ra-2 Sozialismus und soziale BewegungWeder Kommunismus noch Kapitalismus    
 
JULIUS WOLF
Sozialismus und
kapitalistische Gesellschaftsordnung


"Friedrich Schiller scheint die soziale Moral im Zustand der Naivität der Völker mehr gesichert und weit leichter geübt als in dem des Selbstbewußtseins und gereifter Einsichten. Es ist in der Vorrede zur Geschichte des Malteserordens, daß er sich zu unserer Frage äußert. Der Vorzug hellerer Begriffe, meint er hier, besiegter Vorurteile, gemäßigterer Leidenschaften, freierer Gesinnungen - wenn wir ihn wirklich zu erweisen imstande sind, kostet uns das wichtige Opfer  praktischer Tugend,  ohne die wir doch unser besseres Wissen kaum als Gewinn erachten können."

Vorwort

Der Sozialismus ist längst mit sich im reinen über die Unerschütterlichkeit seines Systems, ebensowohl nach der theoretisch-kritischen, wie nach der praktisch-positiven Seite. Viele hunderttausende von Wählern haben sich in Deutschland zu ihm geschlagen, und die Anfechtungen, die er theoretisch und praktisch erfahren hat, sind ihm wenig nahe gegangen, er hat sie durch äußere Erfolge überwunden. Im Geist sieht er schon, wei die Morgenröte des kommenden Tages die Nebel der kapitalistischen Ordnung zu lichten beginnt, um sie schließlich wegzuscheuchen und die Mitternachtssonne zum Gesetz der Gesellschaft zu erheben. Nur noch ein wenig Geduld - bald ist alles überstanden!

Als am 1. Oktober 1890 das Sozialistengesetz in Deutschland dahinfiel, und später, als dieser Tag zum erstenmal sich jährte, ließ die deutsche Sozialdemokratie in einem überströmenden Kraftgefühl durch ihr Organ, den "Vorwärts", dem deutschen Volk verkünden: "Lärmender Siegesjubel ziemt nicht dem Starken. In stolzer, ruhiger Überlegenheit schaut die siegreiche Sozialdemokratie auf ihre Feinde herab, die - ein Bild des Jammers - voll Zittern und Zagen dem heutigen Tag entgegengesehen haben und mit Grauen in die Zukunft blicken." Denn "wo ist der  geistige Kampf,  den sie uns angekündigt haben? Sie zetern nach der Polizei, dem Staatsanwalt, nach der Ultima ration der Kanonen - dem  letzten Grund  all derer, die keine Vernunftgründe haben.  Da  sind ihre geistigen Waffen.  Andere  haben sie  nicht."  Zum Schluß noch einmal der stolze Rückblick auf die letzte Errungenschaft: "Die Sozialdemokratie dagegen hat den höchsten Triumpf zu verzeichnen, der einer unterdrückten Partei erwachsen kann - sie hat ihre Unterdrücker  geistig  erobert."

Die deutsche Sozialdemokratie hat sich ihre Feststimmung seitdem erhalten. Wenn einer ihrer Führer, AUGUST BEBEL, die Ende 1890 geschriebene Vorrede zur neunten Auflage seines Buches "Die Frau" mit den Worten schließt: "Beruth der Sozialismus auf Irrtum, so wird er untergehen, beruth er aber auf Wahrheit, d. h. ist er das naturnotwendige Ergebnis unserer gesellschaftlichen Entwicklung, dann wird keine Macht der Erde seine Verwirklichung zu hindern vermögen," so wird auch der naivste Leser den Sozialistenführer nicht dahin mißverstehen, als ob nach seiner Auffassung hier in der Tat noch eine Frage "offen" stünde. Das scheinbare "Entweder - Oder", "Irrtum ist Untergang, Wahrheit ist Sieg", ist nur berechnet, deutlicher zu machen, daß nicht, weil die Macht, sondern weil die  Wahrheit  dem von sich aus  machtlosen  Sozialismus zur Seite steht, er Sieger bleiben wird im Kampf.

Der Sozialismus nennt es die Wahrheit. Ob es in der Tat die Wahrheit ist, die ihn bisher stichfest gemacht hat, soll die nachfolgende Untersuchung lehren. daß er selbst freilich die glühende Überzeugung vom Recht seiner Sache in sich trägt, ist zweifellos. Er hat seinen redlichen Idealismus so gut wie die radikalen Parteien vor fünfzig und hundert Jahren. Und wie es von diesen Galt, gilt auch von ihm, was MIRABEAU von dem damals noch wenig bekannten ROBESPIERREs gesagt hat: "Dieser Mann wird etwas ausrichten, denn - er glaubt das, was er sagt." Der Sozialismus hat Legionen geschlagen und geworben - er hat seinen Glauben. Und wer "glaubt", ansich glaubt, dem wird geglaubt. Schließt die Hülle jenes Glaubens auch nur ein Körnchen Wahrheit ein, so wird der Glaube Herr im Land.

So ist der Sozialismus in die aufsteigende Lebenslinie getreten. Und immer noch stoßen, Tag und Tag, die Überläufer in mächtiger Zahl zu ihm, die Frondeure aus Bedürfnis, die von der Natur und den Verhältnissen Zurückgesetzten, und die wahrhaft Gläubigen, die warmblütigen Idealisten, nachdem sie das Band zerschnitten haben, das sie mit der alten Tradition und der Gesellschaft, die dessen Bannerträgerin ist, verknüpfte.

Wir in diesem Buch haben uns zu der zerschossenen Fahne der "alten Tradition" gestellt. Unser Buch enthält die eingehendste Rechtfertigung eines dem Sozialismus entgegengesetzten Standpunkts. Würde es gelesen und würden Gründe Feuer fangen, wo der Herzensbedürfnis sie abprallen zu lassen besteht, es könnte wohl dem Sozialismus den "Glauben" an sich benehmen und die von jenem Sozialisten aufgestellte Alternative "Irrtum - Untergang, Wahrheit - Sieg" zugunsten der ersteren Möglichkeit entscheiden.

Soviel andeutungsweise über die praktischen, wir möchten sagen, sozialpolitischen Ansätze bereits dieses ersten Bandes. "Sozialpolitisch", wenn anders die moderne Sozialpolitik mit die Absicht hat, den Sozialismus als Volksbetörer lahmzulegen. Im übrigen will der Band einen zweiten vorbereiten, nämlich die "Grundlegung" liefern, das Gerüst einrammen für den weiterhin aufzuführenden Bau einer eigentlichen Sozialpolitik.

Was den formalen Charakter der Schrift betrifft, so wird uns die Mehrzahl unserer Leser darüber keinen Groll nachtragen, daß wir jedem Streit über Begriffe aus dem Weg gegangen sind. Auch sonst haben wir uns nicht so sehr ein gelehrtes Buch zu schreiben bemüht, wie dem bescheideneren Ehrgeiz gefrönt, einfach gelesen zu werden. Alle Erkenntnis, sagt einmal SCHOPENHAUER, wurzelt in der anschaulichen Auffassung der Dinge. Er fügt sogar hinzu, "alles Urdenken" geschehe in Bildern. Wo man dem Leser ungewohnte Gedankenreihen zu vermitteln hat, kann daher nicht der stolpernde Kothurn [Schnürstiefel - wp] des Begriffs, sondern nur die möglichst schlichte Anschaulichkeit durchgreifend und schlagend wirken. Unter einem ähnlichen Gesichtspunkt haben wir den Leser an manchen Details unserer Arbeit vorübergeführt. Wenn wir z. B. für uns selbst durch den Begriffsurwald des "Kapital" von MARX unter Aufwand aller Kräfte einen Weg zu bahnen hatten, so schien es uns kein Pflichtgebot, es gemeinsam mit dem Leser nochmals zu versuchen, sondern wir haben ihn einfach den ausgehauenen Pfad entlang geleitet. Schon äußere Rücksichten verboten uns, mit jeder unserer kritischen Erwägungen an ihn heranzutreten, und wir haben darauf verzichtet, ungeachtet der Gefahr, daß man uns vorwerfe, wir hätten dies und jenes nicht bedacht, weil - nicht ausgesprochen.

Der Druck des Buches hat begonnen, lange bevor es fertig war. Daraus erklären sich einige kleinere Unebenheiten. In der Vorbemerkung greifen wir Zusammenhänge auf, die an dieser Stelle recht wohl auch hätten vernachlässigt werden dürfen. Auch das sei noch entschuldigend erwähnt, daß uns statistisches Material und Hilfskräfte nicht immer zur Verfügung standen, wo wir ihrer dringend bedurft hätten. Infolgedessen waren wir einmal genötigt, nach beiden Richtungen mit ungenügendem Ersatz zu arbeiten.



Vorbemerkung

Wie der Seefahrer und Reisende, wenn er neues Land betritt, zunächst die Frage des Wo, der geographischen Örtlichkeit für dich und denjenigen stellt, dem er davon erzählen will, so muß auch die Hantierung des Mannes der Wissenschaft auf einem Spezialgebiet mit der Bestimmung von dessen "geographischer Länge und Breite" beginnen. Wie gliedert sich unsere Aufgabe den Aufgaben der Wissenschaft und über dieser stehend den Aufgaben, die der Menschheit überhaupt gestellt sind, ein? Auf dem Globus der Menschenzweck, in deren Dienst alles, was wir tun, gestellt sein soll, gilt es, sich zurechtzufinden.

Unser Gebiet ist das der sozialen Frage. Und aufbauen wollen wir auf diesem Boden ein System der "Sozialpolitik". Was soll das heißen? Daß die soziale Frage ein Problem bedeutet, welches die gegenseitigen Beziehungen der Menschen bedenkt, geht schon aus dem Wortsinn hervor. Sozial ist gesellschaftlich. Aber gegenseitige Beziehungen der Menschen in der Gesellschaft werden auch von allen Rechtsinstituten, von der Verfassung, von Vereinen und ungezwungenen Gesellschaftskreisen wahrgenommen; gegenseitige Beziehungen der Menschen in der Gesellschaft hat auch die Geschichte und haben Teil der Philosophie zum Gegenstand. Der Wortsinn (1) ist also weit entfernt, uns auch eine deutliche  Begrenzung  des Gebiets, auf welchem wir uns tummeln wollen, zu liefern. Wie uns helfen? Das Visier, durch das wir sehen müssen, um die Grenze unserer Aufgabe zu finden, kann offenbar kein anderes als das der Gesamtwissenschaft sein, welcher jene spezielle, uns beschäftigende Aufgabe entnommen ist. Die Sozialpolitik ist ein Teil der Wirtschaftswissenschaft. Die Wirtschaftswissenschaft hat aber die sogenannten materiellen Güter zum Gegenstand, die Güterobjekte, von denen wir leben, oder aus denen wir Genuß ziehen, mittels derer wir den Lebensprozeß und viele außerhalb dieses selbst liegende Lebensabsichten verwirklichen, und zwar faßt sie die Objekte direkt um jener Zweckbeziehung willen ins Auge. Da sie sich dabei auch praktisch umtun muß, und schließlich Selbsterkenntniswissenschaft sein will, ist ihr Lehrumfang der denkbar größte. Sie stellt Tatbestände und Kategorien fest; sie analysiert den Mechanismus der Wirtschaft und die Motoren, die ihn treiben. Ihr Gebiet teilt sich dabei in eines, das die sogenannte Produktion, die Herstellung der Güter, gleichsam als Philosophie der Technik, behandelt, in ein zweites, das den Handwechsel der Güter zum Gegenstand hat, und in ein drittes, das ihr endgültiges Zufließen hierin und dorthin, und die Masse, in der sie sich in verschiedenen Händen sammeln, in Betracht zieht. Insoweit die Nationalökonomie die Bedingungen und Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten nach denen all das vor sich geht, klarzulegen sucht, ist sie die sogenannte  theoretische  Nationalkönomie. Das ist die Lehre von den Kräften und ihren Verwendungen, also sozialwirtschaftliche Physik. Bekanntlich kann aber die Wirtschaft dem Einfluß der privaten Kräfte und Prozesse und dem Einfluß von außen her in das Land wirkender bis zu einem gewissen Grad entzogen werden; bekanntlich hat auch der Staat umd der bloßen Ordnung willen einzugreifen, wo der Einzelne nicht das Interesse oder die Macht dazu besitzt; er hat zu organisieren und für Erziehung und Unterweisung zu sorgen, oder wo nicht er, hat diese Aufgabe die sich ohne weitere Vermittlung an den Menschen wendenden Wissenschaft. Er und diese treiben daher auch "Politik". Und damit füllt dann die sogenannte  praktische  Nationalökonomie ihr Gebiet. Die  Sozialpolitik  ist hieraus ein Abschnitt. Ihre Aufmerksamkeit gilt der Verteilung, welche die Güter im Volk finden, Sie fragt einmal dem Tatbestand, dem gesellschaftlichen Niederschlag der Wirtschaftstätigkeit des Volkes nach und bringt sodann diesen Tatbestand unter eine Lupe mit dem Fadenkreuz der Gerechtigkeit. An diesem Fadenkreuz mißt sie. Mit seiner Hilfe stellt sie fest, was in den vorliegenden Gestaltungen recht, was unrecht ist. Wo sie aber Unrecht findet, da ruft sie unser Gewissen auf und zeigt uns die Wege, um was sein  soll  zu dem was  ist  zu machen. Sie ruht nicht eher, als bis das geschehen ist.

Es genügt aber nicht, das Ressort genau zu bezeichnen, in dem der Sozialpolitiker seines Amtes zu walten hat. Im Ministerium der Wissenschaft gibt es nicht Departements, die unabhängig voneinander eins neben dem andern wirken, mit dem Minister an der Spitze, der sie alle übersieht; sondern jeder einzelnen Ressortverwalter muß auch für seinen Teil Minister sein, d. h. die Aufgabe der Verbindung mit den anderen  für sich selbst  besorgen. Jede wissenschaftliche Behandlung eines Gegenstandes hat, damit sie eine solche sei, die Verbindung aufzusuchen und festzuhalten, die zwischen dem Gegenstand und den Menschheitszwecken und Absichten besteht.

Man darf auch bei bescheidenen Kräften weder vor dem Wort, noch vor der Aufgabe zurückschrecken. Allerdings begegnet jeder Versuch von vornherein einer großen und unüberwindlichen Schwierigkeit. Ob der Menschheitszweck im Individuum liegt oder außerhalb desselben: in der Familie, in der Nation, in der Weltgesellschaft, bzw. welche Mischung die rechte sei - das ist unentschieden und muß unentschieden bleiben vermöge der besonderen Art des Problems als eines ethischen. Aber man kann die Frage vorerst beiseite lassen. Für uns hier stellen wir nur das Eine fest: daß wie immer der Menschheitszweck gefaßt wird, er sicherlich nur erreicht werden kann auf dem Weg über eine befriedigende materielle Existenz des Einzelnen. Das Leben ist die Voraussetzung des Wirkens und das Wort vom gesunden Sinn im gesunden Körper heute mehr als je zuvor ins Licht gestellt. Und darum kann gerade die Wirtschaftswissenschaft das beruhigende Bewußtsein mit sich tragen, daß, indem sie den Menschen nach der Seite seiner materiellen Bedürfnisse bedenkt, sie an den letzten Zwecken menschlichen und gesellschaftlichen Daseins nicht vorübergeht.

Die Sozialpolitik hat unter allen Spezialdisziplinen unserer Wissenschaft das schärftste Ohr für diese Tatsache. Ja sie ist eigentlich mit der Wahrnehmung und Pflege jener kostbaren Beziehungen betraut. Sie steht mitten auf der Brücke, die von den "Bedingungen" des Menschen zu seiner Aufgabe hinüberführt. Eine Zeit lang wurde diese Brücke von der Wissenschaft der Nationalökonomie kaum mehr beachtet. Die Wirtschaft früherer Jahrhunderte hatte sie verfallen lassen. Jetzt ist man daran, sie wieder herzustellen und zu sichern, für alle Zeit.

Der Plan, nach dem die Wissenschaft der Sozialpolitik dabei vorgehen muß, kann kein anderer sein als der: Sie hat festzustellen, was Rechtens ist, und auf dieser Basis mit Beachtung der der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Mittel ein Programm von Forderungen zu entwickeln; mit diesen Forderungen den sozialen Tatbestand von heute zu vergleichen, und diesen Tatbestand als Subtrahenden jenem Minuenden der Forderungen gegenüber zu stellen; an der Differenz beider aber uns zu lehren, inwieweit und wo der Gesellschaftszustand eine Reform erfordert; uns schließlich die Wege, die gangbarsten Mittel zu weisen für die Reform, für die Verwirklichung des Rechts. Diese Disposition fließt aus der Natur der Aufgabe, um die es sich hier handelt. Aber doch ist auch zu ihr gleich eine Randbemerkung zu machen. Wir haben die soziale Frage auf den Rechtsstandpunkt gestellt. Reicht dieser aber aus, um ihr den problematischen Charakter zu nehmen, und müssen wir uns nicht von vornherein darauf gefaßt machen, ein Stück über das nackte Recht hinauszukommen? Pflichten fließen nicht aus dem Recht allein, sondern auch aus der Moral. neben dem Kodex, neben Gesetzesparagraphen gibt es ein ungeschriebenes Recht, genannt Gewissen. Und auch diesem hat die Sozialpolitik Gehör zu schenken. Eine einzige Einschränkung ist ihr dabei gesetzt: Sie darf das eine mit dem andern nicht vermischen.

Damit ist unsere Aufgabe so weit als vorerst nötig, abgesteckt. Um es zu wiederholen: wir suchen das Recht, suchen den sozialen Tatbestand und finden dort, wo die Ränder des letzteren hinter dem Recht zurückbleiben, das Unrecht. Wir bezeichnen die möglichen Mittel, des Unrechts in der Gesellschaft Herr zu werden, unterwerfen sie einer näheren Prüfung und beantworten daraufhin die Frage, welche von ihnen die in höherem Maße praktikablen sind.

Die erste Frage ist also:  Was ist Recht In dieser allgemeinen Form unvermittelt gestellt, bringt sie an wen auch immer sie gerichtet sein mag, den um Antwort Angegangenen notwendig in Verlegenheit. Einem gegebenen Tatbestand gegenüber mag er vielleicht zu entscheiden, zu schätzen vermögen, was Recht, was Unrecht ist. Aber so allgemeinhin das Recht formulieren, das ist sicherlich ein heikles Ding. Enthält aber nicht jede Kasuistik  implizit  das Rechtsprinzip? Man vergleiche die Urteile verschiedenen Tatbeständen gegenüber, suche ihr Gemeinsames, und man hat "das Recht". Ist das also der Weg? Schon mit dem ersten Schritt, den man in dieser Weise gegen die Lösung der Frage macht, stößt man an ein Hindernis. Denn welche Urteile soll man überhaupt suchen? Welche Urteile in die Retorte tun, um aus ihnen "das Recht" zu brauen? Oder stimmen die Urteile, welche gefällt werden, etwa überein? Beherrschen nicht im Gegenteil die widersprechendsten Rechtsauffassungen das Gebiet der sozialen Frage? Liegen nicht die Parteien gerade über den Rechtsstandpunkt im Streit? Also, wessen Urteil soll "das rechte", soll "Recht" sein?

Es gab wohl eine Zeit, in der das Recht als eine objektive Norm außerhalb unseres, oder wenn in uns, so unabhängig von unserem Willen zu bestehen schien, wo  alle  ein Recht  als das  Recht empfanden. Es war die Zeit des  Naturrechts Das Eigentümliche dieser Epoche - sie gehört wesentlich dem vorigen Jahrhundert an - ist nichts anderes als die Übereinstimmung fast aller Urteile über das Recht gewesen. Und deswegen war man damals zu der Anschauung verführt, daß das Recht etwas Absolutes, eine Naturidee, eine von Gott unwandelbar dem Menschen eingepflanzte Überzeugung sei. Mit der Zeit wurde man eines Besseren belehrt.  Ein  Rechtsstandpunkt hörte auf der Standpunkt  aller  zu sein, und man begann daraufhin wieder, das Recht historisch zu betrachten. Indem man aber historisch wurde, fand man bald, daß es Zeiten gegeben, wo man nicht nur die Macht gegen das Recht gewendet, sondern in der Tat etwas anderes für "Recht" gehalten habe. Man stellte fest, daß die Täuschung mit dem Naturrecht die gleiche sei wie jene, die sich in der Annahme, daß wir die Dinge und nicht bloß unsere Vorstellungen von ihnen sehen, ausdrückt. Auch das Recht ist eine Vorstellung, kein objektiv sicherer, in sich begründeter Tatbestand. Und es steht gegen die Sinnesvorstellungen noch dadurch zurück, daß es sich weit rascher als es von diesen, vom Gesichtssinn, dem Gehörsinn und anderen erwiesen ist, wandelt. Eine Rechtssicherheit im Sinne von Rechtsbeständigkeit und Rechtstatsächlichkeit gibt es nicht. Es gibt eine Rechtsgeschichte, als Geschichte ebensowohl der Rechtsformen, wie des Rechtsprinzips. Das Recht und seine Wissenschaft stehen so gut im Fluß der Entwicklung, wie die experimentellen Wissenschaften, die Technik und wie die Kultur. Und deswegen ist es nichts Leichtes um die Antwort auf jene Frage: "Was ist Recht?" Man muß, da man sie in der Front kaum fassen kann, versuchen, seitlich an sie heranzukommen. In dieser Weise sind unsere zunächst folgenden Erörterungen gedacht. Wir stellen nämlich, um zu erfahren, was Recht ist, die verwandte und doch andere Frage: Was ist Recht  geworden,  und dementsprechend: was ist Recht  gewesen? 

Das Recht, das wir hier zu betrachten haben, ist das soziale Recht, bzw. da wir einem teilweise ungeschriebenen Recht nachgehen, die (Rechts-)Moral, die im Hinblick auf die sozialen Beziehungen gewaltet hat und heute gilt. In diesem Sinne soll zunächst eine ganz knappe Geschichte dieser Rechtsmoral geboten werden in der Weise, daß sie die Entwicklung der Moral zu dem, was dieselbe  heute  ist, zu zeichnen unternimmt, eine "Genealogie" also der sozialen Moral, um mit einem modernen Schriftsteller, NIETZSCHE, zu reden.



Erster Abschnitt
Eine Geschichte der sozialen Moral, gleichzeitig
Geschichte der sozialen Grundrechte.


I.
Bisherige Bearbeitungen

Eine Geschichte der sozialen Moral für den Zweck der Feststellung dessen, was heute soziale Moral ist und sein soll, liefern zu wollen, wenn auch nur im Abriß und mit allen Verwahrungen, die durch die Sprödigkeit und Jungfräulichkeit des Stoffes gegeben sind, ist kein geringes Unterfangen. Man steht nicht ganz ohne Vorgänger da. Aber diese haben entweder durch die Behandlung, die sie dem Thema zuteil werden ließen, oder offen die Schwierigkeit, seiner Herr zu werden, inbegriffen. Dieselbe spiegelt sich überdies nur zu deutlich in dem Umstand wieder, daß jene weit davon entfernt sind, in ihren Ergebnissen übereinzustimmen. Ebensowohl die Frage, ob eine Entwicklung vorliegt, wie die andere, in welcher Richtung sie etwa geht, ist heute strittig. Und dies ist umso mehr zu beklagen, als die Bedeutung des Gegenstandes weit hinaus reicht über die Frage, um derentwillen  wir  ihn hier behandeln. Uns interessiert die soziale Moral als solche und um ihretwillen. Wir wollen aus ihrer Feststellung gewisse Folgerungen ziehen mit Bezug auf das, was Rechtens sein soll und es heute ist. Aber das Interesse des Historikers geht weiter. Für ihn ist zweifellos, daß wenn es eine soziale Moral gibt, sie eine der Triebfedern der Geschichte ist, also eine Kraft darstellt, die die Entwicklungen bestimmt,  wenn auch nicht sie allein.  Und deswegen hat die Frage, welche wir hier aufwerfen, in erster Linie Gegenstand geschichtsphilosophischer Forschung sein müssen. An diese müssen wir uns wenden, wenn wir Auskunft darüber haben wollen, ob von jemandem und von wem der Gegenstand bereits abgehandelt worden ist.

Da ist dann aber zwischen Geschichtsphilosophie und Geschichtsphilosophie zu unterscheiden. Die ältere Philosophie gibt uns nirgends auf die anstehende Frage eine Antwort auf historischer Unterlage, und ganz vereinzelt tritt sie überhaupt an sie heran. Das Problem ist eben von der Art, daß es in seiner spezifischen und viel umfassenden Bedeutung erst seitdem die sogenannten sozialen Forderungen erhoben werden, ersichtlich gemacht ist. Von den Modernen haben sich vorzüglich BUCKLE und RANKE, GUIZOT und HERBERT SPENCER, RÜMELIN und LOTZE seiner angenommen. Aber auch sie nicht in der Weise, daß sie festgestellt hätten, was früher soziale Moral war und heute soziale Moral ist, sondern bloß in der Untersuchung der Frage, ob eine Moral entwicklung  vorliegt. Immerhin kommen sie auf diese Weise unserer Untersuchung bis zu einem gewissen Grad zu Hilfe, und jedenfalls ist es unsere Pflicht, jene an dieser Stelle zu erwähnen.

Es braucht kaum weitläufiger Auseinandersetzungen, um darzutun, daß es für das Sichabfinden mit der sozialen Frage nicht wertlos ist, festzustellen, ob etwa ein immanenter Trieb zur Besserung unserer sozialen Moral in uns liegt oder ob wir uns in puncto soziales Gewissen seit Menschengedenken in einem Beharrungszustand befinden. Unsere Aufgabe ist es, hier zu einem Urteil über die soziale Frage, über das Berechtigte der Forderungen, die sie ausspricht, zu gelangen. Aber die Basis, von der wir das Urteil fällen, ist vielleicht im Schwanken und macht ihre Evolutionen durch. Unser Standpunkt als solcher bedarf also einer Überprüfung. Auch für diese Überprüfung gibt es kein besseres, ja überhaupt kaum ein anderes Mittel, als die geschichtliche Betrachtung. Immerhin möchten wir das Folgende in erster Linie unter den Gesichtspunkt einer Frage stellen, die wir möglichst anschaulich und naiv so formulieren: Sind wir bessere Menschen geworden im Laufe der Zeit? Indem wir diese Frage verfolgen, das Material für sie sichten und verarbeiten, beantworten sich uns gleichzeitig all die anderen Fragen, und insbesondere jene, um derentwillen wir zuerst in diese Untersuchung eingetreten sind, die Fragen nämlich nach dem Tatbestand der sozialen Moral von heute, nach den Forderungen und Rechtsansprüchen, die sie in sich birgt. Zum Schluß wird sich diese Untersuchung dann etwas erweitern, indem wir die Entwicklung speziell der sozialistischen Idee in größerer Vollständigkeit als das übrige zu geben versuchen.

Wir haben vorhin einige Namen von Schrifstellern genannt, welche die Frage der Moralentwicklung behandelt haben. BUCKLE, RANKE, GUIZOT haben dies getan (in ihren Geschichten der Zivilisation der erstere und der letzte, RANKE in seiner Weltgeschichte) auf historischem Boden, HERBERT SPENCER (in seinen Tatsachen der Ethik) auf anthropologisch- oder, wenn man so will, soziologisch-philosophischem, RÜMELIN (Reden und Aufsätze) und LOTZE (Mikrokosmos) mehr philosophisch und mit Zurücksetzung des historischen Stoffs. Von RÜMELIN und LOTZE wollen wir erst später sprechen, dort, wo wir die Resultate unserer Untersuchung zusammenfassen.

Von Äußerungen, die  vor  den hier genannten gefallen sind, scheinen uns jene unserer großen deutschen Dichterphilosophen einer näheren Betrachtung wert. Daß der dramatische Dichter vor allem Menschenkenner sein müsse, wie der Historiker Anempfinder, haben GOETHE und SCHILLER ansich bewiesen. Und aus dem reichen Schatz ihrer Menschenkenntnis und ihres geschichtlichen Wissens geben sie ihr Urteil darüber ab, wie die Menschen waren und wie sie sind. SCHILLER und GOETHE sind mit Bezug auf den moralischen Fortschritt Pessimisten gewesen. Aus dem Menschen, wie sie ihn um sich sahen, haben sie wenig Zutrauen zur Menschennatur geschöpft. "Klüger und einsichtiger," urteilt GOETHE, "werden die Menschen, aber besser, glücklicher und tatkräftiger nicht, oder nur auf Epochen." Im Ganzen scheint es ihm also, daß unsere Moral keinen Fortschritt bekundet, ja unter dem Eindruck ästhetischen Empfindens haben für ihn die Menschen früherer Epochen manches gegen die Zeitgenossen voraus. Ähnlich denkt SCHILLER. Auch ihm scheint die soziale Moral im Zustand der Naivität der Völker mehr gesichert und weit leichter geübt als in dem des Selbstbewußtseins und gereifter Einsichten. Es ist in der Vorrede zur Geschichte des Malteserordens, daß er sich zu unserer Frage äußert. "Der Vorzug hellerer Begriffe," meint er hier, "besiegter Vorurteile, gemäßigterer Leidenschaften, freierer Gesinnungen - wenn wir ihn wirklich zu erweisen imstande sind, kostet uns das wichtige Opfer  praktischer Tugend,  ohne die wir doch unser besseres Wissen kaum als Gewinn erachten können." SCHILLER läßt den Begriff jener praktischen Tugend im unklaren. Will man aus dem Folgenden schließen, so setzt er sie in die Begeisterungsfähigkeit. Er findet, daß die Menschen nüchterner geworden seien. "Dieselbe Kultur," so läßt er sich vernehmen, "welche in unserem Gehirn das Feuer eines fanatischen Eifers auslöschte, hat zugleich die Glut der Begeisterung in unseren Herzen erstickt, den Schwung der Gesinnungen gelähmt, die tatenreiche Energie des Charakters vernichtet. Die Heroen des Mittelalters setzten auf einen Wahn, den sie mit Weisheit verwechselten, und eben weil er ihnen Weisheit war, Blut, Leben und Eigentum; so schlecht ihre Vernunft belehrt war, so heldenmäßig gehorchten sie ihren höchsten Gesetzen - und können wir, ihre verfeinerten Enkel, uns wohl rühmen, daß wir an unsere Weisheit nur halb so viel setzen als sie an ihre Torheit wagten?" Den Gipfel der Sittlichkeit in diesem Sinne habe die Menschheit, meint SCHILLER, zur Zeit der Kreuzzüge erklommen.
    "Waren gleich die Zeiten der Kreuzzüge ein langer trauriger Stillstand in der Kultur, waren sie sogar ein Rückfall der Europäer in die vorige Wildheit, so war die Menschheit doch offenbar ihrer höchsten Würde nie vorher so nahe gewesen als sie es damals war - wenn es anders entschieden ist, daß nur die Herrschaft seiner Ideen über seine Gefühle dem Menschen Würde verleiht."
So weit SCHILLER, und in der Tat: die Würde war hier Aufopferungsfähigkeit, also "soziale" Moral. Die Äußerung SCHILLERs ist derart sicher für unsere Frage anzuführen. Aber doch nicht zu benutzen. SCHILLER hat den Begriff der sozialen Moral zweifellos unzureichend gefaßt. Und er hat überdies, wie wir heute wissen, die Geschichte mißverstanden, geschichtliche Tatsachen, welche er in seiner Weise dichterisch betrachtete, gewaltsam in den Rahmen vorgefaßter Meinungen gezwängt. Jene "Heroen des Mittelalters" zogen doch nur in das heilige Land, um sich den Himmel, die  ewige  Seligkeit zu erkaufen. Gegen diese waren sie bereit, die Freuden eines kurzen Lebens hinzugeben. Das war ihr Gewinn. Man darf also das Gewicht der Gründe, mit denen SCHILLER seine Auffassung belegt, nicht überschätzen. Aber doch verdient es bemerkt zu werden, daß unsere beiden Dichterfürsten, auf der höchsten Warte der Menschheit stehend, die Lehre von einem gewissen Rückschritt der sozialen Moral verkündeten. Zur Erklärung ihrer Standpunkte wird später noch einiges zu sagen sein. Einen Mangel derselben haben wir aber bereits angedeutet. GOETHE und SCHILLER sind, so sehr sie über das Maß ihrer Zeit hinausragen, doch Kinder derselben. Vor allem im Hinblich auf ihr historisches Wissen, sodann aber durch ihre, wenn auch noch so weitläufige Beziehung zum philosophischen Naturenthusiasmus des vorigen Jahrhunderts. Eigentlich wäre ja, wenn das Verhältnis des moralischen zum intellektuellen Fortschritt erörtert werden soll, ROUSSEAU an erste Stelle zu nennen gewesen, der bereits den Menschen, welcher überlegt,  qui médite  [wer meditiert - wp], ein depraviertes [verschlechtertes - wp] Geschöpf nennt, und der seine ersten literarischen Lorbeeren durch eine Verneinung des moralischen Fortschritts errang. Von den Ideen, die dieser Auffassung zugrunde lagen, hatte jene Epoche zu viel in sich aufgenommen, als daß selbst GOETHE und SCHILLER völlig unberührt davon hätten bleiben können.

Von dieser Geschichtsauffassung aber gilt, was RANKE einmal von der Geschichtsphilosophie als Geschichtskonstruktion gesagt hat: "Aus apriorischen Gedanken hat man auf das geschlossen, was da sein müsse. Ohne zu bednken, daß jene Gedanken vielen Zweifeln ausgesetzt sind, ist man daran gegangen, sie in der Historie der Welt wiederzufinden. Aus der unendlichen Menge der Tatsachen hat man alsdann diejenigen ausgewählt, welche jene zu beglaubigen schienen." Nach dieser Methode ließ sich freilich alles beweisen. Jene Naturenthusiasten sahen Dinge, die nicht gewesen sind, und Dinge nicht, die da waren.

In eine doch schon etwas reellere, konstistentere Atmosphäre tritt man, wenn man die neueren Autoren befrägt. Das gilt bereits für BUCKLE. Denn daß bei RANKE jede Äußerung über die strittige Frage auf dem Untergrund des größten historischen Detailwissens und der größten Forschertreue ruht, ist selbstverständlich.

BUCKLE trägt seine Ansicht in folgender Weise vor. Er erklärt: auf die Frage, ob im Leben der Völker ein Fortschritt der gesellschaftlichen Moral zu erkennen sei oder nicht, sei zu erwidern, daß die Moralprinzipien, soweit wir in die Geschichte zurückblicken können, immer die gleichen gewesen seien, aber ihre Auffassung und Anwengung eine andere je nach der Einsicht der Zeit, welche Einsicht aber vorzüglich durch die Höhe, auf der die Wissenschaft stand, und die Verbreitung ihrer Erkenntnisse entschieden wurde. Wenn und insoweit wir also einen Fortschritt in der gesellschaftlichen Sittlichkeit zu verzeichnen haben, sei er der Wissenschaft allein zu verdanken.

Es mag hier gleich bemerkt werden, daß BUCKLE des öfteren mißverstanden worden ist und auch heute mißverstanden wird: als ob er behauptet hätte, daß die praktische Moral überhaupt nicht fortschreite, während seine Meinung doch nur die ist, daß das Verhältnis der praktisch geübten Moral zu dem sie übenden Menschen kein anderes geworden sei, weil eben der (denkende) Mensch ein anderer wurde. Aber, wenn auch aus dem subjektiven Standpunkt allezeit gleichgeblieben, sind doch, objektiv und retrospektiv betrachtet, die Moralleistungen zweifellos gewachsen. Nur sei das Mittel dieses Fortschritts in den Leistungen nicht die Gefühlsmoral, sondern der Intellekt gewesen. - BUCKLE weißt im Besonderen darauf hin, daß 1. die Verminderung religiöser Verfolgung und 2. die Abnahme kriegerischen Geistes sich deutlich auf den Fortschritt der wissenschaftlichen Einsicht zurückführen lassen, statt auf eine Modifikation unseres Moralprinzips. "Es ist unzweifelhaft," sagt er wörtlich, "daß die größte Mehrheit derer, die religiöse Verfolgungen geleitet haben, Menschen von reinster Absicht und von außerordentlicher und tadelloser Moralität gewesen sind. Solche Menschen," meint er, "sind nicht schlecht, sie sind nur unwissend, unwissen über die Natur der Wahrheit, unwissen über die Folgen ihrer eigenen Handlungen." Er ruft, um dies zu belegen, die römischen Kaiser auf, die die ersten Christen verfolgen ließen. "Unter den tätigen Urhebern dieser Grausamkeiten finden wir die Namen der besten Männer, die je auf dem Thron gewesen sind, während die schlechtesten und verruchtesten Kaiser diejenigen waren, welche die Christen schonten und sich um ihre Vermehrung nicht kümmerten." - Ähnlich spricht er dann von Spanien. Und dies, meint er, beweist, daß die Einsicht allein den Grad der geübten Moral bestimmt.

Soweit BUCKLE. RANKEs Autorität kommt ihm indessen zu Hilfe. RANKE beleuchtet an einigen Stellen seiner Vorträge von König MAX II. von Bayern die Tatsache der Moralentwicklung, und der König selbst stellt ihm auf sie bezügliche Fragen. RANKE nennt in seinem ersten Vortrag die moralischen Ideen unwandelbar und ewig, meint dann weiter, in moralischer Hinsicht aber läßt sich der Fortschritt nicht verfolgen, und erwidert dem König: "Ich glaube, daß in jeder Generation die wirkliche moralische Größe der in jeder anderen gleich ist, und daß es in der moralischen Größe gar keine höhere Potenz gibt, wie wir denn z. B. die moralische Größe der alten Welt gar nicht übertreffen können." Es ist genau der Standpunkt BUCKLEs. Nur darin weicht RANKE von BUCKLE ab, daß letzterer die in uns lebendigen Moraltendenzen förmlich bis in die Urgeschichte, jedenfalls in die religiösen Bücher der Inder zurückführt, währen RANKE die Entwicklung des Moralprinzips erst mit dem Christentum abgeschlossen wissen will. Aber wenn man RANKE weiter folgt, so wird man alsbald gewahr, daß er seine Meinung wechselt. Er hat dem König 19 Vorträge gehalten. Im ersten und zweiten hat er sich, wie erwähnt, im BUCKLEschen Sinne geäußert (2). Im neunzehnten scheint er wieder zurückzuziehen, was er früher zugestanden hat. Früher spricht er von einer Expansion der sittlichen Ideen. Hier meint er: "Daß in jedem nachfolgenden Jahrhundert eine größere Anzahl von sittlich höher potenzierten Menschen existiert, läßt sich nicht annehmen," und fügt noch hinzu: "Auch glaube ich nicht, daß sich in diesem Jahrhundert eine größere Anzahl intelligenter Leute vorfindet als im vorigen." Dies als Antwort auf die Frage des Königs: "Kann man annehmen, daß es jetzt eine größere Menge von ausgezeichnet gesitteten Menschen gebe als früher?"

Was will "Expansion" unter diesen Umständen heißen? Soll damit gesagt sein, daß die unteren Schichten zur sittlichen Kultur herangezogen werden, während bei den oberen Zehntausend alles beim alten bleibt? RANKE läßt uns im Unklaren darüber. Aber es macht den Eindruck, als ob er sich selbst über die strittige Frage im letzten Grund nicht schlüssig geworden ist. Jednefalls war RANKE weit eher Pessimist als BUCKLE. BUCKLE war sich einer optimistischen Auffassung bewußt, als er seine Theorie formulierte. Wenn er keine Entwicklung vom Menschen aus, sondern bloß von den Verhältnissen her zugab, so wollte er damit dem Menschen nicht nahetreten, sondern nur aus der Natur der Dinge heraus feststellen, daß eine andere Entwicklung überhaupt unmöglich ist. Die mögliche Entwicklung aber kommt nach ihm voll zur Geltung. Letzteres ist nun RANKEs Meinung, auch wenn er die Weltgeschichte in guter Laune ansah, sicher nicht gewesen. Nach ihm ist die soziale Moral jedenfalls im Rückstand, hätte sie immer mehr sein dürfen als sie war und ist. Aus diesem Gefühl heraus mag RANKE später das anfänglich gemachte Zugeständnis als zu weitgehend empfunden haben, und darum zog er es zurück. Er steht nach dem Gesagten in der Reihe der Pessimisten, BUCKLE an der entgegengesetzten Front.

Ebenso GUIZOT, von dem wir nunmehr reden wollen. GUIZOT spricht (in seiner "Histoire de la civilisation") seine Meinung genauso rückhaltlos und souverän aus, wie später BUCKLE. Er ist womöglich noch weniger als dieser von Bedenken geplagt. Denn er sieht nicht bloß einen objektiven, sondern auch einen subjektiven Fortschritt. Er findet den moralischen Fortschritt durchaus nicht allein abhängig von den Fortschritten der materiellen Kultur und des Wissens, sondern er meint umgekehrt auch von Seiten der Moral her eine Einwirkung auf Kultur und Wissen annehmen zu dürfen, so daß indirekt die Moral auch von sich aus sich zu entwickeln vermag. Zwischen Moralsätzen und praktischer Moral unterscheidet er nicht. Er kennt bloß den moralischen Menschen. Für die Richtigkeit seiner These ruft er drei Instanzen auf: die öffentliche Meinung, das Zeugnis der Geschichte und den Begriff der beiden Entwicklungen, d. h. die durch ihren Begriff gegebene, in ihrem Wesen liegende innere Beziehung. Alle antworten ihm in gleicher Weise. Speziell die Geschichte sagt ihm folgendes:
    "Alle Fortschritte im sozialen Zustand der Völker sind dem inneren Menschen zugute gekommen. Es ist jeweils eine der beiden Erscheinungen, welche die Situation beherrscht und die Kugel des Fortschritts ins Rollen bringt. Die eine löst die andere ab. Allerdings nicht mit der Regelmäßigkeit eines physikalischen Vorgangs. Oft braucht es lange Zeiträume, tausend Transformationen und begegnet tausend Hindernissen, bis die eine Tatsache die andere gebiert. Aber wenn man nur ordentlich zusieht, dann merkt man, wie sie sich gegenseitig immer neu befruchten."
Für den die "Humanität" und die "sozialen Verhältnisse" angebenden Tatbestand hat GUIZOT das Wort Zivilisation gebraucht. GUIZOTs Begriff der Zivilisation - er hat ihn 1828 in jenen Vorlesungen, die dann als "Geschichte der Zivilisation" erschienen sind, zuerst entwickelt - ist danach schon der moderne, durch das Zeitalter der sozialen Frage gegebene. Was ist, so fragt er, die Vorstellung, die im Geiste des Menschen aufsteigt, wenn das Wort "Zivilisation" ausgesprochen wird? Er antwortet: Man faßt sofort die gesellschaftlichen Beziehungen ins Auge, und denkt dabei einmal an eine wachsend Masse von Kräften und Glücksgütern, sodann an eine gleichmäßigere Verteilung dieser Mittel in der Gesellschaft.

Von GUIZOT geht für den Geschichtsschreiber ganz zwanglos die Brücke hinüber zu HERBERT SPENCER. Auch er ist überzeugter Optimist. Er ist in seinen philosophischen und familiengeschichtlichen Studien dazu gelangt, die Vervollkommnungsfähigkeit und Vervollkommnung unseres Geschlechts auf dem Gebiet der sozialen Moral auf das nachdrücklichste zu behaupten. Die Geschichte lehrt uns, wie die egoistischen Instinkte immer mehr hinter die sozialen zurücktreten. Und da zugleich der technische Fortschritt dem einzelnen immer größere Mittel zur Verfügung stellt, wird in Zukunft die Rücksichtnahme auf andere ohne Selbstbeschränkung möglich sein. Es wird auch gar nicht mehr der Mitleidserregung bei den Besitzenden bedürfen, damit er sich in den Dienst des Nächsten stellt, sondern eine Anteilnahme viel ruhigerer Art, ein sympathisches Verständnis der Verhältnisse des Anderen wird dafür genügen. Und schließlich werde die Genugtuung, die man aus einem dem Nächsten erwiesenen Dienst schöpft, von jedermann so  gesucht  sein, daß manchem zu  wenig  zu tun übrig bleibt. Immerhin, denkt SPENCER, wird es keine Gefahr haben, daß ein Konflikt daraus entsteht: denn jedermann wird sich sagen, daß auch andere die von ihm gesuchte Genugtuung haben wollen und haben sollen.

Aufgrund welcher Tatsachen ist SPENCER zu dieser merkwürdigen Prognose gekommen? SPENCER findet, wie im Verlauf der Geschichte die Kooperation, das Mit-und-für-einander-arbeiten, immer mehr dem Grundatz der isolierten Wirtschaft, des Jeder-für-sich, das Feld abgewinnt. Die Menschen bedürfen einander, meint SPENCER, in der heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung weit mehr als in früheren. Und willig stellt sich der eine in den Dienst des zweiten und dritten, indem er von diesen die gleiche Dienstwilligkeit erwarten darf. Die fortschreitende Interessenverflechtung zwischen Einzelnen, Berufen, Ständen ist ein Entwicklungsgesetz. Die Zahl der gemeinsamen Interessen wird immer größer, und mit der Zahl der gemeinsamen Interessen wächst auch der  Sinn  für das Gemeinsame, der Sinn für den Nächsten.

Man kann nicht sagen, daß SPENCER dieser seiner Theorie viele Freunde zu gewinnen vermocht hat. Man hat gegen ihn eingewandt, daß das gesellschaftliche  Bedürfnis  in hohem Maß ausgebildet sein kann, ohne die gesellschaftliche  Rücksichtnahme.  Friedlich und dauernde  Kooperation  könne stattfinden ohne  Nächstenliebe,  "bei hoher Spannung egoistischer Gegensätze". PAULSEN in seinem "System der Ethik" meint noch weiter, daß wenn heute Freundschaft, Zuneigung, Teilnahme lebhafter empfunden werden, Gleiches auch von den Gefühlen der Feindschaft und der Mißachtung gilt. Mit der Ausbildung der Individualität in uns hätten wir allen Indifferentismus abgestreift und seien nachdrücklicher in unserem Gefühlsleben nach beiden Seiten hin geworden.

Die Haltbarkeit speziell dieser letzteren Auffassung ist uns allerdings zweifelhaft, da das Gefühlsleben des Naturmenschen kaum weniger nachdrücklich, wenn auch weniger entfaltet und geklärt und nicht gleich vollständig wie das des Kulturmenschen ist. Der Naturmensch handelt nach seinen animalischen Instinkten, während die Signatur des Kulturmenschen das Bedenken ist, der Zwang, die Mäßigung, die er sich auferlegt, seine Abscheu vor aller Brutalität, sein schon ästhetisch genährter Widerwille gegen alles Krasse. Nicht also den Unterschied der Gefühlsnachdrücklichkeit auf primitiver und höherer Kulturstufe möchten wir gegen SPENCER betonen, sondern weit mehr, daß er aus der Assoziation zur besseren, technisch wirksameren Verfolgung persönlicher und zwar höchst persönlicher Interessen den Schluß auf einen Assoziation der Gefühle zieht. In Wahrheit entspringt aus dem Schoße dessen, was SPENCER die Sozialisierung nennt, die Konkurrenz; der Periodie gegenseitiger Beziehungslosigkeit, der Autonomie und "Oikonomie", folgt die der Rivalitäten und der Kämpfe. Reibungsflächen in der sozialisierten Gesellschaft gibt es zweierlei: es begegnen sich jene, die dem gleichen Ziel zustreben, als Konkurrenten, und jene, mit welchen verhandelt wird, als Preisgegner. Das Interesse des Arbeiters stellt sich bis zu einem gewissen Grad  gegen  das des Unternehmers, indem was der eine im direkten Verkehrt verloren gibt, der andere gewinnt, und so auch das Interesse des Produzenten der Rohstoffe  gegen  das der kaufenden Industriellen, das Interesse des verkaufenden Industriellen  gegen  das des kaufenden Zwischenhändlers usw. Folgt auch dieser Gegnerschaft schließlich auf der ganzen Linie die Einigung, so ist es doch eine teilweise erzwungene, aus dem Verhältnis der Machtmittel hervorgegangene, und bloß temporäre. Denn immer neu wiederholt sich jenes Spiel.

Diese von SPENCER übersehene Tatsache, daß die Vergesellschaftung  nicht  zu einer ein für  allemal  anerkannten Abfindung einer gegenseitigen Rücksichtnahme nach einem bleibendem Maßstab führt, sondern die Versöhnung sich erst im  Kampf  durchsetzt, und unter Umständen, dort wo es sich um ein Steuern auf gleiche Ziele hin handelt, d. h. in der Konkurrenz, überhaupt ausbleibt, ist es, was gegen ihn angeführt werden muß.

Der Fehler SPENCERs ist aber in letzter Linie offenbar ein solcher der Methode. Er hat eine im Wesen  begriffliche  Untersuchung geführt, statt sich schlecht und recht an die Tatsachen zu halten. Sein  punctum saliens  [springender Punkt - wp] ist die "Sozialisierung der Gesellschaft". Von hier aus schließt er. Aber der Begriff war unvollständig abstrahiert, oder wenn man so will, wenn auch ansich vollständig, so unzureichend für die ihm zugedachte Aufgabe. Die Sozialisierung allein beweist eben nichts, sie ist eine vorzugsweise technische Tatsache. Und daß SPENCER sie gleichzeitig als eine ethische nahm, das war sein Irrtum.

SPENCER wurde uns derart, wenn wenn wir nicht  von vornherein  die Tatsachen ohne begriffliche Vermittlung hätten sprechen lassen wollen, ein Wink sein, es nicht mit dem Begriff zu versuchen.

Wir müssen an dieser Stelle, da wir uns über die Methode SPENCERs äußern, auch zu der von BUCKLE und GUIZOT und jener RANKEs Stellung nehmen. RANKE ist bekanntlich ein Feind zunftmäßiger Geschichtsphilosophie. Aber doch war er dies nur bedingt. Seine Zurückweisung jener verbindet er mit dem Zugeständnis, daß die Geschichte ohne inneren Zusammenhang nicht sein könne. Und dies ist offenbar so zu deuten, daß er aller apriorischen Konstruktion die Wissenschaftlichkeit aberkennt, dabei aber weit entfernt davon ist,, auch der empirischen Forschung die Fähigkeit abzusprechen, im Sukkus [Saft - wp] der erhobenen Fakten zu Gesetzen fortzuschreiten. RANKE will die Geschichtsphilosophie als eine philosophische Geschichte. Er nimmt für sie nicht den Philosophen, sondern den Historiker in Anspruch, und er fordert auch hier vom Forscher vor allem das innere Verständnis, die Fähigkeit des Anempfindens und die Treue. Was er als apriorische Konstruktion zurückweist, ist nicht nur die Konstruktion aus dem Begriff und die Auffassung der Weltgeschichte als bloßer Evolution einer philosophisch gewonnenen Idee, sondern schon die Selbsttäuschung und Gewaltsamkeit, das subjektive Sichaufdrängen des Forschers und seine Präokkupation [Vorwegnahme - wp], wie das aus Worten, die wir früher schon gehört haben, hervorgeht. OTTOKAR LORENZ bezeichnet es sicherlich sehr treffen, wenn er meint, daß RANKE ganz in der Art der  Naturwissenschaft  und  Statistik  aus dem Material der  Geschichte  die Gesetze, die Einheit, die Entwicklung abgezogen wissen will.

Dieser Forderung ist die Geschichtsphilosophie  vor  RANKE  nicht  gerecht geworden. Sie hat ihre geschichtsphilosophie Darstellung nicht die abdestillierte Tatsachenentwicklung sein lassen, sondern die Philosophie  neben  und außerhalb der Geschichte abgehandelt. So aber auch BUCKLE und GUIZOT, trotzdem sie beide groß angelegte Geschichten der Zivilisation geschrieben haben; denn bei BUCKLE wie GUIZOT stehen die philosophschen Resultate nicht im Kontakt mit dem Hauptinhalt der Werke, sondern sind nebenher entwickelt und dann nur durch eine oder zwei geschichtliche Bemerkungen, Seitenblicke auf das, was geschichtlich geschehen ist, unterstützt.

Von einer geschichtsphilosophischen Sichtung des gesamten Materials ist bei ihnen keine Rede, und wir sind daher, weil wir die Auffassung RANKEs hinsichtlich der Bedingungen geschichtsphilosophischer Erörterung teilen, BUCKLE und GUIZOT gegenüber zu nicht viel geringerem Mißtrauen aufgefordert wie gegen den "philosophischeren" HERBERT SPENCER. Was nun aber RANKE selbst betrifft, so hat er auf die philosophische Bewältigung des weltgeschichtlichen Materials Verzicht geleistet. Er mußte es, weil er die philosophische Ader nicht besaß. Es ist ganz seltsam, wie ihn bei jedem Anlaß, wo er zu einer philosophischen Gesamtbetrachtung eingeladen war, Unsicherheit ergreift und er sein Urteil in ein Halbdunkel stellt, in welchem nichts bestimmt hervortritt. "Aus der Erfahrung wüßten wir," äußert er zu einem Freund und Schüler, "daß in bestimmten Zeiten alles einer gewissen Tendenz folgt, die sich sowohl der Einzelnen wie der Gesamtheit bemächtigt hat; dann aber bemerke man wieder in anderen Zeiten einzelne, die sich als Träger von Ideen, die in ihren Handlungen zu erkennen oder in ihren Lehren ausgesprochen sind, erwiesen. Die Ideen seien also das Wirksame, was der Historiker aufzusuchen habe. Die Menschen seien von denselben gleichsam besessen.  Etwas  weiteres zu wissen, sei aber der Geschichte nicht möglich."' "Das ist das einzige, was man herausbringen kann, weiter geht es nicht." Mit diesen Worten, sagt O. LORENZ, unser Gewährsmann, schloß er seine Erörterung und wiederholte dann noch mehrmals immer wieder "weiter geht es nicht."

Die moderne Historiographie hat also ihrerseits keine Leistungen an die Stelle jener der alten Geschichtsphilosophie gesetzt. Ja mehr, in der Person RANKEs hat sie selbst sich unfähig erklärt, in jener Richtung etwas herauszubringen. Das Bedürfnis nach geschichtsphilosophischer Erhellung der Menschheitsgeschichte besteht trotz alledem. Da aber die moderne Geschichtsschreibung mit verschränkten Armen dastand und entweder im Vollgefühl ihrer näheren und nächsten, wohl auch kleineren Aufgaben mangelnde Passion eingestand oder mangelnde Zugänglichkeit des historischen Materials für philosophische Durchdringung hielt, hat sich der der Philosophie im Innersten seines Wesens bedürftige Mensch allgemach von der Geschichte abgewendet und bei anderen Forschungsgebieten um die Antwort auf die große Frage angeklopft. WUNDT (in seinem "System der Philosophie") erklärt rundweg: "Die Frage, ob sich die intellektuelle und ethische Begabung des einzelnen Menschen im Laufe der Zeit vervollkommnet habe, gehört in das Gebiet der Anthropolgie, nicht in das der Geschichte." Sollen wir uns also bei der Anthropologie Rat holen? Wir denken nicht. Wir meinen, daß sie uns bei keiner der strittigen Fragen irgendwie erheblich vorwärts zu bringen vermag. Nicht nur, daß sie mit Vorliebe die vorkulturellen Epochen behandelt, übersieht derjenige, der aus ihr das Material schöpfen will, auchdaß ein anderes Handeln nicht nur von anderen Menschen, sondern auch von gleichen Menschen unter anderen äußeren, von der Anthropologie nicht zu beachtenden Verhältnissen ausgehen kann. Wir halten es trotz des schlechten Zeugnisses, das sie sich selbst ausstellt, immer noch mit der Geschichte!

Wenn wir aber auf ihr fußen sollen, ihre bisherige philosophische Bearbeitung uns jedoch unbefriedigt läßt, so sind wir damit aufgefordert, selbst das Werkzeug zur Hand zu nehmen und zu sehen, wie weit wir kommen.

Es handelt sich darum, Bekanntes unter den Gesichtspunkt der Evolution zu stellen.
LITERATUR: Julius Wolf, Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung [kritische Würdigung beider als Grundlegung einer Sozialpolitik] Stuttgart 1892
    Anmerkungen
    1) Das Wort "sozial" in moderner Bedeutung wird zurückgeleitet auf die Anwendung, die ihm ROUSSEAU im "Contrat social" gegeben hat. 1762 kam das Wort nach Deutschland herüber. Vordem, insbesondere im Latein hat "socialis" einen weit engeren Begriff umfaßt als  populus, res publica.  Ähnlich hat sich das deutsche Wort "Gesellschaft" aus der ursprünglichen Gesaalschaft, der Gemeinschaft der Bewohner eines Raumes zum Begriff der ausgedehntesten Gemeinschaft entwickelt mit dem Bedürfnis der Zeit (vgl. einen am 10. Oktober 1890 im Zweigverein des "Allgemeinen deutschen Sprachvereins" zu Halle gehaltenen Vortrag von KARL SCHULZ über die sprachgeschichtliche Seite der sozialen Frage).
    2) Eine Entlehnung bei BUCKLE oder umgekehrt ist selbstverständlich ausgeschlossen, nicht nur durch die Persönlichkeiten, insbesondere jene RANKEs, sondern auch durch die Umstände. BUCKLEs "Geschichte der Zivilisation in England" ist von 1857 an erschienen; RANKE hat seine Vorträge vor König MAX 1854 gehalten. Jene Vorträge sind aber erst 1888 im Druck erschienen.