ra-2E. JaffeA. SchäffleA. Loria    
 
MAX NORDAU
(1849-1923)
Die wirtschaftliche Lüge
[1/3]

"Die schwere Krankheit der Zeit ist die Feigheit. Man wagt nicht, Farbe zu bekennen, für seine Überzeugungen einzutreten, seine Handlungen mit seinen Empfindungen in Einklang zu bringen; man hält es für weltklug, äußerlich am Hergebrachten festzuhalten, wenn man auch innerlich damit völlig gebrochen hat; man will nirgends anstoßen, keine Vorurteile verletzen; das nennt man wohl die Überzeugungen anderer respektieren, jener anderen, die ihrerseits unsere Überzeugungen durchaus nicht respektieren, sondern sie verunglimpfen, verfolgen, am liebsten mit uns zugleich ausrotten möchten."


Vorwort

Dieses Buch erhebt den Anspruch, die Anschauungen der meisten auf der Höhe der zeitgenössischen Bildung stehenden Menschen getreu wiederzugeben. Es sind gewiß Millionen Angehörige der Kulturvölker durch eigenes Nachdenken dahin gelangt, an den bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen genau dieselbe Kritik zu üben, die in den nachfolgenden Blättern enthalten ist und die hier ausgesprochene Ansicht zu teilen, daß diese Einrichtungen unvernünftig, der naturwissenschaftlichen Weltanschauung widersprechend und darum unhaltbar sind. Trotzdem kann es nicht ausbleiben, daß man beim Lesen dieses Buches die Augen verdrehen und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen wird, und wohl nicht am wenigsten eifrig mancher, der darin seine eigenen geheimsten Meinungen ausgedrückt findet. Das ist es eben, weshalb der Verfasser geglaubt hat, es sei notwendig, es sei unerläßlich, dieses Buch zu schreiben. Die schwere Krankheit der Zeit ist die Feigheit. Man wagt nicht, Farbe zu bekennen, für seine Überzeugungen einzutreten, seine Handlungen mit seinen Empfindungen in Einklang zu bringen; man hält es für weltklug, äußerlich am Hergebrachten festzuhalten, wenn man auch innerlich damit völlig gebrochen hat; man will nirgends anstoßen, keine Vorurteile verletzen; das nennt man wohl "die Überzeugungen anderer respektieren", jener anderen, die ihrerseits unsere Überzeugungen durchaus nicht respektieren, sondern sie verunglimpfen, verfolgen, am liebsten mit uns zugleich ausrotten möchten. Dieser Mangel an Ehrlichkeit und Mannesmut erstreckt die Lebensfrist der Lüge und verzögert unabsehbar den Triumph der Wahrheit. So hat denn wenigstens der Verfasser seine Pflicht gegen sich, die Wahrheit und die Gesinnungsgenossen erfüllten gewollt. Er hat seine Überzeugungen laut und ohne irgendeinen Rückhalt ausgesprochen. Wenn die Geschickten, die Schlauen, die Diplomatisierenden, die Opportunisten oder wie sich die Heuchler und Lügner sonst noch beschönigend nennen, dasselbe tun wollten, so würden sie - vielleicht zu ihrem Erstaunen - bemerken, daß sie vielerorten schon die Mehrheit sind, daß sie sich nur zu zählen brauchen, um die Stärkeren zu werden und daß es bald für sie ohne Mühe vorteilhafter sein dürfte, ehrlich und folgerichtig, als doppelzüngig und hinterhältig zu sein.




I.

Diejenigen Übelstände der Zivilisation, die von der größten Anzahl Menschen und zugleich am tiefsten und dauerndsten empfunden werden, sind die wirtschaftlichen. Es gibt genug Individuen, die sich nicht mit übersinnlichen Fragen beschäftigen, denen Gott ebenso gleichgültig ist wie die Materie, die Enzyklika [Rundschreiben des Papstes - wp] ebeso uninteressant wie die Deszendenztheorie [Abstammungslehre - wp] und bei denen der Glaube oder das Wissen gleich oberflächlich bleibt. Auch die Politik läßt viele kühl und größer vielleicht als man gewöhnlich annimmt, ist die Menge der Leute, die sich nicht darum scheren, ob sie im Namen eines persönlichen Herrschers oder einer unpersönlichen Republik regiert werden, solange der Staat ihnen unverändert bloß in der Form des Polizeibeamten, des Steuerboten und des Drill-Unteroffiziers sichtbar wird. Dagegen gibt es den Kulturmenschen nicht, der nicht täglich vor die Frage des Erwerbs und Verbrauchs gestellt wäre. Die Erscheinungen des Wirtschaftslebens drängen sich auch der stumpfsten Beobachtung und der verschlossensten Intelligenz auf. Wer überhaupt bei Bewußtsein ist, der empfindet Bedürfnisse, murrt über die Schwierigkeit oder empört sich gegen die Unmöglichkeit ihrer Befriedigung, sieht mit Bitterkeit das Mißverhältnis zwischen seiner Arbeitsanstrengung und den Genüssen, die er sich um deren Preis verschaffen kann und vergleicht seinen eigenen Anteil an den Gaben der Natur und künstlichen Gütern mit dem der anderen. Hungrig wird man alle paar Stunden, müde ist man am Abend eines jeden Arbeitstages, jedesmal, so oft man einen durch Glanz oder gefällige Form ins Auge fallenden Gegenstand sieht, hat man infolge des natürlichen Instinkts der Geltendmachung der eigenen Individualität durch auszeichnende, schmückende oder sonst den Blick anziehende Anhängsel die Begier, sich denselben anzueignen und so wird man durch Leibeszustände fortwährend darauf geführt, sein Verhältnis zur allgemeinen wirtschaftlichen Bewegung, zur Hervorbringung und Benutzung der Güter, zu überdenken. Es gibt denn auch nichts, was die Massen so leidenschaftlich erregen könnte wie dieser Gegenstand. Im Mittelalter setzte man Millionen in Bewegung, indem man ihnen von Religion sprach. Am Ausgang des vorigen Jahrhunderts und noch bis in die Mitte des unsrigen entflammten sich die Völker für ihre idealen Bedürfnisse der Aufklärung und politischen Freiheit. Das Ende des neunzehnten Jahrhunderts erfüllt der Ruf nach Brot für die große Mehrheit. Dieser Ruf ist der einzige Inhalt der Politik, die manchmal versucht, durch allerlei packende Zwischenspiele, namentlich durch Hetzerei gegeneinander oder gegen einzelne Gesellschaftsklassen, durch Kriege, Kolonisation, Ausstellungen, dynastische Reformen die Völker von dem sie ganz ausfüllenden Gedanken abzulenken, jedoch immer wieder durch den Druck der öffentlichen Meinung genötigt ist, zu der einzigen großen Weltsorge, zur Erwerbsfrage, zurückzukehren. Kreuzzüge sind heute nicht mehr für die Befreiung eines heiligen Grabes, nur durch die Eroberung des goldenen Vlieses, Wohlstand genannt, denkbar und man macht Revolutionen nicht mehr um papierner Verfassungen und demokratischer Schlagworte willen, sondern um weniger hart zu roboten [Frondienste leisten - wp] und reichlicher zu essen.

Zu keiner Zeit sind die Gegensätze zwischen Reich und Arm so schroff und gewaltsam gewesen wie gegenwärtig. Diejenigen Nationalökonomen, welche ihre wissenschaftlichen Werke mit dem Axiom beginnen, daß der Pauperismus so alt sei, wie die Menschen selbst, spielen leichtfertig oder betrügerisch mit Worten. Es gibt eine absolute und eine relative Armut. Absolute Armut ist der Zustand, in welchem ein Mensch seine wirklichen Bedürfnisse, d. h. diejenigen, die durch seine organischen Lebensakte enstehen, gar nicht oder nur unvollständig befriedigen kann, wo er also keine genügende Nahrung findet oder dieselbe nur mit solcher Anstrengung erlangt, daß ihm die Ruhe und der Schlaf zu karg zugemessen sind, deren sein Organismus bedarf, wenn er nicht verkümmern und vorzeitig zugrunde gehen soll. Relative Armut bedeutet dagegen das Unvermögen, solche Bedürfnisse zu befriedigen, die man sich künstlich angewöhnt hat, die keine notwendigen Bedingungen der Lebens- und Gesundheitserhaltung sind und die dem Individuum großenteils nur durch Vergleichung seiner eigenen Lebenshaltung mit der der anderen zu Empfindung und Bewußtsein gelangen. Der Arbeiter fühlt sich arm, wenn er nicht rauchen und Branntwein trinken, die Krämerin, wenn sie sich nicht in Seide kleiden und mit überflüssigem Hausrat umgeben, der Mann der liberalen Professionen, wenn er sich nicht durch Anhäufung eines Kapitals der quälenden Sorge um die Zukunft seiner Kinder oder um seine eigenen alten Tage entledigen kann. Diese Armut ist offenbar nicht allein relativ, insofern z. B. die Krämerin dem Arbeiter reich scheint und der Professionist eine Lebensweise luxuriös fände, die dem in Gewohnheiten der raffinierten Üppigkeit aufgewachsenen Aristokraten dürftig schiene, sie ist auch subjektiv, insofern sie bloß in der Einbildung des betreffenden Individuums besteht und keineswegs eine objektiv feststellbare Nichterfüllung notwendiger Daseinsbedingungen und dadurch eine Verkümmerung des Organismus nach sich zieht. Es ist mit einem Wort keine physiologische Armut und schon der alte DIOGENES hat gezeigt, daß diese allein die Grenze der subjektiven Glücksempfindung bezeichnet, daß man sich dagegen sehr wohl befinden kann, so lange man die Notdurft des Leibes reichlich und leicht befriedigt.

Vom Standpunkt eines Kulturmenschen des neunzehnten Jahrhunderts angesehen, der ein Sklave aller Gewohnheiten und Bedürfnisse des zivilisierten Lebens ist, scheint die große Mehrheit der Menschen allerdings immer relativ arm gewesen zu sein, so weit man in die Vergangenheit blickt und um so ärmer, je weiter man sich von der Gegenwart entfernt. Die Kleider der Menschen waren gröber und wurden seltener erneuert, ihre Wohnung war schlechter, ihre Nahrung einfacher, ihr Gerät spärlicher, sie hatten weniger Bargeld und geringeren Überfluß an Tand. Diese relative Armut ist aber wenig rührend. Nur eine hirnlose Zierpuppe wird es tragisch finden, daß sich etwa eine Eskimofrau gegen die Kälte durch einen sackähnlichen Anzug aus Seehundsfell statt durch verwickelte und ebenso teure wie geschmacklose Konstruktionen aus Seide schützen muß und ich bezweifle, daß der sentimentale Wunsch des guten Königs HEINRICH IV., jeder Bauer möge allsonntäglich sein Huhn im Kochtopf haben, wirkliche Bauern jemals gerührt und begeistert hat, solange sie sich mit Rindfleisch sattessen gekonnt. Allein die absolute, die physiologische Armut tritt nur im Gefolge einer hohen und ungesunden Zivilisation als dauernde Erscheinung auf. Sie ist im Naturzustand des Menschen und selbst noch bei einem niedrigeren Grad der Gesittung sogar undenkbar. Es ist der erste und vornehmste Lebensakt eines jeden organischen Wesens, von der Monade bis zum Elephanten, von der Bakterie bis zur Eiche, sich ausreichende Nahrung zu suchen. Findet sie es nicht, so geht es eben zugrunde. Freiwillig aber bequemt es sich dem anhaltenden Mangel derselben nicht an. Das ist ein biologisches Gesetz, was den Menschen ebenso beherrscht wie alle übrigen Lebewesen. Der primitive Mensch findet sich mit der Not nicht unterwürfig ab, sondern bekämpft und besiegt sie oder wird sehr rasch von ihr besiegt. Ist er Jäger und zieht sich das Wild von seinen Jagdgründen zurück, so suchte er neue Jagdgründe auf. Sitzt er als Ackerbauer auf unergiebiger Scholle, so genügt die erste Kunde von fruchtbaren Gefilden, daß er sich aufmache, um diese zu besiedeln. Stellen sich andere Menschen zwischen ihn und seine Nahrung, so greift er zur Waffe und schlägt tot oder wird totgeschlagen. Der Überfluß ist dann der Preis der Stärke und des Mutes. So braust der Strom der Völkerwanderung aus undankbaren Erdgegenden in die Länder, welche von der Sonne gesegnet sind, der Heroismus eines GEISERICH und ATTILA, eines DSCHINGIS KHAN und WILHELM von der Normandie hat seinen Ursprung im Magen und auf den blutigsten und glorreichsten Schlachtfeldern, von welchen die Poeten singen und die Geschichte spricht, wird durch die eisernen Würfel die Frage des Mittagstisches entschieden. Mit einem Wort: der primitive Mensch duldet die wirkliche Armut, d. h. den Hunger nicht. Er greift gegen das schleichende Elend unverzüglich zu den Waffen und erobert sich den Überfluß oder stirbt unter dem Beil des Feindes, ehe ihn die Entbehrung langsam aufgerieben hat. Auch mit einer Zivilisation, die noch nicht über den Standpunkte der Physiokratie hinauslangte, ist absolute Armut unvereinbar. So lange ein Volk nur Ackerbau, Viehzucht und Hausindustrie kennt, mag es an Edelmetall und Luxusgegenständen arm sein, aber es fehlt keinem seiner Mitglieder an Lebensmitteln. Erst wenn der Mensch den Zusammenhang mit der nährenden Mutter Erde verliert, erst wenn er sich von der treuen Furche des Ackers losreißt und von der Natur nicht mehr erreicht werden kann, die ihm Brot und Früchte, die Milch und das Kalb der Kuh, Wildbret und Fische darbietet, erst wenn er sich hinter Stadtmauern hockt, seinen Anteil am Boden, Wald und Fluß aufgibt und nicht mehr mit eigenen Händen aus den Vorratskammern des Tier- und Pflanzenreichs seinen Bedarf an Speise und Trank schöpfen kann, sondern auf den Austausch der Erzeugnisse seines Gewerbefleißes gegen die von anderen monopolisierten Naturprodukte angewiesen ist, erst dann beginnt mit der Möglichkeit für eine kleine Minderheit, große Reichtümer aufzuhäufen, für eine zahlreiche Klasse die Möglichkeit absoluter Armut, physiologischen Elends. Eine Nation, die aus freien Bauern besteht, ist niemals arm. Das kann sie erst werden, wenn der Bauer in Leibeigenschaft gezwungen wird und ein Herr ihm den Ertrag seines Ackers wegnimmt oder ihn durch anderweitige Verwendung und Vergeudung seiner Arbeitskraft an der Bestellung seiner Hufe hindert und wenn die Städte sich vervielfältigen und einen großen Teil der Nation an sich ziehen. Die hohe Zivilisation endlich verurteilt eine täglich ansehnlicher werdende Menge der Volksgenossen zur absoluten Armut, indem sie die Vergrößerung der Städte auf Kosten der Landbevölkerung, die Entwicklung der Großindustrie auf Kosten der Tier- und Pflanzenproduktion begünstigt und ein zahlreiches Proletariat schafft, das keinen Zoll breit eigenen Boden besitzt, aus den natürlichen Daseinsbedingungen des Menschen herausgeschleudert ist und an dem Tag verhungern muß, an welchem es seine Werft, Fabrik oder Werkstatt gesperrt findet.

Auf diesen Standpunkt sind die Länder Westeuropas gelangt, die gerade für die reichsten und zivilisiertesten gelten. Ihre Bevölkerung zerfällt in eine kleine Minorität, welche in einem anstößigen und geräuschvollen Luxus lebt und zum Teil von einem wahren Vergeudungswahnsinn ergriffen scheint und einer großen Masse, die entweder nur mit härtester Mühe ihr Leben fristet oder trotz aller Anstrengung zu keinem menschenwürdigen Dasein gelangen kann. Jene Minderheit wird täglich reicher, der Abstand zwischen ihrer Lebenshaltung und derjenigen des Volksdurchschnitts täglich weiter, ihr Ansehen und Einfluß im Gemeinwesen täglich gewaltiger. Wenn man von der nie dagewesenen tollen Verschwendung zeitgenössischer Millionäre und Milliardäre spricht, so nehmen gewisse Kulturhistoriker überlegene Mienen an und zitieren mit mitleidigem Lächeln über eine solche Unwissenheit irgendeinen lateinischen Schmöker, der beweisen soll, daß es heute noch lange nicht so arg getrieben wird, wie im Rom der Kaiserzeit und selbst wie im Mittelalter und daß das Mißverhältnis zwischen den Überreichen und Bettelarmen innerhalb derselben Nation früher weit größer war als gegenwärtig. Das ist aber nur aftergelehrter [Scheingelehrtheit zur Schau tragend - wp] Schwindel. Vermögen wie die eines VANDERBILT, Baron HIRSCH, ROTHSCHILD, KRUPP usw. Vermögen von 400 Millionen Mark und darüber hat es im Mittelalter nicht gegeben. Im Altertum mag einmal der Günstling eines Despoten oder ein Satrap [Schützer der Herrschaft - wp] oder Prokonsul [Vizekonsul - wp], nachdem er eine Provinz oder einen Weltteil gründlich ausgeraubt hatte, einen ebenso ungeheuren Besitz aufgehäuft haben, aber dieser Reichtum hatte keine Dauer. Er war wie die Schätze, von denen die Märchen erzählen. Man besaß ihn heute und hatte ihn morgen verloren. Sein Besitzer träumte einen kurzen Traum, aus dem ihn der Stahl eines Mörders, die Verfolgung seines Herrschers, eine brutale Beschlagnahme seines Vermögens weckte. Daß so ungeheurer Reichtum von Vater auf Sohn auch nur durch drei Generationen sich vererbt, daß sein Besitzer sich seiner in ruhigem und unangefochtenem Genuß erfreut habe, dafür findet sich in der ganzen Geschichte der römischen Kaiserzeit und der orientalischen Reiche kein einziges Beispiel. Und jedenfalls sind die Millionäre und Milliardäre früher unvergleichlich seltener gewesen als heute, wo man die Zahl der Privatleute, die mehr als fünft Millionen Mark besitzen, in England allein auf etwa achthndert bis tausend schätzt und die Zahl derjenigen, deren Vermögen über eine Million beträgt, in ganz Europa - die übrigen Weltteile gar nicht mit gerechnet - hunderttausend mindestens erreicht, wahrscheinlich sogar bedeutend übersteigt. Andererseits gabe es zu keiner Zeit eine solche Menge völlig besitzloser Individuen, Armer im Sinne meiner oben gegebenen Definition, Menschen, die des Morgens nicht wissen, was sie am Tag essen und wie sie des Abends schlafen werden. Der Sklave im Altertum, der Leibeigene im Mittelalter war freilich völlig besitzlos, da er selbst Eigentum, Sache war, aber für seine einfachsten Bedürfnisse war gesorgt, er hatte von seinem Herrn Nahrung und Obdach. Im Mittelalter waren nur die unehrlichen Leute, Landstreicher, Gaukler, Zigeuner, fahrendes Volk aller Art, völlig enterbt. Sie nannten nichts auf Erden ihr Eigen, für sie war nirgnds ein Tisch gedeckt, die herrschende Rechtsanschauung verweigerte ihnen selbst die theoretische Berechtigung, die Gaben der Natur als auch für sie vorhanden zu betrachten. Sie halfen sich aber durch Bettel, Diebstahl und Raub aus dem Elend heraus, in das die damalige Gesellschaft sie grundsätzlich einkerkerte und wenn auch Galgen und Rad häufiger ihre Todesursache waren als Altersschwäche, so gelangten sie doch meistens satt und fröhlich bis an den Fuß des Hochgerichts. Das heutige Proletariat der Großstädte hat keine Ahnen in der Geschichte. Es ist ein Kind unserer Zeit. Der moderne Proletarier ist elender als der Sklave des Altertums, denn er wird von keinem Herrn ernährt und wenn er vor jenem die Freiheit voraus hat, so müssen wir zugeben, daß dieselbe vornehmlich die Freiheit, Hungers zu sterben, ist. Er hat es nicht einmal so gut, wie der unehrliche Mann des Mittelalters, denn er besitzt nicht die frische Unabhängigkeit dieses ausgestoßenen Landfahrers, er lehnt sich nur selten gegen die Gesellschaft auf und hat nicht das Auskunftsmittel, sich durch Diebstahl oder Raub das anzueignen, was ihm die bestehende Besitzordnung versagt. Der Reiche ist also reicher, der Arme ärmer, als er je in geschichtlicher Zeit gewesen. Dasselbe gilt vom Übermut der Reichen. Man schwatzt uns fortwährend die Ohren voll mit den Gastmählern des LUKULLUS, von deren Abfällen sich noch heute anektdotenkramende Historiker und Archäologen nähren. Es soll aber noch bewiesen werden, daß das alte Rom je ein Fest gesehen hat, welches 400 000 Mark gekostet hat, wie der Ball eines New Yorker Krösus, von dem die Zeitungen kürzlich berichtet haben! Ein Privatmann, der seinen Gästen Nachtigallenzungenpasteten vorsetzte oder einer griechischen Hetäre einige hunderttausend Sesterzen schenkte, erregte in Rom solches Aufsehen, daß alle Satiriker und Chronisten der Mit- und Nachwelt seinen Namen wiederholen. Heute spricht niemand von den Tausenden und Tausenden, die 200 000 Mark für ein Service aus alten Sèvres [Porzellanart - wp] oder 600 000 Mark für ein Rennpferd bezahlen oder einer käuflichen Dirne die Verschwendung einer Million in einem Jahr gestatten. Der orgienhafte Luxus des Altertums und Mittelalters war eine äußerst seltene Einzelerscheinung, die gerade um ihrer Seltenheit willen auffiel. Jener Luxus hatte überdies die Scham, sich innerhalb eines engen Gesellschaftskreises zu verbergen. Die enterbte Masse bekam nicht von ihm zu sehen. Heute schließt sich der Übermut der Reichen nicht in die Fest- und Speisesäle der Privathäuser ein, sondern wuchert mit Vorliebe auf die Straße hinaus. Die Stätten, wo sich ihre anstöige Üppigkeit entfaltet, sind die Promenaden der Großstädte, die Theater und Konzertsäle, die Wettrennplätze, die Kurorte. Ihre Gespanne fahren überall, wo sie barfüßige Hungerleider mit Kot bespritzen, ihre Brillanten scheinen ihr volles Feuer nur dort zu entwickeln, wo sie Proletarieraugen blenden können. Ihre Verschwendung nimmt gerne die Journalistik zur Zuschauerin und sucht sich durch die Zeitung der Kenntnis von Kreisen aufzudrängen, die keine Gelegenheit haben, mit eigenen Sinnen das ewige Gelage, die lebenslange Fastnacht der Reichen zu beobachten. Dadurch wird dem modernen Proletarier ein Element der Vergleichung geboten, das dem antiken Dürftigen fehlte. Die Vergeudungen der Millionäre, deren Zeuge er ist, werden zum genauen Maßstab seines eigenen Elends, das ihm dadurch mit mathematischer Klarheit in seiner ganzen Breite und Tiefe zum Bewußtsein gelangt. Nun ist aber die Armut nur dann ein Übel, wenn sie subjektiv als solches empfunden wird; darum verschärfen die Millionäre durch die unklug herausfordernde Unverhohlenheit ihrer Prasserei das Leiden der Proletarier; das vor aller Blicken offen gegebene Schauspiel ihres Lebens von Müßiggang und Genuß erweckt notwendig die Unzufriedenheit und den Neid der letzteren und dieses moralische Gift frißt stärker an ihrem Gemüt als die materiellen Entbehrungen.

Diese materiellen Entbehrungen dürfen aber darum auch nicht unterschätzt werden. Die große Masse der Besitzlosen in den Kulturländern fristet ihr nacktes Dasein unter Bedingungen, wie sie keinem einzigen freien Tier der Wildnis bereitet sind. Die Wohnung des Proletariers der Großstädte ist ungleich schmutziger und ungesünder als die Lagerstätte der großen Raubtiere, ein Dachs- oder Fuchsbau. Gegen die Kälte ist er unvollkommener geschützt als diese. Seine Nahrung ist gerade nur ausreichend, um ihn nicht gleich verhungern zu lassen, obwohl auch ein tatsächlicher Hungertod in den Weltstädten ein tägliches Vorkommnis ist. Die Nationalökonomen haben zur Tröstung des unruhigen Gewissens der Besitzenden eine Phrase erfunden, die sie pomphaft das "eiserne Lohngesetz" nennen. Nach diesem Gesetz soll der Tagelohn mindestens so viel betragen, als am betreffenden Ort zur Erhaltung des Lebens eben notwendig ist. Das hieße mit anderen Worten, daß der Arbeiter sicher sein kann, wenn schon keinen Überfluß, so doch wenigstens Befriedigung seiner Notdurft zu erwerben. Das wäre ja sehr schön, wenn es sich so verhielte. Dann könnte sich ja der Reiche früh und Abend vorsagen, das alles aufs Beste bestellt sei in dieser besten aller Welten und niemand das Recht habe, durch Stöhnen oder Fluchen seine Verdauung und Nachtruhe zu stören. Das Unglück ist nur, daß das berühmte eiserner Lohngesetz ein jesuitisches Spiel mit Worten ist. Es findet zunächst auf diejenigen keine Anwendung, die sich überhaupt keine Arbeit verschaffen können. Und während der Zeit, wo er wirklich arbeitet, kann der Proletarier nirgends in Westeuropa so viel erwerben, daß er für die Zeit der Arbeitslosigkeit etwas erübrigt. Er ist also während eines Teils des Jahres auf Bettel oder langsame organische Verkümmerung durch Entbehrung angewiesen. Das eiserne Lohngesetz hat aber auch für das Ausmaß des Tagelohns der wirklich Beschäftigten keine Geltung. Was ist das Minimum dessen, was das Individuum zur Fristung seines Daseins braucht? Offenbar so viel, daß das Individuum damit seinen Organismus in gutem Grund erhalten, sich voll entwickeln und die natürlichen Grenzen seines Lebens erreichen kann. Sowie es sich mehr anstrengt, als seinem Organismus zuträglich ist oder nicht so viel Nahrung, Wärme und Schlaf hat, wie sein Organismus erfordert, wenn er auf der vollen Höhe seines Typus bleiben soll, verfällt das Individuum dem physiologischen Elend. Überarbeitung ist als Ursache organischer Verkümmerung gleichwertig mit Unterernährung, diese aber ist gleichbedeutend mit langsamem Verhungern. Wenn das "eiserne Lohngesetz" wirklich wäre, was es zu sein vorgibt, so müßte der Tagelöhner durch seine Arbeit mindestens seinen Organismus zur Beschaffenheit bringen und in derselben erhalten können, die zu erlangen ihm infolge seiner natürlichen Anlage möglich ist. Das kann aber der Tagelöhner erfahrungsgemäß nirgends in Europa. Der optimistische Nationalökonom weist triumphierend auf sein eisernes Lohngesetz hin, wenn er sieht, daß der Tagelöhner nicht gleich am Ende eines jeden Arbeitstages verhungernd niederfällt, sondern sich den Magen mit Kartoffeln füllt, seine Pfeife raucht, seinen Schnaps trinkt und sich selbst einredet, daß er nun satt und behaglich sei. Da kommt aber die Statistik und zeigt, daß die durchschnittliche Lebensdauer des Tagelöhners um ein Drittel, in manchen Fällen sogar um die Hälfte kürzer sei als die der wohlhabenden Individuen derselben Nation, die unter den gleichen klimatischen Bedingungen und auf dem gleichen Boden leben. Wer raubt den Proletariern die Lebensjahre, auf die sie als Söhne einer gegebenen Rasse und als Bewohner eines gegebenen Erdstrichs natürlichen Anspruch hätten? Wer anders als der Hunger, das Elend, die Entbehrung, die langsam ihre Gesundheit untergraben und ihren Organismus schwächen! Der Tagelohn reicht also höchstens aus, um den Proletarier vor dem schleunigen Verhungern und Erfrieren, nicht aber, um ihn vor dem vorzeitigen Zugrundegehen durch ungenügende Ernährung, Bekleidung und Ruhe zu bewahren und die Krankheits- und Sterblichkeitsausweise der Arbeiterbevölkerung brandmarken das "eiserne Lohngesetz" als eine schamlose Lüge.

Das Bild der wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft wäre nicht vollständig, wenn ich neben dem übermütigen Millionär und dem zu Krankheit und frühem Tod verurteilten Proletarier nicht noch eine andere Klasse von Besitzlosen zeigen würde, die in der bestehenden Wirtschaftsordnung nur unwesentlich minder stiefmütterlich bedacht sind als der Industriesklave der Großstädte. Es sind die die Gebildeten, die, von Haus aus vermögenslos, durch geistige Arbeit ihren Lebensunterhalt zu gewinnen haben. Das Angebot überwiegt auf diesem Arbeitsgebiet allenthalben in schreckenerregendem Maß den Bedarf. Die sogenannten liberalen Karrieren sind überall so überfüllt, daß diejenigen, welche sie verfolgen, einander erdrücken und der Kampf ums Dasein in denselben die grausamsten und häßlichsten Formen annimmt. Diese Unglücklichen, die eine öffentliche oder private Anstellung, ein Lehramt, den Erfolg als Künstler, Schriftsteller, Advokaten, Ärzte, Ingenieure usw. erstreben, sind wegen ihrer höheren geistigen Entwicklung einer größeren Intensität der Empfindung ihres Elends fähig; ihr intimerer Verkehr mit Wohlhabenden stellt das Bild des Reichtums fortwährend gegensätzlich neben das ihrer Armut und erhält in ihnen das Bewußtsein der letzteren weit mehr wach; vom gesellschaftlichen Vorurteil ist ihnen eine Lebenshaltung auferlegt, die, ohne hygienisch wertvoller zu sein, ihnen dennoch ungleich größere Opfer aufbürdet als dem Proletarier die seinige und der Wohlstand ist in ihrer Laufbahn der Preis von Demütigungen, Charakter-Erdrückungen und Entäußerungen des eigenen Ichs, die gut angelegten Naturen noch schmerzlicher sind als materielle Entbehrungen. Weil diese Individuen subjektiv stärker leiden, ertragen sie auch den Zwang der wirtschaftlichen Ordnung ungeduldiger als die Proletarier. Der Besitzende nennt diejenigen unter ihnen, die ohne Erfolg gerungen haben, Deklassierte und heuchelt, sie zu verachten. Die Deklassierten sind aber die todesmutigen Vorstreiter des Heeres, das die trotzige Veste des Gesellschaftsbaus belagert und sie früher oder später dem Boden gleichmachen wird.
LITERATUR Max Nordau, Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit, Leipzig 1889