p-4R. WillyM. WalleserE. LaasKierkegaardE. BergmannA. Storch    
 
MAX SCHELER
Über Selbsttäuschungen
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"Es ist nach einer Hinsicht wohl als Vorzug anzusehen, wenn einige Neuere geradezu verzichten, Psychisches selbst zu messen, zu zählen - je eine solche Möglichkeit selbst leugnen -, aber es dafür zum Prinzip erheben, alles Psychische erst indirekt, d. h. nach seiner Beziehung zu Physischem, also zu physischen Größen und Zahlbestimmtem zu bestimmen. Es ist ein Vorzug insofern, als die Täuschung, man  messe, zähle  usw. das Psychische selbst, dabei nicht stattfindet, in der doch diese Richtung begründet wurde; und ohne die ihre Entstehung undenkbar ist."

4. Generelle Quellen der
Täuschungen der inneren Wahrnehmung

FRANCIS BACON hat bekanntlich den Versuch gemacht, eine Idolenlehre zu begründen, in der er die wichtigsten Täuschungsquellen der äußeren Wahrnehmung und Beobachtung anzugeben versucht. Was - wie mir scheint - der Psychologie gegenwärtig sehr zustatten käme, das ist ein analoger Versuch für das Gebiet der inneren Wahrnehmung. Es gibt nichts, wodurch die falsche Lehre eines Evidenzvorzugs der inneren Wahrnehmung vor der äußeren, dieser Grundstütze aller "idealistischen" und "psychologistischen" Erkenntnistheorien besser ad absurdum geführt werden kann; und wodurch zugleich die echte Evidenz innerer Wahrnehmung und Beobachtung schärfer ins Auge fällt; freilich auch die eminente Schwierigkeit aller echten inneren Wahrnehmung und die Fülle der möglichen Stufen der Gegebenheit eines seelischen Gebildes in ihr zur Klarheit kommt. Ohne auf Vollständigkeit Anspruch zu erheben, möchte ich hier zunächst einige Hauptquellen der normalen Täuschungen innerer Wahrnehmung ins Auge fassen.
Nichts hat der Psychologie so geschadet als die These, sie müsse nach Analogie der Naturwissenschaft betrieben werden. Sollte dies nur heißen, daß sie möglichst exakt im Sinne von "genau" verfahren soll, daß sie sich auf Beobachtung, Experiment, induktive Methode aufbauen soll, so ist natürlich dagegen nicht das Mindeste zu sagen. Völlig in die Irre aber führt jene Forderung, wenn man die Grundkategorien des Naturseins, sei es bewußt oder unbewußt, auf die seelischen Tatsachen überträgt oder gar unbewußt oder bewußt nach dem methodischen Prinzip verfuhr, daß die Scheidung der seelischen Mannigfaltigkeit in einzelne Gebilde erst durch die Vermittlung von deren Beziehung zu Naturobjekten (seien es die physischen Gegenstände und Vorgänge der Außenwelt, seien es die leiblichen Substrate der psychischen Vorgänge) erfolgen dürfe. Die Idee einer "reinen Psychologie", die sich gerade die  entgegengesetzte  Aufgabe zu setzen hätte,  alle,  auch die in der natürlichen inneren Wahrnehmung noch mitgegebenen, erst durch den Hinblick auf die Außenwelt erfolgenden Scheidungen, Charakteristiken usw.  prinzipiell  aus den seelischen Tatbeständen  auszuscheiden,  und dann erst an dem so gereinigten Material eine Erklärung zu versuchen, ist eben hierdurch fast verloren gegangen! Es ist klar, daß z. B. eine Bestimmung einer Empfindung als Gelenkempfindung, als Muskelempfindung, als Spannungs-, als Bewegungsempfindung usw. keine psychologische Bestimmung ist; denn von der Empfindung wird nur gesagt, es sie diejenige, die ich bei den Leistungen dieser und jener Organe habe; solche Bestimmungen sind  außer psychologisch; so auch wenn der Begriff der Empfindung überhaupt erst durch Anwendung der empfundenen Inhalte wie Farbe, Ton in Arten gespalten wird oder Empfindung überhaupt erst durch Anwendung des Reizbegriffs definiert werden soll. Weiß ich von einer Vorstellung nur, daß sie die Vorstellung eines Hauses ist, so weiß ich psychologisch  nichts  von ihr; ich sage ja nur, sie sei das  x  der seelischen Mannigfaltigkeit, das in einer symbolischen Beziehung zu einem Haus steht, einem bestimmten physischen Ding. Es gibt keine  Art  der Vorstellungen, die Hausvorstellung heißen dürfte: und genausowenig gibt es Muskel- und Gelenkempfindungen als Arten von Empfindungen. Auch die Voraussetzung dieser "naturwissenschaftlichen" Psychologie, daß Größen aller Art, Zahlen, Kausalität nach Art der Naturkausalität, Gesetze nach Art der Naturgesetze auf Psychisches anwendbar und da zu finden seien, war erkenntnistkritisch von der äußersten Naivität. Ob das der Fall ist oder nicht, selbst die Frage, ob der Zahlbegriff auch nur - vom Begriff der Größe nicht zu reden - auf Psychisches und die Form seiner Mannigfaltigkeit Anwendung finden dürfte, ist als eine durchaus offene zu betrachten (1).

Es ist nach einer Hinsicht wohl als Vorzug anzusehen, wenn einige Neuere geradezu verzichten, Psychisches selbst zu messen, zu zählen - je eine solche Möglichkeit selbst leugnen -, aber es dafür zum Prinzip erheben, alles Psychische erst indirekt, d. h. nach seiner Beziehung zu Physischem, also zu physischen Größen und Zahlbestimmtem zu bestimmen (2). Es ist ein Vorzug insofern, als die Täuschung, man messe, zähle usw. das Psychische selbst, dabei nicht stattfindet, in der doch diese Richtung begründet wurde; und ohne die ihre Entstehung undenkbar ist. Aber indem es nun zugleich zu einem bewußten Prinzip gemacht wird, daß seelische Tatsachen erst indirekt durch den Übergang über Physisches "gegeben" und "bestimmbar" sind, ja die Behauptung aufgestellt wird, das Psychische sei nur der  Rest  des ursprünglich Gegebenen, der aus den Daten der äußeren Naturerklärung auszuscheiden sei oder es sei, was jeweilig nur  Einem  gegeben sei, und es könne daher nur eine  indirekte  Bestimmung und Beschreibung des Seelischen und erst recht nur eine indirekte Erklärung aufgrund der physiologischen Zusammenhänge geben, bricht diese Richtung noch viel radikaler mit der Idee einer reinen Psychologie und muß solchen, die gleichwohl eine reine Psychologie für möglich halten, als noch ein größerer Irrweg erscheinen. Nun kann nur ein ausgedehnter Versuch, alle naturalistischen Kategorien aus der Beschreibung, Bestimmung und Erklärung des seelischen Tatbestandes auszuscheiden, und gleichzeitig die Scheidung jener Denk- und Anschauungsformen, die noch eine allgemeine gegenständliche Bedeutung und Anwendung haben, von denen, die nur auf das äußere Natursein beschränkt sind, und endlich die Herstellung einer psychologischen Kategorien- und Anschauungslehre über diese Prinzipienfrage entscheiden. Eine solche zu geben, kann nicht Aufgabe dieser bescheidenen Bemerkungen sein. Nur von der Überzeugung ausgehend, daß eine "reine Psychologie" möglich ist, und daß es die Aufgabe der Psychologie ist, alle in der Erkenntnis der physischen Welt notwendigen und gebräuchlichen Denkformen gerade  auszuscheiden,  soll das Nachfolgende gesagt sein.

Von zwei der prinzipiellsten Täuschungsquellen, die es gibt, hat die bisherige Lehre vorwiegend die eine hervorgehoben, daß der Mensch dazu neigt, Tatsachen seiner inneren Wahrnehmung, kurz seelische Erlebnisse in die physischen Naturobjekte zu legen oder zu projizieren. Weit seltener aber ist gesehen und zugegeben, daß er auch die Neigung hat, Tatsachen, Verhältnisse, Formen, die dem materiellen Dasein angehören, auf die seelische Welt zu übertragen. Nicht nur unsere Sprache ist an erster Stelle Außenweltsprache, auch das vorwiegende Interesse des Menschen ist zunächst der Außenwelt zugelenkt. So wenig ist also die Welt auch nur "zunächst" seine "Vorstellung", daß er des flüchtigen Gebildes seiner Vorstellung, ihres Oszillierens und ihrer nie ruhendenn Verwandlung hinter den festen dingen, die sie symbolisiert, kaum gewahr wird. Obgleich beide Welten und ihre Inhalte gleich "real", "wirklich" sind, so bedeuten doch schon diese Worte an erster Stelle die Außenweltsrealität, der das Seelische als "nur eine Vorstellung", "nur ein Gefühl" usw., gleich als wäre es "kaum wirklich", entgegengestellt wird. Obgleich vom Standpunkt einer reinen Erkenntnis aus die seelischen Tatsachen nicht weniger ursprünglich existieren, real sind, so sorgt doch eine biologisch wohlbegreifliche Einstellung dafür, daß in dem einer Anschauung möglichen Gehalt der Ordnung oder Folge der Erkenntnis nach  zunächst  die physische Wirklichkeit ins Auge gefaßt und beachtet wird. Erst wo im Kampf mit ihr, in ihrer Bearbeitung und Formung Hemmungen eintreten, Störungen irgendwelcher Art, fällt der Blick auf die psychische Tatsache zurück. OSWALD KÜLPE (3) hat in seinen schönen Untersuchungen über die Objektivierung und Subjektivierung von Sinneseindrücken, z. B. eines Geräusches oder eines Lichtblitzes gezeigt, daß in den Fällen, wo die von ihm angeführten Kriterien für die Objektivierung und Subjektivierung der Inhalte schwankend sind, nicht eine Subjektivierung, sondern eine Objektivierung erfolgt. So wenig wie dies ein erkenntnistheoretisches Vorrecht der äußeren Wahrnehmung vor der inneren oder eine erkenntnistheoretische Fundierung dieser auf jener beweist, so zeigt es doch, daß in der natürlichen normalen Weltanschauung die vorwiegende Täuschungsrichtung ist, nicht wirklich Psychisches für physisch sondern wirklich Physisches für psychisch zu halten. Es ist meines Erachtens als pathologische Erscheinung anzusehen, wenn sich das Vorwiegen der entgegengesetzten Täuschungsrichtung einstellt. Bisher sind keine Versuche gemacht worden, die dies aufwiesen. Es wäre von großem Interesse, wenn dies geschähe. Bei allen Psychosen, in denen sich eine gesteigerte Gefühlserregbarkeit einstellt, meist verbunden mit einer dauernden Einstellung des Kranken auf die Zustände des Leibichs, findet - wie mir scheint - eine solche Umkehr der Täuschungsrichtung statt. Die gesamte Umwelt mit ihren Vorgängen ist hier nur gegeben als eine Summe wechselnder Erregungsmittel für die Gefühle und besonders die sinnlichen Leibgefühle des Kranken. Die "Welt" ist hier wirklich - nicht im verkehrten Sinne einer soidisant [sogenannten - wp] "idealistischen Philosophie" - ihm als seine "Vorstellung" gegeben. Und das gilt nicht nur für das Gebiet der Vorstellungssphäre, sondern auch für die Willensbetätigung. Das normale Wollen zielt unmittelbar auf die Realisierung des gewollten Inhalts ab, z. B. das Zimmer zu verlassen. Alles Wollen der hierzu nötigen Mittel, wie zur Tür schreiten, die Klinke drücken, die Ausführung der hierzu nötigen Bewegungen ordnet sich diesem Zielinhalt unter und tritt, so weit sich keine besonderen Hemmungen einstellen, in fast automatischen Impulsen ein. Findet das Wollen eine Hemmung, das heißt, realisiert sich der gewollte Inhalt nicht, so ist dieses Widerstandsphänomen "gegeben" oder kann doch gegeben sein, ohne daß es bereits, sei es auf die widerstandleistenden äußeren Objekte (physische oder auch soziale Tatsachen), sei es auf Hemmungen durch den Leib und die zur Ausführung der Bewegung dienenden Mechanismen, sei es auf innere psychische Widerstände, bezogen ist. Das normale Strebensleben ist nun aber  dadurch  charakterisiert, daß im Zweifelsfall der Grund der Hemmung immer auf die  relativ äußere  Seite geschoben wird; und erst da, wo die hier angenommenen Widerstände sich nicht beseitigen lassen, fällt der Blick auf die leibliche, bzw. psychische Sphäre. Anders im anormalen Willensleben. Hier schieben sich die Inhalte des mittelbaren Strebens, z. B. der Strebensinhalt der Armbewegung, die nötig ist, um einen Gegenstand vom Kasten herunterzunehmen, als gesonderte, mehr oder weniger lebhafte Inhalte vor die eigentlichen Zielinhalte und werden Gegenstand eines bewußten Strebens. Eben hierdurch ergeben sich die Erscheinungen des Zögerns und der pathologischen Unentschlossenheit. Der Kranke, der das Zimmer verlassen "will", verweilt bei dem Inhalt "zur Tür gehen" und dann "die Klinke drücken" usw. Auch gewisse psychisch bedingte Arten des Stotterns gehören hierher, Fälle, die darin ihren Grund haben, daß der Kranke innerhalb der Bedeutungssphäre an das denkt, was er eben sagen will und nicht wie der Normale schon auf den zukünftig auszudrückenden Gedanken geistig gerichtet ist, und daß er, anstatt sich das Gedachte automatisch in das Aussprechen übersetzen zu lassen, das Aussprechen selbst als Sonderinhalt intendiert. Es ist sicher, daß es biologisch zweckmäßig ist, daß wir im Zweifelsfall einen erlebten Widerstand auf die Außendinge und nicht auf "uns" schieben, seien es unsere leiblichen oder seelischen Widerstände. Wer eben im Begriff ist, mit einem von ihm geleiteten Automobil an einen Baum zu fahren, der wird weniger Aussicht haben, im letzten Augenblick die Richtung des Fahrzeugs richtig zu verändern, wenn er, anstatt den Baum und das Ausweichen, die von ihm zu vollziehende Arm- und Handbewegung ins Auge faßt. Eine Umkehr der Intentionenfolge, so daß im Fall der erlebten Hemmung ihr Grund zunächst in uns gesucht wird, ist eine zweifellos anormale Einstellung. Es erfolgt dann ein pathologisches Sichvordrängen der Frage "kann ich" bei allen Dingen vor die Frage "will ich" und "soll ich". Und eben hieraus resultiert die pathologische Unentschlossenheit.

Es gibt - so scheint mir - eine ganze Reihe von Fällen, wo Lehren der Normalpsychologie sich gerade dadurch als falsch erweisen, daß das, was sie behaupten nur in pathologischen Sonderfällen stattfindet, im normalen Leben aber keineswegs (4). Dazu gehört die Lehre, daß wir bei der willkürlichen Bewegung eines Organes, z. B. der Hand, zuerst eine Bewegungsvorstellung, eine Reproduktion einer früher vollzogenen gleichen Bewegung haben müßten. Das ist, wie die Selbstbeobachtung zeigt, im normalen Leben durchaus nicht der Fall. Ein normales Kind z. B. vermag die ihm vom Lehrer an der Tafel vorgeschriebene Gestalt eines Buchstabens einfach zu kopieren. Mit dem Sehen der Gestalt ist ihm auch die Reihe der Bewegungsintentionen irgendwie gegeben, durch die eine solche Gestalt hervorgebracht wird, und dies unabhängig von der Folge der an bestimmte Organe und ihre jeweilige Ausgangslage eindeutig geknüpften sogenannten Bewegungsempfindungen. diese lernt es erst kennen durch und in der Ausführung jener Bewegungsintentionen, in der Bewegung der ersten Schreibversuche (5). Dagegen müssen z. B. idiotische Kinder die Hand vom Lehrer geführt bekommen, um das Gesehene kopieren zu lernen. Erst durch den Ausfall der Bindung der Bewegungsintentionen an die gesehene Gestalt erhält also die "Bewegungsvorstellung" jene Bedeutung, die ihr von manchen Psychologen auch für die normale Bewegung zugeschrieben wird.

Ich sagte, daß eine Tendenz, erlebten Widerstand zunächst an sich selbst zu suchen, eine anormale Tatsache ist. Auch die eigentlichen Fälle von Abulie, in denen nicht nur die Durchsetzung des Wollens gegen reproduktive oder perseverative [beharrende - wp] Tendenzen (6) im seelischen Leben selbst gehemmt ist, oder gar nur die Umsetzung des Wollens, des Entschlusses in Bewegung (was wieder in einer mehr inneren Störung der Bewegungsintentionen beruhen kann, z. B. bei Fehlbewegungen, vergreifen usw., und in mangelnden Zuordnungen der reproduzierten Bewegungsempfindungen der Organe, schließlich in bloßer objektiver Lähmung), sondern der Akt des Wollens selbst, bestätigen das Gesagte. Hier geht jene Verschiebungstendenz des Widerstandes gegen das Ich nun hin bis zu seiner Grenze, und das Wollen selbst wird zum Ziel des Strebens. Der Kranke kann darum nicht mehr "wollen", weil er das Wollen selbst erstrebt, weil er fortwährend mit lebhafter Gefühlsbetonung und mit fortwährender Richtung der Aufmerksamkeit auf die zu realisierenden Inhalte, die in der Richtung seiner vorwiegenden Interessen liegen, vermag - wie ich häufig sah - von diesem Zustand zu befreien.

Endlich zeigt auch das Gebiet der Werte und ihrer Verhältnisse zum Fühlen und zu den Gefühlsgegenständlichkeiten eine analoge natürliche Täuschungsrichtung. Das Fühlen des Menschen ist zunächst ganz und gar auf die an den Sachen haftenden Werte gerichtet, und dies so sehr, daß er gegenüber den Werten, die er an den Dingen fühlt, seine eigene Gefühlsreaktion auf die Werte, sein "Freuen" über etwas, "Trauern" über etwas, zu übersehen neigt; oder doch dazu neigt, seiner eigenen Gefühlsreaktion die Qualität des Wertes aufzuprägen, angesichts dessen diese Reaktion auftritt. Nicht Einfühlung von Eigengefühlen in die Sache und ihre Werte ist die primäre Täuschungsrichtung, sondern das gerade Gegenteil dieses Phänomens, nämlich die von außen nach innen Verlegung gefühlter, d. h. in der Weise des Fühlens wahrgenommener Wertqualitäten der Dinge in die Gefühlssphäre der eigenen Ichzustände. So glauben wir uns häufig zu freuen, weil uns eine teure Speise dargeboten wird oder weil uns ein wertvoller Ring geschenkt wird; wir glauben, auch selbst traurig zu sein, weil wir in einem Leichenzug gehen, obgleich ein Blick hinter die Peripherie unseres Bewußtseins uns zeigen würde, daß wir gar nicht traurig sind. So scheint die Heiterkeit, die Erhabenheit oder die Düsterheit einer Landschaft, die diesen Sachen selbst anhaften, als feste Charaktere, die mit unseren Gefühlszuständen durchaus nicht variieren (eine düstere traurige Landschaft wird nicht heiter und hell dadurch, daß ein so gestimmter Mensch hindurchgeht, und sie wird es auch nicht für diesen Menschen) und die wir prinzipiell erfassen können, ohne die Gefühhle, d. h. die Ichzustände derselben Qualität, schon erlebt zu haben, häufig auf uns selbst überzufließen. So "fühlen wir uns" selbst geehrt, wenn wir ein Haus betreten, das Ruhm und Glanz umschwebt. Auch hier stellt die subjektivistische und idealistische Theorie, für die "Werte" "zunächst" nur Wirkungen der Dinge auf unseren Gefühlszustand sind, bzw. nur anklingende Reproduktionen von Gefühlen, für die in den Dingen die konstanten Dispositionen liegen und die erst in die Dinge "eingefühlt" wurden, den Tatbestand auf den Kopf. Die Einfühlung, wo sie wirklich stattfindet, ist die seltenere und sie ist die anormale Täuschungsrichtung. Das Abgleiten des Blickes von dem an den Dingen und in ihnen gefühlten Wert auf unser Gefühl während des Habens des Wertes, ja schon auf das Fühlen des Wertes als besondere Funktion, ist der Anfang einer Erscheinung, die gesteigert zum Abnoren und Krankhaften führt. Der Epikureer, der nicht nach Besitz, Ehre, nach der Frau und den diesen Gegenständen immanenten Werten strebt, sondern nach der "Lust an ihnen" und den natürlichen Menschen einen Narren schilt, weil er anstatt der Lust diese Sachwerte sucht, ist faktisch seelenkrank und rechtfertigt mit seiner Theorie nur seine krankhafte Einstellung. So gleitet der Blick des krankhaften Autoerotikers vom geliebten Gegenstand und seinem Wert immer auf die eigene Empfindung ab, bis sich diese und die ihr anhaftenden sinnlichen Gefühle ganz vor die Wertgegenstände dränägen und ihm diese immer mehr verdunkeln; so weit, daß er schließlich ganz im Eigenzustand und in dessen Analyse wie in einem Gefängnis eingeschlossen ist (7). Es scheint mir in Fällen solcher Art nicht an erster Stelle das pure Gefühlsmaterial, die Qualität der Gefühle, ihre Stärke, ihre Verknüpfung mit bestimmten Inhalten, was eine Variation gegen das normale Leben gefunden hat, sondern die Funktion des Fühlens, die ihre  primäre  Richtung auf Werte und zwar zunächst Außen- und Fremdwerte verloren hat; und daher die "auf sich" und die eigenen Zustände genommen hat. Und gleichwohl liegt eine solche Störung tiefer als eine bloße Störung der Aufmerksamkeitsrichtung, auf die man häufig selbst Herzkrankheiten - wie im Fall fortwährender Aufmerksamkeit auf die Sensationen des Herzschlags zurückgeführt hat. Das Fühlen ist eine von der Aufmerksamkeit geschiedene Funktion und untersteht der willentlichen Lenkung noch weniger als selbst die triebhafte Aufmerksamkeit. Nicht weil wir auf unsere Gefühlszustände mehr achten oder ihnen mehr Aufmerksamkeit zuwenden, fühlen wir sie mehr; sondern weil sich die Richtung des Fühlens einseitig ihnen zukehrt und von den Werten abkehrt, können wir sie mehr beachten. Die Aufmerksamkeit als solche macht ja Gefühle, nicht so wie Vorstellungsinhalte reicher und lebhafter, sonder zerstört sie vielmehr. Darum kann auch eine gesteigerte Gefühlserregbarkeit, z. B. bei hysterischen Zuständen nicht auf gesteigerter Aufmerksamkeit auf die eigenen Gefühle beruhen.

Nur einen Spezialfall der Verkehrung der Täuschungsrichtung des emotionalen Lebens bieten auch gewisse Störungen der sympathischen Gefühle und des Liebens und Hassens. Wenn man z. B. findet, daß der Melancholiker schließlich alle vor seiner Erkrankung geübten "altruistischen" Handlungen aufgibt, eine Mutter z. B., die ihr Kind vorher heiß liebte und jede Sorge für es trug, gleichgültig zusehen kann, wie ihr Kind sich vor Hunger rot und blau schreit, so ist es irrig zu sagen, daß in diesen und analogen Fällen der Akt des Liebens selbst oder seine Umsetzung in Wollen und Handeln eine Einbuße erlitten habe. Was hier aufgefallen ist, das sind vielmehr die Funktionen der klaren und deutlichen Auffassung der fremden Seelenzustände, z. B. des Hungers und Schmerzes, auf deren fühlendes Erblicken in den Ausdruckserscheinungen des Anderen sich der Akt des Liebens erst aufbaut. Diese Mutter sieht gleichsam nur ein "schreiendes Kind mit rotem und blauem Kopf", nicht aber seinen Hunger und seinen Schmerz. (Diese mögen ihr wohl assoziativ gegeben sein oder auch durch Urteil und Schluß, aber nicht in der Weise des unmittelbaren Fühlens). Das Lieben als solches - wenn sie den Zustand des Kindes erblicken könnte, mag dabei durchaus vorhanden sein (8). Darum  ist ihr  Defekt auch kein ethischer Defekt, der nur das Verhalten gegen den schon gegebenen fremden Gemütszustand betreffen kann. Es ist auch hier die vorwiegende Richtung des Fühlens auf sich selbst, was eine Aufnahme der fremden Zuständlichkeit und der fremden Intentionen hemmt. Man könnte hier geradezu von einer Fühlblindheit für fremde Gemütszustände reden, die naturgemäß auch das Wirklichkeitsbewußtsein dieser beeinflußt (9). Auch hier liegt eine seelische Funktionsstörung vor und keine notwendige Veränderung des Gefühlsmaterials. Es ist, wie schon dieses Beispiel andeutet, durchaus nicht das Normale, daß wir fremde Gemütszustände zunächst durch Reproduktion eigener ähnlicher, an analoge Ausdrücke gebundener Gefühlszustände und durch Einfühlung des so Reproduzierten uns so zum Verständnis bringen. Vielmehr ist das Hinschielen auf das Selbsterlebte angesichts fremder Gefühlsäußerungen oder Erzählungen von Gemütszuständen bereits der Beginn einer Störung der Fühlungsrichtung, die im Extrem zu solchen Fällen der Fühlblindheit führt. Die natürliche Täuschungsrichtung ist nicht die, Eigenes für Fremdes zu halten oder sich in fremde Personen "einzufühlen", sondern die umgekehrte, Fremdes für Eigenes zu halten. Wir leben "zunächst" in den Fühlungsrichtungen unserer Umwelt, unserer Eltern, Familie, Erzieher, ehe wir unsere vielleicht von deren Gefühlsrichtungen abweichenden Gefühlsrichtungen gewahren; und von unseren eigenen Gefühlen gewahren wir zunächst nur diejenigen, die der Gefühlsrichtung unserer engeren und weiteren Gemeinschaft und ihrer Tradition entsprechen. Es bedarf immer eines langen Weges der kritischen Auseinandersetzung, bis wir uns hinter diesen nachgefühlten Gefühlen unsere eigenen Gefühle zur Klarheit bringen; und gleichsam unser eigenes geistiges Haupt aus dem Strom der Gefühlstradition der Gemeinschaft herausrecken. Wir halten eher ein eigenes Gefühl für eine bloße Einbildung (ein bloßes Vorstellen eines Gefühls), weil es zu den in der Gemeinschaft gefühlten Gefühlen nicht paßt, als daß wir die Gefühle unserer Nebenmenschen darum bezweifelten, weil wir sie nicht durch eigene analoge Selbsterlebnisse zu decken vermögen. Das ist die normale Täuschungsrichtung, die sich sogar auf die in Gebilden der Kunst oder der Religion fühlbaren Gemütsvorgänge bezieht. Das verliebte junge Mädchen fühlt nicht seine Erlebnisse zunächst in ISOLDE oder in JULIA ein, sondern deren Gefühle in seine kleinen Erlebnisse hinein. Erst später durchbricht ein echtes Eigengefühl das Gespinst dieser Gefühlsphantastik; und nimmt  dann  die Täuschung vielleicht eine entgegengesetzte Richtung, die der echten Einfühlung. (10)

Zu dieser ersten generellen Täuschungsquelle der inneren Wahrnehmung, die allgemein darin besteht, Tatsachen, die der äußeren Wahrnehmung entstammen, in den Gehalt der inneren Wahrnehmung, tatsachen, die der Fremdwahrnehmung entstammen, in den Gehalt der Selbstwahrnehmung zu verlegen, führe ich nun gleich eine zweite an, die von keiner geringeren Bedeutung ist. Sie besteht darin, daß wir  Formen  der  Mannigfaltigkeit die nur der physischen Welt eigen sind, so wie bestimmte Zeit- und Kausalverhältnisse zwischen Ursachen und Wirkungen der betreffenden seelischen Tatsachen; endlich auch die Einfachheit oder Zusammengesetztheit der physischen Ursachen von den seelischen Tatsachen auf diese selbst übertragen.

Die Einheit und Mannigfaltigkeit des in der inneren Wahrnehmung Gegebenen ist ein solche sui generis [aus sich selbst - wp] und mit keiner anderen vergleichbar. Sie muß erstens völlig geschieden werden von jener Einheit, die zwischen den intentionalen Akten überhaupt in der gegenseitigen Identifizierbarkeit ihrer Gegenstände besteht. Nennt man diese "Einheit des Bewußtseins", so meint man mit "Bewußtsein" ein  jegliches  "Bewußtsein von", nicht nur jenes "Bewußtsein von", das Bewußtsein von den "Bewußtseinserscheinungen" im engeren Sinne ist, d. h. derjenigen Tatsachen, mit denen es Psychologie im Unterschied von Arithmetik und Physik z. B. zu tun hat, sondern auch jenes "Bewußtsein von", in dem uns z. B. Zahlen oder physische Erscheinungen gegeben sind. Die Einheit und Mannigfaltigkeit, von der wir  hier  reden, ist dagegen die Einheit und Mannigfaltigkeit des Gegebenen der inneren Wahrnehmung, die in jener allgemeinsten Einheit noch nicht liegt und die nicht allen Akten des intentionalen Erfassens eigen ist, sondern nur dem Gegebenen der Akte "innerer Wahrnehmun". Zweitens ist diese Einheit und Mannigfaltigkeit jener des  Naturseins  völlig disparat und entgegengesetzt. Wie die letztere Mannigfaltigkeit ein "Auseinander" (11) darstellt, das mit den Formen von Raum und Zeit identisch ist und durch dessen besondere Ordnung sich die Verschiedenheiten dieser noch bestimmen lassen, so stellt die ursprüngliche seelische Mannigfaltigkeit, wie sie in jedem beliebigen Akt innerer Wahrnehmung angetroffen wird und mit dem Wesen dieses Aktes in einem Wesenszusammenhang steht, eine Mannigfaltigkeit dar, in der es kein "Auseinander" überhaupt mehr gibt, sondern nur das nicht weiter definierbare "Zusammen" im "Ich", wobei "Ich" eben nur die eigentümliche Einheit dieser Mannigfaltigkeit bedeutet. Die Art also, wie Gefühle, Gedanken, Bilder im Ich zusammen sind, in großer Fülle vielleicht in  einem  bestimmten Akt innerer Wahrnehmung, ist weder eine zeitliche noch eine räumliche, gleichwohl aber eine anschauliche, wenn auch eine solche sui generis. Sie wird umso klarer, je mehr wir uns von den peripherischen Schichten der Bewußtseinserscheinungen, der Schicht der Sinnenbilder und des Leibichs, wo die Scheidung zwischen Psychisch und Physisch besonders schwer ist, den tiefer gelegenen Schichten zuwenden, den Schichten der geistigen Gefühls- und Strebenssphäre, der Sphäre der Gedanken usw. Auch der Schein eines "Auseinanderseins" nimmt stetig ab, je mehr wir uns zentralwärts auf dasjenige Psychische hinbewegen, dessen psychischer Charakter keinen Zweifel duldet; und das eben darum der Ausgangspunkt für die Erkenntnis des Wesens des Psychischen überhaupt sein muß. An der Peripherie einer solchen Bewußtseinseinheit finden wir noch deutlich eine Ausdehnung und ein stromartiges Sichfolgen der Tatsachen mit einem ausgezeichneten Punkt, des "als gegenwärtig" Gegebenen, mit dem "als vergangen" und das "als zukünftig" Gegebene gegenübersteht; wobei letzteren Richtungen die Akte des "Erinnerns" und Erwartens" entsprechen. So besitzt z. B. ein Schmerz im Bein ein gewisse ursprüngliche Ausdehnung und eine Lokalisation, wie sinnlos es auch ist, ihn darum "räumlich" zu nennen, seine Ausdehnung messen zu wollen oder seinen Ort in Raum und Natur zu bestimmen. Auch "Müdigkeit" hat noch diese Bestimmtheiten, wenn auch vager, wogegen z. B. "Mattigkeit" sie schon nicht mehr aufweist. Und so findet sich auch dieses stromartige Folgen umso deutlicher und klarer, wie wir uns an die Peripherie des Bewußtseins halten, während es deutlich abnimmt, wenn wir uns der tieferen Gefühls- und Strebenswelt zuwenden. (12) In keinem Fall aber ist diese Ausdehnung und dieses Sichfolgen ein  Außereinander  von Elementen, eine Form, die mit Ausdehnung und Sichfolgen noch keineswegs gegeben ist. So erfasse ich z. B. wohl das Sichfolgen der Töne in einer Melodie; ich erfasse sie nicht als gleichzeitig, sondern als "sich folgend"; und keinerlei Ordnung in den qualitativen Charakteren der Töne, die "zunächst" als gleichzeitig gegeben wären, könnte mir das Phänomen des Sichfolgens geben, läge es nicht  im  Phänomen selbst; aber gleichwohl findet dieses Sichfolgen in der Einheit eines Gebildes statt, das ich als Ganzes in  einem  Akt erfasse. Mit der objektiven Folge der Tonerscheinung, geschweige mit der Folge der Reize, die ihnen physikalisch entsprechen, hat dieses Phänomen nichts zu tun. Dieses Sichfolgen ist nicht meßbar, so wenig wie die Ausdehnung des Schmerzes. Es ist fundiert auf das Ganze der melodiösen Form und der Einheit des Rhythmus und variiert abhängig von diesen in seinem besonderen Charakter, von "schnell" und "langsam", Qualitäten, die für die objektive meßbare Zeit keinen Sinn haben (13). Auch im Gehalt eines Erinnerungsaktes und eines Erwartungsaktes treffe ich dieses Sichfolgen unter Umständen wieder unmittelbar an; ohne auf die objektive Zeitfolge der Begebenheiten der Außenwelt rekurrieren zu müssen oder gar schlußmäßige Operationen machen zu müssen. In  jedem  Akt innerer Wahrnehmung ist mir aber so einiges als  gegenwärtig",  einiges "als vergangen", einiges "als zukünftig" "gegeben" und alles auf unmittelbare Weise; wie auch die Gesamtfülle des so Gegebenen wachsen und abnehmen kann. Was mir so gegeben ist, erscheint dabei stets auf einem undeutlichen Hintergrund des  ganzen  ungeteilten "Ich". Das in der inneren Wahrnehmung erscheinende Ich ist also stets als  Totalität  (14) gegenwärtig, auf der sich z. B. das Gegenwarts-Ich nur als ein besonders hell-leuchtender Gipfel heraushebt. Keine Rede davon, daß ich erst aus der Wahrnehmung des gegenwärtigen Ich mit erinnerten Ichen der Vergangenheit das Ich stückweise zu einer Einheit verknüpfen müßte - so wie ich einen Körper aus Teilen zusammensetze. Was mir vom ganzen Ich mit seiner Erlebnisfülle nicht als Sonderinhalt gegeben ist, das kann doch noch als ein durch eine Beziehungswahrnehmung zu einem Nichtgegebenen wohlbestimmtes und charakterisiertes "gegeben" sein; und diese Beziehungsphänomene deuten sozusagen nach allen Punkten meines Lebens hin; ich habe ein unbildliches Bewußtsein davon, daß diese "Fäden", die ich mit jedem Akt der inneren Wahrnehmung erfasse, dort und da enden, ohne daß mir die Endpunkte als gesehene Inhalte gegeben sind.

Bewußtseinseinheiten, die ich in Akten innerer Wahrnehmung antreffe, können an Fülle des Gehalts sehr verschieden sein. Aber jede dieser so verschiedenen, durch  einen  Akt geeinten Totalitäten gehören wieder einer Totalität derselben Natur und Mannigfaltigkeit an, wenn auch höherer Ordnung; und niemals besteht ein Recht, sie sich in der objektiven meßbaren Zeit sukzedieren zu lassen; so wenig Recht, wie sie sich im Raum ausgebreitet zu denken.

LITERATUR: Max Scheler, Über Selbsttäuschungen, Zeitschrift für Pathopsychologie, Leipzig 1912
    Anmerkungen
    1) Siehe hierzu auch HENRI BERGSON: Essay sur les donnés immédiates de conscience.
    2) Siehe HUGO MÜNSTERBERG: Grundzüge der Psychologie.
    3) OSWALD KÜLPE, Über die Objektivierung und Subjektivierung von Sinneseindrücken, Philosophische Studien, Bd. 19, Leipzig 1902
    4) Ich rechne z. B. hierher auch die assoziationspsychologische Ansicht vom Denken. Der Normale  reproduziert  bereits auf eine Frage die Inhalte, die er "antwortet" in der Richtung der Bedeutung (der "Obervorstellung", wie LIEPMANN sagt) und nur der Ideenflüchtige "assoziiert" im strengen Sinne. Das heißt es muß ein determinierendes Bedeutungsmoment "ausfallen", damit es zu einem angenähert reinen Assoziieren kommt; nicht aber "ist" die Bedeutung nur ein kompliziertes Assoziieren oder Anklingen von dispositionell erregten Inhalten; oder kommt zum Assoziieren hinzu. - Analog verweilen wir im sogenannten "Erinnerungsbild" nur da, wo das Erinnern  gestört  ist oder durch gegenwärtige Reize gehemmt ist, wogegen im normalen Erinnern ein gegenwärtiges "Bild" gar nicht gegeben ist. Trotzdem macht die herrschende Lehre vom Gedächtnis dieses "Bild" zum Ausgangspunkt der Lehre vom Erinnern! - - - Auch wo das Bild vorhanden ist, haben seine Eigenschaften z. B. die Fülle oder Armut seiner Merkmale, seine Vagheit oder Bestimmtheit, seine Lebhaftigkeit und Mattheit keinerlei eindeutige funktionelle Beziehung zur objektiven Treue, aber auch keinerlei Beziehung zur Evidenz des Erinnerns und der Fülle dessen, was erinnert wird. Andererseits führt gerade das Sichvordrängen des "Bildes" zu jenen Erinnerungstäuschungen, in denen Phantasieerlebnisse für den Patienten die Bedeutung von Erinnerungen erhalten. (Vgl. auch STÖRRING, Vorlesungen über Psychopathologie, Leipzig 1900, Seite 268). In analoger Weise vermag gerade der pathologische Ausfall des Wirklichkeitsbewußtseins zu zeigen, daß im "Wirklichsein" der in Sinnesinhalten gemeinten Gegenstände ein eigentümliches  Phänomen  vorliegt, das mit diesen selbst, ihrer Fülle, Intensität und Lebhaftigkeit nicht gegeben ist (wie die sensualistische Lehre meinte); kann doch auch das Phänomen: "hier ist etwas Wirkliches" da sein, ohne daß ein bestimmter Bildinhalt, ein bestimmtes "Was" vor Augen steht. (Siehe auch WILLIAM JAMES, "Die religiöse Erfahrung in ihrer Vielfalt", Abschnitt "Das Realitätsbewußtsein".) Auch die Urteilstheorie des Realitätsbewußtseins, wonach "wirklich" in einer Reflexion auf das bejahende Urteil seine Erfüllung findet, wird durch Fälle widerlegt, wo im Urteil die Wirklichkeit abgelehnt wird, aber im Phänomen vorhanden ist, wie bei einer gewissen Art echter Halluzinationen. Desgleichen die Theorien, wonach sich das Wirklichkeitsbewußtsein auf das Verhältnis zum Wollen aufbauen soll, auf die Erscheinung des sich "Aufdrängens gegen unser Wollen". Die von V. KAWDINSKY beschriebenen Pseudohalluzinationen (siehe auch STÖRRING, Seite 62) zeigen, daß diese Erscheinung  ohne  Wirklichkeitsbewußtsein vorhanden sein kann. - Analog zeigen Fälle, wo der Patient in seiner Wahrnehmung faktisch auf  den  Inhalt eines Dings eingeengt ist, der von ihm  gesehen  ist (Oberfläche und zugekehrte Seite), ihm die anderen Inhalte (daß das Ding ein Inneres hat, daß es momentan nicht gegebene Eigenschaften und Seiten hat) aber nur in Form einer  Erwartung  gegeben sind, die er um das Ding herumgehend, es öffnend (oder "sich umsehend, ob hinter ihm die Welt noch da ist" wie es der Verfasser an einem hysterischen Kind beobachtete) - erfüllen könnte - daß  jene  Theorien, wonach die  normale  Dingwahrnehmung erwarten wir die andere Seite zu sehen,  weil  wir ein wirkliches Ding sehen, und nicht umgekehrt, weil wir "daß es eine andere Seite hat, ein Inneres hat" schon im  Gehalt der unmittelbaren  Anschauung haben. - Analog zeigen Fälle von "Entfremdung der Wahrnehmungswelt", daß in der normalen Wahrnehmung eine Qualität von "Bekanntheit" und "Sicherheit" steckt, die weder mit der Intaktheit des Erinnerns noch des Wiedererkennens (die beide ungestört sein können bei dieser Erscheinung) etwas zu tun hat und die wahrscheinlich mit einem Faktor intentionalen Fühlens, der in jede normale Wahrnehmung eingeht, zusammenhängt. - Und wiederum analog zeigen Fälle, wo Seelenblindheit  nicht  mit einer Störung der Assoziationsfähigkeit verbunden ist, daß in die normale Wahrnehmung ein "Bedeutunsmoment"  (ohne  Urteil und Subsumtion des Wahrgenommenen eingeht, dessen Ausfall eben jene Erscheinung hervorruft . - - - Die Fülle der in der normalen Wahrnehmung enthaltenen  asensuellen  Momente und die Ärmlichkeit der meisten philosophischen Wahrnehmungstheorien tritt eben erst durch die hier angewandte Methode der Psychopatholgie ins rechte Licht. Ihr abstrakter Ausdruck ist der Grundsatz:  Im Gehalt der normalen Wahrnehmung ist alles das als gegeben anzusehen, dessen pathologischer Ausfall oder dessen Steigerung und Minderung den Wahrnehmungsgehaalt in irgendeiner zu eruierenden Richtung verändert; und es ist dann die Aufgabe der Phänomenologie der Wahrnehmung dieses "Etwas" zum Gegenstand einer besonderen Intention zu machen und es so zu einer möglichst isolierten Anschauung zu bringen.  - - - Durch eine systematische Anwendung dieses Grundsatzes ist auch am ehesten zu hoffen, daß die irrige Voraussetzung, es müsse alles, was nicht sensuell ist oder von sensuellen Gehalt abgeleitet (wie die assoziativen Elemente)  logisch  sein, d. h. in der Urteilssphäre liegen, endlich verschwindet und daß die Komponenten der Wahrnehmung in ihrer  ganzen  Fülle und als das genommen werden was sie  sind  und nicht als das, was sie einer beliebigen genetischen Theorie zuliebe sein "könnten" oder sein "sollten".
    5) In diesem Zusammenhang ordnen sich auch die Fälle ein, in denen die Fähigkeit zu sprechen und zu gehen plötzlich erlangt wurde, ohne daß entsprechende Lernversuche vorausgegangen waren. Vgl. dazu BASTIAN, Über Aphasie und andere Sprachstörungen, Seite 8f.
    6) Eine Art besonders gesteigerter Hemmung des Willensaktes durch perseverative Tendenzen scheint auf der sogenannte hysterische Gegenwill darzustellen, der scheinbar völlig grundlos das Zustandekommen eines Entschlusses vereitelt.
    7) Autoerotismus darf, wo es sich um die Sphäre der geschlechtlichen Wollust handelt, nicht objektiv definiert werden, z. B. im Sinne der Selbstbefriedigung, sondern muß wie alle solche Perversionen intentional definiert werden. Selbstbefriedigung ist - wo sie nicht völlig stumpf ein bloßes Suchen der Wollustempfindung ist, sondern mit Liebe verbunden - nicht notwendig autoerotisch, z. B. nicht, wenn sie nur geübt ist, weil der geliebte Gegenstand abwesend ist, aber die Richtung auf ihn gegeben. Er ist völlig - natürlich - auch zu scheiden von allem, was die Sprache "Egoismus" nennt. Der "Egoist" erstrebt nicht Lust als "seine Lust", als Lust,  weil  sie seine ist, als isoliertes Individuum - ohne dabei überhaupt auf andere zu blicken - wie dies der Autoerotiker tut. Er sucht vielmehr Lust "ohne Rücksicht" auf den anderen oder gegen dessen Vorteil, wobei der aber doch auf den "anderen" überhaupt blickt, nur ihn nicht "berücksichtigt". Auch im Falle, daß diese Lust Wollust ist, also der Egoismus in der Geschlechtssphäre stattfindet, bleiben beide Phänomene streng geschieden. Autoerotismus ist andererseits vorhanden auch bei objektiv normalem Geschlechtsverkehr, wenn die Richtung der Intention auf die eigene Person geht, sowohl auf ihre Empfindung als ihre erotisch bedeutsamen Werte wie Schönheit, Lebenskraft usw.; der andere also nur als Diener der eigenen Schönheit, bzw. als Ursache dessen, was im sich im betreffenden Individuum ereignet, aufgefaßt ist.
    8) Daß das Fühlen fremden Leids und fremder Freude noch nicht Mitfühlen ist, zeigt ja die Tatsache, daß auch bei Bosheit oder noch mehr bei Grausamkeitswollust diese Komponente vorhanden ist, nur daß sich die Mitfreude an der fremden Freude oder das Leid an fremdem Leid nicht darauf baut. Noch vielmehr gilt dies von Lieben und Hassen, die ursprünglicher sind als das bloße Mitfühlen.
    9) Die Fühlfähigkeit fremder Gefühlszustände ist natürlich auch in der Geschichte einer reichen Entwicklung unterworfen gewesen und hält als Leidens- und Freuensfähigkeit bzw. Genußfähigkeit mit der Entwicklung der Leidens- und Freuensfähigkeit eigener Schmerzen und sinnlicher Wohlgefühle gleichen Schritt. Sie ist übrigens völlig unabhängig von der Schmerz- und Lust empfindlichkeit  und deren Steigerungsgesetzen, da sie ja das Leiden und das Genießen dieser Empfindungsgefühle betrifft und dieses weitgehend unabhängig von diesen variieren kann. Bei sittlicher Beurteilung unentwickelter Sitten, Gebräuche, Verhaltensweisen müssen wir diesen Faktor stets in Anrechnung bringen, damit wir nicht den geringeren Umfang und die geringere Differenzierung dieser Fühlfähigkeit für einen Mangel an sympathischem Fühlen, Mitleid und Mitfreude oder gar für einen Mangel an Liebe nehmen und so zu einem ganz ungerechten Urteil verleiten werden.
    10) Man kann nicht von Gefühlsvorstellung reden, wenn man unter Vorstellung einen Bildinhalt versteht. In diesem Sinne vorstellen kann man sich nur die Ursachen und Wirkungen der Gefühle, nicht sie selbst. Aber sehr irrig wäre es darum, zu sagen, es seien Gefühle immer gleich aktuell, sie verbänden sich nur durch Reproduktion mit Vorstellungen (Vorstellungsgefühle). Vielmehr gibt es in der Sphäre des Fühlens einen Unterschied, der dem von Wahrnehmung und Vorstellen, sofern diesen Worten direktes Haben und indirektes Haben bzw. bloß symbolisches Meinen durch ein anderes hindurch entspricht; das hat mit Reproduktion eines Gefühls nichts zu tun. Ich kann ein vergangenes Gefühlserlebnis nicht nur wissen und als gehabt beurteilen, sondern auch wiederfühlen - ohne daß dadurch mein aktueller Gefühlszustand an Qualität dem vergangenen Gefühl irgendwie gleich wird. Heiteren Sinnes kann ich mich großer Schmerzen und tiefer Trauer "erinnern", indem ich diese Gefühle "vorstellig" fühle. Dieses erinnernde Fühlen eines Gefühls ist nicht seine Wiederkehr in abgeschwächtem Maße. Dementsprechend gibt es nun aber auch eine Phantastik des Fühlens selbst, die nicht erst an der Phantastik des Vorstellungslebens als Lebens in "Bildern" erwacht, sondern ursprünglich ist und jenes häufig erst führt. Das ist da z. B. gegeben, wo wir spielend noch nie tatsächlich erlebte Gefühle durchfühlen und kombinieren.
    11) Die Idee des "Auseinander", ein Phänomen, das in der räumlichen und zeitlichen Mannigfaltigkeit identisch enthalten ist, mit "Ausdehnung", die auch Psychischem zukommt aber noch nicht gegeben, soll an anderer Stelle genauer geklärt werden.
    12) Es gibt zwei verschiedene Grundphänomene dieses Folgens, die sich je nach der Stellungnahme, je nach dem Hineingerissensein des Interesses in die peripherere und zentralere Schicht einstellen. Sind wir auf das Leibich wesentlich eingestellt, so erscheint dieses wie das konstante Ding, an dem unsere Strebungen, Gedanken sozusagen und im Bild "vorüberfließen" als "flüchtige Gebilde". Leben wir dagegen voll "gesammelt" in der zentralen Ichsphäre, so stellt sich deren Gehalt als dauernd und fest dar und der Gehalt des Leibichs (das wir nicht zunächst als Summe sogenannter "Organempfindungen", sondern als ein vage gegliedertes Ganzes erfassen, in dem sich dann erst die sogenannten "Organempfindungen" durch Analyse finden lassen), nimmt jenen Charakter des "Vorbeiflutens" an. Ich bitte Gesagtes richtig zu verstehen. Es handelt sich hier nicht um "Theorien", sondern um erlebte Phänomene, die in der Geschichte Ausgangspunkt aller möglichen schönen Theorien wurden.
    13) Auch gegenwärtig sein, zukünftig sein, vergangen sein, gibt es nicht für die objektive Zeit der Mechanik.
    14) Siehe auch WILHELM DILTHEY, "Aufbau der psychischen Welt aus den Geisteswissenschaften", Schriften der Berliner Akademie.