tb-2J. JeansR. AvenariusC. GöringE. Boutroux    
 
HANS REICHENBACH
Der Aufstieg der
wissenschaftlichen Philosophie

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"Obgleich es uns oft nicht gelingt, die Ursache eines beobachteten Ereignisses zu finden, nehmen wir doch nie an, daß es ohne Ursache geschieht; sondern wir sind davon überzeugt, daß wir sie schon finden werden, wenn wir nur weiter danach suchen. Diese Überzeugung bestimmt die Methode der wissenschaftlichen Forschung und ist die treibende Kraft jedes wissenschaftlichen Forschung und ist die treibende Kraft jedes wissenschaftlichen Experiments. Wenn wir nicht an die Kausalität glauben würden, gäbe es keine Wissenschaft."

"Wir hoffen, daß unser Verstand in jeder zukünftigen Situation anpassungsfähig genug sein wird, logische Methoden zu liefern, die das gegebene Beobachtungsmaterial ordnen können. Das ist eine Hoffnung, kein Glaube, für den wir einen philosophischen Beweis zu haben behaupten. Wir können ohne absolute Gewißheit auskommen. Aber es war ein langer Weg zu dieser undogmatischen Einstellung. Die Suche nach Gewißheit mußte sich erst in den philosophischen Systemen der Vergangenheit ausleben, ehe wir in der Lage waren, eine Auffassung von Erkenntnis anzunehmen, die alle Ansprüche auf ewige Wahrheit aufgibt."

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DIE SUCHE NACH ABSOLUTER GEWISSHEIT UND DIE
RATIONALISTISCHE AUFFASSUNG DER ERKENNTNIS

Das vorige Kapitel hat uns deutlich gezeigt, daß viele dunkle philosophische Ansichten aus außerlogischen Motiven entspringen, die sich in den logischen Gedankengang einschleichen. So wird die durchaus verständliche Suche nach Erklärung durch allgemeingültige Gesetze in einer Art von Selbstbetrug mit Hilfe von sprachlichen Bildern befriedigt. Dieser Durchsetzung von Wissenschaft mit Dichtung kommt zugleich der Trieb entgegen, sich eine Phantasiewelt auszudenken; und dieser Trieb kann stärker als die Suche nach Wahrheit werden. Man kann den Trieb, in Bildern zu denken, ein außerlogisches Motiv nennen, da solches Denken keine Form von logischer Analyse darstellt, sondern psychologische Wünsche befriedigt, die nichts mit dem Intellekt zu tun haben.

Es ist noch ein zweites außerlogisches Motiv zu nennen, das ebenfalls oft in logische Prozesse störend eingreift. Obgleich das durch Sinneswahrnehmung erworbene Wissen im Großen und Ganzen für den täglichen Gebrauch genügt, merkt man doch bald, daß es nicht sehr zuverlässig ist. Es schein ein paar physikalische Gesetze zu geben, die ohne Ausnahme gelten, wie z. B., daß Feuer heiß ist, Menschen sterblich sind, oder daß Körper, die nicht von anderen Körpern getragen werden, herunterfallen. Aber gleichzeitig gibt es zu viele andere Regeln, die Ausnahmen haben, wie die Regel, daß der Samen, den man gesäet hat, keimen wird, oder die Wettregeln, oder die Regeln, nach denen man menschliche Krankheiten heilt. Und wenn man genauer hinsieht, dann entdeckt man sogar bei den strengeren Gesetzen Ausnahmen. So ist z. B. das Feuer der Leuchtkäfer nicht warm, wenigstens nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes "warm", und Seifenblasen steigen empor, wenn man sie nicht festhält. Zwar kann man diesen Ausnahmen Rechnung tragen, indem man das Gesetz schärfer faßt und die Geltungsbedingungen und Wortbedeutungen klarmacht; aber trotzdem bleibt gewöhnlich ein Zweifel übrig, ob die neue Formulierung wirklich ohne Ausnahme gilt und ob man auch sicher sein kann, daß spätere Entdeckungen der verbesserten Fassung nicht wieder Beschränkungen auferlegen. Die Entwicklung der Wissenschaft, mit ihrer fortwährend Überholungen älterer Theorien und deren Ersatz durch neue, liefert uns hinreichende Gründe für einen solchen Zweifel.

Diese Ungewißheit geht noch auf eine andere Quelle zurück; auf die Tatsache nämlich, daß sich unsere persönlichen Erlebnisse auf die wirkliche und auf die Traumwelt verteilen. Historisch gesprochen ist die Entdeckung dieses Unterschieds in einem relativ späteren Stadium der menschlichen Entwicklung gemacht worden. Wir wissen, daß primitive Völker noch heute keine klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Welten machen. Ein Südseeinsulaner träumt zum Beispiel, daß ein anderer Mann ihn körperlich bedroht; es kommt vor, daß er diesen Traum für Wirklichkeit hält und den angeblichen Feind tötet. Oder er träumt, daß ihn seine Frau mit einem anderen Mann betrügt, und führt dann einen ähnlichen Racheakt oder Gerechtigkeitsakt aus, wobei die Terminologie vom jeweiligen Standpunkt abhängt. Der Psychoanalytiker mag geneigt sein, den Mann bis zu einem gewissen Grade zu entschuldigen, indem er zeigt, daß solche Träume nicht ohne Ursache vorkommen und so, wenn nicht die Vergeltung, so doch wenigsten einen Verdacht rechtfertigen. Der primitive Mensch handelt aber nicht nach psychoanalytischen Überlegungen, sondern aus seiner Unfähigkeit heraus, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Wir glauben gewöhnlich, daß unser gesunder Menschenverstand uns gegen eine solche Verwechslung schützt; aber wenn wir schärfer hinsehen, müssen wir doch zugeben, daß man das gar nicht mit solcher Sicherheit behaupten kann. Während wir träumen, wissen wir nicht, daß wir träumen; erst später, wenn wir wach sind, erkennen wir unseren Traum als Traum. Wie können wir behaupten, daß unsere gegenwärtigen Erfahrungen zuverlässiger sind als die geträumten? Wir dürfen nicht sagen: weil wir fühlen, daß sie wirklich sind, denn dieses Gefühl haben wir auch im Traum. Wir können also die Möglichkeit nicht völlig ausschließen, daß spätere Erfahrungen uns beweisen, daß wir auch jetzt träumen. Dieser Einwand wird hier nicht vorgebracht, um den gewöhnlichen Menschen von seinem Vertrauen in seine Erfahrungen abzubringen; ich möchte nur zeigen, daß dieses Vertrauen nich absolut zuverlässig ist.

Die Philosophen haben sich immer von der Unzuverlässigkeit der Sinneswahrnehmungen beunruhigen lassen und haben sich auf ähnliche Beispiele wie die erwähnten bezogen. Weitere Gründe haben sie in optischen Täuschungen im wachen Zustand gefunden, und in der phiosophischen Literatur liest man viel über den scheinbar gebrochenen Stab im Wasser oder die Luftspiegelung in der Wüste. Viele führende Philosophen waren daher glücklich, als sie wenigstens ein Gebiet des menschlichen Wissens fanden, das von solchen Täuschungen frei zu sein schien, nämlich die Mathematik.

Wie oben erwähnt, hat PLATO die Mathematik immer als die höchste Form der Erkenntnis angesehen. Sein Einfluß hat im großen Maße zu der weitverbreiteten Auffassung beigetragen, daß Wissen nur dann wirkliches Wissen ist, wenn es in mathematischer Form erscheint. Der moderne Wissenschaftler, trotz seines ausgiebigen Gebrauchs der Mathematik, die ein überaus nützliches Werkzeug für seine Forschungen darstellt, würde diese Maxime nicht ohne weiteres annehmen. Er würde darauf bestehen, daß man die Beobachtung in der empirischen Wissenschaft nicht einfach weglassen kann, und würde der Mathematik nur die Funktion überlassen, Beziehungen zwischen den verschiedenen Resultaten der empirischen Forschung aufzustellen. Er benutzt diese mathematischen Beziehungen gern als einen Wegweiser zu neuen empirischen Entdeckungen; aber er weiß, daß sie ihm nur helfen können, weil er von Beobachtungsmaterial ausgegangen ist, und er ist immer bereit, die Ergebnisse mathematischer Schlußfolgerungen aufzugeben, wenn spätere Beobachtungen sie nicht bestätigen. Die empirische Wissenschaft, im modernen Sinne des Wortes, ist eine glückliche Kombination von Mathematik und Beobachtung. Ihre Resultate werden nicht als absolut sicher, sondern als höchst wahrscheinlich und für praktische Zwecke zuverlässig genug angesehen.

PLATO wäre dieser Begriff einer empirischen Wissenschaft völlig unsinnig erschienen. Wenn er Erkenntnis mit mathematischer Erkenntnis gleichsetzt, so will er damit sagen, daß die Beobachtung in der Wissenschaft überhaupt keine Rolle spielen sollte. "Wahrscheinlichkeitsüberlegungen sind Betrüger", hören wir von einem Schüler des SOKRATES im Dialog  Phaedo.  PLATO wollte Gewißheit, nicht die induktive Zuverlässigkeit, welche die moderne Physik für ihr einzig erreichbares Ziel hält.

Natürlich hatten die Griechen keine Wissenschaft, die man mit unserer Physik vergleichen könnte, und PLATO wußte nicht, was man durch die Kombination von Mathematik mit Beobachtung erreichen kann. Immerhin gab es ein Gebiet der Naturwissenschaft, das sogar schon zu Platos Zeiten großen Erfolg mit dieser Verbindng hatte, nämlich die Astronomie. Mit Hilfe von sorgfältigen Beobachtungen und geometrischen Beziehungen waren die mathematischen Gesetze des Umlaufs der Sterne und Planeten schon zu einem sehr hohen Genauigkeitsgrad aufgestellt worden. PLATO war jedoch nicht gewillt, den Beitrag der Beobachtung zur Astronomie zuzugeben, und bestand darauf, daß die Astronomie nur insofern Wissenschaft ist, als die Bewegung der Sterne mit Hilfe "der Vernunft und Intelligenz erkannt wird". Danach können uns Beobachtungen über die Sterne nicht viel über die Gesetze sagen, die ihren Umlauf bestimmten, denn ihre wirkliche Bewegung ist unvollkommen und nicht streng von Gesetzen beherrscht. PLATO sagt, die Annahme, daß die wirklichen Bewegungen der Sterne "ewig wären und keine Abweichungen zeigten", sei absurd. Er macht es sehr deutlich, was er vom beobachtenden Astronomen hält: "Ich meinerseits kann nicht glauben, daß ein anderes Wissen die Seele nach oben blicken lassen könne als jenes, das dem wahren und unsichtbaren Sein gilt! Wer dagegen nach oben gaffend oder nach unten blinzelnd versucht, etwas sinnlich Wahrnehmbares wissenschaftlich zu erfassen, wird nie und niemmer, so behaupte ich, wissenschaftlich lernen, weil etwas derartiges mit "Wissen" überhaupt nichts zu tun hat; und auch seine Seele blickt nicht hinauf zur Höhe, nein, in die Tiefe hinau - und läge oder schwömme er selbst auf dem Rücken, um zu lernen!" Statt die Sterne zu beobachten, sollen wir ihre Bewegungsgesetze durch Denken zu finden versuchen. Der Astronom soll die Gebilde am Himmel auf sich beruhen lassen und sein Problem mit der ihm von Natur gegebenen Vernunft lösen. Stärker als mit diesen Worten, die die Überzeugung aussprechen, daß Naturerkenntnis keine Beobachtung verlangt und durch den Verstand allein möglich ist, kann man die empirische Wissenschaft wohl kaum zurückweisen.

Wie kann man diese beobachtungsfeindliche Haltung psychologisch erklären? Die Suche nach Gewißheit verlanlaßt den Philosophen, den Beitrag der Beobachtung zur Wissenschaft völlig zu vernachlässigen. Da er absolut sichere Erkenntnis haben will, kann er die Resultate der Beobachtung nicht anerkennen; da Wahrscheinlichkeitsargumente für ihn Betrüger sind, macht er die Mathematik zur einzigen Wahrheitsquelle. Das Ideal einer vollständigen Mathematisierung der Wissenschaft, einer Physik, die vom gleichen Typus ist wie die Geometrie und die Arithmetik, entspringt dem Wunsch, absolut sichere Naturgesetze zu finden, und führt zu der lächerlichen Forderung, daß der Physiker seine Beobachtungen vergessen und der Astronom seine Augen von den Sternen abwenden soll.

Die philosophische Schule, die die Vernunft als Quelle der Naturerkenntnis ansieht, heißt  Rationalismus Man muß diese Bezeichnung und das Adjektiv  rationalistisch  sorgfältig vom Wort  rational  unterscheiden. Wissenschaftliche Erkenntnis wird durch rationale Methoden gefunden, die die Anwendung der Vernunft auf Beobachtungsmaterial verlangen; aber sie ist nicht rationalistisch. Dieses Prädikat charakterisiert nicht die heutige Wissenschaftsmethode, sondern eine philosophische Methode, welche die Vernunft als Quelle synthetischer Natuererkenntnis ansieht und für die Verifikation einer solchen Erkenntnis keine Beobachtungen benutzt.

In der philosophischen Literatur wird die Bezeichnung  Rationalismus  oft auf gewisse moderne rationalistische Systeme beschränkt, von denen Systeme vom platonischen Typus als idealistische unterschieden werden. Im vorliegenden Buch ist das Wort  Rationalismus  immer im weiteren, den Idealismus einschließenden Sinne gebraucht. Diese Bezeichnungsweise erscheint berechtigt, weil beide philosophischen Schulen sich insofern gleichen, als sie die Vernunft als unabhängige Erkenntnisquelle der physikalischen Welt ansehen. Der psychologische Ursprung des Rationalismus im weiteren Sinne ist ein außerlogisches Motiv, d. h. ein Motiv, das nicht aufgrund der Logik gerechtfertigt werden kann, nämlich die Suche nach Gewißheit.

PLATO war nicht der erste Rationalist. Sein größter Vorgänger war der Mathematiker und Philosoph PYTHAGORAS (um 540 vor CHRISTUS), dessen Lehren PLATO sehr beeinflußt haben. Man kann verstehen, daß der Mathematiker eher als andere Wissenschaftlicher zum Rationalismus geneigt ist. Da er den Erfolg der logischen Deduktion auf einem Gebiet kennt, das keine sinnliche Wahrnehmung verlangt, mag er glauben, daß man diese Methode auch auf andere Gebiete ausdehnen kann. Das Resultat ist eine Erkenntnistheorie, in welcher die aus der Vernunft stammende Einsicht die sinnliche Wahrnehmung ersetzt und welche die Annahme enthält, daß die Vernunft die besondere Fähigkeit besitzt, allgemeine Gesetze der Natur zu erkennen.

Sobald empirische Beobachtung als Erkenntnisquelle abgelehnt wird, ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Mystizismus. Wenn die Erkenntnis der Wahrheit aus der Vernunft geschöpft werden kann, mögen andere Schöpfungen des menschlichen Geistes ebenso vertrauenswürdig erscheinen wie eine solche Erkenntnis. Aus dieser Auffassung erwächst eine merkwürdige Mischung von Mystizismus und Mathematik, die seit ihrem Ursprung in der Philosophie des PYTHAGORAS nie ausgestoren ist. Seine religiöse Verehrung der Zahlen und der Logik veranlaßte ihn zu dem Ausspruch, daß alle Dinge Zahlen seien, eine Lehre, die man schwerlich in eine sinnvolle Aussage übersetzen kann. Die Theorie der Seelenwanderung, die wir im Zusammenhang mit PLATOs Ideenlehre besprochen haben, war eine der Hauptlehren von PYTHAGORAS, der sie von orientalischen Religionen übernommen haben soll. Wir wissen, daß PLATO diese Lehre aus seinen Beziehungen mit den Pythagoräern kannte. Auch die Auffassung, daß logische Einsicht die Eigenschaften der physikalischen Welt enthüllen kann, stammt von PYTHAGORAS. Seine Nachfolger trieben eine Art religiösen Kult, dessen mystischen Charakter man an gewissen Tabus erkennen kann, die ihnen von ihrem Meister auferlegt worden sein sollen. Es wurde ihnen z. B. gesagt, daß es gefährlich sei, den Abdruck seiner Körperform auf dem Bett zu hinterlassen; und sie mußten ihre Bettdecken glattstreichen, wenn sie morgens aufstanden.

Es gibt aber andere Formen von Mystizismus, die nichts mit Mathematik zu tun haben. Der Mystiker hat gewöhnlich antirationale und antilogische Vorurteile und verachtet die Macht der Vernunft. Er behauptet, daß er eine Art übernatürliche Erfahrung besitzt, die ihm die unfehlbare Wahrheit in einem Visionsakt liefert. Das ist der Mystizismus der religiösen Mystiker. Aber der außerhalb des Gebietes der Religion hat der antirationale Mystizismus keine große Rolle gespielt, und ich kann die Diskussion darüber in diesem Buch auslassen, da es sich mit der Untersuchung derjenigen Formen der Philosophie beschäftigt, die sich auf wissenschaftliches Denken beziehen und zu dem großen Streit zwischen Philosophie und Wissenschaft beigetragen haben. Nur der mathematisch geneigte Mystizismus fällt in das Gebiet dieser Untersuchung. In einer Hinsicht ist der mathematische Mystizismus mit nicht-mathematischen Formen verwandt, nämlich in der Bezugnahme auf Akte übersinnlicher Visionen; er unterscheidet sich aber von ihnen dadurch, daß er diese Visionen zur Aufstellung einer intellektuellen Wahrheit benutzt.

Natürlich ist nicht jeder Rationalismus mystisch. Auch rein logische Analyse kann zur Aufstellung einer Art von Erkenntnis benutzt werden, die als absolut sicher angesehen wird und sich doch angeblich auf Alltagswissen oder wissenschaftliche Erkenntnis bezieht. Die moderne Zeit hat mehrere rationalistische Systeme dieses nicht-mystischen Typus hervorgebracht.

Aus diesen Systemen möchte ich den Rationalismus des französischen Philosophen DESCARTES (1596 - 1650) herausgreifen. In vielen seiner Schriften betont er die Unsicherheit der sinnlichen Wahrnehmung in ähnlicher Form, wie wir sie oben besprochen haben. Die Ungewißheit aller Erkenntnis scheint ihn sehr gestört zu haben, und er machte der Heiligen Jungfrau das Gelübde einer Pilgerfahrt nach Loretto, wenn sie seinen Geist erleuchten und ihn die absolute Wahrheit finden lassen würde. Er berichtet, daß ihm diese Erleuchtung kam, als er während eines Winterfeldzuges, den er als Offizier mitmachte, in einem Ofen wohnte, und er zeigte der Heiligen Jungfrau seine Dankbarkeit, indem er sein Gelübde erfüllte.

DESCARTES' Beweis für absolute Gewißheit benutzt einen logischen Trick. Ich kann alles bezweifeln, meint er, bis auf eine Tatsache: nämlich, daß ich zweifle. Aber wenn ich zweifle, dann denke ich, und wenn ich denke, dann muß ich existieren. Auf diese Weise behauptet er, die Existenz des Ichs logisch bewiesen zu haben; seine magische Formel heißt: Ich denke, darum existiere ich. Wenn ich diese Schlußfolgerung einen logischen Trick nenne, will ich damit nicht sagen, daß DESCARTES seine Leser betrügen wollte, sondern eher, daß er selbst ein Opfer dieses Trugschlusses wurde. Logisch gesprochen gleich der Schritt vom Zweifel zur Gewißheit, den DESCARTES in seinem Schluß macht, einem Zauberkunststück: das Zweifeln benutzt er, um den Zweifel als Handlung eines  Ichs  hinzustellen, und glaubt, damit eine Tatsache gefunden zu haben, die man nicht bezweifeln kann.

Bei genauerer Analyse stellt sich der Trugschluß in DESCARTES' Folgerung heraus; denn der Begriff des Ichs ist nicht so einfach, wie DESCARTES geglaubt hat. Wir sehen uns selbst nicht in derselben Weise, in der wir Häuser und andere Menschen um uns herum sehen. Wir können vielleicht von einer Beobachtung unserer Denkakte oder unseres Zweifels sprechen, aber sie werden nicht als Produkte eines Ichs, sondern als selbständige Dinge, als eine Kombination von Bildern und Gefühlen wahrgenommen. Wenn man sagt "Ich denke", dann geht man über die unmittelbare Erfahrung hinaus, denn der Satz enthält das Wort "Ich". Die Aussage "ich denke" ist kein Beobachtungsdatum, sondern das Ende einer langen Gedankenkette, die zu der Entdeckung führt, daß die Existenz eines Ichs von der Existenz anderer Ichs verschieden ist. DESCARTES hätte sagen sollen "es denkt", um damit den Gedankeninhalt als solchen, unabhängig von Willensakten oder anderen psychologischen Eigenschaften des Ichs, zu betonen. Aber daraus hätte er nicht mehr dieselbe Schlußfolgerung ziehen können. Wenn die Existenz des Ichs kein Resultat der unmittelbaren Erfahrung ist, dann kann diese Existenz mit keinem höheren Grad von Sicherheit behauptet werden als die Existenz anderer Dinge, die man auch aus Beobachtungen zuzüglich anderer glaubwürdiger Annahmen ableitet.

Es ist kaum nötig, den Fehler in DESCARTES' Schlußfolgerung noch eingehender zu analysieren; denn selbst wenn sie haltbar wäre, würde sie nicht sehr viel beweisen und unsere Erkenntnis von anderen Dingen als dem Ich nicht absolut sichermachen - das ist aus der Art, wie DESCARTES sein Argument fortsetzt, ersichtlich. Zunächst schließt er, daß Gott existieren muß, weil das Ich existiert, sonst hätte das Ich nicht die Vorstellung eines unendlichen Wesens; dann behauptet er, daß die Dinge um uns herum auch existieren müssen, denn sonst wäre Gott ein Betrüger. Das ist ein theologisches Argument, das bei einem so ausgezeichneten Mathematiker, wie DESCARTES es war, sehr merkwürdig klingt. Die interessante Frage bleibt, wie es möglich ist, daß die Lösung eines logischen Problems, nämlich der Erreichbarkeit absoluter Sicherheit, mit einer Fülle von Arguementen gesucht wird, die ein Gemisch von Fehlschlüssen und Theologie sind und die kein moderner, wissenschaftlich gebildeter Leser ernst nehmen kann.

Die Psychologie der Philosophen ist ein Gebiet, das mehr Aufmerksamkeit verdient, als ihm gewöhnmlich in Darstellungen der Geschichte der Philosophie geschenkt wird. Ihr Studium kann unter Umständen mehr dazu beitragen, uns die Bedeutung dieser Systeme klarzumachen, als alle Versuche, sie logisch zu analysieren. DESCARTES' Schlüsse sind voll von schlechter Logik, aber psychologisch kann man sehr viel daraus lernen. Es war die Suche nach Gewißheit, die diesen genialen Mathematiker zu solchen pseudologischen Unsinnigkeiten getrieben hat. Es scheint, daß die Suche nach Gewißheit den Menschen den Forderungen der Logik gegenüber blind machen kann, daß ihn der Versuch, Erkenntnis auf Vernunft allein zu begründen, leicht dazu verführt, die Prinzipien strengen Denkens aufzugeben.

Die Psycholanalytiker erklären die Suche nach absoluter Gewißheit mit dem Wunsch, in die früher Kindheit zurückzukehren, in der man nicht vom Zweifel geplagt wird und volles Vertrauen in elterliche Einsicht hat. Dieser Wunsch wird oft noch durch eine Erziehung verstärkt, die das Kind dazu anhält, Zweifel als Sünde und Vertrauen als religiöses Gepräge seines Zweifelns, seinem Gebet um Erleuchtung und seiner Pilgerfahrt zusammenzubringen; denn es sieht so aus, als ob er sein philosophisches System gebraucht hat, um über einen ganz großen Unsicherheitskomplex hinwegzukommen. Ohne DESCARTES' Fall in einzelnen zu untersuchen, kann man doch ganz allgemein folgenden Schluß ziehen: Wenn das Resultat einer logischen Untersuchung durch eine vorgefaßte Meinung bestimmt wird, wenn nämlich die Logik dazu benutzt wird, ein Resultat zu beweisen, das man aus einem anderen Grund aufstellen möchte, dann führt das Argument sehr leicht zu Fehlschlüssen. Die Logik kann nur in einer Atmossphäre völliger Freiheit atmen und sich nur auf einem Boden entwickeln, auf dem weder Angst noch Vorurteile wachsen. Wer sich mit Erkenntnistheorie befaßt, muß seine Augen offen halten und gewillt sein, jedes Resultat anzunehmen, das wissenschaftliche Schlüsse an den Tag bringen, gleichgültig, ob dieses Resultat seiner Auffassung, was Erkenntnis sein sollte, widerspricht. Der Philosoph darf sich nicht zum Sklaven seiner Wünsche machen.

Dieses Gebot erscheint nur deshalb trivial, weil wir uns gar nicht klar darüber sind, wie schwer es zu befolgen ist. Die Suche nach Gewißheit ist eine der gefährlichsten Irrtumsquellen, weil sie mit der Behauptung einer höheren Art von Erkenntnis verbunden ist. Die Gewißheit des logischen Beweises wird als die ideale Erkenntnis angesehen und die Forderung aufgestellt, daß alle Erkenntnis Methoden benutzen soll, die ebenso zuverlässig sind wie die Logik. Um zu sehen, wohin eine solche Auffassung führt, wollen wir uns das Wesen des logischen Beweises einmal näher ansehen.

Der logische Beweis wird mit Hilfe der Deduktion geführt. Man zieht einen Schluß, indem man die Schlußfolgerung aus anderen Aussagen, den Prämissen des Argumentes, ableitet. Das Argument ist so aufgebaut, daß, wenn die Prämissen wahr sind, die Schlußfolgerung auch wahr sein muß. Aus den beiden Aussagen "Alle Menschen sind sterblich" und "Sokrates ist ein Mensch" können wir die Schlußfolgerung "Sokrates ist sterblich" ableiten. Das Beispiel zeigt, daß Deduktion leer ist: die Schlußfolgerung kann nicht mehr aussagen, als schon in den Prämissen gesagt ist; sie drückt nur gewisse Folgen aus, die schon unausgesprochen in den Prämissen enthalten sind. Der Schluß packt sozusagen aus, was in den Prämissen noch eingepackt war.

Der Wert der Deduktion besteht in ihrer Leere, denn da sie niemals etwas zu den Prämissen hinzufügt, kann man sie ohne das Risiko eines Fehlschlusses anwenden. Genauer gesagt ist dei Schlußfolgerung nicht weniger zuverlässig als die Prämissen. Die Deduktion hat die logische Funktion, Wahrheit von gegebenen Aussagen auf andere zu übrtragen - aber das ist auch alles, was sie tun kann. Sie kann keine synthetische Wahrheit aufstellen, wenn nicht eine andere synthetische Wahrheit schon bekannt ist.

Die Prämissen im Beispiel "Alle Menschen sind sterblich" und "Sokrates ist ein Mensch" sind beide empirische Wahrheiten, d. h. Wahrheiten, die aus der Beobachtung abgeleitet sind. Die Schlußfolgerung "Sokrates ist sterblich" ist daher auch eine empirische Wahrheit und hat keinen höheren Grad von Gewißheit als die Prämissen. Die Philosophen haben immer versucht, eine bessere Art von Prämissen zu finden, die völlig außer Zweifel stehen. DESCARTES hat geglaubt, daß er eine solche unbezweifelbare Wahrheit in seiner Prämisse "Ich zweifle" gefunden hatte; wir haben aber oben erklärt, daß das Wort "Ich" in dieser Prämisse angezweifelt werden kann und die Schlußfolgerung deshalb nicht absolut sicher ist. Der Rationalist wird es aber nicht aufgeben, sondern immer weiter nach unbezweifelbaren Prämissen suchen.

Und es gibt auch solche Prämissen; sie werden nämlich von den Prinzipien der Logik geliefert. Zum Beispiel, daß jede Größe sich selber gleich ist, oder daß jeder Satz entweder wahr oder falsch ist - das Sein oder Nichtsein des Logikers -, sind unbezweifelbare Prämissen. Leider sind sie aber auch leer, denn sie sagen nichts über die Welt aus. Sie sind Regeln, wie wir die Welt beschreiben, aber sie fügen nichts zum Inhalt dieser Beschreibung hinzu. Sie bestimmen nur ihre Form, d. h. die Sprache unserer Beschreibung. Die Gesetze der Logik sind daher  analytisch.  (Wir haben den Ausdruck oben in der Bedeutung von "selbstverständlich" oder "leer" eingeführt.) Im Gegensatz dazu sind Aussagen, welche uns über eine Tatsache informieren, wie Beobachtungen, die wir mit den Augen machen,  synthetisch,  d. h. sie fügen etwas zu unserem Wissen hinzu. Alle synthetischen Aussagen aber, die aus der Erfahrung stammen, können bezweifelt werden und geben uns keine absolut sichere Erkenntnis.

Ein Versuch, die so heißt ersehnte Gewißheit auf eine analytische Prämisse zu begründen, wurde in dem berühmten ontologischen Gottesbeweis gemacht, der im elften Jahrhundert von ANSELM von Canterbury aufgestellt worden ist. Der Beweis beginnt mit einer Definition Gottes als eines unendlich vollkommenen Wesens; da ein solches Wesen alle wichtigen Eigenschaften haben muß, so muß es auch die Eigenschaft der Existenz haben. Daraus wird der Schluß gezogen, daß Gott existiert. Die Prämisse ist tatsächlich analytisch, denn jede Definition ist analytisch. Da aber die Aussage über Gottes Existenz synthetisch ist, so stellt der Schluß einen Trick dar, mit dessen Hilfe eine synthetische Schlußfolgerung aus einer analytischen Prämisse abgeleitet wird.

Man kann den Fehlschluß leicht an seinen unmöglichen Folgerungen erkennen. Wenn es zulässig wäre, die Existenz aus einer Definition abzuleiten, könnte man die Existenz einer Katze mit drei Schwänzen beweisen, indem man dieses Tier als eine Katze, die drei Schwänze hat und existiert, definiert. Logisch gesprochen besteht der Fehlschluß in einer Verwechslung von Klassen mit Einzeldingen. Aus der Definition können wir nur die Allaussage schließen: wenn etwas eine Katze mit drei Schwänzen ist, dann existiert es; und das ist auch wahr. Aber die Einzelaussage, daß es eine Katze mit drei Schwänzen gibt, kann nicht daraus gefolgert werden. Ebenso können wir aus ANSELMs Definition nur die Aussage ableiten: wenn etwas ein unendlich vollkommenes Wesen ist, dann existiert es, aber wir können nicht beweisen, daß es so ein Wesen gibt. (ANSELMs Verwechslung von Klassen und Einzeldingen ist verwandt mit einer ähnlichen Verwechslung, die in der aristotelischen Theorie des Syllogismus Unheil angerichtet hat.)

IMMANUEL KANT (1724 - 1804) hat gesehen, daß synthetische Gewißheit nicht aus analytischen Prämissen abgeleitet werden kann, sondern absolut wahre synthetische Prämissen erfordert. Da er glaubte, daß es solche Aussagen gibt, nannte er sie  synthetisch a priori.  Das Wort "a priori" bedeutet "nicht aus der Erfahrung abgeleitet" oder "aus der Vernunft abgeleitet und notwendigerweise wahr". KANTs Philosophie ist ein grandioser Versuch, zu beweisen, daß es synthetisch apriorische Wahrheiten gibt, und historisch gesprochen stellt sie das letzte große System einer rationalistischen Philosophie dar. Er ist seinen Vorgängern PLATO und DESCARTES darin überlegen, daß er ihre Fehler vermeidet. Er legt sich weder auf die Existenz platonischer Ideen fest, noch schmuggelt er eine pseudo-notwendige Prämisse ein, wie DESCARTES. Er behauptet, daß er das synthetische Apriori in den Gesetzen der Mathematik und der Physik gefunden hat. Wie PLATO geht er von mathematischer Erkenntnis aus, aber er erklärt diese Erkenntnis nicht mit Hilfe der Existenz von Dingen, die eine höhere Wirklichkeit haben, sondern durch eine geniale Interpretation der empirischen Erkenntnis, die wir im folgenden behandeln wollen.

Wenn Fortschritt in der Geschichte der Philosophie in der Entdeckung grundlegender Fragen besteht, so muß man KANT wegen seiner Frage nach der Existenz des synthetischen Apriori ein großes Verdienst zuschreiben. Aber wie andere Philosophen beansprucht er dieses Verdienst zuschreiben. Aber wie andere Philosophen beansprucht er dieses Verdienst nicht für die Frage, sondern für die Antwort, die er darauf gegeben hat. Er formuliert die Frage sogar in etwas anderer Weise. Er ist so überzeugt von der Existenz des synthetischen Apriori, daß er es nicht für nötig hält, zu fragen, ob es eins gibt; und darum stellt er seine Frage in der Form: Wie ist ein synthetisches Apriori möglich? Der Beweis seiner Existenz, so fährt er fort, wird durch die Mathematik und die mathematische Physik erbracht.

Man kann sehr viel zur Verteidigung von KANTs Auffassung sagen. Daß er die Axiome der Geometrie für synthetisch a priori hält, zeigt tiefe EInsicht in die besonderen Probleme der Geometrie. KANT erkannte, daß die euklidische Geometrie eine Sonderstellung einnahm, weil sie notwendige Beziehungen zwischen physikalischen Dingen aufdeckte, die man nicht als analytisch ansehen konnte. Er macht diesen Punkt viel deutlicher als PLATO. KANT wußte, daß die Strende des mathematischen Beweises nicht die empirische Wahrheit der geometrischen Lehrsätze begründen kann. Geometrische Sätze, wie z. B. der Lehrsatz von der Winkelsumme im Dreieck oder der Pythagoräische Lehrsatz, können aus den Axiomen mit Hilfe strenger logischer Deduktion abgeleitet werden. Aber die Axiome selbst können nicht so abgeleitet werden. Aber die Axiome selbst können nicht so abgeleitet werden - das ist unmöglich, weil die Ableitung von synthetischen Schlüssen auf synthetische Prämissen basiert ist. Die Wahrheit der Axiome muß daher mit anderen Mitteln als der Logik begründet werden; sie müssen synthetisch apriori sein. Wenn man einmal festgestellt hat, daß die Axiome für physikalische Dinge wahr sind, dann ist die Anwendbarkeit der Lehrsätze auf diese Dinge durch die Logik garantiert, da die Wahrheit der Axiome mit Hilfe logischer Ableitungen auf die Lehrsätze übertragen wird. Wenn man umgekehrt davon überzeugt ist, daß man die geometrischen Lehrsätze auf die Wirklichkeit anwenden kann, dann gibt man damit zu, daß man an die Wahrheit der Axiome und damit an ein synthetisches Apriori glaubt. Und wenn jemand sich auch nicht gern öffentlich auf die Existenz eines synthetischen Apriori festlegen möchte, zeigt er doch in seinem Benehmen, daß er daran glaubt: er zögert nämlich in keiner Weise, die Resultate der Geometrie auf praktische Messungen anzuwenden. Dieses Argument, so behauptet KANT, beweist die Existenz des synthetischen Apriori.

KANT meint, daß man etwas Ähnliches für die mathematische Physik behaupten kann. Frage einen Physiker, sagt er, was das Gewicht des Rauches ist: er wird die Antwort finden, indem er den Gegenstand vor der Verbrennung wiegt und davon das Gewicht der Asche abzieht. Darin drückt sich die Annahme aus, daß die Masse erhalten bleibt. Das Gesetz von der Erhaltung der Masse, fährt KANT fort, erweist sich also als ein synthetisches Apriori, das der Physiker stillschweigend durch die Art seines Experiments anerkennt. Wir wissen heute, daß die Berechnungsweise, die KANT beschreibt, zum falschen Resultat führt, weil sie das Gewicht des Sauerstoffs, der mit der brennenden Substanz eine chemische Verbindung eingeht, außer acht läßt. Wenn KANT jedoch von dieser späteren Entdeckung gewußt hätte, würde er sich damit verteidigt haben, daß die verbesserte Methode zwar die Berechnungsweise ändert, aber dem Gesetz von der Erhaltung der Masse nicht widerspricht; dieses Prinzip liefert wiederum den Rahmen der Berechnung, wenn das Gewicht des Sauerstoffes mit in die Betrachtungen eingeschlossen wird.

Ein anderes synthetisches Apriori des Physikers ist nach KANT das Gesetz der Kausalität. Obgleich es uns oft nicht gelingt, die Ursache eines beobachteten Ereignisses zu finden, nehmen wir doch nie an, daß es ohne Ursache geschieht; sondern wir sind davon überzeugt, daß wir sie schon finden werden, wenn wir nur weiter danach suchen. Diese Überzeugung bestimmt die Methode der wissenschaftlichen Forschung und ist die treibende Kraft jedes wissenschaftlichen Forschung und ist die treibende Kraft jedes wissenschaftlichen Experiments. Wenn wir nicht an die Kausalität glauben würden, gäbe es keine Wissenschaft. Wie in den anderen Beispielen, die KANT anführt, ist die Existenz des synthetischen Apriori auch hier mit Hilfe der wissenschaftlichen Methode bewiesen: Die Wissenschaft setzt das synthetische Apriori voraus - diese Behauptung ist die Grundlage von KANTs philosophischem System.

Was KANTs Auffassung soviel Sicherheit verleiht, ist der wissenschaftliche Boden, auf den sie sich stützt. Seine Suche nach Gewißheit ist nicht vom mystischen Typus, der sich auf Einsicht in eine Welt von Ideen beruft; und sie ist auch nicht von einem Taschenspielertypus, der zu logischen Tricks greift, um die Gewißheit aus leeren Voraussetzungen herauszuholen, wie der Zauberkünstler aus einem leeren Hut ein Kaninchen herausholt. KANT setzt die ganze Wissenschaft seiner Zeit in Bewegung, um zu beweisen, daß absolute Gewißheit möglich ist, und behauptet, daß die Resultate der Wissenschaft den Traum des Philosophen zur Wirklichkeit machen. Von KANTs Auffassung geht soviel Überzeugungskraft aus, weil er an die Autorität der Wissenschaft appelliert.

Aber der Boden, auf dem KANT stand, war nicht so fest, wie er dachte. Er glaubte nämlich, daß die NEWTONsche Physik die höchste erreichbare Stufe der Naturwissenschaft darstellte, und deutete diese Physik in ein ideales philosophisches System um. Indem er die Gesetze der NEWTONschen Physik aus reiner Vernunft ableitete, glaubte er, die völlige Rationalisierung der Erkenntnis durchgeführt und das Ziel erreicht zu haben, das seinen Vorgängern nicht beschieden war. Der Titel seines Hauptwerkes,  Kritik der reinen Vernunft,  deutet in einem kurzen Schlagwort seinen Plan an, die Vernunft zur Quelle des synthetischen Apriori zu machen und durch eine philosophische Begründung die Mathematik und Physik seiner Zeit als notwendige Wahrheiten hinzustellen.

Es ist eine sehr merkwürdige Tatsache, daß so viele, die die Wissenschaft von außen betrachten und bewundern, mehr Vertrauen zu ihren Resultaten haben als die Fachleute, die aktiv an ihr mitarbeiten. Der Forscher kennt die Schwierigkeiten, die er überwinden mußte, ehe er seine Theorien aufstellen konnte. Er weiß ganz genau, daß es oft Glückssache ist, Theorien zu finden, die auf die gegebenen Beobachtungen passen und die auch mit späteren Beobachtungen in Einklang zu bringen sind. Er ist sich darüber klar, daß sich jeden Augenblick neue Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten zeigen können und behaupten niemals, die endgültige Wahrheit gefunden zu haben. Dagegen ist der Philosoph, der sich mit den Grundlagen der Naturwissenschaften befaßt, in Gefahr, gleichsam päpstlicher als der Papst zu sein und die wissenschaftlichen Resultate als viel sicherer anzusehen, als sie in Wirklichkeit sind, als sich nämlich mit der Tatsache vereinbaren läßt, daß sie auf Sinneswahrnehmungen und Verallgemeinerungen zurückgehen.

Der Philosoph ist aber nicht der einzige, der die Zuverlässigkeit der Wissenschaft überschätzt; sondern eine solche Überbewertung scheint einen ganz allgemeinen Zug der Neuzeit darzustellen, die mit GALILEO anfängt und das Zeitalter der modernen Wissenschaft umfaßt. Der Glaube, daß die Wissenschaft auf alle Fragen eine Antwort hat - daß jemand, der eine technische Auskunft braucht oder krank ist oder irgendwelche psychologischen Probleme hat, nur den Wissenschaftler zu fragen braucht braucht, um eine Antwort zu bekommen -, ist so weit verbreitet, daß die Wissenschaft eine soziale Funktion übernommen hat, die früher der Religion zufiel: nämlich die Funktion, absolute Sicherheit zu geben. Der Glaube an die Wissenschaft hat in einem sehr großen Ausmaß den Glauben an Gott ersetzt. Aber selbst wenn der Wissenschaftsgläubig die Religion für vereinbar mit der Wissenschaft hält, hat er doch eine ganz andere Einstellung zur Religion. Die Aufklärungszeit, in der KANT seine Werke schrieb, schaffte die Religion nicht ab; aber sie verwandelte sie in einen Vernunftglauben und machte Gott zu einem mathematischen Physiker, der allwissend war, weil er die vollkommene Einsicht in die Gesetze der Vernunft besaß. Kein Wunder, daß der mathematische Physiker wie eine Art Halbgott angesehen wurde, dessen Lehren als unfehlbar galten. Alle Gefahren der Theologie, ihre Dogmatik und ihre Macht über das Denken aufgrund ihres Versprechens, unbedingte Gewißheit zu bringen, kehren in einer Philosophie wieder, die die Wissenschaft als unfehlbar ansieht.

Wenn es KANT vergönnt gewesen wäre, die Physik und Mathematik von heute zu erleben, hätte er wahrscheinlich seine Philosophie des synthetischen Apriori aufgegeben. Darum muß man seine Werke als Dokumente ihrer Zeit ansehen, nämlich als seinen Versuch, den Hunger nach absoluter Gewißheit mit dem Glauben an die NEWTONsche Physik zu stillen. Man muß KANTs philosophisches System als einen ideologischen Überhau auffassen, den er auf einer Physik errichtete, die auf einen absoluten Raum, eine absolute Zeit und einen absouten Determinismus der Naturerscheinungen zugeschnitten war. Aus dieser Herkunft erklären sich Erfolg und Versagen des Kantischen System; und man versteht, warum KANT von vielen Menschen als der größte Philosoph aller Zeiten angesehen worden ist, während seine Philosophie uns, die wir Zeitgenossen der EINSTEINschen und BOHRschen Physik sind, nichts mehr zu sagen hat.

Der Zusammenhang der Kantischen Philosophie mit der Naturwissenschaft und Mathematik ihrer Zeit muß auch als Grund für die psychologische Tatsache angesehen werden, daß KANT nicht den schwachen Punkt gesehen hat, der die logische Begründung, mit der er das synthetische Apriori rechtfertigen wollte, hinfällig macht. Sein vorgefaßtes Ziel verhinderte ihn, stillschweigend eingeführte Voraussetzungen zu bemerken. Um meine Kritik ganz klarzumachen, möchte ich den zweiten Teil von KANTs Theorie des synthetischen Apriori besprechen, in welchem er die Frage "Wie ist ein synthetisches Apriori möglich?" beantwortet.

KANT behauptet, daß er die Existenz des synthetischen Apriori durch eine Theorie erklären könnte, welche nachweist, daß apriorische Prinzipien notwendige Bedingungen der Erfahrung sind. Er ist der Ansicht, daß bloße Beobachtung keine Erfahrung liefert, sondern daß Beobachtungen geordnet und organisiert werden müssen, bevor sie zu Erkenntnis werden können. Nach KANT ist die Organisation usneres Wissens von gewissen Gesetzen, wie z. B. den Axiomen der Geometrie, dem Gesetz der Kausalität und der Erhaltung der Masse, abhängig; diese Prinzipien sind dem menschlichen Geist angeboren, und wir benuten sie als Normen für unsere wissenschaftlichen Theorien. Sie gelten notwendigerweise, so schließt er, denn ohne sie wäre Wissenschaft unmöglich. Er nennt diesen Beweis die transzendentale Deduktion des synthetischen Apriori.

Man wird gern zugeben, daß KANTs Interpretation des synthetischen Apriori dem platonischen Versuch, diesen Punkt zu klären, weit überlegen ist. Um zu zeigen, auf welche Weise die reine Vernunft zu einer Naturwissenschaft kommen kann, nimmt PLATO an, daß es eine Welt idealer Dinge gibt, die von der Vernunft wahrgenommen werden kann und die die wirklichen Dinge beeinflußt. KANT braucht einen solchen Mystizismus nicht. Die Vernunft hat Kenntnis von der physikalischen Welt, weil sie selbst zu dem Bild beiträgt, das wir uns von der Welt machen - so argumiert KANT. Das synthetische Apriori hat einen subjektiven Ursprung; denn es ist ein Prinzip, das der menschliche Geist der menschlichen Erkenntnis aufzwingt.

Ich will versuchen, KANTs Erklärungen durch ein einfaches Beispiel leichter verständlich zu machen. Ein Mensch, der eine blaue Brille trägt, sieht alles blau. Wäre er mit dieser Brille geboren, so würde er Bläue als eine notwendige Eigenschaft aller Dinge ansehen, und es würde eine gewisse Zeit dauern, bis er entdeckte, daß er es ist oder vielmehr seine Brille, die die ganze Welt blau färbt. Die synthetisch-apriorischen Gesetze der Physik und der Mathematik sind die blaue Brille, durch die wir die Welt sehen; und wir sollten uns nicht darüber verwundern, daß jede Erfahrung sie bestätigt, denn wir können ohne sie überhaupt keine Erfahrung haben. (1)

Dieses Beispiel stammt nicht von KANT; und es würde dem Verfasser langatmiger Bücher, die mit lauter abstrakten Betrachtungen in gewundener Sprache angefüllt sind und den Leser nach konkreten Beispielen dursten lassen, sogar völlig fern liegen. Wenn KANT daran gewöhnt gewesen wäre, seine Ideen in der klaren und einfachen Sprache des Wissenschaftlers darzustellen, dann würde er vielleicht gemerkt haben, daß seine transzendentale Deduktion von sehr fragwürdigem Wert ist. Er würde nämlich gesehen haben, daß eine weitere Verfolgung seiner Argumente zu folgendem Resultat führt.

Nehmen wir einmal an, es sei richtig, daß es keine Erfahrung gibt, die jemals das Gegenteil der apriorischen Prinzipien beweisen kann. Das heißt, daß es immer möglich sein wird, alle Beobachtungen, gleichgültig welcher Art, so zu interpretieren und zu ordnen, daß diese Prinzipien befriedigt werden. Beispielsweise, wenn Messungen an Dreiecken gemacht würden, die dem Lehrsatz von der Winkelsumme im Dreieck widersprächen, so würden wir diese Abweichungen als Beobachtungsfehler bezeichnen und die gemessenen Werte derart berichtigen, daß der Lehrsatz der Geometrie befriedigt wäre. Wenn der Philosoph aber beweisen könnte, daß ein solches Vorgehen immer möglich ist, dann würde das heißen, daß diese Prinzipien leer und daher analytisch sind. Sie würden die möglichen Erfahrungen nicht einschränken und deshalb nichts über die Eigenschaften der physikalischen Welt besagen. Tatsächlich hat HENRY PONCARÉ unter dem Namen  Konventionalismus  eine derartige Ausdehnung von KANTs Theorie versucht. Er hält die euklidische Geometrie für eine Konvention, d. h. eine willkürliche Regel, die wir der Organisation unserer Erfahrung auferlegen. Die für diese Auffassung notwendigen Einschränkungen werden wir in Kapitel 8 besprechen. Um aber den Sinn des Konventionalismus auf einem anderen Gebiet als dem der Geometrie klarzumachen, betrachten wir einmal die Behauptung, daß alle Zahlen, die größer als 99 sind, mit wenigstens drei Ziffern geschrieben werden müssen. Diese Behauptung ist nur für das Dezimalsystem wahr und würde für eine andere Schreibweise, z. B. das Duodezimalsystem der Babylonier, welche die Zahl 2 als Grundlage ihres Zahlensystems angenommen hatten, hinfällig. Das Dezimalsystem ist eine Konvention, das wir für unsere Schreibweise benutzen, und wir können beweisen, daß alle Zahlen so geschrieben werden können. Die Behauptung, daß alle Zahlen über 99 mit wenigstens drei Ziffern geschrieben werden müssen, ist analytisch, wenn sie sich auf dieses System bezieht. Um KANTs Philosophie als Konventionalismus zu interpretieren, müßten wir beweisen, daß KANTs Prinzipien angesichts aller Erfahrungen durchgeführt werden können.

Einen solchen Beweis gibt es aber nicht. Wenn die apriorischen Prinzipien synthetisch sind, wie KANT glaubte, dann ist so ein Beweis überhaupt unmöglich. Das Wort "synthetisch" heißt ja, daß wir uns Erfahrungen vorstellen können, die den apriorischen Prinzipien widersprechen; und wenn wir uns solche Erfahrungen vorstellen können, die den apriorischen Prinzipien widersprechen; und wenn wir uns solche Erfahrungen vorstellen können, dann ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß wir sie eines Tages haben werden. KANT würde sagen, daß dieser Fall nicht vorkommen kann, weil die Prinzipien notwendige Bedingungen der Erfahrung sind, oder weil, mit anderen Worten, in einem solchen Fall Erfahrung in Form eines geordneten Beobachtungssystems nicht möglich wäre. Abwer woher weiß er, daß Erfahrung immer möglich sein wird? KANT hatte keinen Beweise dafür, daß wir niemals auf umfassende Beobachtungen stoßen würden, welche innerhalb des Rahmens seiner apriorischen Prinzipien nicht geordnet werden können und welche daher Erfahrung, zumindest in KANTs Sinn, unmöglich machen würden. Für das oben benutzte Beispiel würde dieser Fall eintreten, wenn die physikalische Welt keine Lichtstrahlen mit der Wellenlänge, die Blau entspricht, enthalten würde. Der mann mit der blauen Brille würde dann gar nichts sehren. Wenn sich der gleiche Fall in der Wissenschaft ereignete, wenn nämlich Erfahrung im kantischen Sinne unmöglich würde, dann würden sich seine Prinzipien als ungültig für die physikalische Welt herausstellen. Und da man nicht das Gegenteil beweisen kann, darf man diese Prinzhipien nicht a priori nennen. Die Forderung, daß Erfahrung im Rahmen der apriorischen Prinzipien immer möglich sein muß, ist die unerlaubte Voraussetzung in KANTs System steht und fällt. Daß er seine Prämisse nicht ausdrücklich formuliert, zeigt, daß die Suche nach absoluter Gewißheit ihn die beschränkte Gültigkeit seines Gedankenganges übersehen ließ.

Ich sage das nicht in der Absicht, dem Philosophen der Aufklärungszeit Vorwürfe zu machen. Wir haben es heute leicht, kritisch zu sein, weil wir ein späteres Stadium der Physik erlebt haben, in dem die kantische Erkenntnistheorie zusammengebrochen ist. Die moderne Physik erkennt weder die Axiome der euklidische Geometrie noch das Gesetz der Kausalität oder der Erhaltung der Masse als richtig an. Wir wissen, daß die Mathematik analytisch ist, und daß alle Anwendungen der Mathematik auf die physikalische Wirklichkeit, einschließlich der physikalischen Geometrie, nur empirische Gültigkeit haben und aufgrund späterer Erfahrungen berichtigt werden können. Wir wissen, mit anderen Worten, daß es kein synthetisches Apriori gibt. Aber wir sind zu dieser Einsicht erst gekommen, nachdem die NEWTONsche Physik und die euklidische Geometrie überholt worden sind. Wenn ein wissenschaftliches System aus seinem historischen Höhepunkt steht, kann man sich schwer vorstellen, daß es eines Tages zusammenbrechen könnte - aber es ist leicht, von diesem Zusammenbruch zu reden, wenn er einmal zur Wirklichkeit geworden ist.

Solche Erfahrungen haben uns gewarnt, darauf vorbereitet zu sein, daß jedes System zusammenbrechen kann - ohne uns jedoch zu entmutigen. Die moderne Physik hat uns gezeigt, daß wir Erkenntnis außerhalb des Rahmens der kantischen Prinzipien haben können, und daß der menschliche Geist kein starres System von Kategorien ist, in die er alle seine Erfahrungen hineinpackt. Und sie hat uns gezeigt, daß die Prinzipien der Erkenntnis sich mit ihrem Inhalt ändern und sich einer viel komplizierteren Welt als der der NEWTONschen Mechanik anpassen können. Wir hoffen, daß unser Verstand in jeder zukünftigen Situation anpassungsfähig genug sein wird, logische Methoden zu liefern, die das gegebene Beobachtungsmaterial ordnen können. Das ist eine Hoffnung, kein Glaube, für den wir einen philosophischen Beweis zu haben behaupten. Wir können ohne absolute Gewißheit auskommen. Aber es war ein langer Weg zu dieser undogmatischen Einstellung. Die Suche nach Gewißheit mußte sich erst in den philosophischen Systemen der Vergangenheit ausleben, ehe wir in der Lage waren, eine Auffassung von Erkenntnis anzunehmen, die alle Ansprüche auf ewige Wahrheit aufgibt.
LITERATUR: Hans Reichenbach, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, Berlin 1951
    Anmerkungen
    1) Man könnte darauf einwenden, daß ein Mensch, der mit dieser blauen Brille geboren wäre, keine anderen Farben als blau kennt und darum blaub gar nicht als Farbe erkennt. Um diese Folgerung zu vermeiden, wollen wir annehmen, daß er mit blauen Augenlinsen geboren ist, während seine Netzhaut und sein Nervensystem normal sind. Insofern als seine optischen Wahrnehmungen durch innere Reize hervorgebracht werden, würden sie also normal sein. Er würde daher in der Lage sein, in seinen Träumen andere Farben als blau zu sehen, und zu der Überzeugung kommen, daß die physikalische Welt gewissen Einschränkungen unterworfen ist, die für das Reich seiner Phantasie keine Gültigkeit haben. Er könnte unter Umständen sehr wohl herausfinden, daß diese Einschränkungen eine Folge der Beschaffenheit seiner Augenlinsen ist.