweifache: die Wissenschaft kann das Ideal in seiner Notwendigkeit oder in seiner Freiheit betrachten. Sie kann es entweder als kausal bedingt in seiner Entstehung nur erklären: genetische Betrachtungsweise; oder sie kann es in seinem Wert und seiner Bedeutung abschätzen, beurteilen: kritische Betrachtungsweise. Letztere hat wiederum zur stillschweigenden Voraussetzung den Glauben an die Möglichkeit einer wirksamen Änderung der Richtung politischen Handelns, da ohne diesen Glauben die Kritik ein müßiges rein akademisches Gerede sein würde. Wir ich mir die bisher arg vernachlässigte Lehre von der kausalen Notwendigkeit insbesondere parteipolitischer Ideale denke, habe ich in der oben schon erwähnten Schrift (14) in Bezug auf das modern-proletarische Ideal entwickelt.

Hier dagegen will ich der kritischen Betrachtungsweise einige neue Seiten abzugewinnen suchen. Da muß ich nun im vornherein meinen Standpunkt dahin präzisieren, daß ich der wissenschaftlichen Kritik dem politischen Ideal gegenüber nicht die Rolle des wegweisenden Führers zuerteile. In einer der bedeutendsten neueren Erscheinungen auf dem Gebiet der Sozialphilosophie, in dem oben schon erwähnten Buch STAMMLERs, ist der Versuch unternommen, die Lehren der kantischen Ethik von der "regulativen Idee" für das soziale Leben fruchtbar zu machen. Es ist von STAMMLER das Wesen der sozialen "Gesetzmäßigkeit" in der (teleologischen) Beziehung sozialen Einzelgeschehens auf das objektiv einheitliche Ziel allen sozialen Geschehens, das als ein a priori das wissenschaftliche Denken aufzustellen hat, gefunden worden. Diesen Standpunkt halte ich deshalb für verfehlt - zu einer eingehenden Widerlegung ist hier nicht der geeignete Ort, deshalb müssen einige wenige Bemerkungen genügen - weil er der Sphäre der Erkenntnis ein Gebiet menschlichen Daseins zuweist, das überwiegend nicht in sie fällt. Alles politische Streben hat seine letzten Gründe in der gesamten Welt- und Lebensauffassung der einzelnen, diese aber reicht mit ihrem letzten Ende in das metaphysische Gebiet des Glaubens hinüber, in das ihr die Erkenntnis nicht zu folgen vermag. Der schon oft hervorgehobene Widerspruch der kantischen Ethik, daß sie zuletzt das Lebenswerk ihres großen Schöpfers wieder aufhebt, indem sie die der menschlichen Erkenntnis in der Vernunftkritik gezogenen Grenzen überschreitet und für die Ethik den ontologischen Beweis wieder hereinbringt, der für die Religion aus der Wissenschaft herauseskamotiert war, dieser Widerspruch ist es auch, der die Beweisführung STAMMLERs durchzieht.

Wenn es richtig ist, daß die "Gesetzmäßigkeit" des Erkennens nur in der eindeutigen Form unseres Denkens begründet ist, so ist es nicht minder sicher, daß eine solche "Gesetzmäßigkeit" wie überhaupt für menschliches Handeln, so insbesondere für das politische Wirken nicht aufzufinden ist, eben weil jene Eindeutigkeit des "letzten" Zieles mangelt. Wir können wohl denjenigen, der die Kategorie der Kausalität nicht kennen oder anerkennen will, als Sonderling, Starrkopf oder Idioten unbeachtet zur Seite stehen lassen, dürfen aber nicht ein Gleiches wagen dem gegenüber, der eine der unsrigen entgegengesetzt Weltanschaunng verteidigt. Warum ich auf die "Gesellschaft frei wollender Menschen" und nicht zum Exempel auf eine NIETZSCHE "Kulturdüngertheorie" oder eine mystische Sklavenmoral mein soziales Streben einstellen soll, wird mir kein Mensch "beweisen" können und gäbe er sich noch viel mehr Mühe als es STAMMLER getan hat, deshalb einfach nicht, weil es sich hier nicht um die Erkenntnis des Richtigen oder Falschen, d. h. des den einheitlichen Gesetzen menschlichen Denkens Konformen oder Widersprechenden handelt, sondern um den Entscheid für einen im wesentlichen durch mein Empfinden bestimmten Standpunkt, dessen Annahme noch lange nicht meine Verstoßung in die  turba  [Haufen - wp] der Schwach- oder Starrköpfe rechtfertigt.

Wenn nun aber auch die Wissenschaft aus diesem usurpierten Bereich vertrieben wird, so ist ihr damit keineswegs alle Kritik des politischen Ideals versagt. Ihre Aufgaben diesem gegenüber snd im Gegenteil noch immer sehr zahlreich und sehr wichtig, auch wenn sie darauf verzichtet, "letzte Ziele" zu oktroyieren.

Was eine kritische Lehre vom politischen Ideal zu leisten vermag, ist hauptsächlich dieses: zunächst und vor allem gerade im kantischen Sinn "Kritik" zu üben, d. h. die Grenze des Beweisbaren zu ziehen; sodann aber innerhalb der Sphäre des "Beweisbaren", d. h. des der wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglichen Gebietes ordnend und klärend zu wirken. Da gibt es vielerlei zu tun: Irrtümer, Widersprüche, Halbheiten in der Gestaltung des Ideals sind aufzudecken. Dieses selbst ist in formal einheitlichem Aufbau zu konstruieren und darzustellen. Dann sind die Beziehungen des Ideals auf jedem einzelnen Gebiet - z. B. dem sozialpolitischen - zu anderen Idealen - z. B. dem ethischen - nachzuweisen, ist die Frage zu prüfen nach der Abhängigkeit des Einzelideals von letzten Zielen usw.

Betreffen diese Untersuchungen mehr die formale Gestaltung eines Ideals, so ist auch sein Inhalt kritisch zu prüfen: es ist zu zeigen, daß ein bestimmtes Ideal utopisch ist, weil im Widerspruch befindlich mit objektiv zwingenden Tatsachen, so daß ein anderes notwendig wird, will man nicht bestimmte andere Zwecke erreichen oder weil eine Reihe von Umständen unabänderlich feststeht usw. usf.

Wie diese wenigen Andeutungen zeigen, hat hier die Wissenschaft vom Ideal noch große Aufgaben vor sich, Aufgaben fruchtbaren und gewiß auch wirksamen Schaffens. Denn so sehr auch letzten Endes, das war es ja, was wir gerade an den Anfang unserer Betrachtung stellten, die Wahl des Ideals und die Richtung des politischen Strebens unabhängig von den Lehrsätzen der Wissenschaft durch das Interesse, durch die aus der Umgebung folgende Weltauffassung der einzelnen und der Klassen bestimmt werden mag: sicherlich wird jene Erleuchtung durch die Wissenschaft vor Fehlgängen bewahren, die Sicherheit klaren Strebens erhöhen, Unentschiedene, Schwankende aufklären, unparteiische Regierungen - wenn es solche gibt - auf die Bahn des Fortschritts drängen können.

Des Fortschritts? zeigt denn die Wissenschaft, wo dieser liegt? Gewiß nicht. Aber der Träger der Wissenschaft - das darf niemals vergessen werden - ist selbst ein lebendiger Mensch, und wenn nicht völlig ausgedorrt, selbst ein Mensch mit lebendigen Idealen, in deren Richtung für ihn der Fortschritt zu liegen scheint. Und wie niemand darauf wird verzichten mögen, den andern von den Vorzügen des eigenen Ideals zu überzeugen, dem andern seinen Willen aufzuzwingen, so auch nicht der lebens- und strebensfrohe Gelehrte. Er wird sich nicht der Hoffnung berauben lassen wollen, daß schon die Klärung der Situation, wie er sie mit den nur ihm eigenen Mitteln vorzunehmen vermag, dazu beitragen könne, die Richtung des politischen Handelns zu beeinflussen. Aber darum soll er umso schärfer die Grenze einhalten zwischen Wissenschaft und Wirken. Soll er offen und ehrlich bekennen, wo er aufhört, den Leser und Hörer durch die zwingende Gewalt seiner logischen Deduktionen zu führen, wo er sich nicht mehr an seine Erkenntnis sondern an seinen Willen wendet. Dann mag er die ganze, eigene Persönlichkeit, die eigene Weltanschauung und Lebenserfahrung, die Wucht der eigenen Beredtsamkeit einsetzen, - wenn sein Temperament ihn dazu treibt -, umd die Willensrichtung des andern in die Bahnen eigenen Strebens einzulenken: nur der Täuschung soll er sich nicht schuldig machen, als ob er damit noch eine wissenschaftliche Erkenntnis förderte. Er spricht und handelt dann nämlich als Mensch und nicht als Forscher. Und wenn auch im Leben diese Unterscheidung oft genug schwierig, ja häufig unmöglich sein mag - in der Theorie muß sie mit aller Schärfe aufrechterhalten werden. Und jeder, der von den Idealen der Politik wissenschaftlich handeln will, muß sich ihrer stets bewußt bleiben. Sonst trübt er die klare Erkenntnis durch die achtlose Beimischung von Elementen seiner rein persönlichen, in ihrer Richtigkeit oder Falschheit unerweislichen Überzeugung.

Das ist das Programm, nach dem wir nun im folgenden versuchen wollen, einiges Wissen vom sozialpolitischen Ideal insbesondere zu verbreiten.


III.

Es darf durchaus als die  herrschende Auffassung  bezeichnet werden die Überzeugung, daß die Ideale der Sozialpolitik nicht dem Wirtschaftsleben selbst zu entnehmen sind, sondern anderen Sphären, daß wirtschaftspolitische Strebungen somit nicht an den Bedürfnissen des Wirtschaftslebens selbst, sondern an anderen Postulaten der Menschheit ihren Maßstab fänden.

Die Gebiete, denen gewohnheitsmäßig die Ideale der Sozialpolitik entnommen werden, sind die Ethik und die Religion; zu ihnen haben sich neuerdings die Rassenhygiene und der Nationalismus gesellt, welche ebenfalls Herrschaftsansprüche an die Sozialpolitik erheben. Aber so verbreitet auch immer dieser fremdherrliche Standpunkt sein mag, es wäre weit gefehlt, wollte man annehmen, daß er als ein einheitlicher und bei allen seinen Vertretern als ein klarer erscheint. Folgendes dürften die hauptsächlich in Betracht kommenden Einzelauffassungen sein:

Der  ethisch-soziale  Standpunkt ist im wesentlichen derjenige der sogenannten "ethischen" Nationalökonomie und der von ihr inspirierten kathedersozialistischen Politiker. Er wurde bekanntlich begründet in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in Reaktion gegen das Vordringen des Kapitalismus von Franzosen wie SISMONDI und Engländern wie CARLYLE und feierte dann eine Renaissance Anfang der 1870er Jahre in Deutschland, wo er den breitesten Spielraum gewann, weil ihm die bürokratische Vergangenheit Deutschlands, insonderheit Preußens die festeste Stütze gewährte. Neuerdings scheint die Zeit der "ethischen" Nationalökonomie für Italien erfüllt zu sein. Die Vertreter dieses Standpunkts in Deutschland sind bekannt; es sind unsere namhaftesten Nationalökonomen: WAGNER, SCHMOLLER, COHN u. a. wie unsere einflußreichsten Minister. Der jüngste ethische Nationalökonom von Relevanz ist STAMMLER, der merkwürdigerweise seine Deszendenz [Abhängigkeit - wp] vom Kathedersozialismus gar nicht zu kennen scheint, da er die von ihm verteidigte (ethisch-teleologische) Betrachtungsweise sozialen Geschehens, die in der offiziellen Nationalökonomie durchaus vorherrscht, für neu hält. Das Gemeinsame in der ethisch-sozialen Auffassung ist wohl dieses: dem bestehenden Zustand des sozialen Lebens treten wir mit dem Maßstab des sittlichen Ideals gegenüber. Finden wir Abweichungen von diesem, ergeben sich Übelstände, d. h. sittlich unvollkommene Gestaltungen des wirtschaftlichen Daseins, so fordern wir deren Beseitigung namens der Gerechtigkeit; es gitl, "die einzelnen Stücke des Fortschritts in den Zusammenhang des Ganzen zu setzen, die Widersprüche einseitiger Entwicklungen zu den Anforderungen der Gesamtheit zu lösen, die Harmonie der individuellen Entfaltung mit dem Maßstab des Ganzen herzustellen, die naturellen, technischen, intellektuellen Fortschritte auf die Höhe der sittlichen Zwecke aller menschlichen Entwicklung zu heben." (15) Der Appell richtet sich an die Staatsgewalt als die Hüterin des ewigen Feuers der Sittlichkeit. Die Ableitung des Sittlichen ist bei den einzelnen Ethisch-Sozialen verschieden. Während STAMMLER, wie oben schon angedeutet wurde, das aprioristische Formalprinzip der regulativen Idee aus der kantischen Ethik herübernimmt, scheint die Mehrzahl der modernen Kathedersozialisten auf dem Boden einer relativistischen Ethik zu stehen. Darauf lassen zumindest die häufig in ihren Schriften wiederkehrenden Ausdrücke wie "Niederschlag der sittlichen Ideen", "Fluß der sittlichen Anschauungen" usw. schließen. Ich sage absichtlich "scheint". Denn eine methodisch einwandfreie Begründung des ethischen Standpunkts aus kathedersozialistischen Kreisen ist mir nicht bekannt. Merkwürdigerweise kommt das ethisch-soziale Hauptwerk, jenes oben erwähnte Buch COHNs, mit keinem Wort darauf zu sprechen, woher denn jener Maßstab des Sittlichen stammt, an dem alles soziale Geschehen gemessen werden soll.

Bei den Religiös-Sozialen, oder, da das Christentum für die Gegenwart wohl als einzige Religion in Betracht kommt, von der Sozialpolitik Nahrnung empfängt, wie wir auch sagen können: bei den  Christlich-Sozialen  müssen wir die beiden Richtungen der evangelischen und katholischen Sozialpolitiker unterscheiden. Auch hier holt Deutschland wie bekannt nur nach, was die fortgeschritteneren westeuropäischen Nationen vor mehreren Menschenaltern bereits begonnen haben. Trotzdem will ich mich an die Stimmen aus der deutschen Gegenwart halten, um die gemeinten Richtungen zu charakterisieren.

Die christliche Religion hat auch erst ihre soziale Färbung angenommen, seitdem es in dem alten Gemäuer der europäischen Staaten zu krachen begonnen hatte. Und noch heute gilt die Inbeziehungsetzung der Lehren der Religion und der Einrichtungen der Kirche zu den sozialen Problemen, wie bekannt, durchaus noch nicht als selbstverständlich. Was früher die christliche Kirche und ihre Vertreter charakterisierte und was noch heute in weiten Kreisen als  de rigueur  [unentbehrlich - wp] für Diener der Kirche gilt, ist das, was ich den  sozialen Indifferentismus  nennen will. Von diesem Standpunkt aus erscheint die wirtschaftliche Lage des einzelnen, ebenso wie die aus der sozialen Ordnung folgende Gesamtlage ganzer Klassen als eine gegebene Tatsache, an der die Kirche nichts zu ändern hat. Sie betrachtet es vielmehr als ihre Aufgabe lediglich - außer vielleicht Barmherzigkeit gegen die Armen zu üben - Trostz zu spenden und zu erbauen, wo auch immer in irgendeiner Sphäre des sozialen Lebens das Bedürfnis danach rege wird: ganz gleich, ob im Salon des Geheimen Kommerzienrats oder in der Dachkammer der armen Näherin. "Kommet her zu mir alle, die Ihr mühselig und beladen seid; ich will Euch erquicken" - ist der Wahlspruch dieser Richtung (16). Selbstverständlich lehnen ihre Vertreter es auch ab, aus den Lehren des Christentums irgendeine Anweisung zur Herbeiführung bestimmter sozialer Ordnungen zu entnehmen. Die gegebene ist die von Gott gewollte: der normale Standpunkt der Kirche in allen Zeiten annähernd stabiler oder nur langsam sich umgestaltender Wirtschaftsverhältnisse, wie sie bis in unser Jahrhundert hinein doch vorherrschen. "Sozial" wird das Christentum, sobald es diesen Stand der Unschuld aufgibt und irgendeine Beziehung zwischen ihren Heilswahrheiten und dem äußeren Dasein der Menschen anerkennt. Ich sage absichtlich "irgendeine Beziehung", weil in der Tat die Meinungen längst noch nicht geklärt sind, welcher Art diese Beziehungen sein sollen. Bei dem im Augenblick besonders regen Interesse an christlich Sozialem dürfte es sich rechtfertigen, wenn wir einige Bemerkungen zuz diesem Punkt hier machen.

Offenbar kann die Stellung der Religion zu den sozialen Problemen, auch wo sie aufgehört hat, indifferenz zu sein, sich sehr verschieden gestalten. Die möglichen Standpunkte sind diese:
    1. die Kirche (wie ich der Kürze halber fortan sagen will) erkennt Übelstände im sozialen Leben an und versucht ihre Beseitigung nicht durch sozialen Reformen, sondern durch die Verbreitung eines anderen, des christlichen, Geistes;

    2. die Kirche hält Änderungen der sozialen Ordnung, d. h. soziale Reformen für notwendig; dann stellt sie sich diesen gegenüber so, daß sie

      a) lediglich Anregung gibt durch die Weckung eines Interesses, ein Wachrufen des Gewissens der Herrschenden, die Pflege altruistischer Regungen etc., also ungefähr die Gesichtspunkte für die soziale Reform angibt, ohne sich über deren genaues Programm zu äußern;

      b) den Inhalt der Reformen selbst aus den Lehren des Christentums ableitet, sei es - analog den verschiedenen Auffassungen der Ethik - absolutistisch: nach einem unwandelbaren Urbild menschlicher Gesellschaftsordnung, sei es relativistisch: den Zeitumständen entsprechend (17).
Wohl am einheitlichsten und verhältnismäßig klarsten ist der Standpunkt der  Katholisch-Sozialen.  Sie nehmen sämtlich ihren Ausgangspunkt von einem unwandelbaren (materiellen) Naturrecht, aus dem sie zumindest die Prinzipien jeder sozialen Ordnung, meist auch die Gestaltung der sozialen Ordnung selbst ableiten. Das katholische "Naturrecht" ist ein geoffenbartes, göttliches, das seine systematische Ausbildung wenn nicht in der Bibel so in den Schriften der kirchlichen Autoritäten, vor allem in denen des heiligen THOMAS von AQUINO gefunden haben.

Zur Kennzeichnung dieses klaren Standpunktes mögen einige Auslassungen katholischer Sozialpolitiker dienen: Freiherr von HERTLING äußert sich in seiner schon erwähnten Schrift (18) darüber wie folgt: "Eine Sozialpolitik, welche die scharfe Orientierung an den unveränderlichen Grundsätzen der Sittlichkeit und des Rechts fehlt, wird unausweichlich in die Irre gehen" (Seite 7). "Die Anerkennung eines in der Natur begründeten und darum ein für allemal gegebenen und jedem Wandel der gesellschaftlichen Entwicklung entrückten Rechts ... (ist die) Grundlage einer sicheren und zielbewußten Sozialpolitik (Seite 21); der Inhalt dieses Naturrechts stammt aus dem göttlichen Weltenplan" (Seite 36).

Der bekannt Jesuit THEODOR MEYER entwickelt in einer lesenswerten neueren Schrift (19) den gleichen Gedankengang: "Von der Stelle, welche die unwandelbaren ethischen und religiösen Prinzipien im sozialen Heilungsprozeß einnehmen, hängt ... die Beantwortung der Frage ab, ... ob unter den gegenwärtigen Verhältnissen ein friedlicher Austrag der sozialen Fragen überhaupt noch wahrscheinlich oder möglich sei" (Seite 8). "Die soziale Frage (ist nur) gedeihlich zu lösen ... aufgrund der Wahrheit und der von Gott gesetzten und gewollten sittlich-religiösen Weltordnung" (Seite 11). Das ewige Gottesgesetz der sittlichen Ordnung ist "das einzig Unvergängliche und Feste im Strom alles Vergänglichen" (Seite 13). "Wie in jedem anderen Werk Gottes, so muß auch im Wesen der Gesellschaft der weise Plan ihres Urhebers erkennbar sein und als Maßstab ihrer Bestimmung wie ihrer zweckdienlichen und ersprießlichen Einrichtung dienen können" (Seite 42). Die Gesellschaft selber ist zu gestalten in einer auf das ewige Leben gerichteten Zweckmäßigkeit (Seite 67); es gibt eine "objektive gesellschaftliche Gottesordnung" (Seite 111). "Die natürliche soziale Ordnung nach Gottes Gesetz als der obersten Rechtsnorm, die auch der Staat als solche anzuerkennen hat, das muß der Ausgangspunkt und das Prinzip des objektiven Naturrechts sein" (Seite 117).

Wie aus diesen Zitaten schon ersichtlich, folgert der Verfasser - ohne es übrigens im einzelnen auszuführen - aus dem geoffenbarten Naturrecht eine positive soziale Ordnung. Deutlicher spricht sich darüber z. B. der Artikel "Handwerk" im Staatslexikon (20) aus: "Wiederherstellung der Gesellschaft, diese Forderung der christlichen Soziallehre, ist auch Wiederherstellung des Mittelstandes, des Handwerks" (Seite 146). Anzustreben ist "die ständisch gegliederte Gesellschaft". (21)

Ob die Religion zu der geforderten Ordnung im Verhältnis der  Ursache  (Postulierung bestimmter gesellschaftlicher Zustände namens ihrer) oder des  Zwecks  steht (Geeignetheit einer bestimmten Ordnung für die Pflege religiöser Gesinnung) ist nicht immer deutlich erkennbar. Häufig wird beides zugleich gedacht sein. Am klarsten sehe ich diesen katholisch-sozialen Standpunkt in Italien vertreten, wo die Geister von meinem verehrten ersten Lehrer, GUISEPPE TONIOLO in Pisa, einem außergewöhnlich klaren Kopf, geführt werden. Es sei mir gestattet, einiges zum Beleg noch aus der italienischen, katholisch-sozialen Literatur anzuführen.

Das Programm der "Katholiken gegenüber dem Sozialismus" wurde 1894 von TONIOLO festgestellt. (22) Der Gedankengang des Programms und aller es erläuternden Schriften (vgl. die Anm.) ist dieser: Aufgrund eines ewigen Ideals wird eine  bestimmte  soziale Ordnung verlangt; das göttliche Gesetz ist niedergelegt in der heiligen Schrift, systematisiert und erläutert im  Corpus juris canonici (23). Die bestimte soziale Ordnung wird erfordert:
    1. (als Zweck) weil die christliche Religion bestimmte soziale Beziehungen gutheißt, andere (z. B. Interessengegensätze) verdammt;

    2. (als Mittel) weil bestimmte soziale Ordnungen eine bessere Garantie für die Pflege des christlichen Geistes gewähren als andere (24).
Es gilt also eine "Restauration der Gesellschaft" im christlichen Sinne. Die Unterwerfung der Sozialpolitik unter das religiöse Ideal ist vollständig vollzogen. Und die Worte eines anderen katholischen Schriftstellers (25) gelten als Motto dieser Richtung: "Unter allen Zentren moralischer Kraft, die wir kennen, erscheint die Kirche als die einzige, die machtvoll genug ist, die Elemente für eine soziale Wiedergeburt zu liefern. Die Kirche allein hat das Recht und die Fähigkeit, die wahren sozialen Gesetze zu verkünden." (26)

Nicht ebenso einheitlich und klar erscheint mir der Standpunkt der  Evangelisch-Sozialen. 

Am meisten der katholisch-sozialen Auffassung angenähert war wohl die Stellung TODTs (27). Was er beabsichtigte, war "eine Darstellung des sozialen Gehaltes des Christentums und der sozialen Aufgaben der christlichen Gesellschaft aufgrund einer Untersuchung des Neuen Testaments" (28). TODT wählte die heilige Schrift nicht nur als Grundlage und Ausgangspunkt aller evangelisch-sozialen Reformarbeit, sondern glaubte auch aus ihren Lehren die Grundzüge einer neuen Gesellschaftsorganisation - die dem "Sozialstaat" so ähnlich sah wie ein Ei dem andern - ableiten zu können. Eine prinzipiell gleiche Auffassung finden wir in dem evangelisch sozialen Kompromißprogramm vom 1893 wieder (29). Gegen sie wendet sich nun die jüngere Richtung der Evangelisch-Sozialen. GÖHRE (30) rechnet es STÖCKER als ein Hauptverdienst an, daß er jeden Versuch vermeidet, "das neue Programm direkt aus dem sittlichen, religiösen sowie sozialen Inhalt der Bibel zu entwickeln" und hält es (Seite 131) für einen Irrtum, "eine Art evangelischer Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspraxis schaffen zu können." Also als Arsenal für soziale Reformpläne soll die Bibel nicht dienen? Als was dann? Das ist bisher noch nicht mit genügender Deutlichkeit ausgesprochen. Entnehmen die "Jungen" die Anregung zu ihren "sozialen Reformen im großen Stil zugunsten aller kleinen notleidenden Leute" (31) den Lehren des Christentums? Wenn man die "Hilfe" liest, sollte man es meinen, und wer sich des Schlußkapitels der "Drei Monate Fabrikarbeiter" erinnert, wo GÖHRE den evangelisch-sozialen Kongreß mit der Waffe der "Ethik des Evangeliums" ausgerüstet und zu einer "sozial-ethischen Instanz" erhoben sehen möchte, (32) dürfte ebenfalls zu dieser Annahme gedrängt werden. Dann aber wiederum wird es als ein Vorzug der STÖCKERschen Richtung bezeichnet, (33) daß sein Programm aus rein politischen, sozialen und moralischen Erwägungen aufgrund der ökonomischen Wissenschaft entstanden und jeder direkte Ausgangsversuch von der Schrift her glatt vermieden wurde. Also woher stammen Ideal und Programm der neueren evangelisch-sozialen Bewegung, was liefert ihr den Maßstab für die sozialen Reformen, die sie anstrebt: die Lehren des Evangeliums oder die kathedersozialistische Ethik oder welcher Standpunkt sonst? Die Scheidung, die GÖHRE in seinem mehrfach erwähnten neueren Buch vornimmt (34), in die "sozialethische" und die "sozialpolitische" Richtung schafft auch keine größere Klarheit. Denn es frägt sich immer noch: wonach orientiert sich die "sozialpolitische" Richtung. Für sie soll das "Ausgangsgebiet" "mehr das bloße christliche Bewußtsein" bilden (Seite 175I. Bei ihr soll zu rechnen sein "neben sozialethischen Gedanken" "vor allem" mit "volkswirtschaftlichen Tatsachen", "nationalökonomischen Grundsätzen" usw. (Seite 175/76). Hervorwachsen soll aus ihr "eine christlich gerichtete Reformpartei aller kleinen Leute" (Seite 176). Dann wieder wird als "Helfershelferein" für die neue Reformpartei die "neuere deutsche Nationalökonomie" angerufen, der übrigens bei dieser Gelegenheit ein recht trauriges Lob gesungen wird. Sie stelle sich "ausschließlich auf den Boden der wirtschaftlichen Wirklichkeit" (Seite 183) und mache "Reformvorschläge von Fall zu Fall" (Seite 184). "Und da sie - ein ruhmvoller Charakterzug an ihr - durch und durch  ethisch  bestimmt ist, so zeigen diese ihre Vorschläge erst recht tiefste Verwandtschaft mit den Reformgedanken der evangelisch-sozialen Reformpartei, die erstehen soll." Nun kann zwar eine "Wissenschaft" und wäre es selbst eine "neuere, deutsche Nationalökonomie", keine Ideale für politisches Handeln liefern, wohl aber ihre Vertreter; also sollte man meinen, daß sich die neue Reformpartei die kathedersozialistischen Ideale zueigen macht. Dagegen spricht nun wieder das auf Seite 186f Ausgeführte, wo auf die Ideale des Christentums zurückgegriffen wird: die Partei muß wahrhaft  christlich  sein. "Und zwar in dem Sinne, daß sie den gesamten sittlichen und religiösen Inhalt des Evangeliums auch im wirtschaftlichen und sozialpolitischen Getriebe unseres Volkes mit rücksichtslosem Mut zur Geltung und Anwendung zu bringen sucht." Es ist "das höchste evangelisch-soziale" Ziel, "die Liebe  Jesu  auf unser Wirtschaftsleben zur Anwendung zu bringen" (Seite 186). Und: "das Christentum muß ... ihrem sozialpolitischen Handeln das letzte Ideal geben" (Seite 187). Offenbar ist hier in den früher so standpunktsicheren GÖHRE kathedersozialistischer Geist eingezogen und hat ihn schwankend und unsicher gemacht. Der Christlich-Soziale ist eine Art Vernunftehe mit der "ethischen Nationalökonomie" eingegangen. Er fühlt nun das Bedürfnis, für den Nachwuchs wenigstens das Recht des eigenen Standpunkts, die "Religion des Vaters" zu sichern. Aber allem Anschein nach hat in dieser Ehe die Frau das Heft in den Händen! Das Ganze gewährt keinen erfreulichen Anblick. Vielleicht daß meine folgenden kritischen Ausführungen einige Klarheit in die recht dunkle Situation bringen werden.

Ehe ich jedoch zu diesen übergehe, sei noch in Kürze des neuesten Prätendenten [Anspruch Erhebenden - wp] auf die Herrschaft im Reiche der Sozialpolitik Erwähnung getan: des  Rassenhygienikers.  Es ist mit vollem Recht in jüngster Zeit die Frage aufgeworfen worden: ob denn die modernen, "humanen" Bestrebungen insbesondere zum Schutz der sogenannten "Schwachen" leicht unsere Rasse körperlich und seelisch zu degenerieren drohen und damit den Anfang vom Ende aller menschlichen Kultur bedeuten würden. Es wird alsdann aufgrund solcher Erwägungen das Postulat aufgestellt, daß die "Sozialpolitik" vor allem die "Tüchtigkeit unserer Rasse" zu bewahren und zu fördern geeignet sein muß.

Die dieses Problem behandelnden Bücher sind sicherlich für den Sozialpolitiker ein überaus beachtenswertes Material (35).

Die Verfasser werden vielleicht erstaunt sein, wenn ich ihnen "Ideale" imputiere, wo sie doch glaubten exakt zu beweisen. Tatsächlich handelt es sich aber um nichts anderes, als um ein bestimmtes Ideal, das für die Politik einen Richtpunkt bilden soll. Auseinandersetzen kann ich mich mit dieser mir in ihren Grundzügen überaus sympathischen Richtung erst dort, wo ich eingehend über den "Schutz der Schwachen" in der Sozialpolitik handeln werden. Zunächst gilt es die prinzipielle Frage zu beantworten: vermag die Rassenhygiene oder die Religion oder die Ethik oder sonst eine fremde Disziplin in befriedigender Weise für die Sozialpolitik Ziele zu setzen, wollen wir die Fremdherrschaft des Ideals in der Sphäre der Sozialpolitik anerkennen oder dieser Autonomie zurückgeben. (36)


IV.

Meine Antwort auf die in den letzten Sätzen aufgeworfene Frage sei hier gleich im Voraus gegeben:
    Ich halte die herrschende Auffassung, wonach die Sozialpolitik aus fremden Disziplinen ihre richtungsweisenden Ideale zu entnehmen hat, für verfehlt, fordere vielmehr die Autonomie des sozialpolitischen Ideals. 
Die Begründung dieses Standpunkts wird in zwei Teile zerfallen müssen; im ersten führe ich den Nachweis, daß die Fremdherrschaft des Ideals auf dem Gebiet der Sozialpolitik nicht notwendig und unvermeidlich, sondern nur möglich, im zweiten, daß sie zwar möglich aber nicht zweckmäßig ist.


1. Die Heteronomie in der Sozialpolitik
ist nicht notwendig.

Es ist bei vielen Sozialtheoretikern die Meinung verbreitet, ein von außen her der Sozialpolitik gestecktes Ziel sei das allein mögliche, jene Fremdherrschaft sei also unvermeidlich. Diese Ansicht, wenn auch in wesentlich verschiedener Form, finden wir vertreten bei Rassenhygienikern nicht weniger als bei Religiös- und Ethisch-Sozialen. Prüfen wir, ob die zu ihrer Begründung beigebrachten Argumente stichhaltig sind.

Die  Rassenhygieniker,  wie wir oben schon sahen, sind durchgängig naturwissenschaftlich vorgebildete Männer. Es liegt ihnen der Gedanke nahe, bestimmte Zustände der Gesellschaft, z. B. also diejenigen, welche den Anforderungen der Rassenhygiene am meisten entsprechen, mit der Würde der "Naturgesetzlichkeit" zu bekleiden, das Verfolgen des rassenhygienischen Ideals daher auch als etwas Selbstverständliches anzusehen, über das sich überhaupt nicht diskutieren läßt. Das ist unklar gedacht. Irgendeine Gesellschaftsordnung "auf natürlicher Grundlage", die kraft Naturgesetz besteht, gibt es nicht. Wer das bisher noch nicht eingesehen hatte, braucht beispielsweise nur das Buch von OTTO AMMON zu lesen, das ich oben bereits erwähnte. Dort wird jene "natürliche" also notwendige Gesellschaftsordnung gründlich  ad absurdum  geführt. Denn wer möchte sich des Lächelns noch erwehren, der erfährt, daß in einer solchen "auf Naturgesetz" beruhenden Gesellschaft u. a. Großhandelskaufleute, Lohnartbeit und Rentiers [Zinseinkünftler - wp] notwendige Requisiten sind (37). Das erinnert an die schlimmsten Zeiten einer unreifen, apologetischen [rechtfertigenden - wp] "Vulgärökonomie", die wir doch eigentlich jetzt überwunden haben sollten. Übrigens glaube ich, meint der Verfasser des genannten Buches im Grunde etwas gar nicht so Verkehrtes als er sagt. Vielleicht will er nur dem Gedanken Ausdruck geben, daß die bestehende Ordnung unserer Gesellschaft ungefähr den Fähigkeiten der lebenden Menschen entsprechend gegliedert ist, ein Gedanke, wie ihn auch SCHMOLLER vertritt und über den sich jedenfalls disputieren läßt, während sich für jeden nicht gänzlich im Stand der Unschuld lebenden Sozialphilosophen jene ungeheurliche Idee von der "Naturgesetzlichkeit" der Börse und der Rentiers überhaupt außerhalb der diskutablen Gegenstände befindet.

Aber auch nur, daß man das Ideal der Rassenhygiene, also des Wohlergehens der Gattung  notwendig  von vornherein allen übrigen voranzustellen habe, wie es mir z. B. ALFRED PLOETZ hie und da in seinem Buch anzunehmen scheint, halte ich für eine unerwiesene Annahme. Das "Wohl der Gattung" ist zunächst kein Ziel höherer Ordnung als irgendein ihm entgegengesetztes, wie etwa das des individuellen Glücks. Es tritt unter Umständen das eine Ideal mit dem andern in Konflikt, wie es die Dichtung schon in feinfühliger Weise zur Darstellung zu bringen versucht hat, ich denke beispielsweise an GERHART HAUPTMANNs Erstlingswerk - und erst die Wucht der Argumente entscheidet über den Sieg des einen oder des anderen. Gewiß will ich nicht bestreiten, daß das Ideal der Rassenhygiene möglicherweise die Priorität seiner Geltung allen übrigen Idealen, also z. B. auch dem sozialpolitischen gegenüber erweisen kann, sofern seine Erfüllung als  conditio sine qua non  [Grundvoraussetzung - wp] der Erreichung irgendeines anderen Zwecks erscheint: worüber weiter unten noch zu sprechen Gelegenheit sein wird. Aber diese Notwendigkeit, die mit praktischer Notdurft ungefähr identisch sein würde, war nicht die hier gemeinte und bekämpfte, die sich vielmehr als Naturgesetzlichkeit einschleichen wollte. Nur gegen diese richtete sich zunächst die Polemik. -

Daß die Sozialpolitik der Orientierung an einem von außen genommen Ideal nicht entraten kann, daß also die Fremdherrschaft des Ideals auf dem Gebiet der Sozialpolitik notwendig ist, scheint auch die Ansicht der  Katholisch-Sozialen  zu sein. Ich erinnere an die oben angeführten Stellen aus ihren Schriften. Nur daß sie auf eine ganz andere Art diese Notwendigkeit begründen: sie appellieren an den  Glauben Denn offenbar wird es keine andere Brücke als den Glauben geben können, die zur Annahme eines unwandelbaren, von Gott geoffenbarten, materialen Naturrechts führt. Ich wies schon einmal darauf hin, daß der katholisch-soziale Standpunkt sich durch große Schärfe und Klarheit auszeichnet, wie alle Lehren, die der unübertrefflichen Schule der Jesuiten entstammen. Die Katholisch-Sozialen haben in der Tat einen festen Punkt, von dem aus sie die soziale Ordnung in einer bestimmten Richtung gestaltet denken können. Freilich -  eine  Voraussetzung ist dazu nötig, um diesen festen Standpunkt gewinnen zu können: eben der Glaube an die Göttlichkeit jener "natürlichen" Gesellschaftsordnung, deren Verwirklichung das Ziel sein soll. Wo jener Glaube mangelt, versagt die katholisch-soziale Theorie vollständig. Die Wissenschaft kann dies nur feststellen. In irgendeine Diskussion über das letzte Ziel des sozialen Katholizismus vermag sie nicht einzutreten.

Mit wissenschaftlichen Argumenten dagegen fechten im wesentlichen die  ethisch-sozialen Nationalökonomen.  denen wir die Evangelisch-Sozialen ohne weiteres zurechnen können. Wenn sie daher die Notwendigkeit eines ethischen Ideals für die Sozialpolitik behaupten, so müssen wir ihre Beweisführung mit dem Maßstab wissenschaftlicher Kritik messen. Leider fehlt hier die bei den Katholiken so wohltuende Schärfe der Auffassung meist gänzlich. Sehen wir zu, was sich an klaren Behauptungen jener Schule feststellen läßt.

Soviel sich erkennen läßt, sind es vornehmlich zwei Erwägungen, die zu einer "Verethisierung" der Sozialpolitik Anlaß gegeben haben. Die erste ist die, daß auch das wirtschaftliche Handeln der ethischen Wertung unterliegt. Den Fachmann brauche ich etwa nur zu erinnern an den Streit zwischen LASSON und SCHMOLLER über den "sittlichen Charakter", der der Handlung des Einschlagens eines Nagels zukommt. SCHMOLLER behauptete damals, daß auch dabei ethischen Erwägungen Raum gegeben werden müsse. Oder an die Worte GUSTAV COHNs (38) von der "beliebten Ausscheidung des ökonomischen Handelns aus dem sonstigen Gebiet der Ethik" und der "daraus gefolgerten Exterritorialität des Eigennutzes". Die Gedankengänge der "ethischen" Nationalökonomie sind im übrigen zu bekannt, um hier erst eingehend dargestellt werden zu müssen. Die andere Erwägung, die zur Usurpation des sozialpolitischen Gebietes durch die Ethik geführt hat, ist die, daß ein blühendes Wirtschaftsleben oder wie es meistens heißt, eine möglichst reichliche Güterproduktion unmöglich das Endziel menschlichen Streben sein kann, daß vielmehr der wirtschaftliche Erfolg selbst nur Mittel zum Zweck eines im Licht der Ethik "menschenwürdigen" Daseins sein darf. Auch diese Ideenverbindung ist jedermann vertraut, der in der nationalökonomischen Literatur der letzten Jahrzehnte einigermaßen belesen ist. Sie stammt von den SISMONDI und CARLYLE und findet sich noch wieder in aller Reinheit im letzten Werk der ethischen Nationalökonomie, dem mehrfach erwähnten Buch STAMMLERs, wo abermals ausgeführt wird, daß "die Produktion" unmöglich "letzte Einheit" sein kann, nicht "den unbedingten Endzweck des sozialen Lebens abzugeben vermag" (39) usw. Woraus dann scheinbar konsequent geschlossen wird: also darf die Sozialpolitik nicht unter einem eigenen, sondern unter einem höheren Ideal, dem ethischen, betrieben werden. Aber nur scheinbar konsequent. Bei genauerer Prüfung finden wir, daß die Deduktion auf einem Trugschluß beruth.

Ohne weiteres sind die beiden Obersätze der Ethiker zu konzedieren. Es war natürlich ein schwerwiegender Irrtum der älteren Schule, die wirtschaftliche Handlung für sittlich indifferent zu erklären. Man hatte nicht allzu tief zu graben, um die Flachheit dieser Auffassung bloßzulegen. Ganz wenig philosophische Schulung reichte aus, jenes offenbare Mißverständnis aufzudecken. Selbstverständlich ist der Mensch als sittliches Wesen ein unzertrennbares Ganzes, das nicht in dieser Sphäre seiner Tätigkeit sittlich gewertet werden kann, in jener nicht. Selbstverständlich ist auch die unscheinbarste Handlungsweise, die rein technische Vornahme des Nagelns in den großen Zusammenhängen der sittlichen Gesamtpersönlichkeit zu setzen.

Ebenso siegreich mußte die "ethische" Nationalökonomie in der Kritik des krämerhaften Ideals der früheren Unternehmerökonomie sein. Es war eine starke Zumutung der von SISMONDI wohl zuerst mit dem Stichwort der  Chrematistik  [Kunst reich zu werden - wp] gegeißelten Richtung, das Menschheitsideal auf das Niveau des Ideals eines amerikanischen Schweinezüchters hinabschrauben zu wollen. Es bedurfte kaum des schweren Geschützes der kantischen Ethik, um eine weniger in den Vorstellungskreisen der Lombard Street befangene Generation von der Ungeheuerlichkeit zu überzeugen, die im alten Produktionsideal zutage trat: Menschen nämlich die Arbeiter zu Mitteln für sachliche Zwecke, nämlich die Menge der erzeugten Güter machen wollen; obwohl dieser Standpunkt nicht ganz so "unmenschlich" gewesen ist, als man ihn später gezeichnet hat. Das "letzte Ziel" war immerhin doch ein "humanes"; nämlich nicht dies seelenlose Massen von Gütern, sondern das sehr seelenvolle Portemonnaie der Unternehmerklasse sollte den "unbedingten Endzweck des sozialen Lebens" abgeben. Was hier im Vorbeigehen zur Ehrenrettung der alten Bourgeoisökonomie doch erwähnt werden sollte.

Aber was beweist das alles für die Frage: ob die Sozialpolitik ihr Ideal der Ethik zu entnehmen hat? Mir scheint: gar nichts.

Denn wie? Sind deshalb, weil alles menschliche Handeln der sittlichen Wertung unterliegt, alle Ideale für unser Tun ethische? Und wird jede unserer Tätigkeitssphären von ethischen Gesichtspunkten beherrscht, weil unser letztes Ziel vielleicht ein sittliches ist? Doch ganz und gar nicht. Vielmehr gilt es als selbstverständlich, daß Sonderideale die einzelnen Domainen unseres Tuns beherrschen, nur das wirtschaftliche Gebiet soll durchaus in Abhängigkeit von ethischen Erwägungen bleiben. Heilt etwa der Arzt den Kranken unter einem ethischen Gesichtspunkt? und richtet der Hygieniker sein Handeln nach den Vorschriften der Ethik? Ihr Ideal ist der normal funktionierende Körper des Menschen, der gewiß dann Träger sittlicher Ideen wird und sicher nicht absoluter Endzweck menschlichen Strebens zu sein braucht: der aber für sie den einzigen Orientierungspunkt ihrer Kunst bildet. Und wenn man die Tätigkeiten des Arztes und des Hygienikers dem Animalen zurechnen und daraus ihre unethischen Ideale erklären wollte: schafft der Künstler, forscht der Gelehrte nach ethischen Maximen? Finden beide nicht das Richtung gebende Ideal in ihrer eigenen Schaffensphäre? Ist für die Kunst ein anderes Ideal maßgebend als das der Schönheit, für die Wissenschaft ein anderes als das der Wahrheit? Beide sind nicht "ethisch" und doch sind beide Ideale für geistig menschliche Handlungen.

Also - was hier zu zeigen war: so gewiß auch jede wirtschaftliche, ja jede technische Handlungsweise ebenso wie das Tun eines Arztes, eines Künstlers, eines Gelehrten der sittlichen Wertung unterworfen werden kann, so wenig der wirtschaftliche Erfolg wie irgendein anderer Einzelerfolg menschlicher Tätigkeit der Endzweck unseres Daseins zu sein braucht: daß damit schon die Notwendigkeit bewiesen wäre, das Wirtschaftsleben nach ethischen Gesichtspunkten auszurichten, der Sozialpolitk ein aus der Ethik herübergenommenes Ideal zu oktroyieren, darf ganz und gar nicht zugegeben werden. Die  Möglichkeit  eines sozialpolitischen Sonderideals muß auf alle Fälle bestehen bleiben. Ebenso freilich zeigt schon die herrschende Auffassung auf der anderen Seite die  Möglichkeit  eines ethischen Ideals für die Sozialpolitik. Also erübrigt nun noch der zweite Teil unseres Plädoyers für die Autonomie des sozialpolitischen Ideals, in dem der Nachweis zu führen sein wird:

Wenn auch möglich, so doch nicht zweckmäßig.


2. Die Heteronomie in der Sozialpolitik
ist nicht zweckmäßig.

Die wichtigste Erfordernis, das ein Richtung gebendes Ideal für irgendeinen Zweig des politischen Handelns zu erfüllen hat, scheint mir dieses: sicher, zuverlässig und eindeutig zu sein, damit es dem Politiker jederzeit zur zweifellosen Orientierung dienen möge.

Wie der Leuchtturm dem Schiffer Verderben statt Rettung bringen würde, der nicht von  einem  festen Punkt aus das  eine  sicher gekannte Licht strahlt, so droht dem Politiker schwere Gefahr von einem Ideal, das irrlichtartig die Ruhe und Stetigkeit des wegweisenden Lichts vermissen läßt. Solcherart aber scheint mir das ethischsoziale und christlichsoziale Ideal zu sein. Das behaupte ich für die Orientierung der Sozialpolitik im Ganzen wie im Einzelnen.

Gewähren - so fragen wir zunächst - ethische oder religiöse Erwägungen den festen Punkt  außerhalb  des Wirtschaftslebens, von dem aus dieses gemeistert werden könnte? Zwar einzelne Vertreter der ethisch- und christlichsozialen Auffassung behaupten es. Aber wir sahen schon, welches der Preis ist, um den wir zu jenem "ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht" gelangen können: der bedingungslos, reine Glaube an Gottes Offenbarung. Wollen wir aber, dürfen wir auch nur ein wichtiges Gebiet menschlich-praktischer, staatlicher Tätigkeit von diesem Erfordernis abhängig machen? Ich glaube, daß niemand außerhalb des Kreises der strenggläubigen Katholiken auf so eine prekäre Basis moderne Sozialpolitik aufgebaut sehen möchte. Mindestens müßte doch dieses gesagt werden: daß für alle Nichtgläubigen noch erst der Richtpunkt ihres sozialpolitischen Verhaltens zu suchen wäre. Und da insbesondere die Regierungen der Gegenwart und wohl auch näheren Zukunft das Bekenntnis des orthodox-katholisch-sozialen Standpunkts nicht zu dem ihren machen werden, so würde für das praktische Leben gar nichts gewonnen sein.

Das Gesagte gilt für dasjenige, was man ein "materielles" Naturrecht genannt hat, d. h. ein solches, das die konkrete Gestaltung der sozialen Ordnung in sich enthält. Wo das Naturrecht - wie z. B. bei STAMMLER - zu dem rein formalen Prinzip der "regulativen Idee" verflüchtigt wird, muß als Hauptbedenken geltend gemacht werden, daß ein solches Prinzip für praktisch politische Maßnahmen keinerlei brauchbare Handhabe bietet: worüber weiter unten noch zu handeln sein wird.

Die skizzierten Standpunkte, die wir als die absolutistischen bezeichnen dürfen, haben nun zumindest den Vorteil eines, wenn auch nicht annehmbaren, festen Orientierungspunktes. Dagegen sind, einem Schiff vergleichbar, das den Strom hinabgleichtet, all jene ethischen Systeme, die die Grundsätze des Sittlichen sich wandeln lassen im Zeitenlauf. Wir können sie als die relativistischen System den absolutistischen gegenüberstellen. Was, fragen wir, vermögen sie der Sozialpolitik irgendeine sichere Orientierung zu gewähren. Das Wirtschaftsleben soll "ethisiert", soll den Anforderungen des Sittengesetzes angepaßt weden. Gut. Aber woher bilden sich unsere Anschauungen von dem, was sittlich erlaubt oder verboten ist? Sie sind ein "Niederschlagt des gesamten Daseins in einer bestimmten Epoche, heißt es. Doch bedeutet das gewiß nicht, daß sie vom Himmel fallend gedacht wären: das würde der Grundauffassung der evolutionistischen Ethiker widersprechen. Sie sind also, müssen wir schließen, das Ergebnis aller Existenzbedingungen der Menschheit zu einer gegebenen Zeit. Sie mögen unter teleologischen oder sonst irgendeinem Gesichtspunkt entstanden gedacht werden. Nun will ich hier das Riesenproblem von der Genesis sittlicher Vorstellungen ganz gewiß nicht aufrollen. Aber das wird man mir füglich nicht bestreiten können: daß zu denjenigen Faktoren, die bei der Entstehung sittlicher Grundsätze gerade nach der Anschauung der modernen, evolutionistischen Ethik in einem eminenten Maß in Betracht gezogen werden müssen, die wirtschaftlichen gehören. Wenn aus dem Milieu sich der Wandel dessen, was wir materiell für sittlich erlaubt oder nicht erlaubt halten, erklären lassen soll, so muß unweigerlich als eines der wichtigsten Elemente dieses Milieus die Gestaltung des Wirtschaftslebens in Betracht genommen werden. Ohne Obligo [Verpflichtung - wp] für irgendeine sogenannte "materialistische" Geschichtsauffassung. Wollen die relativistischen Ethiker, die vom "Niederschlag der sittlichen Ideen" sprechen, diese Zusammenhänge leugnen, so sind sie freundlichst eingeladen, uns zuvor zu sagen, von wo sonst ein "Niederschlag" erfolgen soll. Die Ethisch-Sozialen werden also diesen inneren Widerspruch in ihrer Auffassung nicht leugnen können - wenn sie ihren Standpunkt mit der für jede Auseinandersetzung notwendigen, leider so oft vermißten Klarheit begründen wollen - daß sie an das Wirtschaftsleben einen Maßstab anlegen, der diesem selbigen danach zu messenden Wirtschaftsleben erst entnommen ist.

Daß dieser theoretische Widerspruch in der "Verethisierung" der Sozialpolitik für das  praktische Leben von verhängnisvollen Folgen  begleitet ist, wird jeder wahrnehmen können, der den Einfluß der "ethischen" Nationalökonomie auf das Wirtschaftsleben unbefangen beobachtet. Diese ist ihrer Natur nach wirtschaftlich stets reaktionär. Ihr Auftreten schon bezeichnet eine Reaktion gegen das allzu rasche Tempo wirtschaftlichen Fortschritts. Der Kapitalismus erzeugt fast gleichzeitig die Arbeiterbewegung und die "ethische" Nationalökonomie oder, was im Prinzip dasselbe ist, christlichen Sozialismus: in Frankreich und England um die Mitte unseres Jahrhunderts, in Deutschland vor einem Menschenalter, in Italien z. B. jetzt. Aber während die Arbeiterbewegung fortschrittlich auftritt, d. h. keine der modernen Errungenschaften hoher Wirtschaftsformen aufgeben will, ist es die historische Mission der "ethischen" Nationalökonomie, zu "stoppen". Es geht zu rasch, wir verlieren bei dem rasenden Tempo all unser Kulturgepäck, die "sittliche" Umbildung kann nicht Schritt halten mit der ökonomischen, die alten, bewährten Formen des Wirtschaftslebens, die Pflanzstätten von Zucht und Ordnung, von Sitte und Moral dürfen der wirtschaftlichen Revolution nicht so ohne weiteres preisgegeben werden, die Schwachen müssen geschützt, die Starken gebändigt werden: so und ähnlich lauten die Mahnworte, die die "ethische" Nationalökonomie an die Regierungen richtet. So bildet einen Grundzug aller "ethischen" und der meisten christlichen Ökonomie die instinktive Angst vor großkapitalistischer Entwicklung und die Vorliebe für alle kleinwirtschaftlichen Formen: kleine Bauern, kleine Handwerker, kleine Hausindustrielle usw. Sehr begreiflicherweise. Denn alle Anschauungen über das den Anforderungen der Ethik gemäße Wirtschaftsleben können ja, wenn nicht dem kapitalistischen, so nur dem vorkapitalistischen Produktionssystem entstammen. Jenes hatte die Ethik oder Nichtethik der "Vulgärökonomie" erzeugt, dieses hat der "ethischen" und christlichen Nationalökonomie das Leben gegeben. Diese ist, kann man sagen, der theoretische Ausdruck des konservativen Kleinbürgertums wie einzelne Erscheinungsformen des Sozialismus - z. B. PROUDHON - der theoretische Ausdruck des revolutionären Kleinbürgertums sind. Im Vorbeigehen will ich nur bemerken, wie ganz logischerweise der ebenfalls eine evolutionistische Ethik bekennende, wissenschaftliche Sozialismus bei der Forderung einer bestimmten Gestaltung der sozialen Ordnung von der Berufung auf ethische Postulate Abstand genommen hat, da diese doch immer nur die Ergebnisse der Gegenwart sein würden.

Genug -, was ich hier nur zur Jllustration anführen wollte, um zu zeigen, wie schwankend und haltlos und folglich wie mißlich eine Verethisierung der Sozialpolitik ist, war die verhängnisvolle Konsequenz eines solchen Beginnens für das praktische Leben: "ethische" Sozialpolitik ist ihrem Wesen nach, immer Obstruktionspolitik [Verschleppungstaktik - wp]. Was die geschichtliche Erfahrung zur Genüge bestätigt. Aber sie birgt noch eine nicht minder große Gefahr für eine gedeihliche Entwicklung des Wirtschaftslebens in sich, die ebenfalls in ihrer Natur begründet liegt. "Ethische" Wirtschaftspoligik nämlich hat die angeborene Tendenz zur Zerfahrenheit, zur Planlosigkeit, zur Kasuistik [Betrachtung von Einzelfällen - wp], zur Augenblickspolitik, zum Eklektizismus.

Die Ethik oder die Religion treten, - wenn wir etwa von der schon erledigten orthodox katholischen Doktrin absehen -, an das Wirtschaftsleben niemals in der Weise heran, daß sie ein ganzes Wirtschaftssystsem in Bausch und Bogen verwerfen oder verteidigen. Sie berühmen sich vielmehr gerade (40), daß sie ihre ethischen oder religiösen Aussetzungen "von Fall zu Fall" vornehmen. So kommen sie, und können es von ihrem Standpunkt aus auch gar nicht, niemals zu einem System der Wirtschaftspolitik oder was dasselbe ist: einer Politik der Wirtschaftssysteme. Vielmehr werden Lücken und Schäden bald am Kapitalismus, bald am Handwerk, bald am Bauerntum, bald am Großgrundbesitz ausgefüllt und gebessert. Das ergibt natürlich ein Chaos. Und wenn in manchen der modernen Staaten, und zwar gerade in denjenigen, in denen die ethische Nationalökonomie am meisten Blüten treibt, die Wirtschaftspolitik der Gegenwart im Zeichen eines Zickzackkurses steht, so bin ich geneigt, einen nicht geringen Anteil der Schuld an diesem Zustand eben jener unglücklichen Verwässerung der Wirtschaftspolitik mit allerhand ethischen Erwägungen beizumessen. Wie verhängnisvoll dieser planlos nörgelnde Ethizismus für die wirtschaftliche Entwicklung sein kann, zeigt sich am besten dann, wenn ihm irgendein unentbehrliches Glied eines Wirtschaftssystems, dessen Bestand sonst nicht gefährdet ist, zum Opfer fällt. So entspricht es z. B. den "sittlichen" Anschauungen mancher "Ethiker" wohl, daß ein Handwerker seine Lehrlinge oder ein Junker seine Hintersassen schindet, aber nicht, daß jemand Termingeschäfte an der Börse macht. Flugs werden die Termingeschäfte und andere "Auswüchse" des Kapitalismus unter ethischen Erwägungen, (hinter denen natürlich meist reelle Interessen verborgen sind, die aber erst unter dieser ethischen Decke so recht zur Wucherung kommen), beseitigt. Die Frage nach der Zusammengehörigkeit einzelner Institutionen und ihre Zugehörigkeit zu einem Wirtschaftssystem wird kaum aufgeworfen. Von "Fall zu Fall" wird herumgedoktert, darauf ist man auch noch stolz. Die Hetzjad im Augenblick auf alles, was "Handel" heißt, ist gerade bezeichnend für das prinzipiell Verfehlte des Ausgangspunktes dieser Art Kritik: die Anschauungen von dem, was "berechtigt" ist, stammen wieder aus der vorkapitalistischen Zeit. Damals allerdings war der Handel eine mindestens sekundäre Erscheinung des Wirtschaftslebens. Die "produktive" Arbeit war die Gebrauchsgüteranfertigung. Nun legt man diesen antiquierten Maßstab einer überwundenen Wirtschaftsperiode an ganz veränderte Zustände, unterscheidet in törichter Weise "produktive" und "unproduktive" Stände und versucht letztere unter Berufung auf die ewigen Wahrheiten der Ethik oder Religion in ihrer Wirksamkeit tunlichst zu beschränken.

All das als ganz natürliche Konsequenz einer in der Ethik zersetzten und verdorbenen Wirtschaftspolitik. Wogegen nicht geltend gemacht werden darf, daß hervorragende "ethische" Nationalökonomen für ihre Person all diese Irrgänge nicht mitgehen, die sie aber doch erst durch ihre Lehren eröffnet haben.

Die Mängel, die bisher als jedem ethisch-sozialen Ideal anhaftend hervorgehoben wurden, sind, könnte man sagen, vorwiegend formaler Natur: aus der Umkehrung des Kausalitätsverhältnisses zwischen Wirtschaft und Moral folgt eine Unsicherheit des Standpunktes für die Beurteilung sozial-politischer Probleme, folgen Planlosigkeit und Zerfahrenheit. Aber die letzten Erwägungen haben uns schon ein Stück weitergeführt; sie zeigten uns, daß diese theoretischen Versehen, diese Schönheitsfehler auch für das praktische Leben eine sehr reelle Bedeutung haben können. Und der Überlegung, daß die richtige Wahl des sozial-politischen Ideals von der größten Tragweite für die Gestaltung unserer gesamten Kulturrichtung ist, entspringt das letzte und vielleicht schwerwiegende Argument  gegen  die Hereintragung ethischer Gesichtspunkte in die Wirtschafts- und insonderheit Sozialpolitik.

Was hier in Frage steht, ist, wie man es nennen könnte, die Rangordnung der einzelnen Sphären der Betätigung menschlichen Wesens, ist die Abstufung der Wichtigkeit verschiedener Strebungen, ist die Herstellung eines richtigen Nacheinanders in der Gestaltung unserer Existenz. Da muß nun mit allem Nachdruck betont werden, daß die unbestritten erste Stelle in dieser Rangordnung das Wirtschaftsleben einnimmt, aus dem sehr einfachen Grund, weil von seiner zweckmäßigen Gestaltung  alles übrige menschliche Dasein  abhängig ist. Ob ich nationale Macht, ob ich eine blühende und gesunde Rasse, ob ich die Pflege des Guten oder Schönen oder Wahren, ob ich materiellen Genuß als höchstes Ziel meines Strebens setze: immer zwingt mich die Notdurft meiner irdischen Unzulänglichkeit zuvörderst das Wirtschaftsleben normal zu gestalten, d. h. es gesund und blühend zu erhalten. Denn alle übrigen Bestrebungen entbehren der notwendigen Basis, krankt der wirtschaftliche Organismus. Ganz ähnlich, wie alle individuelle Lebensbetätigung von einem normal funktionierenden Körper bedingt ist. Daraus nun, aus dieser so elementaren Einsicht, ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Lösung des hier aufgeworfenen Problems.

Wenn nämlich irgendeine fremde Disziplin, insonderheit wiederum die Ethik, Anspruch erhebt, für die Gestaltung des Wirtschaftslebens Regeln zu geben,  so bedeutet das eine Umkehrung jenes "natürlichen" Rangverhältnisses der menschlichen Lebensbetätigungen.  Denn ein solcher Fremdherrscher fordert selbstverständlich die Unterwerfung des von ihm usurpierten Gebietes unter seinen Willen, fordert die Präponderanz [Vorherrschaft - wp]  seiner  Zwecke. Der Sozialpolitik ein Ideal von der Ethik geben lassen bedeutet das Bekenntnis, daß das von altersher "sittlich Erlaubte" die Schranken bildet, innerhalb deren gewirtschaftet werden darf. Damit aber werden der Entfaltung der produktiven Kräfte Fesseln angelegt, die eine gedeihliche Entwicklung des Wirtschaftslebens behindern. Nicht das Sittliche darf die Schranke sein, innerhalb deren gewirtschaftet wird, sondern umgekehrt die wirtschaftliche Notdurft bildet die Schranken, innerhalb deren das Sittliche verwirklicht werden kann.

Das heißt: wir müssen im großen Ganzen die von den Anforderungen des erfolgreichen Wirtschaftens geschaffenen Bedingungen menschlichen Zusammenlebens als gegebene hinnehmen und können es nur unser Bestreben sein lassen, innerhalb des durch sie gesteckten Rahmens die Gebote der Ethk zur Geltung zu bringen. Oder aber wir müssen die Anforderungen der Ethik mit den Anforderungen des wirtschaftlichen Fortschritts in Einklang zu setzen suchen: etwa wie die liberalistische Ethik der neueren Zeit bewußt oder unbewußt den Bedürfnissen des emporstrebenden Kapitalismus mit ihren Resultaten gedient hat.

Tatsächlich hat sich auch alle Kulturentwicklung in dieser Weise vollzogen, daß die den höheren Wirtschaftsweisen konforme Ethik die alte verdrängt hat. Und kurzsichtige Historiker haben wohl aus dieser Parallelbewegung von Ökonomie und Ethik gerade den Schluß gezogen, daß die Geschichte selbst ja fü die Meisterung der Ökonomie durch die Ethik spricht. Während tatsächlich in diesen Fällen die Anwendung ethischer Grundsätze auf das Wirtschaftsleben nur deshalb unschädlich war, weil die Ethik nichts anderes als die Verbrämung wirtschaftlichen Fortschritts bedeutete. Offenbar spielt die Ethik in diesen Fällen nur eine rein dekorative Rolle und ist, - das ist ihr günstigstes Verhältnis zur wirtschaftlichen Entwicklung -, überflüssig, da letztere ihren Weg auch ohne das ethische Geleit findet.

Praktisch bedeutsam ist das Problem der Stellung der Ethik zur Ökonomik stets nur dort, wo die Ethik wirtschaftlich konservativ oder reaktionär auftritt. Und da behaupte ich wirkt sie, wenn sie Einfluß gewinnt, unheilvoll. Denn innerhalb einer vollkommeneren Wirtschaftsweise sich den Anforderungen der Moral entsprechend einzurichten wird immer möglich sein. Aber unmöglich ist es, nicht nur ethisch sondern überhaupt zu existieren, wenn die wirtschaftliche Entwicklung zum Stillstand gelangt -, es sei denn, wir wollten Verzicht auf unser Kulturdasein leisten. Dieses aber müßte jedenfalls das Opfer sein, wollte man den Fortschritt zu höheren Wirtschaftsformen aus "ethischen" Erwägungen aufhalten. Denn nur diese gewähren uns die Möglichkeit, eine wachsende Bevölkerung zu ernähren, und auf eine wachsende Bevölkerung sind unsere modernen Staaten, ist unsere moderne Kultur angewiesen, im Interesse ihres Bestandes. Mit dieser Tatsache haben sich die Moralisten ganz einfach abzufinden. Und dazu sind sie ja da, um die jenen notwendigen wirtschaftlichen Umwälzungen entsprechenden  Formen  des Sittlichen ausfindig zu machen. Es ist das Verhältnis des  zin  [Leben - wp] zum  en zin  [den Lebenden - wp] des ARISTOTELES: ohne wirtschaftlichen Fortschritt hört  to zin  [die Existenz - wp] und damit auch  to en zin  [die Existenz der Lebenden - wp] auf. Was sich also im Namen des  en zin  dem  zin  in den Weg stellt, ist ein offenbares Verhängnis. Will die Ethik sich dem wirtschaftlichen Fortschritt anbequemen; gut; nur ist dann ihr Ideal für die Wirtschaftspolitik unnötig. Will sie sich ihm entgegenstellen, und dem ökonomisch fortschrittlichen ein reaktionäres Ideal gegenüber zur Geltung bringen, so muß sie ganz einfach beiseite geschoben werden. Denn dann wirkt sie verderblich.


V.

Die bisherigen Ausführungen sollten den Nachweis erbringen, daß die Fremdherrschaft des Ideals auf dem Gebiet der Sozialpolitik ganz gewiß nicht notwendig, aber auch gar nicht zweckmäßig ist, weil gegen sie gewichtige Bedenken theoretischer wie praktischer Natur geltend zu machen sind. Nun bleibt noch die Frage: ob denn ein autonomes sozialpolitisches Ideal seinerseits möglich ist und wie es wenigstens in seinen Grundzügen gestaltet sein muß, um berechtigten Anforderungen gerecht zu werden.

Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns der Begriffsbestimmung erinnern, die wir weiter oben von der Sozialpolitik gegeben haben. Mit ihrer Hilfe, denke ich, wird eine befriedigende Antwort nicht schwer fallen.

Nach zwei Seiten hin will ich das Wesen des selbständigen politischen Ideals und damit das Wesen gesunder Sozialpolitik selbst charakterisieren: nach der formalen und der materialen.

Für die  formale Gestaltung der Sozialpolitik  sind folgende Grundsätze aufzustellen.

1. Alle Sozialpolitik ist stets eine  allgemeine  in dem Sinne, daß sie alle Zweige des Wirtschaftslebens gleichmäßig umfaßt. Denn da sie dessen prinzipielle Ordnung, seine Gestaltung zu bestimmten Systemen zum Objekt hat, kann sie nicht anders, wenn sie zielbewußt und klar sein will, als sämtliche Seite des Wirtschaftslebens einheitlich unter einem leitenden Gesichtspunkt behandeln. Ein bestimmtes Ziel in der Handelspolitik fordert notwendig eine ganz bestimmte Richtung der Gewerbe- und Agrarpolitik; man kann nicht reaktionäre Gewerbepolitik und fortschrittliche Handelspolitik zugleich treiben, ohne sich dem Vorwurf der Planlosigkeit und des Zickzackkurses auszusetzen. Auf jedem Gebiet des Wirtschaftslebens, in jeder Sphäre ökonomischer Tätigkeit kann soziale und personale Politik getrieben werden. Die personale braucht in gar keinem Zusammenhang zu stehen, die soziale dagegen, um zielbewußt zu sein, immer. Eine Gedankenlosigkeit, die zur Evidenz erweist, daß der jenige, der sich ihr schuldig macht, überhaupt keine klare Vorstellung davon hat, was Sozialpolitik eigentlich ist, ist es: neben oder im Gegensatz zur "Agrar-, Gewerbe- und Handelspolitik" von "Sozialpolitik" zu sprechen. Wo haust denn dieses schattenhafte Wesen "Sozialpolitik", wenn nicht in einer jener drei Sphären des Wirtschaftslebens? Also das Schema ist nicht: 1. Agrar-, 2. Gewerbe-, 3. Handels-, 4. Sozialpolitik, sondern 1. Personalpolitik, 2. Sozialpolitik: a) agrarische, b) gewerbliche, c) kommerzielle Sozialpolitik

2. Aus der notwendigen Allgemeinheit und Einheitlichkeit der Sozialpolitik folgt nun aber dies:  daß alle zielbewußte Sozialpolitik unabweislich Klassenpolitik sein muß.  Mit dieser Ansicht trete ich der in der Theorie herrschenden Anschauung wiederum schroff entgegen. Diese nämlich lehrt, daß das Wesen weiser Politik gerade in dem Bestreben zu suchen ist, die in der Gesellschaft hervortretenden Klassengegensätze zu versöhnen und ihnen gegenüber die "Gesamtinteressen" des Staates zu wahren. Als Beispiele solcher herrschenden Lehrmeinung wähle ich aufs geratewohl folgende:

Ein  liberales  Urteil: HOLTZENDORFF, Prinzipien der Politik, Seite 298/99: Wesen des Kulturzwecks des Staates ist "die Bewahrung der gesellschaftlichen, vornehmlich wirtschaftlichen und konfessionellen Friedens"; "das Wesen der staatlichen Kultur (ist zu finden) im allgemeinen gerade vorzugsweise in einem Nebeneinanderbestehen verschiedener Gesellschaftskörper".

Ein  katholisches  Urteil: von HERTLING, Naturrecht und Sozialpolitik, Seite 4/5: "Gesetzgebung und Staatsverwaltung sollen ja nicht von einem einseitigen Interesse einer Bevölkerkungsschicht, einer Klasse, eines Standes geleitet werden, sondern den berechtigten Bestrebungen der sämtlichen angemessen sein, und den Ausgleich der einander widerstreitenden vom Standpunkt der allgemeinen Wohlfahrt aus zu gewinnen suchen. Darin aber besteht die Aufgabe der Sozialpolitik in der ersten und allgemeinen Bedeutung dieses Wortes, sie geht auf die Leitung, Förderung und den  Ausgleich  der verschiedenen Gesellschaftskreise durch den Staat und im Interesse der staatlichen Gemeinschaft."

Ein  kathedersozialistisches  Urteil, das die selbstverständliche Konsequenz der liebenswürdigen Lehre vom "sozialen Königtum" ist: SCHMOLLER, Die soziale Frage und der Preußische Staat (41): "Wie es dem Königtum gelang, in einem zweihundertjährigen Kampf den dritten Stand, das Bürger- und Bauerntum, zu retten (!), und mit den vorher allein berechtigten Klassen zu versöhnen, so muß es im 19. Jahrhundert den Streit des vierten Standes mit den übrigen Klassen schlichten, den vierten Stand wieder harmonisch in den Staats- und Gesellschaftsorganismus einfügen!"

Demgegenüber also behaupte ich, daß alle zielbewußte Sozialpolitik notwendig Klassenpolitik ist. Und zwar in einem zweifachen Sinn. Zunächst deshalb, weil sie sich auf eine soziale Klasse und nicht auf eine beliebig zusammengewürfelte Personenkategorie, - etwa alle "kleinen Leute" oder ein ähnliches konfuses Sammelsurium -, erstreckt. Dieses folgt aus meiner Begriffsbestimmung der Sozialpolitik. Sodann aber auch in dem Sinne, daß sie nicht die "Gesamtinteressen", sondern immer nur die Interessen einzelner Klassen vertreten kann. Meine Beweisführung ist folgende: Gesamtinteressen einer Gemeinschaft, bzw. eines Staates, gibt es nur gegenüber anderen Gemeinschaften, also nach außen, nicht im Innern. Bestand, Ansehen, Macht eines Staates können für sämtliche Staatsangehörige gleichmäßig in der äußeren, nationalen Politik vertreten werden (wennschon sie es nicht notwendig brauchen: sehr wohl  kann  eine nationale und Klassenpolitik zusammenfallen). Das Innere eines Staatswesens dagegen ist charakterisiert durch eine Verschiedenartigkeit der Interessen, die unvermeidlich an einem bestimmten Punkt zur Interessengegensätzlichkeit wird, für die es keine Versöhnung gibt. Die Interessengegensätzlichkeit basiert auf der Unvereinbarkeit verschiedener Wirtschaftssysteme nebeneinander: d. h. lokal-handwerksmäßiges und verkehrswirtschaftlich-kapitalistisches Gewerbe. Eine "Versöhnung" oder ein "Ausgleich" der an diese beiden Wirtschaftssysteme geknüpften Interessen wäre nun offenbar nur so denkbar, daß zwischen ihnen ein labiles Gleichgewicht hergestellt würde, jedem etwa eine bestimmte Sphäre dauernd zugewiesen würde. Diese Konstruktion wäre aber unrealistisch, d. h. nicht wirklich. Sie berücksichtigt nicht die Tatsache, daß sich das Wirtschaftsleben in einem Zustand unausgesetzter Umwälzung befindet, daß insbesondere in unserer Zeit der Kapitalismus in sich die Tendenz zur Ausbreitung und Alleinherrschaft trägt. Eine Umwälzung kann sich nun aber immer nur so vollziehen, daß ein Zustand auf Kosten eines anderen verwirklicht wird:

"Wo eines Platz nimmt, muß das andere rücken."

Sobald dann - was immer der Fall ist - an der Erhaltung eines gegebenen Zustandes irgendeine Gruppe von Personen interessiert ist, geschieht die Umwälzung zu ihrem Nachteil. Es kann sehr wohl richtig sein, daß eine bestimmte wirtschaftliche Entwicklung, z. B. die in der Richtung des Kapitalismus für die Machtstellung eines Gemeinwesens nach außen oder für die Existenz der in ihm jetzt und zukünftig lebenden Menschen notwendig und wünschenswert ist, daß deshalb z. B. die Gewerbepolitik kapitalistisch gerichtet sein muß: daß aber damit die "Gesamtinteressen" vertreten würden, ist zumindest ein unklarer Ausdruck; den notwendig geschädigt werden die Interessen des vom Kapitalismus verdrängten Handwerkers, der offenbar  seine  Interessen in die "Gesamtinteressen" eingeschlossen zu sehen wünscht, ebenso wie der Fuhrmann, als ihm die Eisenbahn den Lebensfaden abschnitt, oder der kleine Krämer, den die große Kette erdrückt. Nun ist aber eine Sozialpolitik offensichtlich ziel- und planlos, die gleichzeitig die Erhaltung und Förderung zweier sich ausschließender Wirtschaftssysteme vertritt. Sie kann meinetwegen das Tempo der Entwicklung verlangsamen, si kann von einer humanen Personalpolitik im Interesse der zum Untergang bestimmten Elemente begleitet sein. Aber fest im Auge muß sie die Richtung behalten, in der sich das Wirtschaftsleben umgestaltet und das kann nur die Richtung auf das sieghafte Vordringen eines bestimmten Wirtschaftssystems sein, also einzelner sozialer Klassen.

Was unsere Auffassung beherrscht, ist der Gedanke eines ewigen Flusses des wirtschaftlichen Lebens; sie steht deshalb, zumal in der Gegenwart, im Einklang mit der Wirklichkeit. Der anderen Auffassung liegt die Idee von einem ruhenden Zustand harmonischer Gliederung der Gesellschaft zugrunde; sie ist unhistorisch.  Ich  meine, daß bestimmte Wirtschaftssysteme einander ablösen und nicht eher den Kampf untereinander aufgebe, als bis eines gesiegt hat; jene, - vgl. z. B. SCHMOLLERs oben zitierte Worte -, stellen sich die soziale Entwicklung so vor, als ob immer neue Klassen entstehen, die wie ein neues Familienglied neben die bestehenden treten und eingeordnet werden müssen, die gleichsam verschiedene Funktionen im gesellschaftlichen Organismus erfüllen und deshalb, bei geschickter Disposition des Staatsleiters, in bester Harmonie nebeneinander bestehen könnten. So wurde "das Bauerntum und der dritte Stand" eingegliedert, nun kommt das Proletariat dazu; die Familie hat Zuwachs erhalten, aber die älteren Geschwister werden sich schon mit den jüngeren einzurichten wissen. Wir dagegen sehen in den emporwachsenden Klassen nur neue Kämpfer. Die Fronten der Streitkräfte verschieben sich. Aber es bleibt Kampf mit der Losung: Tod oder Sieg! zwischen Großgrundbesitzer und Bauer (wenn sich die Konjunktur danach gestaltet; daß sich Perioden einstellen können, in denen die Kämpfenden die Waffen gleichsam sinken lassen, wurde oben schon angedeutet), zwischen Kaufmann und Handwerker, zwischen Bourgeois und Junker, zwischen Kapitalist und Proletarier. Der Sozialpolitiker aber muß in diesem Kampf Partei ergreifen, wenn er nicht zur Rolle des "Unparteiischen" herabsinken, d. h. reine Formalpolitik treiben will. Eine Regierung, die "über den Parteien stehen" will, - angenommen, daß sie möglich wäre -, würde notwendig entweder eine Regierung des Zickzackkurses sein, die mal in dieser Richtung, mal in jener Richtung das Wirtschaftsleben stößt, die bald junkerliche, bald kleinbürgerliche, bald kapitalistisch-proletarische Politik treibt, oder sie würde nur dekorative Bedeutung haben, d. h. gar keine selbständige Politik treiben. Sie würde alle Anzeichen der Greisenhaftigkeit an sich tragen. Und die Geschichte lehrt uns, daß alle starken, jugendfrischen Regierungen eine ausgesprochene Klassenpolitik verfolgt, nämlich die Interessen der jeweils aufwärtsstrebenden wirtschaftlichen Klasse energisch vertreten haben.

Mit den letzten Bemerkungen ist schon die Frage angeregt nach  dem Inhalt der Sozialpolitik.  Sie lautet präzise gefaßt: wenn zielbewußte Sozialpolitik notwendig Klassenpolitik, weil Systempolitik ist:  welche  soziale Klasse,  welches  Wirtschaftssystem soll das begünstigte sein? Indem wir also fragen, erinnern wir uns dessen, was am Eingang dieser Studie über das Verhältnis der Wissenschaft zum politischen Ideal gesagt wurde: daß es nämlich niemals als die Aufgabe der Wissenschaft angesehen werden darf, "letzte Ziele" als "falsch" oder "richtig" zu erweisen. Und in gewissem Sinne reicht auch jedes Sonderideal bestimmter Tätigkeit doch in jene Sphären hinüber, wo die wissenschaftliche Erkenntnis versagt und der Glaube die Herrschaft führt.

Ich will hier gar nicht den Umstand erwähnen, daß bestimmte Interessen notwendig zur Verfolgung eines bestimmten Zieles hindrängen, sondern meine nur die simple Tatsache, daß die Welt- und Lebensauffassung dem einzelnen zuletzt die Entscheidung über die zu wählende Richtung menschlichen Strebens aufzwingt. Niemand wird wissenschaftliche Argumente anführen können, die etwa den Standpunkt des DIOGENES oder eines indischen Säulenheiligen der wirtschaftlichen Entwicklung gegenüber als "falsch" erwiese, wenn daraus gefolgert würde, daß eine tunlichst geringe Entfaltung produktiver Kräfte das anzustrebende Ziel, das zu verwirklichende Ideal des Wirtschaftslebens ist. Niemand wird denjenigen "wisenschaftlich" widerlegen können, der etwa durch eine systematische Beschränkung der Kindererzeugung oder selbst reelle, nicht bloß buchmäßige "Verneinung des Willens zum Leben", vulgo Selbstmord dem Zwang wirtschaftlicher Notdurft glaubt die Menschheit entziehen zu sollen. Was wir solchen Anschauungen entgegensetzen, ist Widerwillen, Entrüstung, Abscheu, Mißfallen, d. h. ist unsere eigene anders geartete Welt- und Lebensauffassung, niemals wissenschaftliches Räsonnement. Deshalb soll die Wissenschaft, wie oben schon ausgeführt wurde, sich, der Grenzen ihrer Anwendbarkeit bewußt, die Probleme so stellen, daß sie sie lösen kann. Und da würde das Problem einer richtigen, materialen Sozialpolitik so zu lauten haben:  wenn  gewisse Strebungen der Menschheit als berechtigt zugestanden werden, wie muß dann die Sozialpolitik gestaltet sein. Als solche berechtigte Bestrebungen bezeichne ich: Erhaltung und Vermehrung unserer modernen Kulturgüter, Erhaltung und Festigung unserer nationalen Machtstellung mindestens gegenüber den inferioren [nachrangigen - wp] osteuropäischen und asiatischen Völkern, eine naturgemäße Zunahme der Bevölkerung, Ausdehnung der Kulturgüter auf immer weitere Kreise der Bevölkerung, eine tunlichste Verbesserung der materiellen Existenz, d. h. weitestgehende Beherrschung der Naturkräfte und größtmögliche Entlastung von wirtschaftlicher Arbeit. Nur demjenigen, der sich mit mir auf diese "letzten Ziele" einigt, - in Wirklichkeit ist es ja wohl die überwältigende Mehrheit der europäisch-amerikanischen Kulturmenschheit -, kann ich nun mit wissenschaftlichen Gründen die Erreichung bestimmter Ziele durch die Sozialpolitik als  conditio sine qua non  erweisen. Das heißt: die Wahl eines bestimmten sozialpolitischen Ideals ist am letzten Ende abhängig von der gesamten Welt- und Lebensauffassung des einzelnen und kann in ihrer Notwendigkeit immer nur als Mittel zum Zweck begründet werden. Daß man mir nun nicht einwende: damit gäbe ich die erstrebte Selbständigkeit des sozialpolitischen Ideals am Ende doch wieder auf und unterwürfe die Sozialpolitik fremden Gesichtspunkten. Ganz und gar nicht. Ich habe schon früher vor dem Irrtum gewarnt, als dürfe die Gestaltung des Wirtschaftslebens jemals "absoluter Endzweck" menschlichen Daseins werden; habe also die Einzelzwecknatur des sozialpolitischen Ideals niemals in Zweifel gelassen. Aber was ich abgelehnt habe, ist die Einrichtung und Gestaltung der Sozialpolitik unter einem fremden Gesichtspunkt. Sozialpolitik will ich ausschließlich unter sozialpolitischen und keinem anderen Gesichtspunkt betrieben sehen. Ich will sie in ihrer Gestaltung und Ausrichtung auf ihr eigenstes Ideal zur Einheit und Klarheit zurückrufen:  das  nenne ich die Verselbständigung des sozialpolitischen Ideals, die also nicht zu verwechseln ist mit der Für-absolut-Erklärung sozialpolitischer Zwecke.

Und nun, denke ich, wird uns die Antwort auf unsere Frage nach der zweckmäßigsten Sozialpolitik nicht mehr schwer fallen können. Sie muß offenbar so lauten:
    Eine gesunde Sozialpolitik muß sich die tunlichste Unterstützung der den wirtschaftlichen Fortschritt repräsentierenden sozialen Klasse zur Aufgabe machen, weil nur dadurch ihr Ideal: die höchste Entfaltung der produktiven Kräfte verwirklicht werden kann, dessen Verwirklichung aber im Interesse des Kulturforschritts notwendig erforderlich wird. 
Was auch so ausgedrückt werden kann:
    Das Ideal der Sozialpolitik ist das wirtschaftlich Vollkommene; dieses wird dargestellt vom jeweils höchst entwickelten Wirtschaftssystem, d. h. dem Wirtschaftssystem höchster Produktivität. 
Dies nun des weiteren auszuführen, kann nicht mehr als die Aufgabe dieser nur wegweisenden Studie betrachtet werden. Denn es würde eine systematische Darlegung der Ziele moderner Sozialpolitik bedeuten. Hierzu aber bedarf es einstweilen noch umfassender Vorbereitungsarbeiten, deren einige bereits von mir getan sind und deren Ergebnisse ich in dieser Zeitschrift im weiteren Verlauf hoffe publizieren zu können.

Was mir heute nur noch zu tun am Herzen liegt, ist dies: das richtige Verständnis für die prinzipielle Eigenart des von mir vertretenen Standpunkts beim Leser wachzurufen bzw. zu festigen, damit sich wenigstens über die leitenden Gesichtspunkte meiner Auffassung keinerlei Mißverständnisse einnisten können.

Was zunächst meine Thesen  nicht  enthalten ist:

1. Die Behauptung, daß etwa das gesamte Wirtschaftsleben  notwendig  nach einem Schema gestaltet sein, dasselbe Wirtschaftssystem notwendig in allen Sphären wirtschaftlicher Tätigkeit gleichmäßig herrschend sein muß: es  kann  durch die Umstände bedingt sein, daß landwirtschaftliches Kleinbauerntum neben Großwirtschaft, lokales Handwerk neben gewerblichem Kapitalismus in demselben Land zu gleicher Zeit besteht und die verschiedenen Formen dem Ideal der Sozialpolitik momentan entsprechen. Ob, wann und wo dies der Fall ist, muß im einzelnen geprüft werden.

2. Das Ideal höchster  Produktivität  darf ja nicht verwechselt werden mit dem Ideal größtmöglicher  Produktion,  wie es die alte Schule wohl aufzustellen pflegte, noch viel weniger mit dem Ideal des größten "Reinertrages", d. h. Unternehmerprofits, wie es sich ebenfalls bekanntermaßen hie und da in Schriften früherer Nationalökonomen findet.

Einige Worte mögen zur Verdeutlichung des Gemeinten hier noch am Platz sein.

Mein Ideal der Sozialpolitik ist allerdings ein  "Produktionsideal"  und knüpft damit an altbewährte Traditionen an. Aber nur in dem Sinne, daß es sich am Produktionserfolg ausrichtet, ohne die "Beeinflussung der Verteilung" irgendwie auszuschließen. Diese Beziehung auf den Produktionserfolg ist deshalb unabweislich, weil nur durch ihn irgendeine Einheitlichkeit und Zielsicherheit in die Wirtschaftspolitik hineinkommt. Eine sogenannte "Verteilungspolitik" ist ein gänzlich des Systems entbehrendes Durch- und Nebeneinander einzelner Maßnahem; sie kann keine klaren und stetigen Gesichtspunkt haben; sie ist immer nur Lücken- und Flickpolitik. Man versuche z. B. die Wirtschaftspolitik von einem Streben zu leiten lassen: den Anteil der weniger Begüterten an den Früchten, die "auf der Tafel des Lebens bereit stehen" zu vergrößern - und man wird sofort die Unmöglichkeit einsehen, auf solche Leitsätze eine irgendwie vernünftig einheitliche Sozialpolitik zu basieren.

Dagegen kann sehr wohl, und ist es sehr oft, Sozialpolitik "Verteilungspolitik" sein: wenn z. B. eine Lohnerhöhung erstrebt wird, um Krisen zu vermeiden, Arbeitslosenunterstützung, um eine Lohnsenkung und damit die Herabdrückung des technischen Niveaus der Produktionsmethode zu verhüten usw.

Indem ich den Produktionserfolg in Beziehung setze zur wirtschaftlichen Organisation, d. h. dem Wirtschaftssystem, also als Ideal die Verwirklichung des leistungsfähigsten Wirtschaftssystems bezeichne, hebe ich den Produktionsgriff aus der Sphäre des rein Technischen heraus und verleihe ihm  sozialen Charakter.  Es handelt sich nämlich bei dem von mir als Ziel gesetzten höchsten Produktionserfolg nicht um die technisch vollkommenste Verfahrensweise der Gütererzeugung oder des Gütertransports, sondern um die sich die Technik zunutze machende bestmögliche Organisation gesellschaftlicher Arbeit. Das klargestellt Ziel der Sozialpolitik ist demnach stets die Gestaltung bzw. Anwendung der das Wirtschaftsleben regelnden sozialen Ordnung.

Wie ich nun oben schon andeutete, identifiziere ich den Produktionserfolg ganz und gar nicht mit dem Quantum erzeuger Güte. Vielmehr soll höchste Produktions möglichkeit  das Ziel sein. Damit stelle ich das von der älteren Schule auf den Kopf gestellte Verhältnis zwischen Mensch und Sache wieder auf die Füße, indem ich nicht jenen zum Mittel, diese zum Zweck, sondern umgekehrt jenen zum Zweck, diese zum Mittel gesetzt sehen will.

Höchste Produktionsmöglichkeit bedeutet höchste Produktivität. Das bedarf wiederum eines Wortes der Erklärung.

Der  Begriff der "Produktivität",  vielleicht der Kardinalbegriff der gesamten Volkswirtschaftslehre, gehört zu den unklarsten unserer reichen Kollektion konfuser Begriffe. Abermals fehlt dieses Stichwort in unserem monumentalen Handwörterbuch der Staatswissenschaften! Ich kann mit keine größere Höllenstrafe für einen sündigen Nationalökonomen vorstellen, als wenn er im Schattenrecich täglich ein Kapitel aus unseren gängigen Lehrbüchern über "Produktivität" zu lesen verurteilt wäre. Etwa die Stellen in ROSCHERs sogenanntem "System".

Was die ungeheure Verschwommenheit auch hier, wie so oftmals, verschuldet, ist die mangelnde Einsicht in die Vieldeutigkeit des Wortes "Produktivität": Soviel ich sehe, werden damit folgende drei unterschiedlichen Begriffe bezeichnet:
    1. Dasjenige, was man gesellschaftliche Nützlichkeit nennen könnte: der Richter ist "produktiv", denn er "produziert" Rechtsprechung, vollzieht also eine für das Gesellschaftsleben unentbehrliche Funktion;

    2. dasjenige, was füglich privatwirtschaftliche "Rentabilität" genannt werden mag: eine Kapitalanlage ist "produktiv", d. h. sie rentiert sich; hierher gehört die physiokratische Lehre vom Mehrwert, gleich  produit net  [Reingewinn - wp];

    3. dasjenige, was als technische "Produktivität" gefaßt werden könnte, wenn dieser Ausdruck nicht mißverständlich wäre: die Ergiebigkeit, d. h. Leistungsfähigkeit menschlicher Arbeit.
Nur in diesem letzteren Vrstand ist der Begriff der Produktivität ein für die politische Ökonomie fruchtbarer, was hier nicht weiter auszuführen ist. Jedenfalls ist er nur in diesem Sinn klar, weil quantitativ faßbar durch die Inbezugsetzung einer Menge Produkt zu einer Menge (in Zeit ausdrückbarer) Arbeit. Nur in diesem Sinn gebrauche ich auch hier das Wort Produktivität.

Indem ich nun das produktivse Wirtschaftssystem als das Ideal der Sozialpolitik bezeichne, setze ich als das erstrebenswerte Ziel eine solche Organisation des Wirtschaftslebens, bei welcher die höchste Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Arbeit herauskommt, also die  Möglichkeit für die Gesellschaft  geschaffen wird, wenig zu arbeiten oder viel zu produzieren.

In diesen Gedankengang die gesamte moderne, sogenannte Sozial-, d. h. Arbeiterpolitik einzugliedern,  ist eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Zukunft. Nur dann wird sie ihrer Planlosigkeit enthoben, nur dann in ein einheitliches System mit den jetzt disparaten Zweigen der Wirtschaftspolitik: sogenannte Agrar-, Gewerbe- und Handelspolitik gebracht. Ich zumindest sehe keinen anderen Ausweg aus dem Chaos der Politik der Gegenwart als die Akzeptierung des von mir vorgeschlagenen Gesichtspunktes.

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Ich denke, was ich im Prinzip meine, wird nach dem Gesagten klar sein. Auf eine weitere Ausführung muß ich jetzt verzichten.

Schauen wir noch einmal zurück auf die durchwanderte Wegstrecke, so sind dies die Marksteine, an denen unser Auge haften bleibt: Ordnend sucht der beobachtende Theoretiker, der dem Politiker den Pfad mit seinem Licht erhellen möchte, in das Gewirr einzelner Maßnahmen der Politik Sinn und Einheit und System zu tragen. Er unterscheidet die wesensgleichen von den wesensverschiedenen Gruppen solcher Maßnahmen. So wird er dazu gedrängt, den Begriff der Sozialpolitik auszusondern. Und nun fragt er nach dem leitenden Gesichtspunkt, unter den die Sozialpolitik gestellt werden soll. Er lehnt die fremden Maßstäbe ab, weil sie ihm theoretisch keinen sicheren Halt gewähren, praktisch die Gefahr in sich schließen, wichtigste Vornahmen weniger wichtigen zum Opfer zu bringen. So kommt er zur Forderung eines selbstänädigen Ideals der Sozialpolitik: wirtschaftlicher Vollkommenheit. Wie nun gliedert er dieses in die Reihe menschlicher Ideale ein? Nicht ein "absoluter Endzweck" darf in ihm erblickt werden; seine Verwirklichung ist nur ein Mittel zur Verwirklichung höherer Zwecke. Die Notdurft unseres Daseins zu befriedigen, kann niemals dem Gott in unserer Brust die höchste Befriedigung gewähren. Aber einsehen sollen wir, daß all unser Streben eitel ist, solange wir nicht den Zoll an unsere irdische Unzulänglichkeit entrichtet haben. Der wirtschaftliche Bedarf ist der Fessel vergleichbar, die den Vorwärtsstrebenden zurückhält, das Wirtschaftsleben ist die Schranke, in die unser gesamtes Dasein, in allen seinen Äußerungen auch den höchsten eingeschlossen ist. Darum kan nur  eines  unseres Strebens Leitstern sein: die Fesseln zu lösen, die Schranken zu erweitern, um zum Licht und zur Luft und zur Freiheit zu gelangen. Nicht durch ethisch-religiöse Bedenken am wirtschaftlichen Fortschritt herumzunörgeln gilt es: sondern rasch, so rasch wie möglich diesen zu vollziehen. Je höher wir auf der Staffel wirtschaftlicher Vollkommenheit gelangt sind, desto freiere Menschen werden wir sein, desto größeren Spielraum haben, um dem Wahren, Schönen, Guten, dem menschlich Vollkommenen unser Leben weihen zu können. So verstanden, dient auch das verselbständigte sozialpolitische Ideal der Ethik und Religion und Rassenhygiene besser als es die Einmischungen dieser Gebiete in das Wirtschaftsleben je vermögen. Halten wir nicht mit dem Ballast altehrwürdiger Bedenken unsere Entwicklung zu einem reicheren Dasein auf, vollziehen wir sie rasch in der sicheren Hoffnung, auf breiterer materieller Basis auch höhere Formen des Menschtums entwickeln zu können. Die Geschichte spricht für diese hoffnungsfreudige Auffassung. Alle höheren Kulturen sind erst auf der Basis eines reicheren Wirtschaftslebens erblüht. Noch kein Volk, das wirtschaftlich fortgeschritten war, ist kulturell zugrunde gegangen. Wohl aber schrecken uns die Spuren wirtschaftlich dekadenter Völker, die in die Nacht der Barbarei zurückgesunken sind.

So fassen wir die Sozialpolitik in ihrer wahren Bedeutung: sie muß ihr eigenstes Werk verrichten, unbeirrt von irgendwelchen fremden Zwecken. Aber ihr Werk ist es nur, die Bahn frei zu machen und zu ebnen, auf der das Menschtum mit allen seinen schönsten Blüten zu höherer Vollkommenheit, zu Licht und Freiheit vorwärtsdrängt.
LITERATUR: Werner Sombart, Ideale der Sozialpolitik, Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Bd. 10, Berlin 1897
    Anmerkungen
    1) WILHELM ROSCHER, Geschichtliche Naturlehre (!) der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, Stuttgart 1892.
    2) JOHN STUART MILL, Logik, Bd. II, fünfte Ausgabe, 1862, Seite 456f.
    3) FRANZ von HOLTZENDORFF, Prinzipien der Politik, zweite Auflage 1879, Seite 3f, insbes. Seite 11. Dort auch der Hinweis auf verwandte und abweichende Auffassungen. Von neueren Begriffsbestimmungen vgl. von HERTLING, im  Staatslexikon,  Bd. IV, "Politik". Im  Handwörterbuch der Staatswissenschaften  fehlt das Stichwort  Politik. 
    4) Über den Begriff "sozial" vgl. die Ausführungen STAMMLERs in Wirtschaft und Recht, Leipzig 1896, Seite 117f. Ich akzeptiere gern seine Definition  sozial = äußerlich geregelt,  will aber gleich hier bemerken, daß sich auf diese Definition keine befriedigende Begriffsbestimmung der "Sozialpolitik" im engeren Sinne aufbauen läßt. STAMMLER kann unter Sozialpolitik nur die  gesamte  innere Politik verstehen, wie ich sie oben im Gegensatz zur Nationalpolitik stelle. Es erscheint doch aber wünschenswert, eine genauere Abgrenzung des Begriffs zu versuchen, also eine Sozialpolitik im engeren Sinne zu unterscheiden.
    5) GEORG von HERTLING, Naturrecht und Sozialpolitik, Freiburg 1892, Seite 5
    6) von HERTLING, a. a. O., Seite 2
    7) Über soziale Finanz- und Steuerpolitik; in  diesem  Archiv, Bd. IV, Seite 4.
    8) Bd. V, 1896, Spalte 140. Ähnlich übrigens faßt auch von HERTLING a. a. O., den Begriff der  Sozialpolitik  in einem engeren Sinn, im Gegensatz zu jener von ihm skizzierten "populären" Auffassung der Sozialpolitik.
    9) Unter  Wirtschaftspolitik  will ich die das Wirtschaftsleben regelnde und beeinflussende Politik verstehen, unter Wirtschaftsleben den Inbegriff derjenigen sozialen Erscheinungen, die sich aus der Produktion, Verteilung und Konsumtion der Sachgüter ergeben. Für mich erschöpft sich das soziale Leben nicht völlig im Wirtschaftsleben, wie STAMMLER das annimmt. Im Vorübergehen will ich STAMMLER nur bemerken, daß meines Erachtens die von ihm behauptete Unmöglichkeit einer Absonderung wirtschaftlicher Phänomene neben anderen des sozialen Lebens nur aus dem von ihm irrtümlich gewählten subjektivistischen Unterscheidungsmerkmal (materielles Bedürfnis) folgt und daß sie entfällt, wenn, wie ich es tue, man die (objektive) Tätigkeit zum Kriterium für die Sonderung der sozialen Phänomene wählt. Übrigens ist diese Kontroverse für die Feststellung des Begriffs der  Sozialpolitik  verhältnismäßig irrelevant.
    10) KARL BÜCHER, Entstehung der Volkswirtschaft, 1893, 1. Vortrag.
    11) Eine Theorie der sozialen Klassenbildung fehlt noch. Bekanntlich sollte das 52. Kapitel des III. Buches im MARXschen  Kapital  diesen Gegenstand behandeln; schon auf der Mitte der zweiten Seite jedoch stoßen wir auf den schmerzlichen Vermerk: "Hier bricht das Manuskript ab". Welch ein Verlust für die Wissenschaft! Neuere Versuche lassen unbefriedigt. Zu nennen sind GUSTAV SCHMOLLERs "Das Wesen der Arbeitsteilung und der sozialen Klassenbildung (Jahrbuch XIV). Was SCHMOLLER unter einer "sozialen Klasse" versteht, ist nicht recht deutlich. Daß er Berufsstände und soziale Klassen offenbar nicht scharf auseinanderhält, hat schon BÜCHER mit Recht hervorgehoben: Arbeitsteilung und soziale Klassenbildung, a. a. O., Seite 119f, insbes. Seite 157f., der seinerseits im Begriff der "sozialen Berufsklasse" "das gegenseitige Bedingtsein von Besitz und Beruf zum Ausdruck zu bringen" versucht: a. a. O. und in "Bevölkerung des Kantons Basel-Stadt" (1890) Seite 70, ohne doch wie mir scheint den Begriff zu völliger Präzision gebracht zu haben. Ganz unbestimmt bleibt STAMMLER, a. a. O., Seite 275-278 (vgl. auch Anm. 127), der vier Kriterien zur Unterscheidung sozialer Klassen aufzählt, ohne selbst zu sagen, welches er für das richtige hält, um den (doch wohl eindeutig zu fassenden) Begriff der sozialen Klasse zu fixieren. Übrigens sind von den vier Kriterien drei (Nr. 1, 3 und 4) unbrauchbar und das vierte ist undeutlich ausgedrückt. Warum das Kriterium der gleichen Interessenrichtung - NB. wenn man sie, wie ich es tue, auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem bezieht - "vage" sein soll (a. a. O. Seite 660) ist nicht einzusehen.
    12) Vgl.  meinen  "Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert", Jena 1896, Seite 104f.
    13) MILL, Logik III. Buch, (deutsche Übersetzung) Seite 352f.
    14) SOMBART, Sozialismus etc., Seite 9f und 72f.
    15) GUSTAV COHN, System der Nationalökonomie, Bd. I, 1885, Seite 646/47. Das Buch gilt bekanntlich als Standardwerk der ethischen Nationalökonomie. Es bezeichnet selbst als seine Aufgabe (Seite VII) "in systematischer Einheit dasjenige darzulegen, was man sich heute unter der Nationalökonomie als ethischer Wissenschaft zu denken hat".
    16) Wie ein sozial völlig indifferenter Seelsorger sein Amt aufzufassen hat, schildert sehr anschaulich P. GÖHRE in seinem neuesten Buch "Die evangelisch-soziale Bewegung, Leipzig 1896, Seite 29/30.
    17) Daß noch andere Nuancen des christlich-sozialen Standpunkts vorkommen, bezweifle ich nicht; sie sind aber erst recht verschwommen. So bezeichnete z. B. der 1877 von TODT, STÖCKER, WAGNER und MEYER gegründete Zentralverein für Sozialreform auf religiöser und konstitutionell-monarchischer Grundlage als seinen Zweck die "Vorbereitung sozialer Reformen". Vgl. GÖHRE, a. a. O., Seite 31.
    18) von HERTLING, Naturrecht und Sozialpolitik, 1893.
    19) THEODOR MEYER, Die Arbeiterfrage und die christlich-ethischen Sozialprinzipien, Freiburg 1891.
    20) Freiburg, Bd. III
    21) Vgl. übrigens noch die Artikel "Gesellschaft, christliche" a. a. O., Bd. II, Seite 1237f und "Naturrecht und Rechtsphilosophie", Bd. III, Seite 1423f. Grundlegend: PERIN, Les lois de la sociéte chretienne, 1876. Über THOMAS von AQUINO insbesondere handelt übersichtlich eine neuere Schrift: EDOURD CRAHAY, La Politique de saint Thomas d'Aquin, Louvain 1896.
    22) Rivista internationale die Scienze sociali ec. Vol. IV (1894), Seite 172. Zur Erläuterung des in jenem Programm vertretenen Standpunkts vgl. ENRICO COSTANZI, La restaurazione cristiana ed il problema sociale, Seite 377f; TONIOLO, La legislazione cristiana, a. a. O., Seite 703f; derselbe, La pretesa evoluzione sociale della chiesa, Bd. VI, Seite 1f.
    23) Rivista, a. a. O., Bd. IV, Seite 708
    24) Rivista, a. a. O., Bd. VI, Seite 19f
    25) M. de VOGÜE in der  Revue des deux Mondes  vom 15. 11. 1892.
    26) Es mag hier darauf hingewiesen werden, daß neuerdings sich auch in den Reihen der Katholisch-Sozialen, namentlich in Belgien und Frankreich andere - weniger klare - Auffassungen Bahn zu brechen scheinen. Die belgischen Katholiken neuerer Richtung finden ihren Zusammenschluß in der "Ligue démocatique belge" (Organ neuerdings die "Revue social catholique"). Die französischen scharen sich um die "Justice-social" des Abbé NAUDET. Doch habe ich bestimmt formuliert den neuen Standpunkt doch nirgends gefunden, sodaß er sich einstweilen als ein selbständiger dem älteren, klaren noch nicht gegenüberstellen läßt. Offenbar würde sich die jüngere Richtung im Prinzip den jüngeren Evangelisch-Sozialen nähern, deren Standpunkt im folgenden zu präzisieren versucht wird.
    27) Der radikale deutsche Sozialismus und die christliche Gesellschaft, 1877.
    28) Untertitel des Werkes.
    29) Abgedruckt bei GÖHRE, a. a. O., Seite 128.
    30) a. a. O., Seite 53
    31) GÖHRE, a. a. O., Seite 170.
    32) Drei Monate Fabrikarbeiter, 1891, Seite 221.
    33) Evangelisch-soziale Bewegung, Seite 56; vgl. auch Seite 102f.
    34) vgl. Seite 173f.
    35) Vgl. an neuerer Literatur: JOHN B. HAYCRAFT, Natürliche Auslese und Rassenverbesserung; deutsch von H. KURELLA, Leipzig 1895; ALFRED PLOETZ, Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen, Berlin 1895; dazu: PELMANN-Bonn, Rassenverbesserung und natürliche Auslese, Zentralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 1896; OTTO AMMON, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen, Jena 1895. Leider fehlt den naturwissenschaftlich gebildeten Verfassern doch fast durchgehends eine hinreichende sozialwissenschaftliche Schulung. Am fühlbarsten macht sich dieser komplette Mangel nationalökonomischer Kenntnisse bei OTTO AMMON geltend, dessen Buch infolgedessen einen Schlag ins Wasser bedeutet. Wenn der Verfasser (Seite 9) seinen Dilettantismus auf soziologischem Gebiet damit entschuldigt, daß Soziolgen, wie SCHÄFFLE, in der Naturwissenschaft dilettiert hätten, so vergißt er doch den großen Unterschied, daß jene Soziologen die Naturwissenschaften lediglich zu Analogiebeweisen oder als Hilfswissenschaften hervorgezogen, ihre Haupttätigkeit aber auf das Fach erstreckt haben, von dem sie etwas verstanden. AMMON dagegen will uns sozialwissenschaftliche Theorien geben ohne mit dem Gegenstand hinreichend vertraut zu sein. Mir ist kein Fall bekannt, daß ein Nationalökonom den Naturwissenschaftlern die Wege gewiesen und etwa ohne Kenntnis sagen wir des Darwinismus neue naturwissenschaftlich Theorien aufgestellt hätte. So aber verfährt AMMON auf dem Gebiet der Sozialwissenschaft.
    36) Ich verzichte dieses Mal darauf, mich mit einer in neuester Zeit, namentlich von MAX WEBER in seiner Freiburger Antrittsvorlesung "Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik" (Freiburg und Leipzig 1895) vertretenen Auffassung auseinanderzusetzen, wonach die  Idee nationaler Macht  zum Leitstern der Wirtschaftspolitik gemacht werden soll. Es handelt sich bei ihr einstweilen erst um einen hingeworfenen Gedanken, der der näheren Ausführung harrt. Ich glaube übrigens, daß sich der WEBERsche Standpunkt, namentlich in der Kritik der herrschenden Lehre, und im Ergebnis unserer Forschungen sehr nahe mit dem meinigen berührt. Beiden gemeinsam ist jedenfalls der Appell an das wirtschaftlich  Starke.  Etwaige Differenzpunkte, soweit sie sich nicht durch meine weiteren Ausführungen erledigen, werden zu späteren Erörterungen einen willkommenen Anlaß geben.
    37) a. a. O. Seite 42 und 45. Vgl. auch Seite 281: "In letzter Linie beruth ... die kapitalistische Produktionsweise [NB. von deren Geist AMMON kaum einen Hauch verspürt hat!] auf einem Naturgesetz." (!)
    38) GUSTAV COHN; System, Bd. 1, a. a. O., Seite 384
    39) STAMMLER, a. a. O., Seite 457
    40) Vgl. die oben schon zitierten Worte des arglos der ethischen Nationalökonomie verfallenen GÖHRE, a. a. O., Seite 184
    41) Zur Sozial- und Gewerbepolitik, 1891, Seite 62.