p-4F. HillebrandF. BrentanoA. MartyW. Jerusalem    
 
WILHELM JERUSALEM
Die neuen Theorien
der kategorischen Schlüsse


"Der tiefere Grund dafür, daß die besprochenen Erörterungen über Realität, Existenz und Wahrheit so wenig befriedigen, liegt darin, daß die genannten Denker es unterlassen haben, genau und unzweideutig ihren erkenntnistheoretischen Standpunkt zu bezeichnen. Wer über den Existenzbegriff nachdenkt, muß sich zunächst darüber klar sein, ob er an das Bestehen einer von unserem Bewußtsein unabhängigen Außenwelt glaubt, die in irgendeiner Weise unseren Sinnesdaten entspricht, oder ob er mit den Neukantianern Schuppe, Leclair, Rehmke, Schubert-Soldern u. a. überzeugt ist, die Existenz der Außenwelt erschöpft sich im Gedachtwerden, in der üblichen Terminologie ausgedrückt: ob er Realist oder Idealist ist."

Die Schrift enthält eine klar und gewandt geschriebene Darstellung und Verteidigung von BRENTANOs Urteilstheorie und sucht daraus für die Theorie der Syllogismen einige Konsequenzen zu ziehen. Der Verfasser in unbedingter Anhänger von BRENTANOs Lehren und hat von seinem Meister die klare und entschiedene Ausdrucksweise gelernt, aber auch die zu dialektisch - man möchte manchmal sagen sophistisch - zugespitzter Polemik übernommen.

Im ersten Kapitel sucht der Verfasser "die psychologischen Mermale des Schließens" dahin zu bestimmen, daß "ein Urteil dann als aus anderen erschlossen zu betrachten ist, wenn wir es um jener anderen willen fällen, d. h. wenn wir uns bewußt sind, ein gewisses Urteil nur darum zu fällen, weil wir ein anderes oder mehrere andere fällen." Diese unbewußte Verursachung nennt der Verfasser Motivierung und das Schließen ist demnach ein motiviertes Urteilen. Dies ist gewiß richtig, allein wenn HILLEBRAND in Bekämpfung eines von SIGMUND EXNER ausgesprochenen Gedankens meint, zwischen motivierten und nicht motivierten Urteilen gebe es keine Übergänge und Zwischenstufen, so verkennt er, glaube ich, die Tatsachen. EXNER hat nämlich in seinem geistvollen Aufsatz "Über allgemeine Denkfehler" (Deutsche Rundschau, 1888, Seite 54f) dargelegt, daß der Grund eines verkehrten Handelns oft in der Unmöglichkeit liegt, aus einem gewohnten Gedankenkreis herauszukommen. Er findet nun, daß sich von der Bruthenne, die - der Eier beraubt - doch alle Vorkehrungen zum Brüten trifft, bis zu den Paralogismen ZENOs eine "kontinuierliche Kette von Denkfehlern" finden läßt. Ohne mich auf die schwierige Frage des tierischen Bewußtseins einzulassen, finde ich in EXNERs Ausführungen das eine unzweifelhaft richtig und sehr anregend, daß sich in der Motivierung der gefällten Urteile unzählige Abstufungen finden. Ja, ich möchte sagen, gänzlich ohne bewußte Verursachung wird selten ein Urteil gefällt, allein in den Klarheitsgraden der Bewußtheit, mit welcher die verursachenden Urteile gedacht werden, gibt es eben große Unterschiede. Auch ein aufgrund eines blinden Autoritätsglaubens gefälltes Urteil ist motiviert, ebenso ein gewohnheitsmäßig gefälltes. In diesem Schließen kann ich wie EXNER nur das Endglied einer Reihe von Abstufungen in der Motivierung erblicken.

Die im zweiten Kapitel gegebene Darstellung von BRENTANOs Urteilslehre ist der wichtigste Teil des Büchleins. Obwohl hier HILLEBRAND nur die Lehren seines Meisters wiedergibt, so hat er sich doch durch die klare Darlegung insofern ein Verdienst erworben, als dadurch gerade die Schwächen dieser Lehren recht deutlich werden. Auf eine Kritik der ganzen Theorie hier einzugehen, würde zu weit führen; ich will nur einige wichtige Punkte herausheben: und zwar zunächst die Ableitung des Existenzbegriffs. Das Urteil ist bekanntlich nach BRENTANO eine nicht weiter zu analysierende Grundfunktion unseres Bewußtseins, eine eigentümliche nur durch den Hinweis auf die innere Erfahrung verständliche Beziehung zu einem intentionalen Objekt. BRENTANO glaubt diese Beziehung am Besten durch die Ausdrücke "anerkennen" und "verwerfen" bezeichnen zu können. Diese Theorie, wonach das Urteil eine eigene Grundklasse von psychischen Phänomenen, ein idion genos bildet, nennt HILLEBRAND deshalb die idiogenetische.

Den Gegnern dieser Theorie, namentlich SIGWART, wirft nun HILLEBRAND vor, sie seien nicht imstande, die Provenienz [Herkunft - wp] des Existenzbegriffs nachzuweisen. Dieser Begriff spielt nämlich in der Theorie BRENTANOs deshalb eine große Rolle, weil die Existentialurteile, wie "es gibt einen Gott", "es gibt keine Gespenster", nach dieser Theorie den Urteilstypus am reinsten und einfachsten erkennen lassen. Hier wird eben, so lehrt BRENTANO, das vorgestellte Subjekt einfach anerkannt oder verworfen und nicht, wie in den kategorischen Urteilen, eine Eigenschaft oder Tätigkeit von ihm prädiziert. Ja, die Existentialsätze bilden so sehr die Grundform aller Urteile, daß HILLEBRAND, worauf wir noch zurückkommen, die logische Bedeutung der kategorischen Urteile dadurch klarzulegen sucht, daß er dieselben auf Existentialsätze zurückführt. Die idiogenetische Theorie vermag aber nach HILLEBRANDs Meinung auch die Provenienz des Existenzbegriffs vollständig zu erklären, und das soll ein Hauptvorzug derselben sein.

Der Existenzbegriff verdankt nämlich, so wird gelehrt, seine Entstehung der inneren Erfahrung und sei durch Reflexion auf das anerkennende Urteil gebildet worden. BRENTANO hat diesen Gedanken zuerst ein seiner "Psychologie" (Bd. I, Seite 276) ausgesprochen und in seiner 1890 erschienen Schrift "Vom Ursprung sitticher Erkenntnis" ausführlicher, aber doch immer mehr andeutend als darlegend behandelt. Am eingehendsten ist derselbe Gedanke von MARTY (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 18, Seite 171f) erörtert worden und dessen Ausführungen werden vollinhaltlich von HILLEBRAND adoptiert. MARTY warnt zunächst davor, die Begriffe Realität und Existenz miteinander zu verwechseln. Der Begriff der Realität lasse sich nur durch Beispiele klar machen; wir erfassen denselben in jeder physischen Qualität, wie Farbe, Ton usw., aber auch in psychischen Vorgängen, wie Vorstellen, Urteilen, Fühlen, Hoffen, Wünschen usw. Durch Abstraktion des Momentes, das allen diesen Bestimmungen gemein ist, wird der allgemeine Begriff des Realen gewonnen. "Was ist nun", heißt es dann weiter,
    "der Begriff der Existenz? Wir haben schon oben bemerkt, daß der Begriff gewonnen ist durch Reflexion auf eine bestimmte Klasse von psychischen Phänomenen, nämlich das Urteil. Hätten wir nie ein anerkennendes Urteil gefällt, dann besäßen wir den Begriff nicht, denn er bezeichnet nur eine Beziehung eines Gegenstandes (worunter hier jedes Vorgestellte zu verstehen ist) auf ein mögliches Urteil, das ihn anerkennt und dabei richtig ist."
Es geht, wie man sieht, aus MARTYs eigenen Worten hervor, daß zur Entstehung des Existenzbegriffs die Reflexion auf das anerkennende Urteil allein nicht genügt. Wenn die Existenz eines Gegenstandes die Beziehung desselben zu einem möglichen Urteil bedeutet, das ihn anerkennt und dabei richtig ist, dann wird dieser Begriff nur durch Refleion auf die richtigen oder wahren bejahenden Urteile entstehen können und setzt somit den Begrif der Wahrheit voraus. In der Tat behauptet auch BRENTANO (Ursprung der sittlichen Erkenntnis, Seite 76), wo er den Begriff der Wahrheit erörtert:
    "Ob ich sage, ein affirmatives [bejahendes - wp] Urteil sei wahr, oder sein Gegenstand sei existierend, in beiden Fällen sage ich ein und dasselbe."
Wie erfahren wir aber, ob ein Urteil wahr ist oder nicht? Sagt uns dies vielleicht eine innere Stimme, ein daimonion? Davon erfahren wir bei keinem Vertreter der idiogenetischen Urteilstheorie, auch bei HILLEBRAND nicht das Geringste. Die wahren Urteile, zumindest die wahren anerkennenden Urteile müssen aber deutlich charakterisiert sein und sich in der inneren Wahrnehmung unmittelbar von den unwahren unterscheiden lassen. Denn ohne ein solches Kriterium wäre es unmöglich, die Reflexion darauf zu richten und so zum Begriff der Existenz zu gelangen. Nun findet sich allerdings eine Klasse von Urteilen, bei denen nach der Lehre BRENTANOs ein solches psychologisches Kriterium vorhanden ist, nämlich die evidenten Urteile. MARTY hätte also, um nicht in eine Tautologie zu verfallen, den Begriff der Existenz aus den evidenten Urteilen ableiten müssen. Allein diese eignen sich nicht dazu, weil es meistens Relationsurteile sind, in denen das Moment der Anerkennung nicht so deutlich wird, daß es dazu herausfordert, darauf zu reflektieren. So verwandelt sich dann die ganze Erörterung, die beim ersten Lesen wirklich den Eindruck des Tiefsinns macht, in eine bloße Tautologie. Zuerst sagt man, der Existenzbegriff sei aus der Reflexion auf die anerkennenden Urteile gewonnen, dann schleicht sich unvermerkt der Begriff der Wahrheit ein und schließlich erfährt man, daß Wahrheit - Existenz korrelative Begriffe sind, wird aber weder darüber belehrt, was Wahrheit noch was Existenz ist. Wann ist ein Urteil wahr? Wenn sein Gegenstand existiert. Wann existiert ein Gegenstand? Wenn das Urteil, welches ihn anerkennt, richtig ist. Mehr folgt schlechterdings nicht aus MARTYs und BRENTANOs Erörterungen, und somit hat HILLEBRAND nicht das Recht, die Aufhellung des Existenzbegriffs als Vorzug der idiogenetischen Urteilstheorie anzuführen.

Bei dem Bestreben, zwischen Realität und Existenz recht genau zu unterscheiden, ist - das sei gelegentlich bemerkt - Herrn Prof. MARTY, dem unbarmherzigen Aufdecker von Widersprüchen bei seinen Gegners, etwas Merkwürdiges passiert. Auf Seite 171 seines Aufsatzes sind die Farben als Beispiel eines Realen angeführt. Seite 176 desselben Aufsatzes heißt es wiederum, daß alle Farben doch nur "vorgestellte Farben, also etwas Unreales" sind. Qui bene distinguit, bene docet [Wer gut unterscheidet, lehrt gut. - wp], lautet die alte Regel der Scholastiker, allein hier wird man wohl sagen dürfen: Qui nimis distinguit, parum docet. [Wer über die Maßen unterscheidet, lehrt kleine Dinge. - wp]

Der tiefere Grund dafür, daß die besprochenen Erörterungen über Realität, Existenz und Wahrheit so wenig befriedigen, liegt darin, daß die genannten Denker es unterlassen haben, genau und unzweideutig ihren erkenntnistheoretischen Standpunkt zu bezeichnen. Wer über den Existenzbegriff nachdenkt, muß sich zunächst darüber klar sein, ob er an das Bestehen einer von unserem Bewußtsein unabhängigen Außenwelt glaubt, die in irgendeiner Weise unseren Sinnesdaten entspricht, oder ob er mit den Neukantianern SCHUPPE, LECLAIR, REHMKE, SCHUBERT-SOLDERN u. a. überzeugt ist, die Existenz der Außenwelt erschöpft sich im Gedachtwerden, in der üblichen Terminologie ausgedrückt, ob er Realist oder Idealist ist.

Vom Standpunkt des Realismus wird man einen Existentialsatz dann für wahr halten, wenn der darin beurteilte Gegenstand sich als wirkend erweist,, wenn wir Tatsachen erleben, die wir als Wirkungen dieses Gegenstandes aufzufassen nicht umhin können. Die Wahrheit des Urteils hängt dann ganz ab von der wirklichen Existenz des Gegenstandes, die bestehen bleibt, mögen wir ein Urteil darüber fällen oder nicht. Die Existenz ist dann ein Prädikat wie ein anderes und bedeutet, daß der vorgestellte Gegenstand wirksam, wirkungsfähig ist, wie dies erst jüngst BENNO ERDMANN in seiner "Logik", Bd. I, Seite 311, gelegentlich der Bekämpfung von BRENTANOs Urteilstheorie dargelegt hat.

Es sei gestattet, das noch kurz an einem Beispiel zu erläutern. Wenn in SCHILLERs "Bürgschaft" der Tyrann, nachdem er von der rechtzeitigen Wiederkehr des Meros erfahren hat, ausruft: "die Treue ist doch kein leerer Wahn", so hat ihn das eben erlebte Ereignis, welches nur als Wirkung der Treue gedeutet werden kann, an die Existenz, d. h. an die Wirkungsfähigkeit der Treue zu glauben gezwungen.

Der Idealist hingegen wird den Begriff der Existenz als apriorische Kategorie des Denkens auffassen und in der Wahrheit nur eine verschiedenartige psychische Qualifikation der Urteile erblicken, die er etwa als Denknotwendigkeit bezeichnen dürfte. Allerdings läßt sich nicht leugnen, daß auf diesem Standpunkt der Begriff der Wahrheit seinen eigentlichen Halt verliert, und es ist etwas Wahres dran, wenn MÜNSTERBERG ("Über Aufgaben und Methoden der Psychologie", Seite 29) den Standpunkt der reinen Erfahrung als "jenseits von wahr und falsch" liegend betrachtet.

BRENTANOs erkenntnistheoretischer Standpunkt ist aus seinen Schriften nicht mit voller Sicherheit festzustellen. Die Sätze, in welchen er (Psychologie, Seite 128) die Aufgabe der Naturwissenschaft bestimmt, könnte auch ein Idealist unterschreiben, die auf Seite 122 sich findende Polemik gegen BAIN läßt wieder eher den Realisten vermuten.

Wir gehen zu einem zweiten Punkt in der vorliegenden Schrift über, nämlich der Zurückführung kategorischer Urteile auf Existentialurteile. HILLEBRAND sieht in der Existentialform den adäquatesten Ausdruck des Urteils und glaubt durch eine Zurückführung der kategorischen Urteile auf Existentialsätze die wahre logische Bedeutung derselben gewinnen zu können. Das gewöhnlich mit J bezeichnete partikular bejahende Urteil "Irgendein S ist P" (diese Form zieht HILLEBRAND mit vollem Recht der üblichen "Einige S sind P" vor) bedeutet für ihn nicht anderes, als die Anerkennung der Materie S P, also z. B. "Irgendein Mensch ist gelehrt" ist gleichbedeutend mit "Es gibt gelehrte Menschen" und enthält die Anerkennung der Vorstellung "gelehrter Mensch". Zunächst wäre zuzugeben, daß der Sinn der Urteile "irgendein Mensch ist gelehrt" und "es gibt gelehrte Menschen" derselbe ist, da in solchen Urteilen die Existenz der beurteilten Gegenstände immer mitbehauptet wird. Was aber HILLEBRAND nicht beachtet hat, das ist Folgendes: Die Vorstellung "gelehrter Mensch" kann nicht entstehen, ohne daß früher das Urteil "dieser Mensch ist gelehrt" gebildet worden wäre. Ein gelehrter Mensch ist eben ein Mensch, welcher gelehrt ist, d. h. ein Begrifff, aus dem das eine Merkmal "gelehrt" herausgehoben und als prädizierbare Eigenschaft desselben hier bezeichnet wird. Die attributive Verbindung "gelehrter Mensch" kann weder gedacht noch ausgesprochen werden, ohne daß vorher wiederholt die prädikative Verbindung "dieser oder jener Mensch ist gelehrt" vollzogen worden wäre. Genau dasselbe gilt von Merkmalen, welche direkt der sinnlichen Wahrnehmung entnommen sind. Die Vorstellung z. B. einer weißen Rose kann allerdings als ungetrenntes und unzergliedertes Ganzes in meinem Bewußtsein vorhanden sein, auch ohne daß ich das Urteil gefällt habe, "die Rose ist weiß", allein die attributive Verbindung "weiße Rose", die in dieser Form gedacht wird, setzt ebenfalls voraus, daß das Merkmal "weiß" aus dem ganzen Wahrnehmungskomplex herausgehoben und als prädizierbare Eigenschaft der Rose bezeichnet worden ist. Wer uns also sagt, das Urteil "irgendein Mensch ist gelehrt" sei gleichbedeutend mit dem Urteil "es gibt einen gelehrten Menschen", der sagt zwar etwas Richtiges, allein er hat uns darüber, was wir tun, wenn wir ein kategorisches Urteil fällen, nicht im Geringsten aufgeklärt, da ein solches Urteil ("dieser oder jener Mensch ist gelehrt") bereits gebildet sein muß, bevor die Vorstellung "gelehrter Mensch" in uns entstehen konnte. Wollte man also zugeben, daß die Existentialsätze mit einfacher Materie wie "es gibt einen Gott" eingliedrige Urteile sind, die nichts anderes enthalten, als die Anerkennung oder Leugnung des beurteilten Gegenstandes, dann müßte man in den sogenannten kategorischen Urteilen eine davon gänzlich verschiedene Klasse von Urteilen erblicken, bei welchen das spezifische Geschehen ein ganz anderes ist, als bei den Existentialsätzen. Kategorische Urteile sind zwar bisweilen logisch gleichwertig mit Existentialsätzen von zusammengesetzter Materie, allein der Versuch, den psychischen Prozeß, der in einem kategorischen Urteil seinen Ausdruck findet, als identisch hinzustellen mit dem psychischen Prozeß, der seinen Ausdruck findet in einem Existentialsatz mit zusammengesetzter Materie, erweist sich als vollständig mißlungen, weil eben jene zusammengesetzte Materie nur durch kategorische Urteile für das Bewußtsein erobert werden kann. Ich ziehe es daher vor, die zweigliedrigen kategorischen Urteile als diejenigen zu betrachten, welche den Typus der Urteilsfunktion am deutlichsten und reinsten erkennen lassen und betrachte auch die Existentialsätze mit einfacher Materie als kategorische Urteile, in welchen die Existenz vom vorgestellten Inhalt präzidiert wird. Welchen Sinn dieses Prädikat hat, wurde eben bereits andeutet.

Das sogenannte universelle-affirmative Urteil von der Form "Alle S sind P" hat nach HILLEBRAND keinen anderen Sinn, als "Es gibt kein Nicht-P seiendes S" und seine Funktion besteht also nur in der Verwerfung der bezeichneten Materie. Der oben gemachte Einwand gilt natürlich auch hier, aber außerdem ist hier die logische Gleichwertigkeit nicht allgemein zugegeben. Sie trifft zu bei den Urteilen, welche SIGWART, Logik I, Seite 209 "empirisch allgemeine" genannt hat. Wer nach einer Abendgesellschaft, wenn sich die Gäste entfernt haben, sagt "Alle sind fort", der meint entschieden nichts anderes, als daß keiner der erschienenen Gäste mehr zurückgeblieben ist. hier ist unter "alle" eine dem Urteilenden genau bekannte bestimmte Anzahl verstanden und jedes solche "Alle" ist, wie SIGWART (Seite 210) bemerkt, immer durch die doppelte Negation hindurchgegangen. "Alle negiert die Ausnahme" sagt er kurz und treffend. Bei den "unbedingt" allgemeinen Urteilen wird hingegen an die Ausnahme nicht gedacht. Wer sagt, daß alle Körper ausgedehnt sind, der denkt nicht an die Leugnung von nicht ausgedehnten Körpern, er sagt nur, daß im Begriff Körper das Merkmal der Ausdehnung mitgedacht werden muß. Der adäquate Ausdruck für ein solches Urteil ist daher, wie SIGWART wieder sehr richtig bemerkt, "das S ist P" oder "wenn etwas S ist, so ist es P". Das "Alle" ist hier nur sekundär, es soll nur anschaulicher machen. HILLEBRAND erwähnt diesen von SIGWART gemachten Unterschied, sucht jedoch nachzuweisen, daß derselbe nicht die Urteile selbst, sondern vielmehr die logische Berechtigung und die Antezedentien [das Vorhergehende - wp] der Urteile betrifft, behauptet aber werde in beiden Urteilen dasselbe. Dies kann ich jedoch nicht zugeben. Das Urteil "der Mensch ist sterblich" hebt die Tatsache, daß alle Menschen sterblich sind, in eine höhere Sphäre der Erkenntnis, es entrückt sie dem immerhin vielleicht doch nur zufälligen Zusammentreffen; es drückt aus, daß die Sterblichkeit zum Wesen des Menschen gehört, und gibt so nicht bloß eine Tatsache, sondern findet gewissermaßen für eine Reihe von Tatsachen die Formel, das Gesetz. Das psychische Geschehen wie auch der behauptete Inhalt sind in beiden Fällen verschieden, sie sind schlechterdings nicht unter einen Hut zu bringen.

HILLEBRAND bemerkt an einer anderen Stelle (Seite 57), in dem Urteil "der Mensch ist sterblich" werde die negative Qualität des Urteils sehr verhüllt. Das hätte ihn doch stutzig machen und zum nochmaligen Nachdenken darüber veranlassen sollen, ob seine Deutung wirklich die einzig zulässige ist. Es spricht eben auch dies im allgemeinen gegen BRENTANOs Urteilstheorie, daß sie so wenig von der Sprache bestätigt wird. Die Anhänger derselben scheinen das auch gefühlt zu haben und begrüßten daher mit großer Freude die Unterstützung, die MIKLOSICHs bekannte Auffassung der Impersonalien ihnen von sprachlicher Seite zu bringen schien. Daß jedoch diese unpersonalen Urteile von den Existentialsätzen streng zu sondern sind, hat jüngst BENNO ERDMANN an der bereits zitierten Stelle seiner Logik (Bd. I, Seite 311f) überzeugend nachgewiesen. Auch dafür, daß die Impersonalien keine subjektlosen Sätze sind, hat ERDMANN (a. a. O., Seite 304f) mehrere Gründe beigebracht, die sich noch wesentlich vermehren und vertiefen lassen.

HILLEBRAND widmet dem sprachlichen Ausdruck der Urteile einen eigenen Paragraphen. Darin macht er unter anderem die Entdeckung, daß die Form des Präsens des Verbs nicht immer eine Zeitbestimmung enthält, sondern auch oft nur die Urteilsfunktion bezeichnet, eine Tatsache, die in den meisten der gangbaren Lehrbücher der deutschen, lateinischen und griechischen Grammatik verzeichnet und unseren Gymnasiasten von der vierten Klasse an geläufig ist. Sonst zeigt sich in HILLEBRANDs Bemerkungen meist das Streben, die Sprache zu meistern, weil die Form, in der sie die Urteile ausdrückt, so wenig zur idiogenetischen Theorie passen will. Ein wenig mehr Ehrfurcht vor der in der Sprache ausgeprägten Denkform und etwas weniger Selbstvertrauen würde hier nicht geschadet haben.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich gegen die vor nicht langer Zeit in diesen Blättern getane Äußerung Prof. HÖFLERs, daß der Mathematiker und Physiker der geeignetste Lehrer der Propädeutik an Gymnasien sein soll, Verwahrung einlegen. HÖFLER, der selbst Mathematiker und Physiker ist, betont ausdrücklich, daß ihn nicht nur subjektive, sondern auch objektive Gründe für diese Überzeugung gewonnen haben. Diese objektiven Gründe namhaft zu machen, hat er jedoch unterlassen. Demgegenüber erlaube ich mir zu bemerken, daß ich die Beschäftigung mit der Philologie und die Vertrautheit mit ihrer Methode für geeigneter halte, auf Logik und Psychologie vorzubereiten, als Mathematik und Physik. Die objektiven Gründe, die mich zu dieser Überzeugung brachten, werde ich jedoch nicht verschweigen, sondern, wenn auch nur in aller Kürze, namhaft machen. Die Beschäftigung mit wissenschaftlicher Grammatik, namentlich mit Syntax fordert vom Philologen geradezu eine gewisse Fertigkeit in der Analyse von Gedanken und die Etymologie macht ihn mit der Tatsache der Apperzeption auf das Genaueste vertraut. Die Interpretation schwieriger Texte zwingt ihn, den Gedankeninhalt von der Form zu sondern und verlangt von ihm die Fähigkeit, sich in fremde Bewußtseinszustände hineinzudenken. Die Betrachtung der Kunstmittel schließlich, welche die Sprache anwendet und die Wirkung, die sie damit erzielt, läßt ihn auch ins Gefühlsleben tiefe Blicke tun, ein Gebiet, das zu untersuchen der Mathematiker und Physiker in seiner Wissenschaft nirgends Anlaß findet. Die Mathematik lehrt komplizierte Gedankenkommplexe überblicken und arbeitet mit starken Abstraktionen, die Physik macht mit der induktiven und experimentellen Methode vertraut. In der Mathematik selbst liegt aber, obwohl sie fortwährend evidente Urteile fällt, gar nicht der Anlaß vor, die psychischen Bedingungen dieser Evidenz zu prüfen, in der Physik ebensowenig, über die Bedeutung und Gültigkeit der induktiven Methode nachzudenken. Wer sich veranlaßt fühlt, dies zu tun, den treibt hierzu seine eigene philosophische Neigung und Anlage an, nicht aber das Bedürfnis der Fachwissenschaft. Solche in der Persönlichkeit liegende Motive werden freilich immer weit mächtiger sein, als wissenschaftliche Fachstudien.

Indem ich zum Schluß die Schrift HILLEBRANDs all denen empfehle, die BRENTANOs Urteilslehre und deren Konsequenzen kennen zu lernen wünschen, möchte ich mir noch eine persönlniche Bemerkung erlauben. Ich habe öfter den Ansichten BRENTANOs entgegentreten müssen. Möge der verehrte Forscher, dem ich selbst vielfache Anregung und Förderung verdanke, daraus ersehen, welch hohe Bedeutung ich seinen Lehren beimesse. Er wird mich voraussichtlich noch öfter auf philosophischem Gebiet als Gegner finden, aber gewiß immer im Kampf für die Wahrheit, "der wir ja gemeinsam dienen". Dabei darf ich mich wohl auf seine im Vorwort zu seiner letzten Schrift gegebene Versicherung berufen, daß ihm "jedes aufrichtgige Wort des Gegners immer von Herzen willkommen ist".
LITERATUR - Wilhelm Jerusalem, Die neuen Theorien der kategorischen Schlüsse, Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien, 43. Jhg., Wien 1892