tb-2p-4O. KülpeM. WalleserL. PongratzC. M. GießlerE. Laas     
 
RUDOLF WILLY
Das erkenntnistheoretische Ich

"Und um etwas zu erfahren - natürlich - muß doch jemand da sein, welcher erfährt. Eine Erfahrung ohne erfahrendes Subjekt ist eben so ein Unding - dies sieht auch schon ein Kind ein - wie ein Gedanke, den niemand denkt."

WILHELM SCHUPPE, Verfasser der "erkenntnistheoretischen Logik", gibt in dieser Zeitschrift (Heft III, 1893) der "Bestätigung des naiven Realismus" in Form eines  offenen Briefes an RICHARD AVENARIUS  insofern in einer höchst bemerkenswerten Weise Ausdruck, als dem Urheber des Briefes, ganz im Interesse der Sache, sehr viel daran liegt, zu zeigen, daß seine eigenen, zwar schon längst festgestellten, aber vergebens "gepredigten" wissenschaftlichen Ergebnisse im "Wesentlichen" mit den Resultaten der beiden systematischen Hauptschriften von AVENARIUS: der  Kritik der reinen Erfahrung  und des  Menschlichen Weltbegriffs  übereinstimmen. Und dieses Zusammentreffen findet der  offene Brief  um so beachtenswerter, je abweichender die Ausgangspunkte und Methoden waren, welche SCHUPPE und AVENARIUS in ihren erkenntnistheoretischen Werken befolgten. Wie es sich mit dieser wesentlichen Übereinstimmung beider Autoren verhalte: hierüber uns zu äußern, steht uns natürlich nicht zu; dies ist eine Angelegenheit, welche die Philosophen unter sich auszumachen haben. Und wenn wir uns das Wort zu nehmen gestatten, so geschieht das, weil SCHUPPEsschuppe_OB.html Brief kein Privatschreiben und sich nicht allein an AVENARIUS, sondern zugleich auch an die philosophische Welt überhaupt richtet. Neben der Übereinstimmung mit dem natürlichen Weltbegriff kann indes SCHUPPE nicht umhin, auch den Punkt hervorzuheben, welcher ihn dazu nötigt, über die  reine Erfahrung  hinauszugehen und auf diese Weise den natürlichen (naiven) Weltbegriff  prinzipiell  zu variieren. Und dieser kritische Punkt betrifft das "Ich" (Bewußtsein), das "Subjekt" als "abstrakt-begriffliches Moment". Wir jedoch glauben, es sei SCHUPPE nicht gelungen, mit seiner Variation des Universalbegriffs reiner Erfahrung, wie er beabsichtigte, eine Vertiefung der natürlichen Einsicht zu erreichen, sondern erblicken im Gegenteil im erkenntnistheoretischen Ich, sofern es mit dem konkreten menschlichen Individuum nicht einfach zusammenfällt, einen der Grundwidersprüche, deren sich metaphysische Erkenntnistheoretiker oder erkenntnistheoretische Metaphysiker der Erfahrung gegenüber fortwährend schuldig machen. Im Interesse eines universell-kritischen Verhaltens sowohl, als im Sinne positiv-wissenschaftlicher Verwertung wünschen wir nichts sehnlicher, als daß der von AVENARIUS in seinem "Menschlichen Weltbegriff" mit ungewöhnlicher Klarheit, mit imponierender Einfachheit und Ursprünglichkeit entwickelte Universalbegriff reiner Erfahrung durchdringe und die Einsicht verbreite, daß alle geistige Arbeit und Vertiefung die Bahnen der Erfahrung im  prinzipiellen  Sinn schlechterdings nicht verlassen kann, ohne an eine vermeintliche philosophische Durchdringung eine den Grundbegriffen der Erfahrung zuwiderlaufende metaphysisch-dialektische Umarbeitung des natürlichen Weltbegriffs einzutauschen. Mögen wir uns von der Unmittelbarkeit der Anschauung noch so weit entfernen: alle gedanklichen Mittelglieder müssen schließlich ein Wahrgenommenes durchsichtig machen und alle unsere Aussagen folglich, auf wie großen und verwickelten Umwegen dies auch geschehen möge, ein der Beschreibung zugängliches Vorgefundenes aufzeigen. Dies freilich kaum jemand beherzt und aus voller Überzeugung einsehen: es ist nicht nur eine lange und einflußreiche Überlieferung, welche große und kleine Philosophen immer wieder zur Scheintiefe lockt, die Erfahrung selbst machte es uns gar nicht so leicht, auf ihrem Boden bleibenden Wohnsitz zu nehmen; überall sind Schlingen ausgelegt. Und es bedarf nicht allein großer Vorsicht, um nicht zu straucheln, sondern jeder Ecke müssen wir uns versichern, wenn wir nicht in beständiger Gefahr schweben wollen, bei der nächsten Gelegenheit den festen Boden unter den Füßen zu verlieren und einzusinken. Eine dieser gefährlichen Stellen ist das philosophische Ich. Und deshalb nehmen wir uns vor, diesen Punkt, welchen SCHUPPEs  offener Brief  in besonders eindringlicher und zur Diskussion herausfordernder Weise zur Sprache bringt, einmal ganz besonders ins Auge zu fassen. Und zwar sind es drei Punkte, welche wir feststellen möchten.
    1) wollen wir durch eine geeignete Analyse des konkreten menschlichen Individuums zeigen, daß das Ich-Bezeichnete eben nichts ist, als das menschliche Individuum selbst, wenn wir dabei nur berücksichtigen, daß wir uns in Beziehung speziell zu unseren Mitmenschen, in Beziehung ferner zur Umgebung überhaupt und endlich, sofern wir uns selbst ein aus mannigfaltigen Bestandteilen Zusammengesetztes wissen, diese verschiedenen Bestandteile in ihrem Verhältnis zueinander betrachten.

    2) wird sich weiter in Folge dieser Analyse passende Gelegenheit bieten, den prinzipiellen, dialektischen, von den Philosophen selbst gemachten Widerspruch aufdecken, worin sich die Erkenntnistheorie, sofern sie nicht den Standpunkt reiner (einfach beschreibender) Erfahrung einnimmt, selbst lebendig begräbt und einpuppt

    . Und endlich 3) werden wir finden, daß insbesondere SCHUPPE mitten in den Wellen von Strom und Gegenstrom umhergetrieben wird und sich in einer geistigen Krise befindet, welche ihm den Weg zur Klarheit verwehrte.
Zur Vornahme unserer Analyse bedürfen wir keiner weiteren Begriffe, als welche der "Menschliche Weltbegriff" von AVENARIUS in einer Weise enthält, wie wir sie uns selbst besser nicht im Entferntesten zu verschaffen vermöchten. In der Sache machen wir uns daher einfach den Begriffsgehalt des "Menschlichen Weltbegriffs" zu eigen und nehmen uns nur, mit Rücksicht eben auf unseren besonderen Fall, das Recht heraus, in der Benützung und in der Form der Darstellung ganz nach freiem Ermessen vorzugehen.

Demgemäß kommen für uns zwei Punkte des natürlichen Weltbegriffs in Betracht:
    1) die auf die menschlichen Aussage-Inhalte sich beziehende Unterscheidung von  Sache  und  Vorstellung  (Gedanke); und

    2) die Abhängigkeitsbeziehung zwischen dem Ausgesagten und den Bestandteilen der Umgebung im weitesten Sinne, insofern zu ihr die gesamte Körperwelt, unser eigener Körper mitgerechnet, gehört.
Die ausgesagte Sache ist die  wahrgenommene  Sache. Und diese wahrgenommene Sache umfaßt zwei Hauptklassen von Inhalten:
    1) die Körpersachen, also alle Bestandteile der Umgebung im weitesten Sinne; die mathematisch-mechanischen Prädikate: Gleichgewicht und Bewegung; Ort, Lage und Ausdehnung der Körper. Die chemisch-physikalischen Eigenschaften: Aggregatzustand, spezifisches Gewicht, Zusammengesetztheit und Struktur; aber ebensowohl auch die mathematisch-optischen Eindrücke: Licht, Farbe und konkrete Figürlichkeit.

    2) gehört zu den Sachen eine Gruppe von Erlebnissen ganz anderer Art, die aber gleich der Körpersache als Wahrgenommenes vorgefunden werden: unsere Gefühle, Stimmung, Leidenschaft, Affekte jeder Art - Lust, Unlust - samt all ihren Übergängen von der einen in die andere. Eine, in einem weiteren Sinne übrigens gleichfalls zu den Körpersachen ( sinnlichen  Sachen) zu zählende dritte Klasse wahrgenommener Sachen: Töne, Geräusche, Geschmäcke, Gerüche, Spannung, Zug und Druck in den Muskeln, Berührungs- und Temperatureindrücke der Haut - so wichtig sie an sich ist - brauchen wir hier weiter nicht zu berücksichtigen, da, worauf es uns vor allem ankommt, was hinsichtlich des Verhältnisses von Sache und Vorstellung von den beiden anderen Klassen wahrgenommener Sachen gilt, sich auf diese von selbst überträgt.
Denken wir uns alle diese wahrgenommenen Sachen im Gedächtnis oder in der Phantasie nachklingen, oder auch sei es eine einzige oder unbestimmt ( unendlich)  viele wahrgenommene Sachen durch die freien Luftgestalten der abstrakten Begriffe zu einem ideellen Bild vergeistigt, so bezeichnen wir diese Gebilde des Gedächtnisses, der Phantasie und der höheren Begriffe als die Welt der Vorstellung oder des Gedankens. Auch die Gedanken sind gleich den Sachen ein einfach Vorgefundenes, sobald wir nur bedenken, daß wir von keinen anderen Gedanken, die diesen Namen verdienen, wissen, als insofern sie irgendeine  wahrgenommene  Sache irgendwie  repräsentieren.  Ein von mir gesehene Landschaft taucht später bei einer günstigen Gelegenheit in meinem  Geist  auf und ich bin imstande, von diesem Gedächtnis- und Phantasiebild zu sagen, inwiefern es die wahrgenommene Sache getreu oder mangelhaft repräsentiert; d. h. inwiefern das Gedächtnisbild mit den mathematisch-optischen Bestandteilen der zugehörigen Sache übereinstimmt oder gegenteil eine störende Lücke unausgefüllt läßt. Ferner kann ich eine auf einem Gemälde oder durch eine anschaulich-begriffliche Beschreibung gezeichnete menschliche Gestalt mit meinem Begriff der menschlichen Gestalt, welchen mir teils unmittelbare, teils anatomische Erfahrung zugeführt haben, vergleichen und die Beschreibung zutreffend oder mangelhaft finden. Und eine ähnliche Erfahrung mache ich, wenn meine früheren trüben und schmerzlichen oder heiteren und erfreulichen Erlebnisse später wieder an mir vorüberziehen. In abgeschwächter und rasch vorübergehender Form werde ich wieder in der früheren Weise affektiv erregt: und erkenne ganz deutlich Licht und Schatten meiner hinter mir liegenden Tage. Die Gefühle freilich sind an sich ein unfassbares Medium und wechseln so rasch und unberechenbar wie die Gestalt der Wolken am Himmel; sie bilden unzertrennliche Bestandteile sowohl der wahrgenommenen Sache, als der das Wahrgenommene repräsentierenden Vorstellungen und sind stets nur indirekt, mit Hilfe der Körpersachen zu beschreiben. Sowohl die an das Wahrgenommene angeschlossenen, als die Phantasie- und intellektuellen Gefühle haben dieselbe allgemeine (sinnlich gefärbte) Gefühlswertigkeit; aber insofern es uns gelingt, frühere Erlebnisse auch gefühlsmäßig wiederzuerkennen, ohne daß ihre spezifische Färbung durch die Stimmung der Gegenwart zu sehr beeinflußt oder gar völlig hinweggeschwemmt wird, können wir auch bei den  geistigen  Gefühlen, wie, verglichen mit der wahrgenommenen Sache, bei der Welt der Vorstellung überhaupt die geringere Massigkeit und abgeschwächte Intensität erfahren. Die auf Körper sich beziehende Vorstellung im Besonderen hat, verglichen mit der wahrgenommenen Körpersache die spezifisch-mechanischen Prädikate abgestreift und an Anschaulichkeit eingebüßt; dafür aber ist sie zu freier und reicher Entfaltung befähigt und daher als geistig repräsentatives Medium vorzüglich geeignet.

Diese Bemerkungen genügen, um das von uns erfahrungsmäßig Ausgesagte als solches im allgemeinen zu charakterisieren. Was wir hervorheben wollten, ist die Tatsache, daß,  inhaltlich  genommen, die  wahrgenommene  Sache alles umfaßt, was wir als Vorgefundenes auszusagen imstande sind; denn das Vorgestellte (Gedachte) ist, verglichen mit dem Wahrgenommenen, teils das Nachklangartige, intensic Abgeschwächte und Gemilderte des Wahrgenommenen, teils, in dem von uns angedeuteten Sinn, das die wahrgenommene Sache irgendwie Repräsentierende.

Wenn, wie in der Mathematik und in den Geisteswissenschaften geschieht, die vorgestellten Gedanken in der Betrachtung zur Sache gemacht werden, so verliert das von uns früher Gesagte an Gültigkeit nicht das Geringste, sondern wird im Gegenteil umso mehr bekräftigt. Denn die Gedankensachen des Mathematikers werden nun ihrerseits durch körperliche Symbole, als Körpersachen repräsentiert; und was die Geisteswissenschaften betrifft, so setzen sie mit ihren Gedanken entweder direkt im Anschluß an wahrgenommene Körpersachen - die bleibenden Spuren der Kulturgeschichte - ein, oder, sofern sie gerade im Besonderen über die menschlichen Gedanken und geistigen Gefühle reflektieren, so geschieht das nicht anders, als daß ein gewisses Material begrifflich bearbeitet wird; und das heißt in unserem Fall: die als Material dienenden Gedanken (Anschauungen, Phantasien, Lehrmeinungen, Schilderungen) bilden die Sache - und die auf diese Sachen sich beziehenden, sie bearbeitenden und verdichtenden abstrakten Begriffe im Verhältnis zu den Sachen, die zugehörigen Gedanken (Vorstellungen)oder die Gedanken zu den Gedanken.

Um nun weiter das Abhängigkeitsverhältnis des (als Sache oder Gedanke) Ausgesagten zu den Bestandteilen der Umgebung ins Auge zu fassen, beachten wir, daß einerseits die relative Selbständigkeit und andererseits die Zusammengehörigkeit alles erfahrungsmäßig Vorgefundenen durch den sowohl die Körperwelt, als das menschliche Individuum umfassenden und in diesem Sinne daher allgemeinen  Individualcharakter  bedingt ist. Wir sprechen von Individuen, wenn wir zunächst allein die uns umgebende Körperwelt berücksichtigen, insofern gewisse Umgebungsbestandteile zu einer in räumliche Grenzen eingeschlossenen und ein Ganzes bildenden (relativen) Einheit vereinigt sind. Und sofern wir selbst als konkrete, lebendige Individuen miteinander verkehren, geschieht das immer mit Hilfe unseres eigenen Körpers. Wie daher unser eigener Körper, sofern wir von menschlichen Individuen reden, uns einerseits unmittelbar miteinander verbindet und uns andererseits unsere Selbständigkeit wahrt, so ist unser eigener Körper der nächste Anlaß, weshalb wir uns selbst als Individuen bezeichnen. Und was die Individuen miteinander in Verbindung setzt und der gesamten Welt den Charakter der Ordnung, der Gesetzmäßigkeit und lebendigen Einheitlichkeit aufdrückt, sind die Änderungsreihen, welche, sei es von einem Körper auf den anderen übergehen, sei es derart einanander parallel gehen, daß sie zu einander im Verhältnis der Abhängigkeit und Unabhängigkeit stehen. Da wir nun, so lange wir einfach ein Vorgefundenes aussagen und beschreiben, alles Ausgesagte auf die Umgebung beziehen, so kann folglich, wenn wir nicht auf jeden Zusammenhang verzichten und uns in Widersprüche verwickeln wollen, alles (als Sache oder Gedanke) Ausgesagte einzig im Sinne einer Änderungsreihe mit Änderungsreihen der Umgebungsbestandteile verkettet werden. Und als Änderungsreihen, d. h. als Vorgänge, die kommen und gehen, verschwinden und wiederkehren, erleben wir denn auch Alles, was uns als Wahrnehmung, als Gedanke, als Gefühl leise bewegt oder mächtig erschüttert und in Miene, in Wort und Schrift, in Handlung zum Ausdruck gelangt. - Da wir weiter aus direkter und indirekter Erfahrung wissen, daß bestimmte Änderungsreihen, welche von der umgebenden Körperwelt ausgehen, sich auf unseren eigenen Körper, welcher zwischen die Umgebung und das von uns Ausgesagte hineingestellt ist, fortpflanzen, so haben wir demgemäß das als Änderungsreihe gedachte Ausgesagte zu bestimmten Änderungsgrößen unseres eigenen Körpers (1) in direkte und zu den außerhalb unseres Körpers in die Umgebung hinaus verlängerten Änderungswerten in indirekte Beziehung zu setzen. Und zwar sind wir genötigt, das Ausgesagte im Verhältnis zu den direkten und indirekten Werten der Umgebungsbestandteile als  Abhängige,  die zugehörigen Änderungen der Körperwelt als  Unabhängige  zu kennzeichnen. Denn wir haben wohl davon Erfahrung, daß z. B. von einem beliebigen Körper der Umgebung eine bestimmte Änderung ihren Ursprung nimmt und sich auf unseren eigenen Körper überträgt - und dementsprechend bezeichnen wir die Ursprungsreihen des Körpers der Umgebung im Verhältnis zu den an sie sich schließenden  abhängigen  Änderungen unseres eigenen Körpers als die  Unabhängigen.  Davon aber, daß die Reihe der Änderungen der Körperbestandteile sich in die Aussage-Inhalte hinein fortsetze, haben wir schlechterdings keine Erfahrung. Das Einzige, was wir in dieser Beziehung aussagen können, läßt sich in den Satz einschließen, daß gleichzeitig mit bestimmten Änderungswerten unseres eigenen Körpers bestimmte Änderungswerte, die wir eben als  Aussagewerte bezeichnet haben, gesetzt sind. - Unser eigener Körper ferner, ob wir ihn auch in fortwährender und nie rastender Veränderung begriffen vorauszusetzen, repräsentiert als solcher doch im Verhältnis zu jeder jeweiligen einzelnen, vorübergehenden Änderung seiner selbst einen dauernden Gesamtbestand, was im selben Sinne von unseren Aussagewerten nicht gesagt werden kann, so lange wir einfach von ihnen reden, wie wir sie erfahren und durch keine zweifelhaften Begriffe wie das "Unbewußte" den Standpunkt reiner Erfahrung aufgeben. Wir reden deshalb von den Aussagewerten schlechtweg als von den  Abhängigen,  ohne damit etwas anderes, als einen rein empirischen Befund markieren zu wollen und fügen zu der von der Psychologie gemachten und gewöhnlich prinzipiell gegensätzlich verschärften Unterscheidung von  Vorstellung  und  Vorgestelltem  (Inhalt und Akt) die Bemerkung, daß, ob wir ein Ausgesagtes als  Inhalt  (im engeren Sinne) oder  Akt  bezeichnen, lediglich davon abhängt, ob wir einen jeweiligen  Bestand  des Wahrgenommenen oder Vorgestellten - oder einen  Übergang  von Wahrnehmung und Vorstellung unter sich oder des einen zum andern in Betrachtung ziehen.

Hiermit wissen wir, was wir unter dem menschlichen Individuum zu verstehen haben: ein aus den Bestandteilen unseres eigenen Körpers und den zugehörigen Abhängigen Zusammengesetztes, welches im selben Sinne ein Ganzes und eine relative Einheit ausmacht, wie irgendein aus mannigfaltigen Bestandteilen zusammengesetzter Körper in der Umgebung. Und um weiter zu wissen, weshalb wir das menschliche Individuum gerade als  Ich  bezeichnen, betrachten wir dasselbe zuerst in seinem Verhältnis zur Umgebung und stellen die Frage: worin unterscheidet sich unser eigener Körper von einem beliebigen mitmenschlichen oder irgendeinem anderen Körper der Umgebung? Und die Antwort lautet: darin, aß unser eigener Körper als Körper zur  Umgebung  gehört, als unser eigener Körper jedoch nicht. Es ist nämlich unmöglich, hinsichtlich seiner Stellung zu den Abhängigen, unseren eigenen Körper mit irgendeinem Körper der Umgebung zu vertauschen. Zwar kann ich auch meinen eigenen Körper wie einen Bestandteil der Umgebung betrachten; dies geschieht jedoch nie anders, als in abstracto; d. h. ich schiebe in Wahrheit einen mitmenschlichen Körper anstelle meines eigenen; und vertausche einfach in der Reflexion diesen ideellen Körper meiner selbst, welcher tatsächlich einem zweiten Individuum angehört, mit meinem eigenen. Aber auch dann, wenn es jemand von uns in Folge außerordentlicher Umstände gelingt, in das Innere seines eigenen Körpers einen ähnlichen Einblick zu erhalten wie in einen mitmenschlichen Körper, ist einleuchtend, daß dieser Einblick als Ausgesagtes, d. h. der Bestand des eigenen Körpers als Ausgesagtes in derselben Weise eine Abhängige unseres eigenen Körpers repräsentiert, wie irgend sonst ein beliebiges der Umgebung zugeschriebenes Ausgesagte. Und dies will besagen: wir können uns wohl zu  einzelnen  Bestandteilen unseres eigenen Körpers in dieselbe Stellung versetzen wie zu einem beliebigen Bestandteil der Umgebung: niemals und unter keinen Umständen jedoch gelingt uns dies gegenüber unserem eigenen Körper in seinem  Gesamtbestand. Wer solche Wünsche hegt, muß eben damit zuwarten, bis er als Leichnam auf dem Seziertisch seine Wünsche auf andere überträgt. In Folge seiner Allgegenwart, d. h. Unvertauschbarkeit, wie wir kurz die eigentümliche Stellung unseres eigenen Körpers hinsichtlich der zugehörigen Abhängigen im Verhältnis zu den übrigen Körpern bezeichnen wollen, befindet er sich wie im Mittelpunkt eines Kreises und jeder ihm gegenüberliegende Umgebungsbestandteil wie auf einem entsprechenden Umgebungsradius. Daher steht insofern das menschliche Individuum als relativ Konstantes inmitten einer relativ wechselnden Umgebung; jedem Umgebungsbestandteil gegenüber ist es "Zentralglied" und jeder Umgebungsbestandteil dem Individuum gegenüber "Gegenglied". Und gar nichts anderes, als diese zentrale Stellung des menschlichen Individuums im Verhältnis zu seiner gesamten Umgebung meinen wir, wenn wir uns selbst der Körperwelt gegenüber als  Ich  und die Körperwelt uns gegenüber als Nicht- Ich  bezeichnen.

Und die einzige Modifikation, welche das  Ich  nicht sowohl im Verhältnis zur Umgebung überhaupt, als im Verkehr speziell mit den Mitmenschen annimmt, besteht darin, daß jedes menschliche Individuum einen spezifischen Individualcharakter aufweist, welcher jedem Ich ein zweites Ich oder ein  Du  zur Seite stellt. Ein dritter Anlaß endlich, um das menschliche Individuum zu einem Ich-Bezeichneten zu machen, liegt dann vor, wenn wir von uns selbst aussagen, daß  wir  die und die Eigenschaften haben oder besitzen. Offenbar jedoch liegt hier einfach eine andere Form des Dinges mit seinen Eigenschaften vor. Denn, da wir uns selbst als  ich  bezeichnen, so können wir ebensowohl von einem aus mannigfaltigen Bestandteilen zusammengesetzten Ich-Ding ( Geist-  Körperding), (2) als einem beliebigen Ding der Umgebung wie Baum, Fels, usw. reden. Und wie, daß dies oder jenes Ding, z. B. diese Orange, die die durch den Geschmack und Geruch oder weiterhin durch chemische Untersuchung festzustellenden Eigenschaften besitzt, eben nichts besagt, als daß alle Eigenschaften zusammen ein Ganzes ausmachen, welches wir Orange nennen, so besagt auch das Ich im Verhältnis zu seinen Eigenschaften nichts, als daß die als Sache oder Gedanke bezeichneten Aussage-Inhalte zu unserem eigenen Körper in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen und mit ihm zusammen ein Ganzes ausmachen. Und nur insofern die verschiedenen und in verschiedener Weise wechselnden speziellen Ich-Inhalte verschiedene, mehr oder weniger konstante Bestandteile aufweisen, welche sich alle in derselben Weise zur sprachlichen Bezeichnung eines Ich mit wechselnden Eigenschaften geeignet erweisen, wollen wir zur Jllustration der Sache einige Beispiele hersetzen.
    1) Im Satz: "Heute habe ich einen besonders schlimmen (besonders guten) Tag" wird der durch den heutigen Tag bezeichnete Lebensinhalt als das minder, bzw. mindest Konstante vom Durchschnitt des ganzen bisherigen Lebensertrages als dem mehr, bzw. meist Konstanten unterschieden und in der bezeichneten Weise grammatikalisch zum Ausdruck gebracht.

    2) "Das war ein Tag!" kann beispielsweise bedeuten: ein in der Erinnerung auftauchender, ereignisreicher Wandertag in einem fremden Land ist, ob auch vielleicht ein mit aller Frische und Energie Vorgestelltes, gegenüber dem gegenwärtig fortwährend Wahrgenommenen doch ein Schattenhaftes, zufällig Auftauchendes und in seiner ursprünglichen Unmittelbarkeit nie mehr Wiederkehrendes. - Daher habe  ich  jenen Tag  gehabt. 

    3) Das im Gedächtnis fortlebende, aber als  vergangen  bezeichnete Jugendalter zeigt uns, wie in einem Spiegel, daß wir zum Teil noch dasselbe wie ehemals, als Ganzes jedoch ein anderes sind. Gewisse Grundzüge, z. B. der Sanftheit und Milde oder gegenteils der Härte und Schroffheit, des mehr praktisch zugreifenden und schlagfertigen oder mehr nachdenklich sinnenden und zaghaften Verhaltens werden noch jetzt, wie ehemals in der keimhaften Jugend, vollgegenwärtig erlebt. Und insofern dies geschieht, sind wir dasselbe geblieben, was wir von Anfang an und seit jeher schon waren. Sofern jedoch dies alles nur die Grundzüge und keineswegs die speziellen Inhalte unserer gegenwärtigen Handlungen und Urteile betrifft, sind wir gegenüber früher etwas anderes. Von dem, was  ich  in meiner Jugend als Ganzes war, besitze  ich  daher gegenwärtig nur noch ein traumhaftes Bild.

    4) Oft glotzen uns im Traum eine Reihe spukhafter Fratzengestalten, in welche wir uns selbst spalten, gespenstisch-unheimlich an oder drücken uns, wie ein schwer lastender Alp und verursachen uns peinliche Beklemmung. Beim Aufwachen sagen wir - gewöhnlich Nicht-Träumende -  ich  hatte einen schweren Traum.

    5) In der Luft schwebende Zukunftsbilder und planierte Lebensziele drücken wir sprachlich aus:  ich  bin noch nicht, was ich gerne sein oder haben möchte, werde es aber künftig vielleicht erreichen oder sein.
In dieser rein sprachlichen Bedeutung geht unser stündliches  ich bin  -  ich habe  vollständig auf. Ob wir, wie eben geschehen, mehr oder minder konstante Inhalte aufeinander beziehen oder überhaupt bestimmte Teilinhalte (von ihrer größeren oder geringeren Konstanz, mit anderen verglichen, ganz abgesehen) von den übrigen ausscheiden und zu einem Ich-Bezeichneten machen, ändert an der Sache nichts. Sage ich demgemäß: ich mache - sehe - höre - denke - usw., so heißt das: die Abhängigen - Wahrnehmen, Fühlen, Vorstellen, Denken, Wollen - machen mit den zugehörigen Unabhängigen unseres eigenen Körpers ein als  Ich  bezeichnetes Ich-Ding aus.  Ich  habe Körper und Geist' besagt: die als Abhängige und Unabhängige charakterisierten Ich-Bestandteile gehören so zusammen, wie zwei beliebige andere Inhalte eines beliebigen anderen Dings; z. B. der bei gewöhnlicher Temperatur flüssige Aggregatzustand des Quecksilbers und das hohe spezifische Gewicht dieses Metalls. Von der sprachlichen Einkleidung abgesehen, ist daher das Ich nichts anderes, als die Kontinuität des Gedächtnisses und des eigenen Körpers. Und genau soweit, wie die Kontinuität dieser reicht, geht auch das Ich.

Sprachlich nehmen wir uns allerdings die Freiheit - welche ich nicht im Mindesten weder kritisieren noch einschränken möchte - das Personalpronomen auch auf einen Verstorbenen, der in unserem Gedächtnis fortlebt, anzuwenden; oder andererseits mit demselben Pronomen einen zwar Lebenden, der jedoch, wie der vollkommen blödsinnige Paralytiker, keinen  Geist  und kein  Ich  mehr hat, zu bezeichnen. Hier hatte (im ersten Falle) daher der in uns fortlebende  Geist  des Verstorbenen einen  Körper,  der Paralytiker andererseits hatte einen  Geist. 

Hieraus geht weiter hervor, daß die Einheit des  Ich  ( Selbstbewußtseins),  womit sich die Philosophen bis heute immer noch zu schaffen machen, mit dem von uns hinlänglich kennen gelernten Ich-Ding durchaus zusammenfällt; womit aber freilich nicht mehr gesagt ist, als daß das Ich, solange es überhaupt besteht, ein Ich sei, wie irgendein anderes Ding, so lange es als solches besteht, eben das betreffende Ding ist. Sollten indes die Philosophen mit ihrem Selbstbewußtsein nicht einfach den Individualcharakter im Auge haben, sondern die Einheit, insofern sie sich auf die dem Ich eigentümlichen Inhalte bezieht, so müßte demgemäß die Einheit in diesem Sinne eine ganz andere sein, als wie sie überall sonst angenommen wird; und gegenüber der Körperwelt daher hier an diesem Punkt etwas sui generis [eigener Art - wp] vorliegen.

Gewiss, dem Reichtum, der Zartheit und vielfältigen Verflechtung der Inhalte entsprechend ist auch die diese Inhalte umfassende Einheit eine um so viel tiefere und gehaltvollere. Solche höheren Ich-Einheiten sind jedoch, wie bekannt, die seltensten Ausnahmen; sie fallen mit einem konkreten Individuum überhaupt nie zusammen, sondern offenbaren sich teils in den hinterlassenen großen Werken und Taten hervorragender Einzelner, teils als die im Leben betätigte, aber von Tag zu Tag gegen beträchtliche Widerstände zu erobernde und mit mehr oder minder Gewalt durchzusetzende zweckgemäße (zielbewußte) geistige Arbeit.

Diese höheren Ich-Einheiten sind daher weit entfernt, eine ganz besondere Einheit des Selbstbewußtseins aufzudecken und beweisen gerade im Gegenteil, daß mit dem Reichtum und der Zusammengesetztheit des Inhalts seine harmonische Ganzheit sich unendlich leicht verschiebt, wie im labilen Gleichgewicht schwebt und einem Thermometer gleicht, welches die kleinsten Temperaturdifferenzen durch große Schwankungen anzeigt.

Hinsichtlich dieses philosophischen problematischen Selbstbewußtseins scheint also wirklich nicht anderes, als eine Verwechslung mit dem Individualcharakter vorzuliegen. Wenn aber dies, dann würde man ja in jedem Stück Holz und in jedem Stein die gesuchte unzerstörliche Einheit gewährleistet finden. Man kann einen Körper der Umgebung zerkleinern und zerteilen, so viel man will, es sind immer wieder so viel neue Körper als Teile vorhanden, wovon jedes ein Körper-Individuum repräsentiert, wodurch sich die Einheit hier als eine im wörtlichen Sinne unverwüstliche dokumentiert. So unerschütterlich verharrt auch die Einheit des primitivsten Ich nicht, davon abgesehen, daß wir kein Ich im selben Sinne wie einen Körper zu teilen vermögen und daß mit dem Reichtum und der Zusammengesetztheit des Ich seine Einheit weit leichter gelockert und gefährdet, als befestigt und für immer gesichert erscheint.

Fügt sich somit das Ich von selbst dem natürlichen Weltbegriff ein, so kann der Grund, daß der Ich-Theoretiker die reine Erfahrung um sein  Subjekt -Ich vermehrt und insofern prinzipiell variiert, kein anderer sein, als weil überhaupt spezifisch erkenntnistheoretische und metaphysische Pseudoprobleme aufgestellt werden. Und wie mir scheint, liegt der Ursprung aller dialektischen Scheinproblem in der Verwechslung der  Unabhängigkeit  der Umgebungsbestandteile mit ihrer  Absolutheit.  Anstelle der aus verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzten Erfahrung, die gerade im Abhängigkeitsverhältnis des Ausgesagten und der Umgebung ihre Einheitlichkeit und die unzertrennliche Zusammengehörigkeit beider Komponenten (der Umgebung und der aussagenden menschlichen Individuen) an den Tag legt, tritt in Folge der angedeuteten Verwechslung eine Doppelwelt, die Welt, wie sie  für sich  und ohne Beziehung zum erfahrenden und denkenden Menschen besteht und die Welt  für uns,  wie wir sie wahrnehmen und denkend erfassen.

Was allerlei für vielgestaltige Motive und Umstände zu dieser Verwechslung geführt haben und noch heute fortwährend dazu führen, haben wir hier nicht auszumachen. Uns kommt es nur darauf an, die Tatsache der Verwechslung als solche auf ihren einfachsten Ausdruck zu bringen und auf einige Folgen derselben aufmerksam zu machen, welche zu unserem Thema gehören.

Die nächste Folge der Weltverdoppelung ist die Vermengung von Sache und Vorstellung. Da allein das Abhängigkeitsverhältnis des Ausgesagten zur Umgebung und zu unserem eigenen Körper den entscheidenden Anlaß bietet, mit der Unterscheidung ebensowohl auch die Zusammengehörigkeit von Sache und Vorstellung aufzustellen, so geht mit dem Wegfall jenes entscheidenden Abhängigkeitsverhältnisses zugleich der Charakter von Sache und Vorstellung zugrunde. Die irgendein Wahrgenommenes irgendwie repräsentierende Vorstellung und die Wahrnehmung selbst bilden jetzt zusammen die  innere  Welt; die Welt, wie sie für  uns  besteht; und die andere Welthälfte, die Welt, wie sie ohne Beziehung auf uns, für sich  absolut  besteht, deckt sich entweder ganz, teilweise oder gar nicht mit der Welt der  Vorstellung.  Ob man daher je eine Hälfte der gedoppelten Welt als geisterhafte Körperwelt oder umgekehrt als materialisierte Vorstellungswelt betrachtet: in beiden, in gleicher Weise  denkbaren  Fällen befinden wir uns in einem Nirgendheim und haben einen gespensterhaften Doppelgänger der Erfahrung vor uns.

Das spekulierende Individuum, im Nebel schwimmend und auf Wolken schaukelnd, projeziert seine selbst geschaffene Welt ins Unbekannte und läßt sich von ihr, wie in einem Ballon schwebend, durch die finsteren Räume tragen. Der Metaphysiker lebt in einer Welt, worin es weder Zeit noch Raum, weder Veränderung noch lebendige Individualität gibt. Von den frühesten Tagen der Spekulation, die ein dämmerhaftes Dunkel umhüllt, bis herunter auf unsere Zeit, wo sie aus der Wissenschaft ihre Nahrung zieht und sich von der Sonne des Mittags bescheinen läßt, haben wir immer dasselbe Schauspiel vor uns; wir sehen weder eine frei geschaffene Phantasiewelt, noch ein klar gedachtes begriffliches Abbild unserer Erfahrung. Sondern gewisse Grundbestandteile derselben sind zu Vorstellungen verflüchtigt und umgekehrt, die Luftgestalten der Gedankenwelt zu schweren Körpern vergröbert. Und was PLATO von der Welt, worin wir alle leben, sagte: sie schwebe zwischen Sein und Nichtsein, gilt daher in viel zutreffenderem Sinne von den Gebilden der Metaphysiker: das jeweilige System oder was an seine Stelle tritt, ist selbst die Welt und ist sie zugleich auch nicht. Wasser, Feuer und Luft, insofern sie als Urstoffe fungieren, sind nicht Fluß und Meer, nicht die leuchtende und wärmende Flamme, nicht der Zugwind und der Sturm, sondern - dies alles, aber ebensowohl auch nichts von alledem; einerseits ein sinnlich-geistiges Bild der Bewegtheit, Veränderlichkeit, Einheit und verwandtschaftlichen Zusammengehörigkeit der gesamten Natur mit Einschluß des Menschen; jedoch andererseits gleichzeitig der  wahre  und  wirkliche  Urstoff, welcher aber als solcher freilich samt allen seinen Wandlungen, die er fortwährend durchmacht, sich uns in keiner Erfahrung zeigt; vielmehr bleibt derselbe, gleichwie das Gleichnis der Welt, welches die Welt nicht nur bedeutet, sondern sie zugleich selbst ist, ein ewig-unsagbares Geheimnis.

Machen wir einen Sprung und schlagen das Lexikon der modernen spekulativen Geheimsprache auf. Die Götter und Dämonen, die Urstoffe, Urkörperchen und Weltseelen sind vom Schauplatz abgeschieden. Fast dasselbe Schicksal teilen die Substanzen, die Kräfte, die intelligiblen Räume, die Monaden und metaphysischen Punkte. Unsere neuesten Philosophen haben viel vorsichtigere und zartere, aber freilich auch unendlich abgeschwächtere Wortbildungen aufzuweisen.  Erscheinung,  Ding-ansich, Ich, Empfindung, Subjekt, Bewußtsein, absolute Realität,' das leere Existenzialprädikat  Sein  - dies sind die nicht nur sprachlichen, sondern auch prinzipiell-begrifflichen Hauptinventarstücke unserer metaphysischen Erkenntnistheoretiker. Wir ersehen hieraus, daß die eine Welthälfte (die Welt, wie sie an sich ist), sich nach und nach bis hart an die Grenze des absolut Unbekannten zurückgezogen hat. Und wohl nichts anderes als der Umstand, daß in jeden, im übrigen auch leersten menschlichen Sprachlaut einige verworren-dumpfe Reflexe aus der  Erfahrung  fallen, läßt die absolute und absolut unbekannte Realität philosophisch fortexistieren.

Die pseudo-empirische, aber historisch so bedeutsame Unterscheidung der  primären  und  sekundären  Qualitäten zeigt deutlich, wie die eine, als  Sein  bezeichnete Welthälfte (die Welt für sich und ohne Beziehung auf uns) die Neigung hat, Stück um Stück in die Welt der  Vorstellung  (die Welt für uns) herüberzuwandern. Und wenn die Entwicklung vollständig und konsequent verlaufen würde, müßte sie offenbar mit einer Welt der  Vorstellung  abschließen, welche frei wie der Schmetterling in den Lüften flattert und sich selbst so vorstellt, wie der Spiegel sich selbst im Spiegel besieht. Aber den Sprung über das  Ich,  diese Festung, welche wir selbst bewohnen, wagt kein Philosoph. Das Ich ist ja der feste Punkt, um welchen sich die Welt des Ich-Theoretikers dreht;  Sein  ist  Bewußtsein  - das  eine  Ganze des Bewußtseinsinhaltes'. - In diesen Sätzen, worin der Verfasser des  offenen Briefes,  zu dessen Betrachtung wir jetzt übergehen, seine Erkenntnistheorie zusammenfaßt, haben wir eine Theorie vor uns, welche, wie sie sich selbst am Licht ihrer eigenen Evidenz erfreut, gar nicht begreift, daß wir andern die Sonne am hellen Tag nicht sehen.

Worin also, fragen wir, besteht die Evidenz, welche SCHUPPE dazu nötigt, den natürlichen Weltbegriff prinzipiell zu variieren? Das "abstrakt-begriffliche Moment des einen ganzen Bewußtseinsinhaltes" - antwortet er uns.

Das konkrete menschliche Individuum, ruft der Ich-Philosoph aus (Seite 385f), ist doch nicht das Subjekt, welches erfährt, es gehört ja selbst mit zum Bewußtseinsinhalt, welcher erfahren wird. Und um etwas zu erfahren - natürlich - muß doch jemand da sein, welcher erfährt. Eine Erfahrung ohne erfahrendes Subjekt ist eben so ein Unding - dies sieht auch schon ein Kind ein - wie ein Gedanke, den niemand denkt oder ein Gefühl, welches niemand fühlt. - O ja freilich muß, um eine Erfahrung zu machen, jemand da sein - aber eben dieser gute Jemand, wer ist er nun eigentlich? Das Ich - lehrt der Ich-Theoretiker weiter - findet ja mit der Umgebung zugleich sich selbst vor. Und dieses Sichselbst-Vorfinden - wer möchte es in Abrede stellen und die Mauer des eigenen Ich überspringen?

Und das Sichselbst-Vorfinden - findet sich dies nicht auch wieder vor? Und das Vorfinden des Sichselbst-Vorfindens - auch dies? - und dies nochmals - in infinitum?

SCHUPPE begnügt sich mit der einfachen Verdoppelung des Sichselbst-Vorfindens; andere Dialektiker haben, wie man weiß, an dieser Stelle einen Widerspruch entdeckt und die Grundbegriffe der Erfahrung zugunsten der Metaphysik umgearbeitet. Wir jedoch glauben, es genüge ein einmaliges Vorfinden und überlassen ein Mehreres den Günstlingen der Spekulation.  Ich finde mich selbst  vor, heißt ganz einfach: Ich bin Ich.

Wir wissen ja längst, daß wir es mit all den tausendfältig in der Sprache versteckten Tautologien nicht sehr genau nehmen; nur die Philosophen machen baren Ernst mit diesen kleinen Nachlässigkeiten und haben deswegen eine natürliche Neigung zum Tiefsinn. "Das sich selbst und sein Umgebung vorfindende Ich" ist das konkrete menschliche Individuum, welches nicht anders, als in Beziehung zur umgebenden Körperwelt - und diese Körperwelt ist die Umgebung, welche nicht anders, als in Beziehung zum menschlichen Individuum vorgefunden wird. Das Vorfinden der Umgebung im Besonderen besagt, wenn wir hinter die Sprachhülle blicken, keineswegs, daß ein mysteriöser Jemand in irgendeiner geheimnisvoll-unsagbaren Weise sich die Umgebung in der Wahrnehmung zu eigen mache, sondern schlechterdings nichts anderes, als daß Umgebung und (Ich-bezeichnetes) menschliches Individuum nur zusammen denkbar sind und die beiden Glieder der "empirio-kritischen Prinzipialkoordination" bilden.

Wenn wir uns dennoch so viel als möglich der Gemeinsprache bedienen, so geschieht es, weil wir ohne Not auf die Phantasiemittel unseres natürlichen Ausdrucksmittels nicht zu verzichten brauchen. Der Ich-Theoretiker dagegen kennt diesen freien Gebrauch der Sprachformen und -Wendungen nicht; er benützt sie nicht nur darstellungsweise, sondern denkt überdies - aber freilich wider Willen und zwangsmäßig - und hierin unterscheidet er sich vielleicht vom Metaphysiker - im Geist der metaphysischen Verdoppelung der Grundbegriffe der Erfahrung. Offenbar ist das erkenntnistheoretische Ich in Gestalt des "abstrakt begrifflichen Moments", welches SCHUPPE als ( zweites)   Ich  neben dem konkreten Individuum nicht entbehren kann, gar nichts anderes, als das in  Geist  ( Seele)  und  Körper  verdoppelte menschliche Individuum, dessen Geisthälfte zum Mumie des abstrakt-begrifflichen Moment-Wortwesens eingetrocknet ist; und in diesem vor Verwesung geschützten Zustand gewiß erst mit den Philosophen aussterben wird. Und niemand anders, als gerade SCHUPPE selbst, gewährt uns einen sehr instruktiven Einblick in den Ursprung des Verdoppelungsvorgangs, wenn er (Seite 385) unseren eigenen Körper ohne nähere Unterscheidung einfach zur Umgebung rechnet; und nun als notwendiges Zentralglied zur Umgebung das konkrete Individuum, dessen Körper ja schlechtweg zur Umgebung geworfen wird, nicht mehr dienlich findet und an dessen Stelle das  Subjekt-Ich setzt. Wir haben ausdrücklich den scheinbar geringfügigen, in Wahrheit jedoch entscheidenden Umstand hervorgehoben, daß unser eigener Körper nicht im selben Sinn zur Umgebung gehört, wie ein beliebiger anderer Körper und haben bemerkt, daß unser Körper als  eigener  gerade Anlaß bietet, weshalb wir der Umgebung gegenüber das menschliche Individuum als  Ich  bezeichnen.

SCHUPPE im Gegenteil ignoriert ausdrücklich diese eigentümliche Doppelstellung unseres eigenen Körpers innerhalb der Umgebung und verwechselt dieselbe mit dem Doppelindividuum. Und was sagen wir dazu, wenn SCHUPPE die Einheit der Erfahrung, d. h. die unzertrennliche Zusammengehörigkeit von Umgebung und Ich ohne sein erkenntnistheoretisches Subjekt-Ich so sehr vermißt, daß er beide Komponenten (Ich und Umgebung) rein als solche mit zwei "zufällig nebeneinander liegenden Steinen" vergleicht.

Also der Philosoph, welcher sich sowohl auf die "abstrakt-begrifflichen Momente" versteht und sich so sehr gegen die Verdinglichung der Abstraktionsprodukte verwahrt, stellt sich zuerst die Bestandteile der Erfahrung wie zwei nebeneinander liegende Steine vor, welche später durch ein hinzukommendes  Ich  zu einer Einheit verknüpft werden. Aber - entgegnet uns der Philosoph - nein, nein! So ist es nicht gemeint; Ihr, meine Gegner, schiebt mir gegen meine ausdrücklichen Worte dergleichen nur unter. Mein Ich - fährt er fort - ist kein setzendes und schaffenden, es ist das abstrakt-begriffliche Moment des einen ganzen Bewußtseinsinhaltes.

So sage man uns denn endlich, was entspricht in der  Erfahrung  diesem abstrakt-begrifflichen Moment?

Wir haben hierauf geantwortet und die beiden  abstrakt-begrifflichen  Momente des empirische Ich einerseits in den Abhängigen (Wahrnehmen, Vorstellen, Fühlen, Wollen), andererseits in unserem eigenen Körper in seinem Gesamtbestand gefunden. Der Ich-Philosoph jedoch kennt ein Ich neben dem Ich; und wenn wir vom Inhalt dieses zweiten unbekannten Ich gerne etwas erfahren möchten, so erhalten wir zur Antwort: Das abstrakt-begriffliche Moment des einen Ganzen - welchem Moment an diesem Ganzen nichts entspricht als - nun ja - als eben dieses Ganze selbst. - Was heißt das ins Deutsche übersetzt? - Das eine Ganze unserer Erfahrung kennt kein anderes Ich, als das menschliche Individuum und stößt des Ich-Theoretikers abstraktes Moment-Ich als dunklen, bis auf das zarte Wortzeichen: "abstraktes Moment" abgemagerten metaphysischen Rest ab.

Auch in SCHUPPEs Theorie des einen ganzen Bewußtseinsinhaltes, welcher das  Sein  selbst ausmacht, begegnen wir daher derselben Verdoppelung, wie sie in der Lehre der Welt, wie sie an sich ist und wie sif für uns besteht, enthalten ist. Und der ganze Unterschied beider Theorien besteht nur darin, daß sich beim Ich-Philosophieren der Verdoppelungsakt verschoben hat: die Welt, wie sie an sich besteht, ist verschwunden, aber alsbald teilt sich die Welt, wie sie für uns besteht, wieder in zwei Stücke: den Inhalt des Bewußtseins und das Bewußtsein selbst, welches den Weltinhalt trägt und zusammenhält.

Der Ich-Philosoph hat sonach zwar richtig eingesehen, daß wir mit der Welt, wie sie an sich ist, in keinem Sinn etwas anzufangen wissen. Statt nun aber noch einen Schritt weiter zu gehen und zu sagen: die Welt, wie sie drinnen im  Bewußtsein  steht, ist gleichfalls nicht die Welt, welche wir erfahren; die Erfahrung ist weder draussen noch drinnen, sie ist einfach das aus vielfach und zueinander gehörigen Bestandteilen zusammengesetzte Vorgefundene - statt das zu sagen, macht der Erkenntnistheoretiker die Welt zum Bewußtseinsinhalt und schiebt so anstelle eines imaginären Äußeren ein imaginäres Inneres. Auf die Folgen des Verdoppelungsvorganges haben wir schon früher aufmerksam gemacht; sie sind auch bei SCHUPPE nicht ausgeblieben, denn die Gedanken- und die Sachenwelt, die Umgebungsbestandteile und die zugehörigen Abhängigen fließen bedenklich bewußtseinsinhaltlich ineinander. Der Philosoph selbst jedoch weiß hiervon freilich nichts, weil er gleichzeitig in entgegengesetztem Sinn, teils rein erfahrungsmäßig, teils metaphysisch-erkenntnistheoretisch beeinflußt, von der jeweiligen Strömung fortgerissen wird. Und die Spuren dieser Unklarheit, welche der  offene Brief  auf jeder Seite aufweist, wollen wir zur Ergänzung und Bekräftigung des Gesagten ein wenig verfolgen.

Befremdlich ist schon dies, daß uns der Philosoph jeden Augenblick vor Mißverständnissen warnt. Wenn uns gesagt wird, die Welt als Bewußtseinsinhalt sei ein Zustand des Ich, so sollen wir darunter einfach die notwendige Zusammengehörigkeit des Ich-Bezeichneten und der Umgebung verstehen. Indessen fühlt der Theoretiker das Unzutreffende und Unvorsichtige seiner Ausdrucksweis selbst; er entschuldigt sich deswegen und gewiß mit Recht. Denn ein Mensch aus dieser Welt, der die Dinge beim rechten Namen nennt, würde niemals, wenn er die angedeutete Zusammengehörigkeit zu bezeichnen hätte,  Sein  und  Bewußtsein  einander gleich - und anstelle der Unzertrennlichkeit von Umgebung und Ich das eine Ganze des Bewußtseinsinhaltes setzen.

 Subjekt, Empfindung, Bewußtseinsinhalt  sind dunkle, alles und nichts besagende Termini. Und tatsächlich hat denn auch SCHUPPE keineswegs bloß die Zusammengehörigkeit der Erfahrungskomponenten, sondern ein  Problem  damit angedeutet. Und was für ein Problem? die Prinzipialfrage, meint (Seite 377) der  offene Brief,  betrifft die Existenz der Körperwelt und lautet: Welches ist der Begriff dieser (der körperlichen) Existenz? Und weshalb wirft der Philosoph eine solche Frage auf? Nun - weil er eben ein Ich-Philosoph ist; und dem Ich der Umgebung (Körperwelt) gegenüber eine der Erfahrung widerstreitende prinzipielle Primärstellung einräumt. Ausdrücklich heißt es (Seite 377), der Begriff des Ich bedürfe keiner "Feststellung und Erklärung", wohl aber der des Körpers; und wodurch anders, als durch Berufung auf die "eigene Erfahrung". Hiermit im Widerspruch lehren andere Stellen (Seite 371, 380) eine vollkommen koordinierte Zusammengehörigkeit von Ich und Umgebung. Wie wir wissen, entspricht das letztere der Erfahrung, unter der Voraussetzung jedoch, daß das Ich, was SCHUPPE gerade  bestreitet,  mit dem konkreten Individuum zusammenfällt. Und nichts anderes, als dieser hier offen gelegte Widerspruch verbirgt sich hinter dem Schleier des einen ganzen Bewußtseinsinhaltes.

Fortwährend versichert uns der Philosoph, der Vorwurf der Vermengung von Sache und Vorstellung treffe ihn nicht; er unterscheide beides und ganz im Sinne der Erfahrung. Wer sollte ihm dies nicht glauben? Aber daneben nimmt er weiter etwas an, was der erfahrungsmäßigen Charakteristik von Sache und Vorstellung widerstreitet: er macht die Annahme, daß die Umgebung "Objekt" nicht in Bezug auf das konkrete Individuum, wozu auch sein eigener Körper gehört, sondern im Verhältnis zum ebensowohl entkörperten als entgeisteten Subjekt-Nichts sei.

Nun erst begreifen wir, weshalb gerade die Körperwelt einer "Erklärung" bedarf, das Subjekt aber nicht. Dadurch, daß der Gesamtinhalt der Erfahrung in das Subjekt gewandert ist, fließen Sache und Vorstellung ineinander.  Ich  habe ja keinen Körper mehr und da wir von einer Umgebung allein in Bezug auf das konkrete Individuum wissen, so ist nun auch die Umgebung nicht mehr Umgebung, sondern - "Bewußtseinsinhalt". Wie also erhebt sich jetzt - vom Standpunkt des Philosophen aus - die Frage: mit welchem Recht bezeichne ich gewisse Inhalte, die ja alle zum Bewußtsein gehören, Bestandteile des einen ganzen Bewußtseinsinhaltes sind - als außer mir befindliche Körper? Und nun die "Erklärung" selbst. Wir haben sie schon im bisherigen kennen gelernt. Wie alle philosophischen  Erklärungen  besteht auch diese darin, daß die einer  Erklärung  weder fähigen noch bedürftigen Grundbegriffe der Erfahrung zu Widersprüchen umgearbeitet werden und daran so lange fortgearbeitet wird, bis der Dialektiker, welcher ja allen Scharfsinn gegen die Erfahrung richtet, von dieser endlich im Stich gelassen, sich zuletzt selbst aushöhlt.

Insoweit SCHUPPE einfach die Zusammengehörigkeit des Ich und der Umgebung aussagt, bezeichnet er hiermit das Vorgefundene seinem allgemeinsten Inhalt und Zusammenhang nach. Statt nun aber weiter diesen Ausgangspunkt festzuhalten, um das Vorgefundene noch etwas mehr kennen zu lernen, verläßt der Philosoph seine usprüngliche Richtung und hebt die Grundbegriffe der Erfahrung dadurch auf, daß er die Umgebung als  Ausgesagtes  (eben den "Bewußtseinsinhalt") von den zugehörigen Unabhängigen: den Änderungen der Umgebungsbestandteile und unseres eigenen Körpers als Voraussetzungen des Ausgesagten ablöst und dafür auf das imaginäre Subjekt-Ich bezieht. In SCHUPPEs Weltbegriff kommt von den Unabhängigen gar nichts mehr vor; sie sind im Bewußtseinsinhalt, d. h. sofern wir bei diesem Wort überhaupt etwas denken wollen, im  Ausgesagten  rein untergegangen. Und weshalb wohl?

Eine Stelle auf Seite 381 glaube ich, gibt uns den erwünschten Aufschluß. Hier wendet sich der Philosoph gegen die Argumente, welche mit der Tatsache der zeitweiligen Unterbrechungen des individuellen Lebens durch Schlaf und Ohnmacht die Gleichsetzung von  Sein  und  Bewußtsein  bekämpfen. In Wahrheit jedoch geht SCHUPPE auf das angedeutete Argument mit keinem Wort ein; er sagt einfach, daß wir während des Schlafs nichts wissen, daß jene Intermissionen [Pausen - wp] ein "Gesetz unserer Natur", d. h. des "individuellen Bewußtseins" - daß folglich alles, was wir aussagen, unser waches Leben voraussetzt; und von einem  Sein  daher gar nicht anders, als daß eben jemand ein Sein aussagt, die Rede sein kann. Aber dies bestreitet ja kein Mensch. Denn daß Sonne, Mond und Sterne, der Erdkörper samt den Mitmenschen und Tiergeschlechtern ganz parallel mit den Unterbrechungen des individuellen Lebens in Schlaf und Ohnmacht, intermittieren - dies wollte uns der Philosoph doch nicht offenbaren?

Aber weshalb verschweigt er uns denn ganz und gar, daß alle die genannten Dinge der uns umgebenden Welt von uns und unserem Ausgesagten unabhängig und die Voraussetzung des Ausgesagten bilden? Vielleicht aus Furcht, daß die von uns unabhängigen Umgebungsbestandteile mit der Welt, wie sie an sich und ohne Beziehung auf uns besteht, verwechselt werden könnten? Wer jedoch diese Furcht hegt, hat sich von dieser Verwechslung selbst noch nicht frei genug gemacht; und deswegen vermag er die Umgebung nur als Ausgesagtes und das von uns Unabhängige nur als  Beziehungsloses,  absolut unbekanntes Nichts und d. h. gar nicht zu denken. Und dieser Widerspruch scheint unsere modernen speziellen Erkenntnistheorien darniederzuhalten; wie denn auch SCHUPPEs Ich-Subjekt in der Tat nichts ist, als der Gegenpol des Dinges an sich. Wer dieses letztere ausschaltet, kann auch das erstere nicht mehr länger festhalten; und es bleibt dann nichts mehr übrig, als die sich selbst vorstellende Vorstellung oder Rückkehr zum natürlichen Ausgangspunkt und bleibende Ansiedlung auf dem Boden, welchen uns eine konsequente Weiterführung dieses Ausgangspunktes anweist.

Bevor wir schließen, möchten wir indessen doch noch mit ein paar Bemerkungen darauf hinweisen, in welcher Weise SCHUPPE die sich ihm aufdrängende Frage umgeht: wie denn das Verhältnis des Bewußtseinsinhaltes zum Bewußtsein selbst zu denken sei?

Da (Seite 370) auch die Körperwelt mit zum Bewußtseinsinhalt gehört, so scheint einfach zu folgen, daß wir uns das Verhältnis rein räumlich und d. h. in einem Sinne zu denken haben, der uns noch deutlich das Subjekt-Ich als das zweite Individuum zeigt, welches das erste (den Körper) als Bewußtseinsinhalt inne hat. So aber, werden wir belehrt, soll die Sache nicht gemeint sein; das "im" Bewußtsein sei nicht räumlich, sondern im Sinne des "Objekts" zu verstehen. - Aber doch eben des räumlichen Objekts, d. h. des Körperobjekts und wenn nichts Räumliches, so haben wir uns also gar nichts zu denken. An anderer Stelle (Seite 376) wird uns weiter zugemutet, das Subjekt, welches den "Inhalt hat", nicht als zeitliches, wohl aber als "begriffliches Prius" (!) zu denken. - Das würdige, diesmal scholastisch verbrämte Gegenbild zum Körper, den wir uns als "Objekt", aber nicht als räumliches Objekt vorzustellen haben.

Gelegentlich (Seite 379 und 380) wird übrigens das abstrakt-begriffliche Moment des Ich-Subjektes durch das "generische Moment des Bewußtseins" ersetzt; und gewiß mit demselben Recht, mit welchen wir von der Null, durch Multiplikation derselben mit einem beliebigen Faktor immer wieder zur Null gelangen. Dementsprechend bezeichnet denn auch das "Angeknüpftsein der Außenwelt an es" (an das "generische Moment des Bewußtseins") nur ein "rein begriffliches Abhängigkeitsverhältnis", d. h. wie wir ergänzend und erläuternd hinzusetzen müssen: ein begriffliches Verhältnis, welches sich im Einklang mit dem abstrakt-begrifflichen Moment-Ich durch totale Inhaltslosigkeit, worin sich die Ich-philosophische Begriffsreinheit allein dokumentiert, auszeichnet.

Ganz und gar unverständlich endlich ist mir (Seite 373) das "Ich", welches sich "als in seinem Bewußtseinsinhalt zumnächst im unmittelbaren Gefühl seines ausgedehnten Leibes findet." - Und ebenso unverständlich klingt mir die unmittelbare Fortsetzung desselben Satzes, worin der eigene Körper als "Zentrum alles gegebenen Bewußtseinsinhaltes, um welches alles andere sich gruppiert" ausgesagt wird. Erst das Endstück des Satzes, worin das Ich "sich in diesem seinem Leibe in der ausgedehnten Welt mitten in Raum und Zeit findet" - stellt mir das Ich als guten Bekannten und, wie ich meine als  Bewohner  des Leibes vor. Und umgekehrt vermag ich (Seite 381) in der Auseinandersetzung, daß der Leib als Bewußtseinsinhalt niemals aus dem Bewußtsein herausfalle, da ja auch der Leichnam Inhalt des Bewußtseins der den Verstorbenen Überlebenden sei, nichts anderes zu sehen, als daß Ich und Leib ihre Stellen miteinander vertauscht haben und nun der Leib Bewohner und das Ich Bewohntes ist.

SCHUPPE wird uns nun vermutlich des Mißverständnisses beschuldigen, uns Unfähigkeit zu  höherer  Reflexion vorhalten; vielleicht uns auch den aufrichtigen Willen absprechen, der notwendig vorausgesetzt werden muß, um eine "neue" philosophische Ansicht, welche gar "keiner bisherigen Registratur" angehört, gebührend würdigen zu können. Dazu wäre indessen weiter nichts zu bemerken, als daß der Autor von seinem eigenen Werk eine ganz andere Meinung besitze, als wir selbst. Denn, wenn wir auch nur den  offenen Brief  berücksichtigt haben, so geschah dies keineswegs aus Übereilung. Daß SCHUPPEs umfangreiche "Erkenntnistheoretische Logik" als das Werk eines starken Geistes eine große anregende Kraft ausübt und viele wichtige und schöne Einzelergebnisse in sich birgt - wissen wir recht wohl; aber was Evidenz und Klarheit betrifft, deren sich der Philosoph gerade ganz besonders bewußt ist, kann der  offene Brief  füglich als getreues Spiegelbild des Hauptwerkes angesehen werden.

Die "Unarten und Schwächen" der Darstellung, welche sich SCHUPPE selbst beimißt, haben also vielleicht doch ihre tiefer liegenden Ursachen und sind nicht bloß das dürre Blatt, wohinter sich die süße Frucht verbirgt.

Zu einer prinzipiellen Variation des natürlichen Weltbegriffs, oder wie SCHUPPE es nennt, des "naiven Realismus", können wir uns daher keineswegs begeistern; dagegen glauben wir, der natürliche Weltbegriff in seiner ursprünglichen Naivität sei der Bearbeitung insofern durchaus bedürftig, als er in seiner rohen Gestalt noch alles ganz unbestimmt und offen läßt, so daß aus ihm zwei immer weiter voneinander sich entfernende Wege ihren Ursprung nehmen: der eine führt zur kritisch geläuterten reinen Erfahrung, der andere zu prinzipiellen, ihre Grundbegriffe verwüstenden Variationen derselben, was wir schon dem einzigen Umstand entnehmen können, daß SCHUPPE es unterließ, zwischen unserem eigenen Körper und jedem beliebigen anderen Körper zu unterscheiden; und schon aus diesem Grund allein, von allem anderen abgesehen, auf die schiefe Bahn des Absturzes hätte gedrängt werden müssen.
LITERATUR - Rudolf Willy, Das erkenntnistheoretische Ich und der natürliche Weltbegriff, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 18, 1894
    Anmerkungen
    1) Bestandteile und Organe unseres eigenen Körpers, wovon das Ausgesagte spezielle abhängig anzunehmen ist, zu unterscheiden, haben wir für unseren Zweck nicht nötig und wir begnügen uns, den Gesamtbestand unseres eigenen Körpers einfach anzudeuten.
    2) Da ich ohne weiteres voraussetze, daß der Leser aus dem Wort  Geist  den Sinn der von uns gekennzeichneten Abhängigen herauslese, scheue ich mich auch nicht, das entsprechende bequeme Wort der Gemeinsprache je nach Umständen einzuschalten.