ra-2A. MeinongA. MesserE. DürrJ. BahnsenF. MünchF. Ackenheil    
 
CHRISTIAN von EHRENFELS
Von der Wertdefinition
zum Motivationsgesetz


"Zur Werthaltung ist also nötig ein Gefühl (Lust oder Unlust) und ein Existenz-Urteil (Bejahung oder Verneinung), welche denselben Inhalt haben und in kausaler Verbindung stehen, derart, daß dem Urteil die Rolle der Ursache, dem Gefühl diejenige der Wirkung zukommt. Wert erscheint dann als die Fähigkeit eines Gegenstandes, Objekt einer Werthaltung - oder, genau genommen, zweier Werthaltungen, einer auf das positive, einer auf das negative Existenz-Urteil sich gründenden - zu werden. Die Größe des Wertes aber richtet sich nach der Größe der Gefühlsintensitäten jener beider Werthaltungen, von denen die eine immer durch ein Lust-, die andere durch ein Unlustgefühl repräsentiert wird."

Die vorliegenden Darlegungen wurden durch den Artikel ALEXIUS von MEINONGs "Über Werthaltung und Wert" (Archiv für systematische Philosophie, Bd. I, Heft 3) veranlaßt, in welchem er seine in den "Psychologisch-ethischen Untersuchungen zur Werttheorie" (Graz 1894) aufgestellte Wertdefinition einer nicht unwesentlichen Änderung unterzieht und hierdurch der meinigen ("Werttheorie und Ethik", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Jgh. 1893) annähert. Ich halte es demzufolge für angemessen, nun auch meinerseits mitzuteilen, in welcher Weise ich meine Definition auf MEINONGs Einwürfe hin für modifikationsbedürftig erachte, dann aber die auch jetzt noch bestehenden Differenzen zur Sprache und womöglich zum Austrag zu bringen. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen dem Wertbegriff einerseits und der theoretischen Fassung des kausalen Verhältnisses zwischen Begehren und Fühlen andererseits wird es hierbei nötig sein, auf das Motivationsgesetz näher einzugehen. Sollte sich hieraus die Feststellung des letzteren ergeben, so wäre dieser theoretische Gewinn sicherlich noch höher anzuschlagen, als selbst derjenige einer einwurfsfreien Wertdefinition.

Dem oben berührten Zusammenhang entspricht es, daß sich vom Wert eigentlich zwei Definitionen geben lassen, von denen die eine auf das Begehren, die andere auf das Fühlen Bezug nimmt. MEINONG hat, wenn man die beiden zitierten Publikationen berücksichtigt und die früher erschienenen nach den Abänderungen der späteren modifiziert, beide Definitionen  in extenso  ausgearbeitet; ich habe nur die auf das Begehren sich beziehende ausdrücklich formuliert; in meinen Darstellungen aber finden sich genügende Anhaltspunkte zur Konstruktion auch der zweiten Definition, gemäß meiner Auffassungsweise des Verhältnisses zwischen Fühlen und Begehren.

Da auch MEINONG gegenwärtig zugibt, daß der Wertgedanke "gleichsam aus den Bedürfnissen des Begehrungsgebietes hervorgegangen" ist (1), so halte ich es für die natürliche Folge, mit der Untersuchung der ersten Definition zu beginnen. - Meine hierauf bezügliche Fassung lautet: "Wert ist die von der Sprache irrtümlich objektivierte Beziehung eines Dings zu einem auf dasselbe gerichteten menschlichen Begehren." (2) Unter einem Begehren ist hierbei "nicht ausschließlich ein aktuelles, sondern ebensowohl ein mögliches Begehren, oder, was dasselbe ist, eine Begehrensdisposition zu verstehen." (3) Dieser Definition nun begegnet MEINONG mit dem Einwand, daß ihr zufolge alles, von dessen Existenz wir fest überzeugt sind, keinen Wert für uns haben könnte, da wir ja nur dasjenige zu begehren vermögen, von dessen Nichtexistenz wir entweder überzeugt sind, oder dessen Existenz wir zumindest in Zweifel ziehen. (4) - Der Einwand ist ebenso sicher berechtigt, wie ihm durch eine geeignete Modifikation vorgebeugt werden kann. "Wert ist die von der Sprache fälschlich objektivierte Beziehung eines Dings  O  zur Begehrens-Disposition eines Subjektes  S,  der zufolge das  O  von  S  begehrt werden könnte, insofern oder sobald das  S  die Überzeugung von der Existenz des  O  nicht besitzt oder verlieren sollte." - Diese Korrektur ist die einzige Modifikation, zu der ich mich MEINONGs Darlegungen gegenüber genötigt halte.

MEINONG erscheint mir zunächst jenen Überlegungen zu wenig Berücksichtigung geschenkt zu haben, welchen ich dadurch Ausdruck verlieh, daß ich den Wert eine "von der Sprache fälschlich objektivierte Beziehung" nannte. Sprachlich kann ja überhaupt nur existierenden Dingen (oder solchen, die wir für existierend halten), Wert zugeschrieben werden; nur von solchen Dingen läßt sich aussagen, sie "haben" Wert, während wir uns bei den anderen mit der Wendung begnügen, sie "hätten" Wert, falls sie nämlich existieren würden. Aufgrund solcher Distinktionen gelangt MEINONG zu der Behauptung, "daß der Wert eine Eigenschaft des Wertvollen und daher in seiner Existenz an die Existenz des Letzteren gebunden ist", und gerät in Schwierigkeiten bezüglich der Frage, ob der Wert des Vergangenen und Künftigen in der Vergangenheit und Zukunft oder in der Gegenwart existiert (5); Schwierigkeiten, welche aufgrund der obigen Annahme als schlechterdings unlösbar erscheinen und daher die Irrtümlichkeit der in der Frage enthaltenen Voraussetzung auf das Schlagendste erweisen. Man erwäge etwa folgendes Beispiel: der gegenwärtig lebende Sprößling eines alten Adelsgeschlechts legt Wert auf die Kriegstüchtigkeit seines im 12. Jahrhundert verstorbenen Ahnherrn. Nach MEINONGs oben zitierter Bestimmung wäre dieser Wert eine Eigenschaft des Wertvollen, also der Kriegstüchtigkeit und mittelbar des Ahnherren, und zwar in seiner Existenz an die Existenz des Letzteren gebunden gewesen; keinesfalls also kann er gegenwärtig existieren. Ebensowenig aber wird man sich mit der Fassung einverstanden erklären wollen, wonach ein Wert, welchen ein gegenwärtig Lebender auf irgendein Objekt legt, über ein halbes Jahrtausend vor der Geburt jenes Lebenden schon existiert, ja sogar schon zu existieren aufgehört haben könnte. Wenn aber jener Wert weder existiert, noch auch im 12. Jahrhundert existiert hat, und ebensowenig etwa in der Zwischenzeit, oder gar früher oder später, kann man dann von ihm überhaupt noch eine Existenz behaupten? Die Antwort ist leicht gegeben. Nicht in der Weise ist dies möglich, wie von einem Ding oder der Eigenschaft eines Dings, welche nur in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft existieren können, wohl aber in der Weise, wie sich einer Möglichkeit, einem Widerspruch, einer Ähnlichkeit und dgl. Existenz zuschreiben läßt. Bezüglich einer Ähnlichkeit in der Gesichtsbildung etwa zwischen dem gegenwärtig Lebenden und seinem Ahnherrn aus dem 12. Jahrhundert würde man in der Existenzfrage ganz analogen Schwierigkeiten begegnen wie beim Wert. Man könnte da allerdings behaupten, der Ahnherr habe im 12. Jahrhundert eine solche Beschaffenheit gehabt, daß zwischen ihm und seinem jetzt lebenden Sprößling Ähnlichkeit besteht; in jenen Eigenschaften, des Ahnherrn aber die Ähnlichkeit selbst erblicken zu wollen, das wäre ebenso verfehlt, wie in seiner Beschaffenheit, vermöge welcher er (bzw. seine Kriegstüchtigkeit) nach Ablauf von 700 Jahren von einem Subjekt wertgehalten werden konnte, diesen Wert selbst zu verlegen (6). Die einzige Lösung der Schwierigkeit bestseht darin, den Wert als eine ("von der Sprache fälschlich objektivierte")  Relation  zu betrachten, und ihm, wie der Ähnlichkeit, nur die Existenz einer Relation, nicht diejenige eines Dings oder seiner Eigenschaften zuzuschreiben. MEINONG hat diese Distinktionen auf anderen Gebieten viel zu klar erfaßt - ja, zum Gegenstand einer ausführlichen und dankenswerten Bearbeitung erwählt (7) - als daß es nötig wäre, ihn des weiteren gegen sich selbst zu Felde zu führen. Die - in der Sprache der Positivisten - "metaphysisch" zu nennenden Anwandlungen treten überdies in seinen "Untersuchungen" nur sporadisch zutage, so daß sie deren wesentliche Ergebnisse in keiner Weise beeinträchtigen.

Nach diesem Exkurs wende ich mich nun zu MEINONGs auf das Begehren bezugnehmender Wertdefinition, um sie mit der meinen, im Vorstehenden korrigierten, zu vergleichen:
    "Man könnte ... den Wert auch bezeichnen als die Fähigkeit eines Objektes, sich im Kampf der Motive, oder, wenn man die Wendung bevorzugt, im Kampf ums Dasein als Begehrungsobjekt zu behaupten." (8)
Eigentlich ließe sich dieser Definition mit MEINONGs eigenem Einwand gegen die meinige begegnen. Denn ein Ding, von dessen Existenz wir fest überzeugt sind, besitzt streng genommen die Fähigkeit, sich als unser Begehrungsobjekt zu behaupten, nicht. Allein es ist klar, daß mit einer etwas freien Anwendung des Fähigkeitsbegriffes oder einer vorsichtiger verklausulierten sprachlichen Konstruktion der Übelstand leicht zu beseitigen wäre. - Daß MEINONG den Wert nicht ausdrücklich als Relation bezeichnet, wird uns nach dem früher Dargelegten nicht Wunder nehmen. Dennoch dürfte gegen die Subsumtion unter den Fähigkeitsbegriff, einen der vieldeutigsten und unbestimmtesten aller ontologischen Begriffe, nichts einzuwenden sein. Kann ich ja doch selbst einem nicht existierenden Zentauren die "Fähigkeit" zuschreiben, von mir vorgestellt zu werden.

Im übrigen steht MEINONGs Definition mit der meinigen in vollem Einklang und unterscheidet sich von ihr nur dadurch, daß sie auch eine quantitative Bestimmung aufnimmt oder zumindest andeutet. Die Fähigkeit, sich im Kampf der Motive zu behaupten, kann graduell verschieden sein, und diese graduelle Verschiedenheit ist diejenige des Wertes. Wenn dies, wie wohl anzunehmen, nicht wird bestritten werden können, so fragt es sich nur noch um die psychischen Elemente, nach denen sich die graduelle Verschiedenheit festsetzt. Um hierüber MEINONGs Ansicht zu erfahren, ist es nötig, auf seine zweite (bei ihm der Reihenfolge nach frühere), auf das Gefühl bezugnehmende Wertdefinition einzugehen, so wie sie durch die Modifikationen seiner letzten Mitteilung abgeändert erscheint.

MEINONG gründet hier den Begriff des Wertes aus den sprachlich abgeleiteten, psychologisch aber primären Begriff der Werthaltung. Werthaltung ist, kurz gesagt, Existenzgefühl oder, psychologisch genauer ausgedrückt, ein Gefühl, insofern es ein Objekt zum Inhalt hat, welches Objekt zugleich en Inhalt eines bejahenden oder verneinenden Existenz-Urteils abgibt, das selbst wieder zu dem betreffenden Gefühl in ursächlicher Beziehung steht. Zur Werthaltung ist also nötig ein Gefühl (Lust oder Unlust) und ein Existenz-Urteil (Bejahung oder Verneinung), welche denselben Inhalt haben und in kausaler Verbindung stehen, derart, daß dem Urteil die Rolle der Ursache, dem Gefühl diejenige der Wirkung zukommt. Wert erscheint dann als die Fähigkeit eines Gegenstandes, Objekt einer Werthaltung - oder, genau genommen, zweier Werthaltungen, einer auf das positive, einer auf das negative Existenz-Urteil sich gründenden - zu werden. Die Größe des Wertes aber richtet sich nach der Größe der Gefühlsintensitäten jener beider Werthaltungen, von denen nach MEINONG die eine immer durch ein Lust-, die andere durch ein Unlustgefühl repräsentiert wird. Bezeichnet man die Intensitäten dieser beiden Gefühle mit  J (bei der Bejahung) und  N  (bei der Verneinung), so ergibt sich für die Wertgröße der Ausdruck  CJ  und  CN,  wobei  C  eine Konstante bedeutet, welche wahrscheinlich gleich ist und, da die Einheit des Wertmaßes beliebig anzunehmen ist, auch gleich Eins gesetzt, oder, was dasselbe ist, eleminiert werden können. Es ergibt sich dann: Wertgröße  W = J + N.  Hierbei ist auch zu bemerken, daß, wenn  J  die Intensität eines Lust-, und  N  diejenige eines Unlustgefühls bedeutet, der Gegenstand positiven Wert oder Wert schlechthin, im entgegengesetzten Fall aber negativen Wert oder Unwert besitzt (9).

Die Fähigkeit eines Wertobjekts, sich im Kampf um das Dasein als Begehrungsobjekt zu behaupten, ist also nach MEINONG proportional der Summe der Intensitäten zweier qualitativ entgegengesetzter Gefühle, von denen das eine durch die Bejahung, das andere durch die Verneinung der Existenz des Wertobjekts verursacht wird.

Bei der Kritik dieser Bestimmungen ist vor allem hervorzuheben, daß dieselben in weitem Maß durch den Sprachgebrauch sowohl wie durch direkte Empirie sich zu bestätigen scheinen. Zahlreiche Beispiele aus dem täglichen Leben dürften jedem bereit liegen, in welchen sich die Größe des Wertes sowie des Unwertes beliebiger Objekte nach MEINONGs Angaben feststellen läßt. Einem Anstoß wird aber hierbei vielleicht die Voraussetzung begegnen, daß affirmative und negative Existenzurteile über ein und dasselbe Objekt, wenn überhaupt, so bestimmt und streng allgemein Gefühle  entgegengesetzter  Qualität hervorrufen (10). Die Erfahrung ergibt nämlich in dieser Beziehung zahlreiche Gegeninstanzen, und zwar besonders solche, in denen das Affirmations- [Bejahungs- wp] und das Negationsgefühl Unlustcharakter zeigen. Belege hierfür bieten z. B. fast alle Selbstmörder angesichts der affirmierenden und negierenden Urteile über ihr eigenes künftiges Dasein. In der weitaus größeren Zahl der Fälle wählen sie mit der Selbstvernichtung nicht etwas an sich Lustvolles, sondern nur das kleinere von zwei Übeln. Analog ist etwa die Situation desjenigen, der den Entschluß faßt, sich einen Zahn ziehen zu lassen; und solche Beispiele könnten nach Belieben vermehrt werden. Auch gegensätzliche Fälle sind nicht undenkbar. So mag ein in den Kampf ziehender, tatendurstiger junger Held einem mächtigen Feind gegenüber empfinden, dessen Existenz ihm wegen des zu erhoffenden Kampfes, dessen Nichtexistenz oder Vernichtung (auch durch andere Hände) ihm aus sonstigen Gründen erfreulich ist, wobei als bejahendes und verneinendes Urteil Lust verursachen. Man wir vielleicht einwenden, daß es sich hier überall nicht um "letzte", sondern um ganz oder teilweise "vermittelte" Werte handelt; dies mag richtig sein, verschlägt aber nichts, da ja die in Rede stehenden Bestimmungen strenge Gültigkeit für alle Wertkategorien beanspruchen; und somit fragt es sich, in welcher Weise MEINONG von seinem Standpunkt aus jenen Fällen gerecht zu werden vermag. Soviel ist klar: die Formel  W = J + N  ist auf Beispiele wie die angeführten unanwendbar, da hier der Wert, bzw. Unwert sicherlich nicht der Summe der Intensitäten beider Gefühle proportional ist (etwa beim Selbstmörder der Summe der Intensitäten der Unlust am Leben und der Unlust am Tod), sondern vielmehr der Differenz. Diese Erkenntnis leitet aber zugleich zu einer Verallgemeinerung der Formel über, welche dann alle möglichen Fälle von Werthaltungen in gleicher Weise umspannt. Bezeichnet man nämlich etwa durch  JG  und  NG  das Affirmations- und das Negationsgefühl, jedoch so, daß deren Intensitäten, für welche die Symbole  J  und  N  verbleiben mögen, nicht bloß nach ihrer absoluten Größe, auf Zahlenwerte reduziert, zum Ausdruck kommen, sondern, je nachdem sie Lust- oder Unlustintensitäten bedeuten, mit einem positiven oder negativen Vorzeichen in die Rechnung treten, so ergibt die algebraische Differenz jener Größen dann die Wertgröße des betreffenden Objekts:  W = JG - NG;  und zwar so, daß für  W  selbst ein positives Resultat positiven Wert, ein negatives Resultat aber einen Unwert bedeutet. Es ergibt sich nämlich, wenn  JG  Lust und  NG  Unlust darstellt,  W = J - (- N) = J + N,  also ein jedenfalls positiver Wert (MEINONGs ursprüngliche Formel); wenn  JG  Unlust und  NG  Lust darstellt,  W = - J - (+ N) = - (J + N),  also ein jedenfalls negativer Wert oder Unwert; für  JG  und  NG  beide als Unlust  W = - J - ( - N) = - J + N,  also für  N > J  in positiver, für  J > N  ein negativer Wert; schließlich für  JG  und  NG  beide als Lust  W = J - N,  als für  J > N  ein positiver, für  N > J  ein negativer Wert. Ich glaube die Verifikation dieser Bestimmungen anhand der angeführten Beispiele dem Leser überlassen zu können.

In dem Bestreben, das Prinzip der MEINONGschen Wert-Maßbestimmung, welches sich im Großen empirisch zu bestätigen schien, streng allgemein durchzuführen, wurden wir somit zu einer veränderten Fassung gedrängt, welche sich in Worten etwa in folgender Weise ausdrücken läßt: Die Wertgröße eines Objekts ist proportional dem Abstand zwischen dem auf jenes Objekt bezüglichen Affirmations- und Negationsgefühle. Oder: Um zu bestimmen, einen wie großen Wert ein beliebiges Objekt für mich besitzt, habe ich mir zu vergegenwärtigen, wie mir zumute wäre, falls ich von der Existenz, und wie, falls ich von der Nichtexistenz des Objektes überzeugt wäre. Je höher (oder je tiefer) der erste Gefühlszustand über (unter) dem zweiten zu stehen kommt, desto größer ist der Wert (oder Unwert) des Objektes.

Es ist für mich nun an der Zeit, darauf hinzuweisen, daß die hiermit aus MEINONGs Angaben heraus entwickelte Maßbestimmung des Wertes auf einen Begriff zurückgeführ, welchen ich schon in einer 1887 erschienenen Publikation (11) als den für die Richtung und Stärke des Begehrens maßgeblichen aufstellen und später in meiner "Werttheorie" als den auch für die Größenbestimmung der Werte grundlegenden wieder in Erinnerung bringen zu müssen glaubte, den Begriff der  "relativen Glücksförderung"  nämlich, welcher mit jenem Abstand zweier beliebiger Punkt auf der Gefühlsskala Unlust - Lust identisch ist und in unserem Fall durch das algebraische Symbol  JG - NG  ausgedrückt wird. "Relative Glücksförderung" kann somit jedes Unlustgefühl einem noch stärkeren Unlustgefühl gegenüber, ferner der Indifferenzpunkt zwischen Unlust und Lust jedem Unlustgefühl gegenüber, schließlich jedes Lustgefühl einem schwächeren Lustgefühl oder dem Indifferenzpunkt oder einem beliebigen Unlustgefühl gegenüber begründen.

MEINONG wendet sich gegen diese Begriffsbildung (12), indem er ihre Einheitlichkeit bestreitet. Dem widerspricht aber die Tatsache, daß man in der Praxis allgemein, und zwar nicht nur auf dem Gebiet von Unlust - Lust, sondern auf allen Gebieten, wo immer zwei kontrastierende und steigerungsfähige Qualitäten einander gegenüberstehen, mit Komparativen, gleichgültig ob sie Glieder nur einer oder beiden Skalen verbinden, wie mit vollkommen einheitlichen Begriffen zu operieren und sich hierbei auf das beste zu verständigen pflegt. So kann ich etwa sagen, "es geht mir heute  besser  als gestern", wenn es mir heute "schon gut", ebensowohl als wenn es mir heute, "noch lange nicht gut" geht. Desgleichen nenne ich Dunkelgrau  heller  als Schwarz, ebenso wie Weiß heller als Dunkel- oder Lichtgrau. "Es ist in diesem Zimmer noch  wärmer  als im anderen" hat einen Sinn, auch wenn es in beiden bitterlich kalt sein sollte. Von der Spitze des Großglockner läßt sich ebenso gut behaupten, sie läge  tiefer  als diejenige des Montblanc, wie von der tiefsten Stelle des atlantischen Ozeans usw. Eine so verbreitete und auf den verschiedensten Gebieten analoge Begriffsbildung wie diese wird schwerlich als eine künstliche verurteilt werden dürfen, selbst wenn man ihr von psychologischer Seite als einem Rätsel gegenüberstünde. Nun befinden wir uns aber nicht einmal in dieser Zwitterstellung. Alle die genannten und nicht genannten Komparative der bezeichneten Kategorie erhalten ihre  differentia specifica  von einer bestimmten  Relationsqualität.  Es ist eine ganz bestimmte, psychologisch als Qualität zu charakterisierende  Art der Steigerung,  welche wir als "besser" bezeichnen; diese Qualität der Steigerung findet sich ebenso zwischen dem Weniger und Mehr auf dem Gebiet des Schlechten wie zwischen dem Mehr oder Weniger auf dem Gebiet des Guten; und analog verhält es sich mit dem "heller", dem "wärmer", dem "höher" und selbstverständlich den Gegensätzen "schlechter", "dunkler", "kälter", "tiefer" usw. Dieselbe Einheitlichkeit wie allen diesen Begriffen wohnt auch dem Begriff der "relativen Glücksförderung" inne. Übrigens entkräftet MEINONG seine Polemik gegen die Anwendung dieses Begriffs am wirksamsten dadurch, daß er später ("Über Werthaltung und Wert") sich selbst genötigt sieht, zur Bestimmung der Wertgröße die Summe der Intensitäten eines Lust- und eines Unlustgefühls heranzuziehen. Mag man die Summanden mit oder ohne Konstante einführen, in der Einführung selbst liegt zugleich auch die Behauptung, daß jene Intensitäten direkt miteinander vergleichbar sind, daß es also einen guten Sinn hat, etwa ein Lustgefühl und ein Unlustgefühl ihrer Stärke nach gleichzusetzen; sonst könnte man ja die Größen  J  und  N  willkürlich gegeneinander verschieben und ihre Summe wäre ein ganz unbestimmter Ausdruck. Hat man aber soviel zugegeben, dann kann man sich auch nicht mehr dagegen wehren, die Unlust als das Negativum der Lust aufzufassen, und die Vermehrung jener mit der Verminderung dieser in einem Begriff zusammenzuschließen. Hiermit ist man aber wieder beim Begriff der "relativen Glücksförderung" angelangt, dessen Legalität nach dem Gesagten wohl nicht mehr wird bestritten werden können.

Ich glaube zudem eben gezeigt zu haben, daß eine konsequente Durchführung auch der MEINONGschen Wert-Maßbestimmung auf jeden Begriff zu rekurrieren genötigt ist. Es obliegt uns hiernach nur noch der Vergleich der Art und Weise, wie dies geschieht, mit dem Weg, welchen ich bei jener Maßbestimmung eingeschlagen habe.

MEINONGs Wertgefühle sind bekanntlich Urteilsgefühle, ja speziell Gewißheitsgefühle, d. h. MEINONG fordert ausdrücklich  gewisse  Existenzurteile (Überzeugungen) zur Ermittlung der wertbestimmenden Größen  J  und  N,  und begnügt sich nicht mit bloßen Vermutungen, welche nach ihm wohl Hoffnungs- und  Furcht-,  nicht aber Wertgefühle zu verursachen vermögen. (13) Ich leugne nicht, daß die für die Festsetzung der Wertgröße bestimmenden Gefühlszustäände vielleicht sogar in ihrer ausgeprägtesten Gestalt durch gewisse Existenzurteile psychologisch vermittelt werden (oder vielmehr vermittelt werden könnten, wenn wir solche Urteile auf Wunsch immer bereit hätten), fordere aber als letztes und notwendiges Kausalglied für das Zustandekommen der beiden charakteristischen "Glückszustände" nicht das  Urteil  über  Existenz  und  Nichtexistenz,  sondern die bis zu einem gewissen Grad anschauliche und lebhafte  Vorstellung  der  Verwirklichung  und der  Nichtverwirklichung  des betreffenden Objekts. Meine Forderungen zur Wertbestimmung sind daher weit weniger exklusiv als diejenigen MEINONGs; denn die bis zu einem gewissen Grad anschauliche und lebhafte Vorstellung von der Verwirklichung oder Nichtverwirklichung eines Objekts (oder Ereignisses) tritt viel häufiger ohne die betreffenden gewissen Existenzurteile auf, wie diese ohne jene. Naturgemäß wird daher die Untersuchung bei der MEINONGschen Position einzusetzen haben.

Hierbei kann nun wieder daran erinnert werden, daß MEINONGs Wert-Maßbestimmung für die Motivationskraft der betreffenden Objekte zu bieten beansprucht. Sollten also die speziellen Werterscheinungen zur Entscheidung der Kontroverse weniger Anhaltspunkte bieten, so werden solche vielleicht auf dem Gebiet des Begehrens und seiner Motivierung zu finden sein. In der Tat scheint mir hier MEINONGs Auffassungsweise gar bald auf unüberwindliche Hindernisse zu stoßen. Es ist nämlich klar, daß von den zur Hervorbringung der beiden Wertgefühle  (JG  und  NG  mit den Intensitäten  J  und  N)  von MEINONG geforderten gewissen Urteilen über die (wenn auch künftige) Existenz und Nichtexistenz des betreffenden Objekts kein einziges vor dem Zustandekommen des Begehrens, während des etwaigen Motivkonflikts, realisiert werden kann, und auch nach dem Zustandekommen des Begehrens höchstens eines, das bejahende. Solange ich nämlich im Zweifel bin, ob ich mich dem Objekt  O1  oder  O2  begehrend zuwenden werden, kann ich weder über die zu erwartende Existenz noch auch Nichtexistenz des  O1  oder  O2  zu einer festen Überzeugung gelangen. Es können somit auch die betreffenden Wertgefühle nicht realisiert oder empfunden, sondern nur vorgestellt oder konstruiert werden. Dies scheint aber nötig zu sein, wenn das Begehren sich nach ihnen richten soll. Nach MEINONG fällt für das Objekt  O1  die Summe der Gefühlsintensitäten  J1 + N1 für  O2  die Summe  J2 + N2  in die Waagschale, und je nach dem Überwiegen der einen oder der anderen Summe siegt  O1  oder  O2  im Konflikt. Der Umstand, daß bisweilen statt der Summe eine Differenz der Intensitäten anzusetzen sein wird, kann hier als unwesentlich vernachlässigt werden. Auf welchem Weg aber, fragt es sich nun, gelangen jene beiden Intensitätssummen psychologisch zur Wirksamkeit? Wenn nicht durch ihre Realisierung im Bewußtsein, dann doch wohl nur durch ihre Konstruktion in der Vorstellung. Man erwäge nun aber die Komplikation von intellektuellen Akten, welche hiermit gefordert erscheint. Danach hätte ich nötig, bei jeder Entscheidung zwischen zwei möglichen Begehrungsobjekten  O1  und  O2  folgende Gedankenprozesse zu absolvieren:
    1) Konstruktion der Gefühlsintensität  J1 d. h. also die Beantwortung der Frage, wie groß die Intensität meines Lustgefühls wäre, wenn ich von der Existenz des  O1  überzeugt sein würde.

    2) Analoge Konstruktion der Gefühlsintensität von  N1  bei der Überzeugung von der Nichtexistenz des  O1

    3) Approximative Summierung von  J1  und  N1 

    4) Konstruktion der Gefühlsintensität  J2 

    5) Konstruktion der Gefühlsintensität  N2 

    6) Summierung von  N2  und  N2 

    7) Vergleich der Summengrößen  J1  und  N1  und  J2  und  N2
Erst als Resultat dieses siebten intellektuellen Aktes könnte sich das Begehren dem  O1  oder  O2  zuwenden. Es erscheint mir zweifellos, daß man diese Konsequenzen auch nur zu formulieren und auszusprechen braucht, um sie für widerlegt zu erachten; denn die psychische Erfahrung läßt von einer solchen Komplikation des Motivkonflikts nichts erkennen. In seltenen Fällen mag es ja vorkommen, daß ein besonders vorsichtig Überlegender auf so verschlungenen Pfaden zu seinem Willensziel gelangt; keinesfalls werden wir MEINONG beistimmen können, wenn er jene Prozesse (d. h. also, wenn kein Konflikt vorliegen sollte, jedenfalls die drei erstgenannten von den sieben) für jede "einigermaßen überlegte Begehrung" in Anspruch nimmt (14). Damit aber das Gesetz allgemeine Gültigkeit besitzt, wie es sie beansprucht, müßte nicht nur jede "einigermaßen überlegte", sondern überhaupt jede Begehrung erst nach der Summierung zweier durch Konstruktion gefundener, bloß vorgestellter Gefühlsintensitäten zustande kommen; eine Forderung, welche der Empirie schlechterdings widerstreitet. Demnach könnte man vielleicht noch einen ganz anderen Weg zur Verifikation des behaupteten Gesetzes einzuschlagen versuchen, und, da der Appell an die aktuellen psychischen Phänomene im Bereich des Bewußtseins versagt hat, auf die unbewußten Dispositionen zu jenen Phänomenen zu rekurrieren. Das Gesetz müßte dann in folgender Weise formuliert werden: So oft bei einem Motivkonflikt zwischen  O1  und  O2  eines dieser Objekte, etwa das  O1 siegt, könnte gefunden werden, daß, wenn das wählende Subjekt die betreffenden Urteile realisieren würde, diese dann Gefühle verursachen würden, derart, daß die Summe  J1 + N1  stets größer ausfiele als die Summe von  N2 + N2 Über den Grund dieser Gesetzmäßigkeit wäre natürlich hiermit nichts weiter ausgesagt, und derselbe vielmehr ganz in einen rätselhaften Mechanismus unserer Urteils-, Gefühls- und Begehrungsdispositionen verlegt. Allein eine solche Annahme wird wieder voraus als höchst bedenklich bezeichnet werden müssen; und sollte sie uns selbst durch die Empirie aufgedrängt werden, so wären wir als Psychologen doch verpflichtet, nach einer Erklärung oder zumindest Kundgebung jener Gesetzmäßigkeit der unbewußten Dispositionen auch auf dem Gebiet des Bewußtseins, d. h. also der aktuellen Phänomene, zu forschen.

In dieser Beziehung scheint mir nun die Empirie Folgendes zu ergeben: Wenn mir zwei mögliche Begehrungsziele  O1  und  O2  vorliegen, zwischen denen ich zu entscheiden habe, so ist ein Konfliktfall nur gegeben, falls  O1  und  O2  einander ausschließen. Es wird also auf der einen Seite die Verwirklichung des  O1  mit der Nichtverwirklichung des  O2 auf der anderen die Verwirklichung des  O2  mit der Nichtverwirklichung des  O1  gegeben sein. Bei der Entscheidung selbst nun suche ich mir jene beiden Alternativen je nach Fähigkeit und Gelegenheit mehr oder weniger anschaulich und lebhaft und womöglich mit allen ihren Neben- und Nachwirkungen vorzustellen, wobei auch Vermutungen, keinesfalls aber Überzeugungen über das künftige Eintreffen des Vorgestellten mit unterlaufen mögen. Je nachdem mir nun beim ersten oder beim zweiten dieser Vorstellungskomplexe besser (d. h. also angenehmer oder weniger unangenehm) zumute ist, wendet sich mein Begehren dem  O1  oder dem  O2 und zwar mit umso größerer Entschiedenheit oder Kraft, je größer die Differenz zwischen jenen beiden aktuellen Gefühlszuständen ausfällt. Analog und nur in den Vorstellungskomplexen entsprechend vereinfacht verläuft der Vorgang, wenn nur ein einziges Objekt vorliegt, welches ich entweder begehren oder nicht begehren kann.

Ich muß die Nachprüfung des Gesagten anhand der Empirie natürlich dem Leser überlassen. Wesentlich einfacher - das glaube ich wohl behaupten zu dürfen - stellt sich der Motivationsprozeß nach meiner Fassung dar. Wichtig ist es, hierbei sein Augenmerk darauf zu lenken, daß ich vom begehrenden Subjekt keineswegs ein Wissen um seine Bewertung der betreffenden Objekte verlange oder voraussetze. Das Begehrungsobjekt muß für das Subjekt Wertobjekt sein, oder ist es vielmehr vermöge seiner Begehrtheit; eine Reflexion aber auf die "tatsächlich bestehende Wertrelation" ist für das Begehren durchaus unwesentlich; und sollte sie trotzdem mit eingreifen, sollte etwa ein Willensakt aufgrund jener oben spezialisierten sieben Reflexionsakte zustande kommen, so wird dadurch das Motivationsgesetz in seiner Allgemeingültigkeit nicht beeinträchtigt; das zuletzt entscheidende Moment für das Eintreten des Begehrens wird dann doch nicht durch das Urteil etwa  J1 + N1 > N1 + N2  gegeben sein, sondern durch die aktuellen Gefühlszustände, welche sich nach der Fällung dieses Urteils beim Vergegenwärtigen der einen und der anderen Alternative einstellen.

Wenn also durch das Vorhergehende der Zusammenhang zwischen Fühlen und Begehren dargelegt sein dürfte, so obliegt es mir nur noch, die auf das Fühlen bezügliche Definition des Wertes von meinem Standpunkt aus zu formulieren. Wert (oder Unwert) werden wir hiernach einem wirklichen oder bloß gedachten Gegenstand insofern zuschreiben, als bei einem bestimmten Subjekt die nach Tunlichkeit anschauliche und lebhafte Vorstellung seiner Verwirklichung gegenüber derjenigen seiner Nichtverwirklichung Glücksförderung (oder Glücksminderung) zu bewirken vermag. Diese Definition nimmt allerdings im Begriff der "nach Tunlichkeit anschaulichen und lebhaften Vorstellung" eine nur approximativ präzisierbare Bestimmung auf. Allein auch der Wertbegriff scheint mir eine gleiche Variabilität aufzuweisen, wenn man nämlich nach demjenigen Wert fragt, welchen ein Subjekt auf irgendeinen Gegenstand "legt". Je nach der dauernden oder momentanen Fähigkeit oder Unfähigkeit eines Subjekts, anschauliche und lebhafte Vorstellungen zu bilden, wird auch dieser Wert Schwankungen unterworfen sein. Anders verhält es sich bezüglich des Wertes, welchen ein Gegenstand für das Subjekt "wirklich hat". Dieser Wert wird unter der hypothetischen Annahme einer vollkommen normalen Beschaffenheit und ausreichenden Orientiertheit des Subjekts über alle einschlägigen Existenz- und Kausalverhältnisse (15) nach übrigens gleichen Prinzipien gefunden; hierbei ist es dann auch gestattet, ein Normalmaß an Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit der Vorstellungen vorauszusetzen.

Eine weitere Frage ist diejenige, wie wir zur Erkenntnis des Wertes und seiner Größe gelangen. Zunächst offenbar dadurch, daß wir sowohl die Verwirklichung wie auch die Nichtverwirklichung des betreffenden Objekts möglichst anschaulich und lebhaft vorstellen, auf unsere Gefühlszustände hierbei reflektieren, und die Glücksförderung feststellen. Indessen kann statt dieses psychischen Experiments auch die Reflexion stellvertretend eingreifen. Aufgrund vorhergegangener Erfahrungen, sowie mittels eines gewissen psychologischen Instinkts können wir die beiden Gefühlszustände in der Vorstellung konstruieren und vergleichen, ohne sie in uns zu verwirklichen. Ein treffliches Hilfsmittel hierzu liegt darin, daß wir uns fragen, wie uns wohl zumute wäre, falls wir die Überzeugung von der Existenz, und wie, falls wir diejenige von der Nichtexistenz des betreffenden Objekts besäßen; denn nichts befördert wirksamer die Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit von Vorstellungen, als jene auf ihr Objekt gerichteten Urteile. Oft vereinigen sich auch die innere Wahrnehmung aktueller und die Reflexion auf hypothetische Gefühlszustände bei der Wertschätzung, wenn man sich z. B. die Verwirklichung und Nichtverwirklichung eines Objekts bis zu einem gewissen Grad anschaulich vorstellt und sich fragt, in welchem Maß die hierbei als real empfundenen Gefühle sich etwa beim Hinzutreten der Überzeugungen und bei der dadurch vermehrten Lebhaftigkeit der Vorstellungen noch zu steigern vermöchten. Insofern, nämlich als eine Methode zur Erkenntnis vorhandener Wertrelationen, mag daher das von MEINONG angegebene, auf das Urteil rekurrierende Verfahren der Wertschätzung anzuerkennen und empirisch zu verifizieren sein, wie ich dies gleich zu Anfang der Kritik auch hervorgehoben habe.

Und mit der schon früher angegebenen Modifikation, daß es nämlich nicht auf aktuelle Phänomene, sondern auf unbewußte Dispositonen bezogen wird, und man statt des Ausdruckes  J + N  den allgemeineren  JG - NG  einsetzt, wird man nun auch MEINONGs Motivationsgesetz eine mindestens approximative Geltung zusprechen müssen. Um diese leichter darstellen zu können, sei bei einem Motivkonflikt zwischen  O1 + O2  der Gefühlszustand, welche, durch die Vorstellung der Verwirklichung des  O1  und der Nichtverwirklichung des  O2  erzeugt wird, mit  z1 der durch die Vorstellung der anderen Alternative hervorgerufene mit  z2  bezeichnet. Stellt man dann den Symbolen  JG  und  NG,  d. h. also den Gefühlen bei einer Beurteilung der Existenz und Nichtexistenz beliebiger Objekte, die Symbole  jg  und  ng  entgegen, welche die Gefühle bei der bloßen Vorstellung der betreffenden Verwirklichung oder Nichtverwirklichung bedeuten sollen, so erkennt man  z1  als die Zusammensetzung der Gefühle  jg1  und  ng2, z2  als die Zusammensetzung von  jg2  und  ng1 Frägt man nun nach der Kraft des nach dem Austrag des Konfliktes auf  O1  sich richtenden Begehrens, so erhält man unserer Theorie gemäß den Ausdruck:  B1 = z1 - z2 = jg1 + ng2 - jg2 - jg1 = (jg1 - ng1) - (jg2 - ng2 für das auf  O2  gerichtete Begehren aber erhält man  B2 = z2 - z = -B1 = (jg2 - ng2) - (jg1 - ng1),  wobei natürlich ein negatives  B  immer ein Nichtbegehren, oder ein Begehren der konträren Alternative bedeutet. Aus den Formeln ergibt sich nun:  B1  ist positiv, wenn  (jg1 - ng1) > (jg2 - ng2 ist.  B1  ist umso größer, je größer  (jg1 - ng1),  je kleiner (jg2 - ng2) ist.  B2  ist positiv, wenn  (jg2 - ng2) > (jg1 - ng1 ist.  B2  ist umso größer, je größer  (jg2 - ng2),  je kleiner  (jg1) - (ng1 ist. Und hieraus kann man, da ja  B2  auf  O1  B2  auf  O2  gerichtet, entnehmen, daß die "Motivationskraft" von  O1  der Größe von  (jg1) - (ng1),  die Motivkraft von  O2  der Größe  jg2 - ng2  proportional ist. MEINONG führt für jene Motivationskräfte bekanntlich die Größen  J1+ N1  und  J2 - N2  ein, welche wir durch  JG1  und  NG1 bzw.  JG2  und  NG2  zu ersetzen uns genötigt sahen, d. h. also: MEINONGs Maßbestimmung der Motivationskräfte ist der unsrigen insofern gleich, als die mit  G  bezeichneten Gefühlszustände den mit  jg  bezeichneten proportional sind. Dies ist aber tatsächlich, wenn auch nicht vollkommen, so doch mit großer Annäherung der Fall, da ja, je mehr oder je weniger Lust oder Unlust die Überzeugung von der Existenz oder Nichtexistenz eines Objekts, umso mehr oder wenier Lust oder Unlust beiläufig auch die anschauliche und lebhafte Vorstellung seiner Verwirklichung oder Nichtverwirklichung hervorrufen wird. Wenn wir also bei der Entscheidung eines Konflikts auch nicht auf die Gefühlszustände, wie sie sich mit den Urteilen über Existenz oder Nichtexistenz einstellen, reflektieren, so besitzen wir doch in den bei der anschaulichen und lebhaften Vorstellung der Alternativen sich in uns bildenden tatsächlichen Gefühlen ein Maß für jene, welches ohne unser weiteres Zutun dieses Begehren ungefähr ebenso lenkt, wie dies von jenen fiktiven Reflexionen behauptet wurde.

An dieser Stelle sei noch darauf verwiesen, daß es auch MEINONG nicht entgangen ist, wie es sich im Konfliktfall "einerseits um die Eventualität der Existenz von  O1  zusammen mit der Nichtexistenz von  O2 andererseits um die Eventualität der Existenz von  O2  zusammen mit der Nichtexistenz von  O1 handelt (16) Danach könnte man im Sinne MEINONGs versuchen, jede dieser beiden Eventualitäten statt mit zwei mit nur je einem vorzustellenden Urteil umspannen, analog unserem  z1  und  z2 ein  Z1  und  Z2  in der Phantasie zu konstruieren, und danach die Zahl der durch den Konflikt geforderten intellektuellen Akte erheblich und zwar von  7  auf  3  zu reduzieren, nämlich
    1) Konstruktion von  Z1
    2) Konstruktion von  Z2
    3) Vergleich der beiden vorgestellten Gefühlszustände.
Dieser vereinfachten Fassung der Theorie stände, soweit ich sehe, ansich nichts entgegen; mit den Tatsachen der psychischen Erfahrung aber ist sie so wenig wie die kompliziertere Darstellungsweise in Einklang zu bringen.

Erscheint somit das Verhältnis zwischen MEINONGs Fassung der Wertdefinition sowie des Motivationsgesetzes und meiner Darstellungsweise des Gegenstandes vollkommen erläutert, so könnte man doch noch die Frage aufwerfen, ob denn mein Motivationsgesetz den psychischen Weg vom Fühlen zum Begehren wirklich lückenlos aufdeckt, ob es die Ursachen des Begehrens vollständig darlegt, und, soweit dies überhaupt möglich ist, den Prozeß der Verursachung des Begehrens erhellt. Richtung und Größe des Begehrens allerdings wird durch meine Angaben bestimmt; dagegen enthalten diese keinerlei Andeutungen über den nächsten Anlaß, welcher den Begehrungsakt als solchen hervorruft, und über den Zeitpunkt, in welchem dies geschieht. Vergegenwärtigen wir uns etwa den bekannten Konfliktfall zwischen  O1  und  O2 Das betreffende Subjekt bringt beide Alternativen nacheinander zur Vorstellung, und wendet sich dann, je nachdem ihm dabei fühlend zumute ist, der einen oder der anderen begehrend zu. Wann aber geschieht das? Schon nach einmaligem "Erwägen", oder nach mehrfachem Hin- und Herschwanken der Vorstellung und des Gefühls? Die Erfahrung zeigt hier die größte Mannigfaltigkeit. Und wie - man entschuldige den Ausdruck - stellt das Begehren es an, sich gerade auf jene Alternative zu lenken, an der sich - nicht unmittelbar vorher, sondern durch eine gewisse Zeitspanne getrennt - der angenehmere Gefühlszustand realisiert, sich dahin zu richten mit einer Kraft oder Intensität, welche proportional ist der Differenz jener Gefühlszustände, einer Differenz also, welche weder vorgestellt noch beurteilt wird, sondern deren Fundamente nur als Realitäten, und nicht einmal gleichzeitig und gegenwärtig, sondern nacheinander und in der Vergangenheit sich im Bewußtsein eingestellt haben? Offenbar geschieht dies alles  nicht  durch eine Vermittlung des Begehrungsziels, welches mit dem Objekt  O1  oder  O2  zusammenfällt und vom gegenwärtigen oder jüngst vergangenen Gefühlszustand des Subjekts nichts weiß. Wenn aber weder durch vorangegangene Reflexion, noch auch durch eine Vermittlung des Begehrungsziels, auf welchem Weg vollziehen sich dann jene behaupteten und, wie mich dünkt, durch die Erfahrung bestätigten Gesetzmäßigkeiten?

Ich muß es mir versagen, diese Fragen hier zu beantworten, erstens, da dies den Rahmen dieser Abhandlung weit überschreiten würde, zweitens aber deswegen, weil ich den hierauf bezüglichen Lösungsversuch schon vor acht Jahren in der erwähnten Schrift "Über Fühlen und Wollen" (17) publiziert habe; einer Untersuchung, deren Aufstellungen freilich MEINONG für nicht so "natürlich und fruchtbar hält, wie sie scharfsinnig erdacht sind". (18) Dennoch lassen sie alle hier entwickelten Gedanken bereits im Keim erkennen. Es sei mir darum gestattet, die Ereignisse hier noch kurz mitzuteilen, welche der Leser in jener Schrift als Antwort auf die aufgeworfenen Fragen finden würde.

Der Augenblick, in welchem das Begehren als neue psychische Qualität zum Fühlen und Vorstellen hinzuträte, läßt sich deshalb durch ein psychologisches Gesetz so schwer normieren, weil er überhaupt gar nicht eintritt; denn das Begehren ist gar kein neues psychisches Grundphänomen, sondern nur ein spezieller Fall des Vorstellungsverlaufs nach dem Gesetz der relativen Glücksförderung. Dieses Gesetz besagt allgemein, daß die glückfördernden Vorstellungen eben daher, weil sie glückfördernd sind, die Tendenz besitzen, sich im Kampf um die Enge des Bewußtseins zu erhalten und zu verstärken (im Sinne von "verlebendigen"). Sind diese glückfördernden Vorstellungen solche von der Verwirklichung bzw. Nichtverwirklichung eines beliebigen Objekts oder Geschehnisses, so nennen wir den psychischen Vorgang ihrer Selbsterhaltung und Verstärkung im Kampf um die Enge des Bewußtseins "Begehren", und zwar "Wunsch", solange die betreffenden Vorstellungen für sich bleiben, "Streben", sobald sich Vorstellungen von Mitteln zur Erreichung des Gewünschten, namentlich aber Bewegungs-, bzw. Anstrengungsphantasmen und -phänomene hinzugesellen, "Willen", wenn noch die Überzeugung des Subjekts hinzutritt, daß das Gewünschte sich durch seine eigene Tätigkeit verwirklichen wird. Die Kraft oder Stärke des Begehrens ist daher nicht die Intensität einer bestimmten psychischen Qualität, wie etwa der Lust oder Unlust, sondern das Maß des Widerstandes, welchen der das Begehren konstituierende Vorstellungslauf seiner Verdrängung aus der Enge des Bewußtseins durch andere Begehrungen oder überhaupt psychische Kräfte entgegenzusetzen vermag; und das "Erwägen" der Alternativen eines Konfliktfalls vor dem Zustandekommen des Strebens- oder Willensaktes ist nicht die Vorbedingung, sondern der Gebärzustand des Begehrens, welcher sich je nach dem Walten der übrigen den Vorstellungslauf bestimmenden Tendenzen (äußere Einwirkungen, Assoziation, Ermüdung) rascher oder langsamer, einfacher oder wechselvoller abspielt.

Soviel zur Andeutung des betreffenden Lösungsversuches, nach dessen Durchführung erst das Motivationsgesetz sowie die damit auf das Engste zusammenhängenden Wertdefinitionen als vollkommen geklärt und begründet erscheinen könnten.
LITERATUR - Christian von Ehrenfels, Von der Wertdefinition zum Motivationsgesetz, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge der "Philosophischen Monatshefte", Bd. II, Berlin 1896
    Anmerkungen
    1) MEINONG, Über Werthaltung und Wert, Seite 341
    2) EHRENFELS, Werttheorie und Ethik, erster Artikel, Seite 89
    3) EHRENFELS, a. a. O., zweiter Artikel, Seite 209
    4) MEINONG, Psychologisch-ethische Untersuchungen, Seite 16.
    5) MEINONG, Untersuchungen, § 24.
    6) MEINONG, Untersuchungen, Seite 70
    7) MEINONG, Hume-Studien II, Zur Relationstheorie
    8) MEINONG, Über Werthaltung und Wert, Seite 340
    9) Diese Angaben sind aus den §§ 5-9 der "Untersuchungen" und dem Artikel "Über Werthaltung und Wert" zusammengetragen.
    10) MEINONG, Untersuchungen, Seite 38
    11) von EHRENFELS, "Über Fühlen und wollen", Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der kaiserlichen (österreichischen) Akademie der Wissenschaften, Bd. 114, zweites Heft.
    12) MEINONG, Untersuchungen, Seite 10
    13) MEINONG, Untersuchungen, § 20
    14) MEINONG, Über Werthaltung und Wert, Seite 341
    15) MEINONG, Untersuchungen, Seite 24f
    16) MEINONG, Über Werthaltung und Wert, Seite 339.
    17) siehe Anmerkung 11
    18) MEINONG, Untersuchungen, Anmerkung Seite 10.