ra-2 J. WolfA. Ruge    
 
CARL JENTSCH
Weder Kommunismus noch Kapitalismus

"Wir sind der Ansicht, daß auf Forderungen des Rechts deswegen keine Sozialpolitik gegründet werden kann, weil darüber, was Rechtens sein soll, die Menschen bis ans Ende der Welt streiten werden. Weder die volkswirtschaftlichen noch die im engeren Sinne sozialpolitischen Fragen lassen sich juristisch lösen. Wie in aller Welt soll denn ermittelt werden, welcher Anteil, sei es des eigenen Arbeitsertrages, sei es vom Volkseinkommen, dem Einzelnen von Rechtswegen gebühre, wenn unter Recht nicht ein positives Vertragsrecht, sondern das ideale Recht, das Recht ansich verstanden wird? Wie will man, nicht auf dem Boden eines historischen, sondern dieses idealen Rechts die Rechtsansprüche der Klassen und Berufsstände gegeneinander abgrenzen? Eines ist so unmöglich wie das andere."

"Ihrem sittlichen Wert nach steht die Legalität auf einer Stufe mit der Sittsamkeit großstädtischer Hunde, die durch bescheidene Zurückhaltung und vorsichtige Anpassung an eine gefahrvolle Umgebung das harte Schicksal, bald auf den Schwanz, bald auf die Pfoten getreten, bald durchgeprügelt, bald hinausgeworfen zu werden, klug zu mildern verstehen. Daß die erzwungene Legalität mit den animalischen Lebensgeistern zugleich auch den Schwung der Seele niederdrückt, ist schon oft beklagt worden, von den stärkeren Geistern aber pflegen die Roheren im Widerstand gegen das Joch einer erzwungenen Herdenmoral Verbrecher zu werden, die Feineren überzuschnappen und sich an den Wahngebilden eines erträumten Übermenschentums zu laben."

Vorwort

Die "Grenzboten" schickten mir im vorigen Somer das Buch des Züricher Professors JULIUS WOLF zu, das der Freiherr von STUMM seitdem wiederholt im Reichstag empfohlen hat. Das Buch reizte mich zu einer Kritik, und da diese nicht an Einzelheiten kleben blieb, sondern aufs Ganze ging, so erweiterte sie sich zu einer Kritik der ganzen heutigen sozialpolitischen Diagnose und Therapeutik, so daß sie den Leser berechtigte, am Schluß positive Vorschläge zu fordern. So wuchst der Stoff über das Maß dessen hinaus, was eine Zeitschrift im Laufe eines halben Jahres verdauen kann und drängte zur Buchausgabe. In das dreizehnte Kapitel sind einige ältere "Grenzboten"-Aufsätze mit aufgenommen worden.

Für uns Deutsche ist die brennende Frage der Zeit nicht, ob die Sozialdemokratie, sondern wann das Elend siegen werde; das "ob" steht außer Frage, sofern nicht binnen kurzem neue Lebensbedingungen geschaffen werden. Ohne Zweifel sind alle bedeutenden Publizisten derselben Meinung, und wenn diese Meinung nur selten und schüchtern ausgesprochen wird, so liegt das daran, daß es die Verleger der großen Zeitungen aus naheliegenden Gründen nicht gestatten.

Zu meinem im fünfzehnten Kapitel entwickelten Vorschlag bin ich nicht von der hohen Politik aus, sondern auf einem privatwirschaftlichen Weg gelangt, auf den jeder Bewohner Schlesiens ganz von selber geraten muß, wenn er nicht ein Brett vor den Augen hat. Als Knabe hörte ich öfter von Gutsbesitzern, die für ihre Söhne im Posenschen billiges Land erworben hätten. Nachdem das Großherzogtum so ziemlich besetzt war, wandten sich unsere jüngeren Landwirte nach Galizien, endlich nach Russisch-Polen, wo es jederzeit Güter um billigen Preis teils zu kaufen teils zu pachten gab. Plötzlich trat die bekannte Wendung der russischen Politik ein. Der Abzugskanal wurde verstopft, die deutschen Pächter wurden teils ausgewiesen, teils wurde ihnen das Verbleiben bis zum Ablauf der Pachtzeit nur unter erschwerenden Bedingungen gestattet, die einen großen Teil der Frucht ihres Fleißes zunichts machten. Ich fragte mich nun: was soll fortan aus den überzähligen Gutsbesitzersöhnen werden? Sollen sie die Zahl der unverwendbaren Referendarien vermehren, oder sollen sie mit ihrem an kräftige Kost gewöhnten Magen Schulmeister mit sechs- bis achthundert Mark Gehalt werden, oder den brodelnden Kessel des Tagelöhner- und Fabrikarbeiterproletariats vollends zum Überlaufen bringen? Und ich meine, jeder Schlesier hat schon oft im stillen dieselbe Frage aufgeworfen. Dazu haben wir die oberschlesische Industrie vor Augen, die, in einen Sack gesperrt, erstickt. Seit etwa zehn Jahren verfolge ich die Spuren solcher, auch außerhalb Schlesiens, deren Gedanken sich in derselben Richtung bewegung, Nur schüchtern tauchen solche Gedanken auf, und es ist ja auch sehr schwierig, sie öffentlich auszusprechen, ohne ihr Ziel zu gefährden. Sie hätten so im Verborgenen verbreitet und der Verwirklichung entgegengeführt werden müssen, wie in der Zeit von 1806 bis 1813 der Gedanke der Erhebung des preußischen Volks. Aber mittlerweile ist es spät geworden. Wenn schon MOLTKE dafür hielt, daß die europoäischen Völker die Last des bewaffneten Friedens nicht mehr lange würden tragen können, so rückt die Gefahr in eine unheimliche Nähe, daß die Katastrophe an der unrichtigen Stelle ausbricht. Irgendeiner muß also endlich einmal mit der Sprache herausrücken, wie im Märchen vom unsichtbaren Königskleid das Kind, und so habe ich denn die entgegenstehenden Bedenken überwunden.

In Bezug auf das vierte Kapitel wird man vielleicht meine Zuständigkeit anfechten, da ich England nicht aus eigener Anschauung kenne. Aber was heißt denn das: England aus eigener Anschauung kennen? Kennt einer England, wenn er einen Sommer über bei einem Landsquire [Landadel - wp] zu Besuch gewesen ist? Kennt einer Deutschland, wenn er ein Jahr auf einem schlesischen Rittergut oder in einem Berliner Hotel oder in einer Pensioni im Rheingau verlebt hat? Wie viele Engländer und Deutsche kennen denn ihr eigenes Vaterland? Was weiß denn ein Bewohner der Tiergarten- oder der Wilhelmstraße von Berlin-Ost, und ein Holsteiner von den bäuerlichen Verhältnissen Hessens und Thüringens, wenn er es nicht etwa in Büchern gelesen hat? Und was tollen Urteilen über Schlesien bin ich in Baden begegnet! (1) Zuverlässige Angaben über die wirtschaftliche Entwicklung Englands liegen in solcher Fülle vor, daß sich darauf ganz sichere Urteile gründen lassen. Ein übrigens sehr wohlwollender Beurteiler meiner "geschichtsphilosophischen Gedanken" meint, ich hegte eine Abneigung gegen England. Das ist nicht der Fall. Die weltbekannten guten Eigenschaften des englischen Volkscharakters, deren Kehrseite die schlechten bilden, sind mir gerade ungemein sympathisch. Aber es kam in jenem wie in diesem Buch nicht darauf an, Völkerpsychologie zu treiben oder die Lichtseiten des englischen Lebens zu schildern, sondern die Deutschen vor dem Betreten eines Weges zu warnen, der ins Verderben führen müßte, selbst wenn es nicht schon zu spät dazu und für ein zweites Kolonialreich nach englischem Muster kein Raum mehr wäre auf Erden. Man braucht nur folgende Tatsachen nebeneinander zu stellen, um zu erkennen, daß die englischen Verhältnisse ungesund, unnatürlich und auf die Dauer unhaltbar sind. Großbritannien mit Irland hat auf 1000 Hektar 349 Hektar unproduktiven Boden (Deutschland 53) und nur 188 Hektar Ackerland (Deutschland 484, Preußen 503); es erzeugt nur etwa ein Fünftel der für den heimischen Bedarf notwendigen Brotfrüchte. Bei so enormen Übergewicht der Nachfrage über das Angebot müßte doch die englische Landwirtschaft eine Goldgrube sein. Stattdessen werden Pächter bankrott, der Körnerbau nimmt von Jahr zu Jahr ab, und erst kürzlich ist, wie die Zeitungen melden, in der Grafschaft Norfolk ein 4000 Acres (1600 Hektar) großes Gut außer Kultur gesetzt worden. Die Pächter, die sich bis vor zehn Jahren in die Bewirtschaftung teilten, sind einer nach dem andern bankrott geworden. Dann versuchte es der Besitzer selbst zu bewirtschaften; da er aber nicht durchkam, so hat er das Inventar verkauft und läßt das Land brach liegen.

Da mit dieser Arbeit so wenig, wie eta mit einer Kriminalstatistik oder einem Krankheitsbild in einer medizinischen Wochenschrift, ein Kulturgemälde entworfen werden soll, so wird man mir hoffentlich nicht den Vorwurf machen, daß ich einzelne Stände oder gar unser ganzes Volk verleumdet hätte. Wenn der Arzt eine Krankheit beschreibt und die Heilmittel angibt, so hat er nicht zugleich die Schönheit des Körpers zu beschreiben, in dem die Krankheit wütet. Aber je schöner und edler der erkrankte Leib ist, desto energischer müssen alle, denen an seiner Erhaltung liegt, die Krankheit bekämpfen; und von je edleren Absichten sich die meisten Angehörigen der höheren Stände beseelt wissen, desto dringender müssen sie sich aufgefordert fühlen, aus einer Lage hinauszustreben, die sie fortwährend zwingt, wider Willen Verkehrtes zu tun.


Erstes Kapitel

Ein neuer Vorkämpfer des Kapitalismus

Wenn es im Haus an Geld zu fehlen anfängt, so pflegen Mann und Frau zunächst übler Laune zu werden und einander gegenseitig mit Vorwürfen zu überhäufen. Zuweilen sind die Vorwürfe nach der einen oder der andern oder nach beiden Seiten hin begründet, zuweilen rührt auch die Not von äußeren Verhältnissen her, für die keiner von beiden etwas kann.

Sämtliche europäische Völker, nur Frankreich vielleicht ausgenommen, gehen augenscheinlich ihrem Bankrott entgegen. Daher ist zur Zeit jedes Glied jedes Volkshaushalts mit Erbitterung gegen alle andern Glieder erfüllt, und mit der steigenden Not wird diese Erbitterung steigen. Was in diesem Fall die Schuld anlangt, so liegt sie teils an Fehlern, die von den herrschenden Klassen als den Wirtschaftsleitern begangen worden sind und noch täglich begangen werden, teils an natürlichen Verhältnissen, für deren Entstehung die herrschenden Klassen nichts können, die aber, sobald sie erkannt werden, nicht mehr unabänderlich sind. Daß man sie sowie die begangenen Fehler erkenne, ist die selbstverständliche Voraussetzung der Besserung.

Nicht wenige denkende Männer haben beides erkannt und sind daran, diese Erkenntnis zu verbreiten. Wenn nun ein Mann aufsteht, der mit einem großartigen wissenschaftlichen Rüstzeug und in packender populärer Sprache den Scheinbeweis führt, daß unsere Verarmung nur ein Schreckgespenst der Einbildungskraft sei, daß wir Heutigen reicher gemacht worden seien, so tut er damit etwas im höchsten Grade verderbliches; sollte er Erfolg haben, so würde er ein Werkzeug eines Gottes gewesen sein, der die verblendet, die er verderben will. Professor JULIUS WOLF in Zürich hat dieses Verhängnisvolle unternommen im ersten Band seines bei Cotta in Stuttgart erscheinenden  Systems  der Sozialpolitik, den er "Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung" betitelt - eine kritische Würdigung beider als Grundlegung einer Sozialpolitik. Aus dem Buch spricht ein liebenswürdiger, edler und dabei klarer Geist; aber ins Studierzimmer eingeschlossen und dem wirklichen Leben fremd, hat dieser Geist die Bücher und Zahlentabellen, aus denen er sein Wissen und sein Urteil schöpft, nicht richtig zu deuten vermocht. Mit seinen ethischen, historischen und politischen Anschauungen stimmen wir in den meisten Punkten überein, aber diese Übereinstimmung läßt uns das Gefährliche des Buches nur umso viel gefährlicher erscheinen. Vielleicht wird sich aus dem zweiten Band ergeben, daß seine Sozialpolitik ganz die unsere ist; allein wenn die Politiker, der Einlandung des Verfassers folgend, auf die Voraussetzung der Vortrefflichkeit des herrschenden Wirtschaftssystem bauen, dann bauen sie auf Sand. So sehr wir den guten Gedanken des Buches die weiteste Verbreitung wünschen, so dringend müssen wir wünschen, daß die Herrschenden das süße Opiat seiner Reichtumsstatistik, das sie mit Wollust schlürfen werden, nicht ohne Gegengift einnehmen. Ein solches gedenken wir zu bereiten, dabei jedoch unserem eigenen Gedankengang zu folgen, indem wir nur einzelne Stellen des Buches von WOLF kritisieren. (Die Überschriften seiner fünf Abschnitte lauten:
    1. Eine Geschichte der soziale Moral, gleichzeitig Geschichte der sozialen Grundrechte.

    2. Das soziale Recht; moderner Standpunkt.

    3. Kritik des Sozialismus.

    4. Kritik der "kapitalistischen" Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

    5. Gerechtigkeit.
Der Verfasser ist "jedem Streit über Begriffe aus de Weg gegangen." Streiten wollen wir auch nicht, aber so weit muß doch der Begriff berücksichtigt werden, daß man sich mit dem Leser über die Bedeutung der zu gebrauchenden Wörter verständigt, sonst schreibt man ins Blaue hinein. Nachdem der Verfasser die Nationalökonomie (er meint eigentlich die Nationalökonomik) richtig definiert hat, erklärt er die Sozialpolitik für einen "Abschnitt" der praktischen Nationalökonomie, nämlich für den, der sich mit der Güterverteilung zu beschäftigen habe. Diese Begriffserklärung ist offenbar viel zu eng. Zwar aus dem konfusen Geschwätz über Sozialpolitik, das seit einigen Jahren in Parlamenten, amtlichen Kundgebungen, Zeitungen, Vereinssitzungen, Volksversammlungen, Schullehrerkonferenzen und weiß Got wo noch verführt wird, ist kein Aufschluß über den Sinn des Wortes zu erlangen. Aber nachdem SCHÄFFLE sein großes Werk über den Bau der Gesellschaft geschrieben, und nachdem sich eine ganze Schule von Soziologen gebildet hat, darf man wohl die Soziologie als die Lehre vom Bau, den Lebensbedingungen und Lebensverrichtungen der Gesellschaft bezeichnen. Die Sozialpolitik würde dann die Wissenschaft von dem sein, was der Staat zu tun hat, um den Gesellschaftsbau lebendig und in guter Gesundheit zu erhalten. Denn nicht um einen toten, sondern um einen organischen Bau, um einen beseelten Leib handelt es sich, und daher ist in dieser Wissenschaft zuerst nach der Gliederung des Gesellschaftsbaus oder Gesellschaftskörpers, oder vielmehr nach der Gliederung  dieses  Körpers, bei uns Deutschen des deutschen Gesellschaftskörpers, zu fragen, der ja ganz anders gebaut ist als der englische, italienische und russische; am ähnlichsten ist er dem französischen. Nun können die Glieder dieses Körpers zwar keinen Augenblick ohne Güter sein, aber die erste Frage lautet doch nicht, wieviel und welche Güter sie haben, sondern was sie selbst sind, z. B. ob sie Freibauern oder Pächter, Fabrikarbeiter oder Handwerksmeister und Gesellen sind, und in welchem Verhältnis der Über- und Unterordnung oder Beiordnung sie zueinander stehen oder stehen sollen. Eine der brennendsten sozialen Fragen unserer Zeit z. B. - die beliebte Einzahl: "die soziale Frage" ist ein gräßlicher Unsinn - lautet: Ist ein freier Stand besitzloser Arbeiter möglich? Woher für Arbeiter, die keinen eigenen Acker haben, das Brot genommen werden soll, ist keine soziale, sondern eine wirtschaftliche Frage. Freilich interessiert sie den Sozialpolitker in hohem Grade; denn wenn es dem Arbeiter an Brot fehlt, so verfällt dieses Glied des Gesellschaftskörpers einem leiblichen und geistigen Siechtum, und zugleich tritt zwischen ihm und den übrigen Gliedern eine feindselige Spannung ein. Sozialwissenschaft und Volkswirtschaftslehre sind vielfach miteinander verflochten, aber die erste ist nicht ein Teil der zweiten; eher dürfte man die zweite der ersten unterordnen und sagen, die Volkswirtschaft habe zu untersuchen, wie die Glieder des Gesellschaftskörpers mit den notwendigen Gütern zu versorgen seien.

Ferner: hätte sich WOLF die Begriffe Sozialismus und Kapitalismus klar gemacht, so würde er sich nicht durch den Krieg der Sozialisten gegen das "Kapital" und den der Kapitalisten gegen die Sozialdemokraten haben verleiten lassen, beide als Gegensätze zu behandeln und für den zweiten gegen den ersten einzutreten. Der Gegensatz des Sozialismus ist nicht der Kapitalismus, sondern der Individualismus, und wer den Kapitalismus bekämpft, ist darum noch kein Kommunist. Darin sind sich heutzutage wohl so ziemlich alle Denker einig, ja auch WOLF selbst äußert sich gelegentlich so, daß sich Sozialismus und Individualismus nicht zueinander verhalten wie Gott und Teufel, wobei die Parteigänger jedes der beiden Systeme das ihrige für göttlich und das des Gegners für teuflisch erklären, sondern daß sie polare Gegensätze und einer so unentbehrlich wie der andere sind, sodaß in jedem einzelnen Fall nur um die Abgrenzung ihrer Berechtigung gestritten werden kann. Die Alleinherrschaft des Individualismus würde zunächst zur Vernichtung des Staates führen. In der Tat war im individualistischen England der Staat zeitweilig nahe daran, zu verschwinden, während dem preußischen Staatswesen das vorherrschende Staatsgefühl immer einen kräftigen sozialistischen Zug aufgedrückt hat. Der Kapitalismus nun findet seine Rechnung allerdings am besten bei schwacher Staatsgewalt und nach Sprengung aller sozialen Verbände; aber erweiß sich doch auch in die Verhältnisse zu schicken, eine starke Regierung sehr gut für seine Zwecke zu benutzen und der Organisation der Besitzlosen und der kleinen Besitzer seine eigenen Organisationen gegenüberzustellen. Andererseits ist nichts törichter, als im Kampf gegen die Kapitalismus einen Angriff auf das Privatvermögen zu sehen. Im Gegenteil ist es gerade der Kapitalismus, d. h. die grundsätzliche und planmäßige Förderung der Übermacht des Großkapitals, der das Privateigentum von neun Zehntel der Volksgenossen bedroht und zum Teil schon verschlungen hat. Im Mittelalter gab es Privateigentum, aber keinen Kapitalismus; dasselbe gilt noch heute von solchen orientalischen Ländern, die sich, wie Bulgarien, einen kräftigen Bauernstand bewahrt, und wo sich solche Kulturpflanzen wie die Großindustrie, das Staatsschuldenwesen, der Börsenschwindel und der Wucher noch nicht eingenistet haben. Wenn demnach WOLF mit seinem Buch dahin abzielt, "den Sozialismus als Volksbetörer lahm zu legen," so ist es kein geringerer als der Staat, auf den sein tödliches Geschoß gerichtet ist; denn ein unsozialer Staat ist ein Unding. Was er meint, ist nun freilich nicht jener Sozialismus, den wir meinen, und den er selber für notwendig hält, sondern die Sozialdemokratie. Aber auch in diesem Sinne bleibt seine Absicht noch höchst bedenklich. Die Tätigkeit der Sozialdemokratie ist für unsere deutsche Gesellschaft und für unser Staatswesen nicht allein heilsam, sondern vorderhand sogar noch notwendig. Sie übt an den herrschenden Zuständen eine Kritik, die zwar in vieler Beziehung der Berichtigung bedarf, die aber doch besser ist als gar keine, und ohne jene Partei würden wir keine haben. Zugleich strebt sie, die Lage der unteren Klassen zu verbessern, und hat mit diesem Streben bereits einigen Erfolg gehabt, denn ohne sie würde u. a. das, was man heute Sozialpolitik nennt, gar nicht vorhanden sein. In dieser negativen und positiven Tätigkeit steckt nicht von Betörung, sondern sie beruth auf Wahrheit und wirkt in dem teilweise erkrankten Gesellschaftskörper als Heilsmittel. Als Betörung kann man höchstens die Zukunftsräume der Sozialdemokratie bezeichnen; allein diese sind teils harmoloser Natur, teils unter den obwaltenden Umständen, d. h. beim Abgang anderweitiger Ideale, fast unentbehrliche Jllusionen.

Da WOLF auf die Grundlage klarer Begriffe verzichtet hat, darf man sich nicht wundern, daß ihm die ganze Anlage seines Baus windschief geraten ist, nicht allein in der falschen Gegenüberstellung von Sozialismus und Kapitalismus, sondern auch noch in anderer Beziehung. Die volkswirtschaftlichen und die im engeren Sinne sozialpolitischen Abschnitte seines Buches greifen schlecht ineinander ein, und seine Sozialpolitik läuft zudem auf eine Rechtsphilosophie hinaus, eine Rechtsphilosophie, mit der wir für unsere Person so ziemlich übereinstimmen, die wir aber für sehr unwirksam halten. Er geht von einer geschichtsphilosophischen Betrachtung aus, die ganz in unserem Sinne gehalten ist, und sagt sehr schön: "Für uns hier stellen wir nur das eine fest: daß, wie immer der Menschheitszweck gefaßt wird, er sicherliche nur erreicht werden kann auf dem Weg über eine befriedigende materielle Existenz des Einzelnen." Demnach stehe die Sozialpolitik "mitten auf der Brücke, die von den Bedingungen [Lebensbedingungen?] des Menschen zu seiner Aufgabee hinüherführt." Nach folgendem Plan habe sie zu verfahren: "Sie hat festzustellen, was Rechtens ist, und auf dieser Basis, mit Beachtung der der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Mittel, ein Programm von Forderungen zu entwickeln." Mit diesem Ideal habe sie die Wirklichkeit zu vergleichen, daraus zu erkennen, was verbesserungsbedürftig sei, endlich die Mittel und Wege zur Besserung anzugeben. Wir sind nur der Ansicht, daß auf Forderungen des Rechts deswegen keine Sozialpolitik gegründet werden kann, weil darüber, was Rechtens sein soll, die Menschen bis ans Ende der Welt streiten werden. Weder die volkswirtschaftlichen noch die im engeren Sinne sozialpolitischen Fragen lassen sich juristisch lösen. Wie in aller Welt soll denn ermittelt werden, welcher Anteil, sei es des eigenen Arbeitsertrages, sei es vom Volkseinkommen, dem Einzelnen von Rechtswegen gebühre, wenn unter Recht nicht ein positives Vertragsrecht, sondern das ideale Recht, das Recht ansich verstanden wird? Wie will man, nicht auf dem Boden eines historischen, sondern dieses idealen Rechts die Rechtsansprüche der Klassen und Berufsstände gegeneinander abgrenzen? Eines ist so unmöglich wie das andere. Auch wir haben z. B. die Empfindung, daß eigentlich jeder arbeitende oder wenigstens arbeitswillige Mensch Anspruch hat auf ein Stück heimischen Boden; aber wer dieser Empfindung in einem Gesetzesvorschlag Ausdruck verleihen wollte, der würde sich damit doch nur lächerlich machen. Nicht aus solchen Empfindungen ist die kurbrandenburgeische und preußische Bauernpolitik geflossen, sondern aus der Einsicht, daß der König für sein Heer "Kerls" und Pferde braucht, für die Staatsverwaltung aber Steuern, und daß alle drei Bedürfnisse nicht von Latifundien [Großgrundbesitz - wp] mit proletarischer Arbeiterschaft, sondern nur von Bauernhöfen bestritten werden können. Immer sind es nur solche, wenn man will gemeine, Erwägungen, nicht Ideale und Empfindungen, auf die der Gesetzgeber baut. So wohltätig demnach auch ein lebhaftes und feines Rechtsgefühl auf die Volkswirtschaft wie auf die Sozialpolitik einwirken mag, und wie hoch wir demgemäß auch das Verdienst aller Staatsmänner und Richter, aller Geistlichen und Lehrer, aller Schrifsteller und Volksredner veranschlagen, die den Rechtssinn wecken, schärfen und verfeinern, so fragen wir doch bei volkswirtschaftlichen und sozialen Dingen nicht danach, was das Recht fordert, sondern was notwendig ist, was wünschenswert, was möglich und erreichbar sei, denn darüber kann unter Verständigen eine Einigung erzielt werden. Und wenn in der Kritik des uns vorliegenden Buches mehr als einmal auf schreiende Ungerechtigkeiten hingewiesen werden wird, so geschieht es nicht, um den sittlichen Unwillen zu erreigen oder zum Emporstreben aus dieser schlechten Wirklichkeit in einen Idealzustand verwirklichter Gerechtigkeit anzuspornen, sondern zu zwei ganz anderen Zwecken. Erstens sind diese Ungerechtigkeiten von einem hochzivilisierten Volk im neunzehnten Jahrhundert verübt worden, und indem wir sie hervorheben, wollen wir den Wahn zerstören, als ob heute und in Europa "so etwas nicht mehr vorkommen könne," als ob unser Geschlecht durch seine Humanität und seinen Gerechtigkeitssinn allein schon vor dem Rückfall in eine Barbarei geschützt wäre, die Staat und Gesellschaft mit dem Untergang bedroht. Zweitens aber ist es von höchster Wichtigkeit, festzustellen, daß gewisse volkswirtschaftliche und soziale Übel keineswegs durch natürliche Ursachen erzeugt, sondern durch menschliche Bosheit verschuldet worden sind, daher geheilt und für die Zukunft vermieden werden können.

Von diesem Standpunkt aus können wir der übrigens sehr anziehenden Geschichte der sozialen Moral und der sozialen Grundrecht, die WOLF im ersten Abschnitt liefert, nur eine rein akademische, also für unseren praktischen Zweck untergeordnete Bedeutung beimessen. Doch dürfen wir sie, schon wegen der vielen Berührungspunkte mit unseren eigenen bei verschiedenen Gelegenheiten kundgegebenen Ansichten, auch nicht gänzlich übergehen. Indem WOLF die Frage nach dem Fortschritt der Moral im allgemeinen aufwirft, kommt er zu dem Ergebnis, daß die exoterische Sittlichkeit zweifellos fortgeschritten, die esoterische aber zurückgeblieben ist; doch will er auch am Fortschritt dieser nicht verzweifeln und glaubt, daß sie durch jene gefördert werde. Unter exoterischer Sittlichkeit versteht er nämlich "die zur Schau getragene und äußerlich geübte, unter esoterischer die innerlich empfundene, dem Drang des Herzens entquellende." Mit den von WOLF wahrgenommenen Tatsachen hat es seine Richtigkeit, nur ist der Ausdruck exoterische Sittlichkeit nicht ganz zutreffend; die Sittlichkeit sitzt immer inwendig. Was er mit jenem Ausdruck meint, ist einerseits die Legalität, andererseits die öffentliche Meinung über Sittlichkeitsfragen. Jene wächst selbstverständlich mit der bei enger Zusammendrängung der Menschen notwendigen Zwangsgewalt des Staates, der gegenüber die Willkür des Einzelnen niemals so ohnmächtig gewesen ist wie heute. Ihrem sittlichen Wert nach steht die Legalität auf einer Stufe mit der Sittsamkeit großstädtischer Hunde, die durch bescheidene Zurückhaltung und vorsichtige Anpassung an eine gefahrvolle Umgebung das harte Schicksal, bald auf den Schwanz, bald auf die Pfoten getreten, bald durchgeprügelt, bald hinausgeworfen zu werden, klug zu mildern verstehen. Wie weit sie einen günstigen Einfluß auf die wirkliche, die innerliche Sittlichkeit übt, weiß Gott allein; gewisse ungünstige Einflüsse verraten sich auch dem menschlichen Beobachter. Daß die erzwungene Legalität mit den animalischen Lebensgeistern zugleich auch den Schwung der Seele niederdrückt, ist schon oft beklagt worden, von den stärkeren Geistern aber pflegen die Roheren im Widerstand gegen das Joch einer erzwungenen "Herdenmoral" Verbrecher zu werden, die Feineren überzuschnappen und sich an den Wahngebilden eines erträumten Übermenschentums zu laben. Bei leidlicher Freiheit bleibt das Menschentier ein ziemlich harmloses Geschöpf, in den Käfig gesperrt, wird es leicht zur rasenden Bestie. Was aber die öffentliche Meinung anbelangt, so ist es nicht ganz überflüssig, sich darauf zu besinnen, seit wann, wie und wodurch ihr Urteil so scharf geworden ist. Das Verdienst dafür gebührt der Reformation, die ihre Berechtigung zunächst aus der sittlichen Verderbnis des Papsttums ableitete. Daraus entsprang einerseits für die neue Kirche die Ehrenpflicht, am Leben ihrer Mitglieder bessere Früchte nachzuweisen, andererseits für die alte die Notwendigkeit, sich äußerlich mehr als bisher zusammenzunehmen, zugleich aber die notgedrungene und bald zur Gewohnheit werdende Taktik aller Konfessionen und Sekten aneinander Kritik zu üben und übereinander Sittenpolizei zu spielen und jede Blöße des Gegners der Öffentlichkeit zu denunzieren. Diese Gewohnheit und Taktik ist dann auf die politischen Parteien übergegangen, und nachdem sich der Klatschsucht Presse und Telegraph, der Verfolgungssucht die großartigsten Staatsveranstaltungen zur Verfügung gestellt haben, ist es höchst lustig oder für Lute von anderem Geschmack erbärmlich anzusehen, wie ein jeder Sünder auf die Sünder der anderen Parteien aufpaßt und ihnen das Publikum, die Polizei und den Staatsanwalt auf den Hals hetzt. Für die Echtheit der sittlichen Entrüstung, die solchergestalt jahraus jahrein die Öffentlichkeit durchtobt, gibt es einen ziemlich sicheren Prüfstein: verdammt einer solche Sünden, zu denen er selbst keine Versuchung hat, so meint er es aufrichtig. Darum ist die Entrüstung der Reichen über die Diebereien, das Vagabundentum und die Unbotmäßigkeit der Armen so ehrlich wie deren Entrüstung über die Härte und die ungerechten Gewinne der Reichen und über die vermeintlichen Ungerechtigkeiten parteiischer Richter. Zu sinnlichen Genüssen fühlen sich die meisten Menschen in allen Klassen gleich stark versucht, daher ist, wo es sich nicht gerade um wirkliche Verbrechen und Schandtaten handelt, die Entrüstung über Ausschreitungen der Genußsucht in neun von zehn Fällen erheuchelt und mit ein wenig Neid versetzt, mögen die sich Entrüstenden Protestanten oder Katholiken, Konservative, Deutschfreisinnige oder Sozialdemokraten sein.

Die Geschichte der sozialen Moral teilt WOLF auf zweierlei Weise ein. Einmal läßt er drei Zeiten der Unterdrückung von drei Zeiten der Humanität abgelöst werden. Die der Humanität sind die römische Kaiserzeit, die Renaissance und die im vorigen Jahrhundert beginnende Periode - eine geistreiche und nicht begründete Auffassung. Sodann aber teilt er die ganze Zeit der sozialen Entwicklung in drei sehr ungleich lange Perioden. Die erste umfaßt das ganze Altertum, das Mittelalter und die neuere Zeit bis ins vorige Jahrhundert hinein. In dieser ganzen Zeit galt nach ihm das Recht des Stärkeren. Die zweite "Epoche" soll sich erstrecken "von der Gewährung des Rechts auf Freiheit bis zur Erkenntnis von der Unfähigkeit des Rechts auf politische Freiheit, der wirtschaftlichen Vergewaltigung Schranken zu ziehen." Die dritte ist die "in unseren Tagen begonnene Epoche der Verwirklichung des Rechts auf Freiheit auch nach der wirtschaftlichen Seite hin und der Realisierung des Rechts auf Existenz und auf den vollen Arbeitsertrag." Demnach würde der zweite Abschnitt für Frankreich 1789, für Preußen 1807 anfangen. Für England läßt er die zweite 1848 schließen; wir werden sehen, daß sie da eigentlich noch nicht einmal begonnen hatte.

Schon jetzt aber mag angemerkt werden, daß es um die praktische Verwirklichung der "Menschenrechte", die von den Theoretikern seit 150 Jahren so pompös verkündet worden sind, recht kläglich bestellt ist, ja daß wir sogar in der Theorie noch nicht über die antike Anschauung hinaus sind. Diese charakterisiert WOLF ganz richtig dahin, daß sie keine allgemeinen Menschenrechte, sondern nur Rechte der freien Volksgenossen kannte, während dem Sklaven und dem Ausländer, wenn überhaupt ein Recht, nur das Recht von Schützlingen und Gästen eingeräumt wurde. Nun hat der schottische Geistliche TOWNSEND in seinem Buch "Die Armengesetze, beurteilt von einem Menschenfreund" folgendes geschrieben:
    "Die Armen wissen wenig von den Beweggründen, die die höheren Klassen zur Tätigkeit reizen: Stolz, Ehrgefühl und Ehrgeiz. Im allgemeinen ist es der Hunger allein, der sie zur Tätigkeit anstacheln kann. Aber unsere Gesetze wollen sie nicht hungern lassen. Freilich sprechen sie zugleich aus, daß sie zur Arbeit gezwungen werden sollen. Doch ist gesetzlicher Zwang zur Arbeit mit viel zu viel Mühe, Gewaltsamkeit und Aufsehen verbunden, während der Hunger nicht nur einen friedlichen, schweigsamen und unaufhörlichen Druck ausübt, sondern auch als natürlichster Antrieb zur Arbeit am wirksamsten die kräftigste Anstrengung hervorruft."
WOLF findet, daß solche Äußerungen englischer Moralisten eine starke Ähnlichkeit mit der Sklaventheorie des ARISTOTELES haben: "Hier wie dort die Behauptung: die Natur will und die Gesellschaft braucht zweierlei Menschen: Bervorrechtete und Mißbrauchte." Wir werden sehen, daß WOLF selbst über diesen Satz nicht hinauskomt. So viel über das Sklavenrecht. Was aber das Fremdenrecht anlangt, so fällt es keiner der europäischen Nationen, die sich jetzt um den schwarzen Erdteil balgen, auch nur im Traum ein, den Afrikanern, die sie teils unterjocht, teils mit Feuer und Schwert aus ihren Dörfern vertrieben haben, Gleichberechtigung zu gewähren; die Sklaverei wird mit einem großen Aufwand sittlicher und christlischer Entrüstung nur bekämpft, damit man die Farbigen ärger ausnutzen kann, als sie von ihren einheimischen Herren ausgenutzt werden. Das einzige, an dem die Schwarzen gebessert werden würden, wenn die vollständige Unterwerfung Afrikas gelänge, würde die Beseitigung der Metzeleien bei Sklavenjagden und bei den Opferfesten einzelner Negerhäuptlinge sein. Einander haben die europäischen Völker Gleichberechtigung zugestanden, nachdem sie sich in blutigen Kriegen vergebens abgemüht haben, einander zu unterjochen. Daß es eben nur die Furcht vor neuen Niederlagen und nicht die Idee der allgemeinen gleichen Menschenrechte ist, was augenblicklich die Großmächte bestimmt, die Mordwaffen vorderhand nur zu schärfen, anstatt sie zu gebrauchen, sehen wir am wilden Haß, mit dem überall in Europa, wo innerhalb desselben Staates verschiedene Nationen beisammen wohnen, die Minderheiten von den Mehrheiten unterdrückt werden. Auch auf diesem Gebiet ist es nur die heuchlerische Phrase, was uns vor den Alten auszeichnet, nebst der Technik, die sich selbst die Mittel ihrer Verbreitung schafft und mit den Waffen, die wir selbst führen, auch unsere Feinde ausrüstet. WOLF zitiert folgenden Ausspruch aus "Lukrezia Borgia" von GREGOROVIUS: "Wenn wir einen Menschen, wie ihn unsere Zivilisation erzogen hat, mitten in jene Renaissance versetzten, so würde die tägliche Barbarei, welche an den damals Lebenden eindruckslos vorüberging, sein Nervensystem zugrunde richten und vielleicht seinen Geist verwirren." WOLF fügt hinzu:
    "Ist hier bloß an die Schwachnervigkeit oder an die Charakterüberlegenheit unserer Zeit gegen die der Renaissance gedacht? Wir glauben, es ist beides anzunehmen. Die erste wird unter Umständen vorerst der Beschönigung statt der Ausmerzung des Übels Vorschub leisten; aber die Ausmerzung wird doch ihr letztes Ergebnis sein. Von dieser Ausmerzung aber und den auf sie gerichteten Bestrebungen wird ein günstiger Einfluß auch auf den Charakter ausgehen."
Welches Glück, daß GREGOROVIUS mit seiner zart besaiteten Seele niemals in die Arbeiterstadt von Manchester oder in gewisse russische Dörfer verschlagen (2) worden ist! Er würde den Verstand verloren haben und wir würden ums seine schönen Werke gekommen sein. Die Fabrikanten von Manchester und die russischen Beamten haben stärkere Nerven; ihnen verdirbt der Anblick nicht einmal den Appetit an einer ihrer opulenten Mahlzeiten; übrigens verstehen es beide meisterhaft, das kompromittierendste vor den Augen unberufener zu verbergen. Ein solcher Herr in Manchester, dem Engels von den Zuständen der Arbeiterstadt zu sprechen anfing, sagte: "And yet there is a great deal of money made here: good morning, Sir!" [Und dennoch kann hier jede Menge Geld gemacht werden und noch einen schönen Tag, Herr Engels! - wp] Vielleicht wäre sogar schon in den Schlaflöchern der Burschen mancher Berliner Bäcker und Wurstmacher die Probe für unsere zarten Nerven zu hart; Sänitätskommissionen wenigstens pflegen sich vor solchen Proben zu hüten; sie beschränken sich auf die Besichtigung der Läden, wo selbstverständlich die peinlichste Sauberkeit herrscht und freundliche Gesichter strahlen. Die Besserung des Charakters durch die Nerven könnte wohl nach dem von WOLF entwickelten Programm vor sich gehen, aber wenn er meint, das sei im Großen und Ganzen wirklich schon geschehen, so täuscht er sich.

Er spricht in demselben Zusammenhang auch von der in sozialer Beziehung allerdings sehr wichtigen Empfindung des Mitleids und offenbart hier, während er anderen Unwissenheit vorwirft, selbst bedenkliche Lücken. "Wenn man etwas mehr Geschichte kennte - sagt er -, dann würde man wissen, daß das Mitleid - nicht als Tugendbegriff, sondern als Tugendempfindung einer großen Zahl - eine kaum zweihundertjährige Geschichte hat." Nicht zweihundert, sondern zweitausend und einige hundert Jahre ist die Mitleidsreligion BUDDHAs alt. Vor zweihundert Jahren schrieb man 1693, und damals lebte in Europa das mitleidloseste Geschlecht, das jemals die Sonne beschienen hat. Hundert Jahre früher war man auch schon hart gewesen, scheint aber doch nicht so aller zarteren Regungen bar gewesen zu sein. SHAKESPEARE schrieb doch nicht zu seinem Privatvergnügen, sondern für ein sehr gemischtes Publikum; selbst ein Kind des Volkes, kannte er, wie das Menschenherz überhaupt, auch die Empfindungsweise seines Volkes von Grund auf. In seinen Stücken spielt nun das Mitleid eine ganz bedeutende Rolle. WOLF zitiert ein paar Seiten weiterhin zu einem anderen Zweck eine Stelle aus KING JOHN; es ist sonderbar, daß ihm nicht die rührende Szene einfallen ist, wo der kleine ARTHUR seinen Kerkermeisten HUBERT durch Mitleid bewegt, von der anbefohlenen Blendung abzusehen. An der ehernen Brust der Folterknechte des siebzehnten Jahrhunderts, an der Roheit englischer Fabrikanten und Fabrikaufseher des neunzehnten Jahrhunderts, an der Kälte der "klassischen" Nationalökonomen sind alle Klagen und Bitten gemarterter Kinder wirkungslos abgeprallt. SHAKESPEAREs Königsdramen dagegen enthalten eine Menge Stellen, die beweisen, daß schon die bloße Tötung eines Kindes im Jähzorn oder aus politischen Gründen damals noch als etwas Ungeheuerliches empfunden wurde; von Mißhandlungen und Grausamkeiten ist mit Ausnahme jener beabsichtigten, aber nicht ausgeführten Blendung überhaupt keine Rede. Man erinnere sich an die Urteile und Klagen über die am jungen RUTLAND und am Sohn der Königin MARGARET begangenen Mordtaten im dritten Teil von HENRY VI. und in RICHARD III. "das wildeste Tier kennt doch des Mitleids Regung," spricht ANNE in der so widerlich burlesk endenden Szene am Sarg ihres jugendlichen Gatten zu GLOSTER; und dann des zarten Monologs des wilden TYRREL über die in seinem Auftrag vollzogene Ermordung der schlafenden Söhne des König EDWARD. Den Alten spricht WOLF das Mitleid rundweg ab, was in Anbetracht des berühmten aristotelischen Wortes, die Tragödie habe Furcht und Mitleid zu erregen, ein starkes Stück ist von einem deutschen Professor. Vielleicht behandeln wir den höchst interessanten Gegenstand einmal besonders. Für heute mag die Bemerkung genügen, daß man die Wahrheit in dieser Sache leichter ermitteln wird, wenn man nicht fragt, ob die Alten mitleidig, sondern ob sie grausam waren. Die Grundstimmung der griechischen Volksseele wird zur Genüge durch die Tatsache charakterisiert, daß das athenische Volk einen Mann, der einen Widder lebendig geschunden hatte, zum Tode verurteilte, weil es meinte, ein Mensch, der einer solchen Grausamkeit gegen ein Tier fähig sei, könne ähnliches wohl auch einmal an Menschen verüben; und es hat dabei, nebenbei bemerkt, mit seiner gesunden Empfindung jenen einzig richtigen Grundsatz der Strafrechtspflege aufgedeckt, für den unser heutiges verkünsteltes Geschlecht beinahe blind zu sein scheint. Die Alten waren hart, wo harte Maßregeln zur Erreichung eines politischen oder sonstigen wichtigen Zweckes notwendig schienen, aber sie empfanden gegen nutzlose Grausamkeiten einen starken sittlichen und gegen Verstümmelungen und Verkrüppelungen des Menschenleibes einen sehr entschiedenen ästhetischen Widerwillen, sie waren also zwar nicht sentimental, aber auch nicht grausam. Eine Bestätigung seiner Auffassung sieht WOLF im folgenden Ausspruch des ARISTOTELES:
    "Von Natur kräftigere Menschen lassen weinerliche Menschen nicht an sich heran. Dagegen erfreuen sich Weiber und weibische Männer am Mitgeseufze anderer und lieben sie als Freunde und mitleidige Menschen."
Aber das ist ja ganz genau auch die Seelenstimmung jedes tüchtigen Mannes von heute, namentlich jedes protestantischen Deutschen; wo er Unrecht tun und Unrecht leiden sieht, da setzt er sich nicht hin, um mit dem Leidenden zu seufzen und zu flennen, sondern er haut auf den Übeltäter ein, und ist er zu schwach zum Einhauen, so schimpft und agitiert er wenigstens. Auch das Neue Testament ist nicht sentimental. Man lese nur die trockene, kurzgefaßte Leidensgeschichte! Nur die nackten Tatsachen; kein Wort, das etwaiges Mitgefühl des Zuschauers oder Erzählers verriete oder darauf berechnet wäre, das Mitleid des Lesers zu erregen; keine Spur von solchen nervenpeinigenden Einzelheiten, wie sie BRENTANO aus Legenden gesammelt und sich dann von der ekstatischen Nonne KATHARINA EMMERICH hat diktieren lassen. Von der Rolle, die das Mitleid in der englischen Arbeiterbewegung gespielt hat, wird später die Rede sein.

WOLFs Auffassung der geschichtlichen Veränderungen stimmt insofern mit unserer eigenen überein, als auch er es für verkehrt erklärt, alle Erscheinungen aus einem einzigen "Prinzip" abzuleiten, und daher auch selbstverständlich die einseitige materialistische Geschichtserklärung der Sozialdemokraten entschieden verwirft. Ob es nun gerade drei Kräfte sind, die die Menschheit vorwärts bringen oder vielleicht nur im Kreis herumtreiben, darüber würde sich freilich streiten lassen, wenn hier der Ort dazu wäre. WOLF schreibt nämlich: "Die Kulturmenschheit wurde vorzüglich durch drei einträchtig nebeneinander wirkende Kräfte vorwärts gebracht: durch Ansprüche jener, die sich eine halbe Geltung infolge ihnen günstiger Wirtschaftsverhältnisse bereits errungen hatten und eine ganze wollten; durch die Selbstkritik der herrschenden Klassen; und durch die zwischen beiden vermittelnde ethische Einsicht. Diese Faktoren, die das Rad der Menschheit vorwärts drehen, sind auch heute wirksam."
LITERATUR: Carl Jentsch, Weder Kommunismus noch Kapitalismus, Leipzig 1893
    Anmerkungen
    1) "Woher sind Sie?" fragte mich dort ein recht dürftiges Schulmeisterlein. Aus Schlesien. "Aus Schlesien? Ein aarmes Land!" Na, dachte ich, dir wäre ein bißchen schlesische Armut zu gönnen. Laut aber sagte ich: Na ja, wenn sie ein Land mit etlichen Dutzend Millionären und vielleicht hunderttausend reichen Bauern arm nennen wollen.
    2) Wir meinen nicht die Potemkinschen Dörfer, die RUDOLF VIRCHOWs vom russischen Weihrauch benebelte eitle Seele gesehen hat, sondern echt russische Dörfer, wie sie neuerdings aufgrund amtlicher Untersuchungen von russischen Professoren beschrieben worden sind.