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GEORG LASSON
Kritischer und spekulativer Idealismus
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"Es läßt sich der Schritt gar nicht umgehen, durch den der Wert zu einem Moment der vernünftigen Wirklichkeit, die Geltung zur Wahrheit im konkreten System des Wissens wird."

"Der Mensch ist, weil er ein denkendes Wesen ist, an sich oder von Natur Idealist, auch wenn er es selbst nicht weiß. Es gibt für ihn ohne die Vermittlung seines Inneren keinerlei Wirklichkeit; daß er sich von dem allen unterscheidet, dessen er sich bewußt ist, auch von sich selber und dieses alles immer in Beziehung auf sich sieht und empfindet, macht ideell beständig die ganze Welt von ihm abhängig, wie stark er auch reell von ihr abzuhängen scheint."

"Man kann in den Dingen, deren Eindrücke auf uns die Wahrnehmungen hervorrufen, keine Kausalität nachweisen, denn die Kausalität ist unsere Vorstellungsart; deshalb ist es gänzlich ungewiß, ob die Welt unserer Wahrnehmungen irgendetwas mit der Welt der Dinge gemein hat."

Für den gegenwärtigen Stand der philosophischen Arbeit in Deutschland ist nichts so bezeichnend, wie das immer stärker hervortretende Verlangen nach irgendeiner Art von metaphysischer Systematik. Eine gleichsam unwiderstehliche Gewalt, die tiefer als das intellektuelle Räsonnement in das innere Leben des Menschen eingreift, treibt den Geist der Zeit auf die Suche nach überempirischer Wirklichkeit. Was auf dem Gebiet der gebildeten und der ungebildeten Vorstellung die seltsamsten Phantastereien erzeugt und die rückständigsten Wahngebilde neu belebt, das bringt sich innerhalb der methodischen Wissenschaft des Gedankens im Bewußtsein zum Ausdruck, daß der heute durchweg befolgten philosophischen Methode bei all ihrem formalen Scharfsinn oder gerade wegen ihres bloß scharfsinnigen Formalismus ein Mangel anhafte, den es zu beseitigen gelte. Nun wäre es durchaus verhängnisvoll, wenn diese Beseitigung von einem anderen Standpunkt aus versucht werden sollte als vom letzten, den die Philosophie in ihrer bisherigen Ausbildung glücklich erreicht hat; der Hinweis auf die Blüte zuchtlosen Aberglaubens in der Gesellschaft unserer Tage muß zur dringenden Warnung dienen, daß sich das Denken, weil ihm an der gegenwärtigen Gestalt der philosophischen Wissenschaft etwas fehlt, nicht auf längst überwundene Vorstellungen zurückziehe. Andererseits ist jener Rückfall in den Aberglauben ja gerade dadurch zu erklären, daß ein ursprüngliches Bedürfnis des Gemütes, dem die Zeitbildung keine legitime Nahrung zu bieten vermocht hat, sich mit Ungestüm eigenmächtige Befriedigung sucht und man darf sicher voraussetzen, daß sobald die ernsthafte Wissenschaft in Vernunft und Freiheit ihren eigenen Mangel zu ergänzen, ihre durch lange Gewöhnung an das Weiterarbeiten in bestimmter Richtung erworbene Einseitigkeit zu überwinden verstehen wird, jener Schaum der Willkürlichkeit und Abenteuerlichkeit aus dem gärenden Most des Gemütslebens ausgeschieden werden und nur der Drang nach einem Leben im Licht der Wahrheit übrig bleiben wird. Damit ist der Wissenschaft eine große Aufgabe gestellt, die ihr aber nicht von außen diktiert, sondern durch die Notwendigkeit ihres eigenen Fortschreitens in ihr selbst hervorgerufen wird und von da aus auf das Gesamtbewußtsein der Zeit einwirkt. Den freilich ist die Wissenschaft kein vereinzeltes Faktum, das vom großen Strom des wirklichen Lebens abgesperrt bleiben könnte; aus der Quelle der Erkenntnis, die sie sprudeln läßt, empfängt dieser Strom die wichtigsten Zuflüsse und wenn ihre Quelle einmal spärlich oder trübe rinnt, so leidet darunter das Gedeihen der Menschheit überhaupt.

Jahrzehntelang galt es bei den Philosophen als ausgemacht, daß es mit der Metaphysik ein für allemal zu Ende sei; wer in ihr noch ein berechtigtes Moment des wissenschaftlichen Denkens sah, galt für eine Art Fossil aus gänzlich begrabener Vergangenheit. Jetzt regt sich überall das Empfinden, daß die Wissenschaft ohne Metaphysik unvollständig sei und in ihr die Synthese finden müsse, auf die sich heute der Geist wieder richtet, nachdem er sich lange an der Analyse hat genügen lassen. Die Katastrophe des Weltkrieges hat einem Zeitalter den Untergang gebracht, das durch die Hingebung des Geistes an die Außenwelt charakterisiert war. Mit dem platten Materialismus und Mechanismus hat es begonnen; er war die nächste Auskunft, wo sich das Bewußtsein vom sogenannten Realen beherrschen ließ und sich in ihm zerstreute. Unmöglich aber konnte der Gedanke,der von Natur die Freiheit in sich trägt, auf dieser Stufe stehen bleiben; schon die Evolutionstheorie, die eben deshalb mit allgemeiner Begeisterung aufgenommen wurde, brachte in die bloße Geistlosigkeit einen Schimmer höherer Vernünftigkeit hinein, obwohl man sie ängstlich vor jedem Anklang an Teleologie und Ideenentwicklung zu schützen suchte. Den Retter vor dem Versinken in den Naturalismus fand das Denken dann in KANT; für die damalige Situation war es das Angemessene, daß er von  der  Seite aufgefaßt wurde, nach der er einerseits die Möglichkeit der Naturwissenschaft und andererseits die Unmöglichkeit einer rein verstandesmäßigen Erkenntnis des Transzendenten zu beweisen unternommen hat. Ein kritischer Positivismus und Agnostizismus wurde ausgebildet, der dann durch das Geltenlassen von Gemütswerten noch einer Welt der subjektiven Ideale neben der Welt der exakten Erkenntnis Raum gab; die Philosophie des "Als ob" ist der letzte konsequente Ausgang dieser Entwicklung. Indessen ließ die Zwiespältigkeit dieses Standpunktes ein Beruhen bei dieser Auffassung der kantischen Lehre nicht zu. Der Neukantianismus geht über die Scheidung von Objektivität und Subjektivität zurück zur kantischen Grundanschauung, die zwischen beiden eine unlösliche Korrelation feststellt und zwar so, daß überhaupt nur durch die Erkenntnis und in der Erkenntnis etwas objektiv ist. Hierdurch verringert sich der Abstand zwischen der Erkenntnis der empirischen Bewußtseinsinhalte und den Werten idealer Natur. Diese erscheinen als zu einer Objektivität der Kultur gehörig, die selbstverständlich nur durch die Vernunfttätigkeit möglich, ja nichts anderes, als Vernunfttätigkeit selbst ist, jene haben keinerlei von der Erkenntnis verschiedenes Sein, sondern sind nichts als Geltungsurteile. Das einzig Objektive, das so der Philosophie übrig bleibt, ist die Vernunfttätigkeit, das Erkennen selbst und die einzige Aufgabe der Philosophie ist die Selbstbestimmung des Erkennens, für das es keinen anderen Inhalt gibt, als seine eigene Tätigkeit. So entsteht ein äußerst folgerichtiger Logismus, die Anschauung eines in sich geschlossenen Ganzen intellektueller Tätigkeit, die indessen nach dem transzendentalen Prinzip des Kritizismus darauf beschränkt bleibt, die Erfahrungsmöglichkeiten zu bestimmen oder einem ursprünglich Bestimmungslosen zur erkenntnismäßigen Form zu verhelfen. Man würde sehr unrecht tun, wenn man nicht anerkennen wollte, daß in diesem Neukantianismus tatsächlich eine Weiterbildung des kritischen Idealismus über seine geschichtlich erste Erscheinungsform in KANT selber vorliegt. Vielleicht darf man sogar sagen, daß hierüber hinaus es ein Weitergehen in derselben Richtung nicht mehr gibt. Die Aufgabe wäre fesselnd genug zu zeigen, wie diese extreme Zuspitzung des Transzendentalismus mit der Gestalt der Bildung zusammenpaßt, die dem jetzt zuende gegangenen Zeitalter sein Gepräge gegeben hat. Uns obliegt eine andere Aufgabe. Nicht bloß von außen verstärkt sich der Widerspruch gegen diesen abstrakten Logismus; von ihm selbst aus bereitet sich eine Umkehr zur Versöhnung mit dem Leben der Wirklichkeit vor, von dem er sich tatsächlich allzuweit entfernt hatte. Ist es doch ungefähr der Standpunkt, wie ihn HERDER und JACOBI irrtümlicherweise KANT selber zugeschrieben haben, der Standpunkt einer Isolierung der Philosophie, der von der ganzen Welt nichts übrig läßt, als abstrakte Beziehungen von Denkakten, ohne doch diese Denkakte anders begreiflich machen zu können, als durch die Voraussetzung eines nicht weiter zu bestimmenden Anlasses für eben diese Denkakte. Aber gerade dieser vollständige Ausbau der Theorie trägt das Mittel zur Heilung ihres Schadens in sich selbst. Es läßt sich der Schritt gar nicht umgehen, durch den der Wert zu einem Moment der vernünftigen Wirklichkeit, die Geltung zur Wahrheit im konkreten System des Wissens wird. Die Art, wie ARTHUR LIEBERT durch die Untersuchung der Voraussetzungen der kritischen Philosophie den Weg zu einer neuen kritischen Metaphysik zu bahnen unternimmt, ist ein klarer Beweis dafür, daß sich im Neukantianismus eine Neuorientierung vollzieht.

In gewissem Sinne wiederholt sich damit die Bewegung, die vor nunmehr fünf Vierteljahrhunderten stattgefunden hat, der Fortschritt vom kritischen zum spekulativen Idealismus, der Weg von KANT zu HEGEL und es ist gewiß kein Zufall, daß, nachdem der Name HEGELs weit länger als ein Menschenalter hindurch in der deutschen Philosophie kaum noch genannt wurde, man heute überall der Bezugnahme auf ihn begegnet. Immerhin darf der große Unterschied zwischen der philosophischen Situation der Gegenwart und der Blütezeit des deutschen Idealismus nicht übersehen werden. Damals hat, mit KANT angefangen, der durchaus ein Führer zu neuen Zielen war, eine Reihe bahnbrechender Genien dem Geist der Zeit das Losungswort gegeben und ihn damit gleichsam über sich selbst emporgehoben. Damals sind, wenn auch durch Schranken des zeitgeschichtlichen Horizontes in der Durchführung vielfach gehemmt, die bleibenden Grundgedanken und beherrschenden Begriffe des Idealismus der reinen Vernunft und der Autonomie des selbstbewußten Geistes herausgearbeitet und formuliert worden. Damals machte der denkende Geist in wenigen Jahren eine Entwicklung durch, die ein Programm für Jahrhunderte in sich birgt. Heute muß die Philosophie mühsam darum kämpfen, die ihr gebührende Stellung im Geistesleben der Zeit wiederzugewinnen, die sie während des verflossenen Zeitalters an die sogenannten exakten Wissenschaften verloren hatte und noch ist kein Denker von dem Kaliber aufgetaucht, daß er das Bewußtsein seiner Zeit auf die Höhe der inneren Freiheit und Klarheit emporreißen könnte, von der es lange herabgeglitten ist. Heute gilt es, die von jenen großen Lehrern uns überkommenen Prinzipien sorgfältig auffassen, prüfen, durch- und weiterbilden und geduldig warten, ob und wann etwa die denkende Vernunft in ihrer Selbstbetrachtung noch hinter diese Prinzipien wird zurückgehen und eine noch tiefere Grundlegung ihrer eigenen Organisation wird finden können. Heute sieht sich das Denken auf den Weg einer langsamen, durch die Vergangenheit bestimmten Weiterarbeit an den Aufgaben gewiesen, die frühere schöpferische Zeiten ihm gestellt haben und muß sich bescheiden in den Fluß einer Entwicklung einreihen, der das Stichwort schon vor etlichen Menschenaltern gegeben worden ist. Dafür ist dann freilich auch vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt ein wichtiger Vorteil auf seiten der heutigen philosophischen Arbeit zu buchen. Wir stehen zeitlich jenen Anfängen der neuen philosophischen Betrachtungsweise jetzt fern genug, um sie unbefangen nach ihrer geschichtlichen Bedingtheit sowohl wie nach ihrem bleibenden Wahrheitsgehalt beurteilen zu können. Wenn den Chorführern der deutschen idealistischen Philosophie in den ersten Generationen ihrer Schüler fast durchweg nur Epigonen entstanden, die von ihren Meistern die Formel entlehnten, um sie bestenfalls in geistreichem Räsonnement auf den mannigfachsten Stoff anzuwenden, so liegt darin der beste Beweis, um wieviel die ursprünglichen Gedankenschöpfungen jener Großen über die Schranken ihrer Zeit hinwegragten. Nachdem sich inzwischen die Zeiten zweimal gänzlich gewandelt haben, nachdem die erste, unmittelbare Gestalt jener idealistischen Philosophie vom lebendigen Geist verlassen worden ist und als ein Denkmal der Vergangenheit dasteht, dem unser Nachdenken erst wieder Leben einflößen muß, sind wir auch eigentlich erst in den Stand gesetzt, uns mit freiem Verständnis an diese Philosophie heranzumachen, in sie einzugehen, ihre letzten Motive und den ihren geschichtlichen Ablauf beherrschenden Begriff zu erfassen. Wenn also jetzt der Weg vom kritischen zum spekulativen Idealismus wieder zurückgelegt werden sollte, so wäre das eine Wiederholung gleichsam in zweiter Potenz, eine Wiederholung mit dem Bewußtsein, daß, und mit der Einsicht, warum und wieweit es eine Wiederholung ist und sein muß.

Die Aufgabe, diese beiden Standpunkte zu vergleichen, läßt sich demnach nicht dadurch erschöpfend lösen, daß man nur den Hergang ihres ersten geschichtlichen Auftretens betrachtet und an der Form Kritik übt, in der sie sich damals gegeneinander erhoben und abgegrenzt haben. Es kommt darauf an, den prinzipiellen Unterschied ans Licht zu heben, der sie gleichzeitig trennt und eint und der, aller geschichtlichen Abwandlungen ungeachtet, unverändert derselbe bleibt. Daß dafür der Rückgäng auf die gleichsam klassische Zeit ihrer Ausbildung unerläßlich ist, versteht sich von selbst; ohnehin aber kann man sich heute zu jener Vergangenheit gar nicht anders hinwenden, als ausgerüstet mit dem Begriffsvorrat, in dem man durch die gegenwärtigen philosophischen Methoden heimisch gemacht worden ist. Der hier sich zeigenden doppelten Gefahr, in die früheren Theoreme moderne Beziehungen hinein zu interpretieren oder das heutige Denken an die Schemata vergangener Gedankenrichtungen zu binden, entgeht nur der, dem es gelingt, sich denkend über die zeitlichen Bedingtheiten sowohl von damals, wie von jetzt zu erheben und die Seele, den lebendigen Begriff zu erfassen, der sich in den verwandten Denkweisen verschiedener Zeiten verschiedenartig verkörpert. Naturgemäß wird sich auch da noch ein Unterschied, wenn nicht im endlichen Ergebnis selbst, aber doch im Ausgangspunkt, von dem man sich ihm nähert und in dem Weg bemerklich machen, auf dem man es erreicht, je nachdem man nämlich selber gewöhnt gewesen ist, sich in den Gedankenreihen des einen oder des anderen Standpunktes zu bewegen. In dieser Hinsicht hat es heute der Denker, der aus dem Lager des kritischen Idealismus stammt, leichter, Gehör zu finden, als wer von je an die Gesichtspunkte des spekulativen Idealismus sich zu eigen gemacht hat. Jenem werden zur Zeit die meisten Hörer und Leser mit willigem Vertrauen entgegenkommen, weil sie mit ihm den gleichen Gedankenansatz haben, während ihnen die Anschauungsweise, die der spekulative Idealist beim besten Willen, auf die Denkart der anderen Seite einzugehen, doch niemals ganz verleugnen kann, von vornherein befremdlich und sogar abstoßen erscheinen wird. Bedenkt man vollends, daß, sobald auf die tiefsten Funamente, auf die entscheidenden Differenzen zwischen beiden Standpunkten zurückgegangen wird, Gegensätze hervortreten, die nicht von heut und gestern stammen, sondern die Probleme des philosophischen Denkens von jeher gewesen sind, so tritt dem Versuch einer Verständigung noch eine weitere Schwierigkeit in den Weg. Es scheint nämlich, daß über diese letzten Unterschiede nichts Neues mehr gesagt werden könne; sie sind längst nach allen Seiten erörtert worden und von beiden Standpunkten aus hat man ihren Sinn, ihr Verhältnis zueinander, ihre geschichtlichen und gedanklichen Verbindungen und Entgegensetzungen in aller Sorgfalt auseiandergelegt. Das gilt ebenso von der Darstellung des Weges von KANT zu HEGEL, wie von der prinzipiellen Darstellung der Transzendentalphilosophie und des absoluten Idealismus. So lautet denn, wenn aus dem einen Lager wieder einmal eine solche Darstellung hervorgeht, die Antwort aus dem anderen, daß sie keine neuen Gesichtspunkte bringe und die Replik darauf beschwert sich, daß die Gegenseite immer wieder ihre längst widerlegten Argumente vortrage. Mit diesem gegenseitigen Vorwurf aber, daß der andere ständig nur auf sein erstes Wort zurückkomme, wenn man stundenlang vernünftig gesprochen hat, ist natürlich nichts ausgerichtet. Der Weg zur Verständigung zwischen beiden Lagern kann nur in dem einen Umstand gefunden werden, daß nicht von der Gegenseite her, sondern durch immanenten Fortschritt innerhalb der eigenen Denkweise der Anstoß gegeben wird, den eigenen Standpunkt zu revidieren und sich dadurch dem anderen zu nähern. Da gegenwärtig im Lager des kritischen Idealismus ein solcher Revisionsprozeß vor sich geht, so wird dem Vertreter des spekulativen Idealismus umso mehr die Bescheidenheit geziemen, diese Bewegung nicht durch rechthaberisches Auftrumpfen zu stören, sondern sich auf den Versuch beschränken, wie er Mißverständnisse, die eine Annäherung erschweren, aus dem Weg räumen und den Ausgleich der Gegensätze durch ihre möglichst klare Formulierung von seiner Auffassungsweise aus fördern könne.

Die folgenden Betrachtungen möchten in diesem Sinne verstanden werden. Sie sind veranlaßt worden durch das Erscheinen des dritten Bandes von ERNST CASSIRERs ausgezeichnetem Werk über die Geschichte des Erkenntnisproblems (1). Eine Besprechung des Buches, die seinem reichen Inhalt auch nur annähernd gerecht werden wollte, würde einen Umfang annehmen müssen, der sie selbst zu einem Buch anschwellen würde. Mit einer bloßen Lobpreisung der Sorgfalt und Klarheit des liebevollen Eingehens und nachfühlenden Verständnisses, womit der Verfasser die bunte Reihe der von ihm betrachteten Systematiker dem heutigen Denken nahebringt, würde ihm nicht gedient sein. Den besten Beweis für den Wert seines Buches wird die Tatsache liefern, daß es Gelegenheit zu fruchtbarer Diskussion bietet; und wenn wir zum Thema dieser Diskussion die Frage nach dem Verhältnis zwischen kritischem und spekulativem Idealismus wählen, so glauben wir damit das Problem aufgegriffen zu haben, das ebensowohl im Mittelpunkt des CASSIRERschen Buches wie der wissenschaftlichen Bemühungen seines Verfassers überhaupt steht. Denn für ihn vor allem ist das Bestreben bezeichnend, unter grundsätzlichem Verharren auf dem Standpunkt der kritischen Philosophie den Ertrag der Geisteskultur festzuhalten und weiter auszubauen, den wir den großen Vertretern des spekulativen Idealismus verdanken. Es wäre zu viel gesagt, wollte man seine Denkweise nach bekanntem Muster so bezeichnen: mit dem Kopf ein Kantianer, mit dem Herzen ein Fichteaner, wenn nicht gar ein Hegelianer; aber daß sein Herz GOETHE gehört und daß in GOETHE nicht bloß LEIBNIZ mit SPINOZA, sondern auch KANT mit SCHELLING und HEGEL in ganz wunderbarer Integration verschmolzen erscheinen, das wird man wohl behaupten und von daher das Interesse CASSIRERs für den spekulativen Idealismus herleiten dürfen. Da er in seinem Buch die historische Darstellung mit prinzipieller Auseinandersetzung regelmäßig verbindet und sogar am Schluß seiner Schilderung des HEGELschen Systems einen besonderen Abschnitt bringt, der vom "kritischen und dem absoluten Idealismus" handelt, so ermöglicht das Eingehen auf dieses Buch die Erörterung des Themas in seiner ganzen Bedeutung. Jedoch wird die Rücksicht auf den Raum uns dazu nötigen, aus der Fülle der einzelnen Punkte, die der Erörterung wert wären, nur einige herauszugreifen, die uns besonders dazu geeignet scheinen, Kopf und Herz in Rücksicht auf den spekulativen Idealismus zu versöhnen.

Es handelt sich für uns um zwei Formen des Idealismus, d. h. um zwei eng verwandte Denkweisen, deren Verschiedenheit eben darum so scharf hervortritt, weil sie sich so außerordentlich nahe stehen. Das Gemeinsame der beiden aber ist diejenige Stellung des wissenschaftlichen Denkens, die der tatsächlichen Stellung des Menschen in seiner Welt am genauesten entspricht. Der Mensch ist, weil er ein denkendes Wesen ist, an sich oder von Natur Idealist, auch wenn er es selbst nicht weiß. Es gibt für ihn ohne die Vermittlung seines Inneren keinerlei Wirklichkeit; daß er sich von dem allen unterscheidet, dessen er sich bewußt ist, auch von sich selber und dieses alles immer in Beziehung auf sich sieht und empfindet, macht ideell beständig die ganze Welt von ihm abhängig, wie stark er auch reell von ihr abzuhängen scheint. Infolgedessen ist inbesondere das theoretische Verhalten des Menschen als solches idealistisch und alle Philosophie, sie mag eine Richtung haben, welche sie wolle, ist deshalb, weil sie das scheinbar selbständige Objekt sich mit dem Verstand unterwirft und denkend erfaßt, Idealismus schlechthin. Auch der philosophische Materialismus kommt davon nicht los, Idealismus zu sein; er gibt eine gedankliche Konstruktion der Wirklichkeit und wenn er meint, die Wirklichkeit nur aufzunehmen, wie sie an sich ist, so fügt er ihr eben doch bereits durch dieses Aufnehmen eine Beziehung zum denkenden Subjekt hinzu und übersetzt sie aus einer Sphäre des bloßen Daseins in die Sphäre des Gedachtwerdens. Dem Denken konnte, sobald es anfing, sich auf sich selbst zu besinnen, dieses Verhältnis nicht lange verborgen bleiben; innerhalb der Philosophie hat sich von früh an als diejenige, die schließlich den entscheidenden Antrieb zur Fortbildung auch aller anderen neben ihr bestehenden Richtungen in sich trägt, der philosophische Idealismus entwickelt. Ganz im allgemeinen ist der als die Anschauung zu bezeichnen, die als das Wirkliche, das Wahre, das Geltende, das Wertbetonte - man mag die verschiedenen Ausdrücke zunächst freigeben - dasjenige erkennt, was der sinnlichen Wahrnehmung, der Erfahrung einer Außenwelt unzugänglich ist, Bestimmungen des menschlichen Inneren, Inhalte des Denkens, der Tätigkeit des Subjekts, die als bleibende Formen, erhaltende Gründe, leitende Zwecke am Wechsel der raumzeitlichen Erscheinungen nicht teilnehmen. Es ist das unsterbliche Verdienst der Antike, diese Inhalte in ihrer nächsten einfachen Bestimmtheit ans Licht gestellt und formuliert zu haben; sie hat den  objektiven  Idealismus geschaffen, dessen Hauptproblem die Frage bildet: was ist das Wahre? Es liegt auf der hand, daß davon die andere Frage nicht zu trennen ist: welches ist der Weg zum Wahren? Wenn PLATO in eingehenden Untersuchungen die Wahrnehmung, die Vorstellung, die richtige Meinung nicht als wissenschaftlich zureichende Mittel zur Wahrheitserkenntnis gelten läßt und das begriffliche Denken als den einzigen Weg zum wahren Wissen erweist, so treib er bereits Erkenntniskritik; diese alos ist nicht das Privileg des kritischen Idealismus. Wenn PLATO ferner von den Philosophen erklärt, daß sie sich im Sterben üben und aus der Welt der Erscheinungen verabschieden, um das Wahre zu erfassen, so vertritt er bereits einen Standpunkt, der das Erkennen transzendental bestimmt als von Bedingungen ausgehend, die in ihm selber liegen und alle Erfahrung erst möglich machen; auch der transzendentale Gesichtspunkt ist nicht erst im kritischen Idealismus aufgetaucht. Und wenn dann ARISTOTELES den Gegenstand der äußeren Erfahrung analysiert und als die beiden Momente, die ihn konstituieren, die Materie und die Form bezeichnet, die die Idee dieser Materie ist, so hat er damit die Erfahrung schon als das geistige Setzen einer Beziehung zwischen zwei für sich allein nirgend gegebenen oder möglichen Faktoren bestimmt. Es ist demnach zu sagen, daß im objektiven Idealismus der kritische bereits als ein noch nicht zur Selbständigkeit herausgebildetes Moment vorhanden ist.

Erst im Gefolge der Reformation tritt eine grundlegende Weiterbildung des Idealismus dadurch ein, daß sich das denkende Ich als das Prinzip der Selbstgewißheit und den Zentralpunkt des gesamten Bewußtseinsinhaltes erfaßt. Das Cartesische  cogito, ergo sum  erweckt zuerst einen Ontologismus, der die antike Metaphysik in eine Weltanschauung des aufgeklärten und vernünftigen Bewußtseins übersetzt und wird dann zur Grundlage eines  subjektiven  Idealismus, dem nichts als die Tatsache des Bewußtseins selbst gewiß ist. Die Welt ist die Welt unserer Wahrnehmungen; außerhalb unserer Wahrnehmungen von einer materiellen Welt zu reden hat keinen Sinn: die "Dinge" existieren nur im wahrnehmenden Geist. Mit diesem subjektiven Idealismus könnte der absolute zusammenzufallen scheinen, wenn nicht der Ausgangspunkt, die Wahrnehmung, selbst nicht das reine, durch sich selbst bestimmte, sondern vielmehr das zufällige, natürlich bestimmte Subjekt voraussetzte; man kann deswegen auch BERKELEY auch unter die Sensualisten rechnen. Die Analyse der Erfahrung führt nun aber zu der Erkenntnis, daß die Welt unserer Wahrnehmungen gar nicht durch die einzelnen Wahrnehmungen ihre Gestalt erhält, sondern durch die Formen, in denen der denkende Geist diese Wahrnehmungen miteinander verknüpft. Hier ist der Wendepunkt des philosophischen Denkens der neuen Zeit erreicht. Denn von dieser Erkenntnis aus fällt einerseits jede Möglichkeit weg, eine Realität der Außenwelt gesondert von der Aktivität des Bewußtseins festzuhalten und eröffnet sich andererseits den Weg, Außenwelt und Innenwelt, Natur und Freiheit in den vernünftigen Zusammenhang einer einheitlichen geistigen Produktion hineinzustellen. Den Nachweis des ersten Satzes hat HUME geliefert: die Kategorien gehören unserem Verstand, nicht den Dingen an; also ist die Welt, wie wir sie uns vorstellen, eine durch unsere Verstandesformen erzeugte  fable convenue  [ohne weitere Prüfung als wahr angenommen - wp]. Man kann in den Dingen, deren Eindrücke auf uns die Wahrnehmungen hervorrufen, keine Kausalität nachweisen, denn die Kausalität ist unsere Vorstellungsart; deshalb ist es gänzlich ungewiß, ob die Welt unserer Wahrnehmungen irgendetwas mit der Welt der Dinge gemein hat. Bei dieser Schlußfolgerung widerfährt HUME freilich das Mißgeschick, daß er die Kausalität, deren objektive Gültigkeit er bestreitet, gerade an der entscheidenden Stelle selbst gelten lassen muß; er müßte, ganz wie BERKELEY im subjektiven Idealismus stehen bleiben, wenn er nicht die Perzeptionen und Sensationen als  verursacht  durch äußere Einwirkungen auffaßte. So ruht sein Empirismus auf einem offenkundigen Selbstwiderspruch; es wird hier unausweichlich klar, daß eine Zweiteilung in eine Welt der Dinge und in eine Welt des Bewußtseins in dem Augenblick unmöglich geworden ist, wo die kategoriale Form jeder Erkenntnis, auch der empirischen außer Zweifel steht.

Die Philosophie ist damit an dem Punkt angekommen, sich ihres eigentlichen Charakters bewußt zu werden; haben wir oben bemerkt, daß sie ihrem Wesen nach Idealismus sei, so wird nun dieses ihr Wesen auch zu ihrer Tat. Hierin liegt die epochemachende Bedeutung der kantischen Philosophie; KANT erhebt die Idee der Philosophie zur lebendigen Substanz seines Systems und macht mit der Erkenntnis ernst, daß das vernünftige Subjekt, das denkende Ich der Schöpfer der Wirklichkeit, daß bereits die Welt der äußeren Erfahrung eine Welt des Geistes und daß die Freiheit die fundamentale Bestimmung der Vernunft ist. Das ist, könnte man sagen,  absoluter  Idealismus; wenn zwischen diesem und dem  Kritizismus  dennoch eine scharfe Trennlinie gezogen wird, so liegt der Grund dafür jedenfalls nicht in einer verschiedenen Stellung dieser beiden Richtungen zu den Methoden des vorkritischen Denkens. Es ist einfach ein sachlicher Irrtum, wenn man dem absoluten Idealismus vorwerfen möchte, er sei in den Dogmatismus der ontologischen Metaphysik zurückgefallen. Daß während seiner Ausbildung sein Prinzip nicht gleich in allen Beziehungen rein durchgeführt worden ist, besagt so wenig gegen das Prinzip, wie die mannigfachen Residuen von Psychologismus und Empirismus bei KANT etwas gegen dessen kopernikanische Tat besagen. Der absolute Idealismus ist mit dem kritischen völlig eins, soweit es den Unterschied von den übrigen philosophischen Standpunkten gilt, die dem Leben des Geistes irgendeine dingliche, geistfremde Wirklichkeit vorausschicken und es davon abhängig sein lassen. Er ist selbst mit Bewußtsein kritisch und bemängelt am Kritizismus nur, daß dieser nicht zum Bewußtsein davon kommt, daß an sich auch der bereits absoluter Idealismus ist. Was also die beiden Standpunkte trennt, ist eine immanente Verschiedenheit, eine Unähnlichkeit von Geschwistern. Es handelt sich allein um die Beantwortung der Frage: wie weit kann die Vernunft durch ihr Denken in der Erkenntnis ihrer selbst kommen? Während hier der kritische Idealismus eine nie ganz aufzuhebende Schranke statuiert und die Vernunft an eine ihr unentbehrliche und von ihr nicht überwindbare Gegebenheit, ein mit ihr zugleich gesetztes Irrationales und eine ihr naturnotwendig anhaftende Mehrheit von Anlagen und Vermögen bindet, will der absolute Idealismus den Gedanken der Spontaneität der Vernunft bis zu Ende denken und behauptet das Recht einer Vernunftphilosophie, für die alle scheinbare Gegebenheit und alles scheinbar Irrationale als freie Setzung des Geistes erkannt wird, der sich selbst und alles andere produziert. Die Kritik der Vernunft, die dieser absolute Idealismus übt, bleibt also nicht beim Feststellen von Schranken stehen, sondern wendet sich auch kritisch diesem Feststellen zu und findet den Grund dafür in der Selbsttätigkeit des Geistes, der, indem er sich selber Schranken bereits hinaus und ihr eigener Schöpfer ist. Weil das Denken so das Ganze aller Erkenntnisse und Bewußtseinsinhalte in einem aus seiner eigenen Vernünftigkeit und Freiheit erzeugten vernünftigen Zusammenhang schaut, der durch sich selbst klar und in dem sich die Vernunft selbst durchsichtig ist, trägt diese Form des philosophischen Idealismus den Namen des  spekulativen  Idealismus. Dieser behauptet von sich, daß er die rechtmäßige Durchführung des von KANT aufgedeckten Prinzips darstelle, daß also der Weg vom kritischen zum spekulativen Idealismus der notwendige Weg des vernünftigen Denkens sei. Der Kritizismus wiederum gibt heute im Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung, ohne weiteres zu, daß dieser Weg freilich einmal gedacht werden mußte und auch in seiner Weise die Philosophie mannigfach gefördert hat, sieht aber doch in ihm ein Abenteuer des Gedankens, eine Hybris der menschlichen Vernunft, die deshalb seinerzeit mit kläglichem Zusammenbruch bestraft worden und stets zu erneutem Scheitern auf ewig verdammt sei. Lange schien dieses Urteil das endgültige zu sein; die Gegenwart zeigt, daß eine Nachprüfung unerläßlich ist. Sehen wir zu, welches Material CASSIRER dafür beibringt.

Wir greifen zunächst eine Reihe von Bemerkungen heraus, in denen CASSIRER sehr nachdrücklich den ursprünglichen Neukantianismus als noch unfertig charakterisiert. Ganz im Sinne echter geschichtlicher Auffassung sagt er (Seite 2): "Der Zerfall des kritischen Systems in seine einzelnen verschiedenartigen Elemente bedeutet zugleich die Vorbedingung und den Anfang eines neuen Verständnisses seines begrifflichen Aufbaus" und bezeichnet als die Gruppe von Begriffen, in denen das Problem des kritischen Systems sich ausdrückt und die deshalb der weiteren Bearbeitung durch die nachkantischen Systeme anheimfallen mußten, die Begriffe des Dings ansich, der synthetischen Einheit, des Gegensatzes von Form und Materie und des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem innerhalb der Erkenntnis. In diesen Begriffen und Problemen liege ein intellektuelles Bezugssystem vor, auf das alle charakteristischen und entscheidenden Einzelbestimmungen in den Lehren der maßgebenden Denker von REINHOLD bis HEGEL hinweisen (Seite 3). Wenn sich wohl zu diesen Begriffen und Problemen noch manche nicht minder fundamentale hinzufügen lassen würden, die durch die kantische Lehre noch nicht zur Klarheit gebracht worden waren, so darf man CASSIRER ohne weiteres beistimmen, daß die von ihm genannten in der Tat den kritischen Punkt innerhalb des Kritizismus betreffen; sie können im Problem eines ursprünglichen und durchgängigen Dualismus zusammengefaßt werden. Freilich erhebt sich dann auch sofort die Frage, worauf eigentlich KANTs Absicht gegangen sei, auf die Überwindung dieses Dualismus, den er aus der zeitgenössischen Philosophie übernommen hatte, durch seine Einordnung unter die Einheit des autonomen denkenden Subjekts oder auf die Neubegründung des Dualismus, den er der dogmatischen Metaphysik entgegenstellte, durch das Festhalten am Phänomen der sinnlichen Erfahrung. Daß er sich zur Abwehr des Dogmatismus immer wieder dem fruchtbaren Bathos [Gegenüberstellung eines höheren Wertes zu einem niedrigeren - wp] der Erfahrung zugeneigt hat, ist gewiß unbestritten. Aber ebensowenig läßt sich verkennen, daß er über die ursprüngliche Entgegensetzung der in der Erfahrung vorgefundenen Elemente hinaus einer Synthese zugestrebt hat, die mehr bedeutete, als die bloß formal logische Korrelation dieser Elemente im Denkprozeß. Er ist zu dieser Synthese durch eine Erweiterung des Erfahrungsbegriffs gelangt, den er aus der Sphäre der sinnlichen auf die der sittlichen Erfahrung ausdehnte und man sollte endlich aufhören das wegzuleugnen, was er selbst offen erklärt hat, daß ihm die kritische Analyse der Bedingungen einer möglichen sinnlichen Erfahrung ausdrücklich hat dienen sollen, die Unbedingtheit der praktischen Vernunft, die Selbstgewißheit des moralischen Willens festzustellen und eine Wirklichkeit der inneren Erfahrung zu erweisen, in die sich die Welt der äußeren Erfahrung zu erweisen hat. Die praktische Freiheit wird durch Erfahrung als eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens erkannt (Kr. d. r. V., 2. Auflage, Seite 81); dem bestirnten Himmel über mir tritt das moralische Gesetz in mir als Erfahrungstatsache zur Seite. Diese Tatsache aber ermöglicht nun mittels des Begriffs der Autonomie die konkrete Synthese von Phänomenen und Noumenen.

Die Tendenz KANTs auf den einheitlichen Aufbau der Erkenntnis aus ihrer eigenen Gesetzlichkeit bezeichnet CASSIRER als den Kern der Vernunftkritik. Rückhaltlos gibt er zu, daß die ersten Abschnitte der Kritik der reinen Vernunft den Sachverhalt, den KANT aufzudecken beabsichtigt, "noch nirgends in voller Klarheit hervortreten lassen" (Seite 7). Auch die Darstellung in den Prolegomena gibt er einfach preis (Seite 9). Er betont, daß sich in KANTs Stil "der Kampf zwischen dern neuen logischen Begriffsansicht und der empirischen Dingansicht fortsetzt und darin seinen deutlichsten Ausdruck erhält" (Seite 5). Den Ausdruck "Anlagen" für die Voraussetzungen der Form aller Erkenntnis, den Ausdruck "Affektion durch die Dinge ansich" für die Voraussetzungen zu materialer Begriffsbestimmung nennt er Symbole für das Problem des Kritizismus, nicht Lösungen. Er meint, daß auf dem Boden der transzendentalen Ästhetik "das Ding einstweilen nur als ein unbegriffener Rest erscheinen muß, der für das Wissen zurückbleibt." Das Gemüt und die Dinge ansich treten hier als absolute, für sich bestehende Potenzen auf; "die originale und tiefere Frage, wie sich die Welt der Erfahrung als eine einheitliches Ganzes des Sinnes und der Erkenntnis konstituiert", bleibt noch verdeckt (Seite 7). Er mit der transzendentalen Logik tritt der kantische Gedanke klar zutage: indem die Bestimmung der Gegenständlichkeit schlechthin kategorialen Charakter erhält, "scheint es jetzt freilich, als habe die Vernunftkritik hier in dem Ziel, zu dem sie jetzt gelangt ist, ihren eigenen Anfang zunichte gemacht" (Seite 8). Das heißt,  es ist in der Tat aus dem Dualismus von Sein und Denken ein monistischer Idealismus der logischen Beziehungssysteme von Gedankenbestimmungen geworden;  was ihn vom Gipfelpunkt des absoluten Idealismus, dem "Sichselbsterkennen im absoluten Anderssein" noch trennt, ist nur der Umstand, daß die Beziehung in der Form der Reflexion ursprünglich entgegengesetzter Momente aufgefaßt und also das Denken mit einer von ihm nicht auflösbaren Gegebenheit belastet wird.

Daß der Kantianismus zu solch idealistischer Einheitslehre hintreibt, erläutert CASSIRER ferner sehr interessant an der kritischen Auffassung des aposteriorischen Urteils. Er weist nach, daß, da die Kategorien die notwendige Bedingung aller möglichen Wahrnehmungen sind, die empirische Tatsache selbst in dem, was gerade ihren eigentümlichen Selbstcharakter ausmacht, durch nichts anderes konstituiert wird, als durch jenes reine Geltungsmoment, das im Gedanken der apriorischen Synthesis festgehalten ist (Seite 10). Aus dem besonderen Dialekt der Schule in die geläufigeren Ausdrücke des überlieferten philosophischen Sprachgebrauchs übersetzt, besagen diese Worte, daß die vollstände Form der Erkenntnis nicht im Urteil, sondern im Schluß zu finden ist und daß jedem besonderen Erfahrungsurteil immer bereits ein Vernunftschluß zugrunde liegt, der eine Erkenntnis überhaupt erst möglich macht. Es zeigt sich hier der einheitliche Erkenntnisgrund, der Boden einer synthetischen Vernunfttätigkeit, die, wie CASSIRER sagt, zwischen den gegensätzlichen Bedeutungsmomenten, dem Notwendigen und dem Zufälligen, dem Allgemeinen und dem Einzelnen, dem Gesetz und der Tatsache, die wesentliche Verknüpfung bewirkt, ohne die Gegensätze, die isoliert nicht bestehen können, aufzulösen (Seite 10). So entsteht für die kritische Betrachtung der Grundgegensätze "stets die Doppelaufgabe: eine unlösliche Korrelation zwischen Bestimmungen zu schaffen, ohne sie ihrem Begriff nach in einander aufgehen zu lassen" (Seite 11). Merkwürdigerweise hat CASSIRER nicht gesehen, daß er hiermit das Wesen der vielberufenen dialektischen Methode genau beschrieben hat.  Die kritische Methode ist tatsächlich ihrem Wesen nach eine dialektische Methode;  was sie von deren reiner Ausbildung und bewußter Übung noch trennt, ist nur der Umstand, daß sie vorstellungsmäßig die reinen Gedankenbestimmungen selbst wieder in der Weise einander repellierender [ausschließender - wp] Einzeldinge auffaßt und den Sinn der Identität des Unterschiedenen oder den Begriff der übergreifenden geistigen geistigen Einheit nicht erreicht. Ihre Dialektik bleibt deshalb in Reflexionsbestimmungen stecken und kommt nicht zu einer lebendigen Systematik des Allgemeinen und Besonderen.

LITERATUR - Georg Lasson, Kritischer und spekulativer Idealismus, Kant-Studien, Bd. XXVII, Berlin 1922
    Anmerkungen
    1) ERNST CASSIRER, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft unserer Zeit, 3. Band. Die nachkantischen Systeme, Berlin 1920