p-4ra-1H. HöffdingA. ReinachB. ErdmannKantvon LeclairC. Hermann     
 
SIGMUND EXNER
Über allgemeine Denkfehler (1)

"Der Stumpfsinnige pflegt von Problemen immer nur eine oder einige Seiten zu sehen, gewöhnlich diejenigen, die assoziativ durch Erfahrungen aus der letzten Zeit ins Bewußtsein treten. Aufmerksam gemacht auf diesen oder jenen Umstand, sieht er deren Bedeutung ein; er war aber selbst nicht imstande, diese Assoziationen zu produzieren, wenngleich ihm das Tatsächliche derselben ganz wohl bekannt war. Der Scharfsinnige weiß einzelne Umstände bis in ihre fernen Konsequenzen zu verfolgen, ist er aber nicht zugleich verständig, so kann es geschehen, daß andere Umstände von derselben Bedeutung nicht in sein Bewußtsein treten; es waren dann die Assoziationen zwar reichhaltig, aber nur nach einer Richtung, die Umsicht fehlte."

"Von der Bruthenne, welche ihr leeres Nest bebrütet, bis zum Problem des Zeno von Elea zieht durch das Tier- und Menschenreich eine kontinuierliche Kette von Denkfehlern, alle darauf beruhend, daß das Nervensystem der Außenwelt gegenüber so fungiert, wie es in der größten Mehrzahl der Fälle, nicht aber in einem speziellen Ausnahmefall zweckmäßig ist, und deren typische Art uns einen Einblick in die stammesgeschichtliche Entwicklung und in die Mechanik des Denkprozesses, diesen im weitesten Sinn genommen, gewährt."

Der experimentelle Naturforscher pflegt, ehe er das Resultat eines seiner Versuche als richtig anerkennt, sich von der Größe der Fehler Rechenschaft zu geben, welche in der niemals vollkommenen Funktionsweise der verwendeten Apparate ihren Grund haben. Ähnlich verfährt der Statistiker und jeder Gelehrte, der das Glück hat, seinen Stoff nach exakten Methoden bearbeiten zu können. Das Resultat erhält dann seinen Wert erst dadurch, daß durch eine Angabe der Fehlergrenzen der Grad der Zuverlässigkeit desselben bestimmt wird. Überall also handelt es sich um eine genaue Kenntnis der Fehler, sei es der Apparate, sei es der Prämissen, sei es der kalkulierenden Methode.

Nun arbeitet zweifelsohne in den Denkvorgängen der komplizierteste Mechanismus, dessen sich der Forscher und der Mensch überhaupt bedient; er liefert zugleich die allgemeinste Methode, so allgemein, daß es fast lächerlich erscheinen würde, ihn mit unter den Methoden der Forschung aufzuführen, wie wir ja auch die menschliche Hand bei einer Aufzählung des Instrumentariums nicht zu nennen pflegen.

Es sei mir gestattet, indem ich über die Fehler und Fehlerquellen dieser allgemeinsten der Methoden spreche, micht nicht auf Einzelheiten einzulassen, sondern nach allgemeinen Forschungsregeln das Typische in der Masse der Einzelerscheinungen aufzusuchen. - Ich muß dazu etwas weiter ausholen.

Es ist oftmals über den Instinkt und seinen Unterschied vom Verstand gesprochen worden. Die außerordentliche Geschicklichkeit und Zweckmäßigkeit, welche Vögel im Nestbau, Insekten in ihren staatenähnlichen Einrichtungen usw. zeigen, grenzt an die Leistungen jener Funktionen des Nervensystems, welche wir Verstand zu nennen pflegen, sind aber meines Erachtens doch ganz bedeutend - wesentlich wage ich angesichts der in der ganzen Natur vorkommenden Übergänge nicht zu sagen - von diesen verschieden. Den Unterschied möchte ich darin suchen, daß  der Instinkt seine außerordentlichen Leistungen immer nur auf einem eng begrenzten Gebiet und in Bezug auf ein ebenso beschränktes Ziel entfaltet  und ihm ein Überschreiten dieser Grenzen unmöglich ist. Diese Unmöglichkeit rührt daher, daß dem Tier die der zweckentsprechenden Handlung dienenden Bewegungsimpulse das eine Mal zu Gebote stehen, das andere Mal aber durchaus nicht; für andere Fälle hat es diese Bewegungsimpulse gleichsam vergessen; sie und ihr Effekt stehen nicht in seinem Bewußtsein; psychologisch gesprochen, in den letzteren Fällen existieren keine Assoziationen zwischen den vorhandenen Eindrücken und den Erinnerungsbildern jener nervösen Impulse und ihrer Wirkungen.

Bei der Unmöglichkeit, hier auf diesen Gegenstand näher einzugehen, erinnere ich nur daran, daß ein Vogel es noch so gut verstehen mag, die Fäden, aus denen er sein Nest baut, zweckmäßig um die Äste zu schlingen, seine Arbeit den Formen, den Verzweigungen des Baumes anzupassen usw. Gerät dieser Vogel aber mit einem Bein in eine Schlinge, so wird er niemals seine Geschicklichkeit im Flechten zu verwenden wissen, um seine Bande zu lösen; er wird nur ein einziges Mittel zu seiner Befreiung kennen, er wird genauso wie ein Tier, das nie ein Nest gebaut und nie einen Faden im Schnabel getragen hat, so lange reißen und zerren, bis er sich getötet oder zufällig befreit hat (2).

Eine Henne legt täglich an dieselbe Stelle ihr Ei, und wenn sie eine Anzahl gelegt hat, so wird sie zur Bruthenne, d. h. sie setzt sich auf die Eier und entfernt sich im Laufe der ganzen Brutzeit nur noch auf kurze Intervalle. Hat man der Henne aber täglich das gelegte Ei weggenommen, so wird sie - zumindest verhält es sich in vielen Fällen so - trotzdem zur Bruthenne: sie sitzt dann ihre Brutzeit in mehr oder weniger genauem Ausmaß ab, gleichgültig ob sie Eier unter sich hat oder nicht (3).

Diese beiden Beispiele sollen zeigen, wie gewisse, dem Instinkt angehörige Prozesse im Zentralnervensystem nur in ganz bestimmten Kombinationen - teleologisch gesprochen in Bezug auf einen bestimmten Zweck - ablaufen; daß sie in diesen Kombinationen auch dann ablaufen, wenn sie im speziellen Fall, wie bei der Bruthenne, zwecklos sind; daß aber diese Kombinationen nicht gelöst werden können: eine beim Nesterbau verwendete Geschicklichkeit dem Vogel nicht in anderen Fällen zu Gebote steht.

Je ausgebildeter der Instinkt ist, desto fester miteinander verflochten sind jene Kombinationen nervöser Vorgänge und Zustände, die zu den staunenerregenden Werken desselben führen; je mehr sich diese Kombinationen lockern, desto näher rückt die Handlungsweise des Tieres jener Art, als deren Grundlage wir den Verstand ansehen.

Nicht die unserem menschlichen Sinn oftmals so imponierenden Kunstleistungen eines Tieres sind es, die einen Maßstab für den Verstand abgeben,  sondern die Mannigfaltigkeit der Fälle, in welchen das Tier über die ihm von der Natur gegebenen physischen Fähigkeiten tatsächlich verfügt. 

Das genannte Verhalten läßt sich durch die ganze Tierreihe verfolgen, und zeigt, wie sich die Instinkte allmählich in  beschränkte  Verstandeshandlungen auflösen. Diese Beschränkung aber trägt noch immer denselben Charakter, bestehend in der Unlösbarkeit oder Schwerlösbarkeit gewisser zentraler Kombinationen und der Unfähigkeit, aus zwei solchen Kombinationen eine dritte zu bilden, indem ein Glied der ersten zur zweiten hinzugefügt wird.

Ein gequältes Kaninchen wehrt sich, aber es beißt dabei nicht (4). Es kann beißen, ja beißt sogar im Kampf mit Seinesgleichen; aber in den nervösen Kombinationen der Abwehr gegen den Übermächtigen befindet sich bei ihm nur das Entfliehen, das sich Verkriechen, Stillkauern usw., wie das dem Leben seiner Vorfahren entspricht. Niemals wird diesen nervösen Kombinationen die des Beißens assoziiert. Wer je im Felsgebirge einen Jagdhund beobachtete, wie er die mannigfaltigsten Terrainschwierigkeiten überwindet, umgeht, und in Bezug auf die eigene Leistungsfähigkeit richtig abschätzt, wird geneigt sein, in das allgemeine Loblied des Hundeverstandes einzustimmen. Und doch treten dieselben Schwächen auch dieses Verstandes deutlich hervor. Derselbe Hund trägt auch seine Knochen beiseite, um sie nicht mit seinen Genossen teilen zu müssen, oder trägt sie in seine Hütte, um sie da behaglicher verzehren zu können - niemals aber wird es einem Hund einfallen, eine Terrainschwierigkeit dadurch zu überwinden, daß er einen dürren Ast aus dem Weg trägt. Er wird zehnmal ansetzen und den Sprung versuchen, der Ast wird ihn jedesmal zurückwerfen; daß er ihn wegtragen könnte, wie den Knochen, wird ihm niemals bewußt werden, so wenig wie, daß er in einem anderen Fall sich einen solchen hertragen könnte, um eine Stufe zu gewinnen.

Ich habe bei diesem Gebaren der Tiere so lange verweilt, um zu zeigen, daß die ausgeprägtesten Instinkthandlungen, sowie selbst die Handlungen der intelligentesten Tiere eine gemeinschaftliche Eigentümlichkeit aufweisen.  Sie beruth in der relativen Starrheit gewisser Kombinationen von in den Nervenzentren ablaufenden Vorgängen und wechselnden Zuständen.  Dieselbe hat ihren phylogenetischen [abstammungsgeschichtlichen - wp] Ursprung in dem Schutz, den sie dem Individuum oder seiner Nachkommenschaft in der weitaus größten Masse der Fälle sofort und sicher gewährt. Insofern aber im speziellen Ausnahmefall die ganze starre Kombination ohne den genannten Zweck oder gegen denselben in Aktion tritt, wie das bei jedem natürlichen oder künstlichen Mechanismus geschehen kann, dürfen wir von einer Fehlwirkung derselben sprechen, und wenn wir die nervösen Vorgänge in einem Huhn mit den Denkprozessen in eine Analogie stellen wollen, können wir das Brüten der ihrer Eier beraubten Henne als niedrigste Art eines  Denkfehlers  bezeichnen.

Auch wir Menschen haben Instinkte, welche durch ihre beschränkte Zweckmäßigkeit vollkommen als solche charakterisiert sind. Die Reflexe gehören hierher. Wenn unser Auge berührt wird, so tritt instinktiv eine Blinzelbewegung ein. Durch dieselbe ist das Auge gewiß besser geschützt, als wenn die Blinzelbewegung ein Resultat der Überlegung wäre. Haben wir jedoch eine Operation am Auge auszuhalten, so tritt trotz aller Überlegung und bewußter Willensaktion der Blinzeldrang mit solcher Macht ein, daß wir vielleicht bitten, der Arzt möge uns die Lider offen halten, aber selbst können wir es nicht. Der Mechanismus fungiert eben entsprechend seiner Natur für den allgemeinen Fall; daß in einem speziellen Fall seine Wirkung nutzlos oder schädlich ist, beirrt ihn so wenig, wie der Mangel der Eier die Bruthenne am Brüten hindert.

Allerdings sind wir uns des wahren Sachverhalts bewußt, was bei den Instinkthandlungen der Tiere zumindest zweifelhaft ist. Doch ist das für unsere Frage gleichgültig. Ich glaube vielmehr zeigen zu können, daß der geschilderte Typus der Instinkthandlung auch in den Leistungen des menschlichen Nervensystems immer wieder zutage tritt, und daß von den einfachsten bis zu den höchsten derselben  die Anwendung des Gemeinhin-Zutreffenden auf spezielle Fälle die Grundlage der typischen Irrtümer, für die höheren Sphären also der der typischen Denkfehler  bildet.

Die Mehrzahl der sogenannten Sinnestäuschungen könnte als Jllustration dieses Satzes angeführt werden. Die Zerrung einer Stelle der Netzhaut, hervorgerufen durch einen von außen auf den Augapfel wirkenden Druck, reizt dieselbe, und wir haben den Eindruck, als ob sich an jener Stelle des Raumes ein helles Objekt befände, an welcher sich  im Allgemeinen  ein solches befinden muß, soll eben diese Netzhautstelle in Erregung geraten. Dabei tritt der Eindruck, wie eine Reflexbewegung, mit zwingender Kraft ein: wir sehen eben dort hell, wenn wir auch noch so sehr überzeugt sind, daß der Druck die Ursache der Erscheinung und die Stelle im Raum tatsächlich vollkommen dunkel ist.

Ich glaube, daß die Intensität der Täuschung für den kultivierten Menschen wenigstens schon geringer ist in Bezug auf die Örtlichkeit, an welche er im Allgemeinen Spiegelbilder verlegt. Ist der Spiegel als solcher nicht zu erkennen, dann ist die Täuschung wohl in hohem Grad zwingend, wie die erstaunten Gesichter in den Jahrmarktsbuden beweisen, in welchen ein lebender, sprechender Kopf ohne Körper gezeigt wird und dgl. mehr. Ist aber der Spiegel zu erkennen, dann verlegt der Mensch, dem derselbe ein Gebrauchsgegenstand ist, die gespiegelten Objekte nicht mehr an ihren optischen Ort; im Gegenteil, er weiß nach der Lage der spiegelnden Fläche schon ziemlich genau den wahren Ort des gespiegelten Objekts ohne weitere Überlegung anzugeben. Hier haben wir also ein Beispiel, welches zeigt, daß der Gesamteindruck, der uns durch die Vermittlung unseres Auges und der psychischen Verarbeitung erwächst - und wir können denselben als die Grundlage  des Urteils  betrachten -, modifiziert wird durch die Erinnerungsbilder von früheren Sinneseindrücken und den sich an dieselben knüpfenden inneren Vorgänge.

Was also in dem früher angeführten Beispiel dem Hund nicht gelungen ist, eine Assoziation zu finden zwischen in ihm vorhandenen Erinnerungsbildern und dem vorliegenden Komplex von Eindrücken, das ist hier der höheren Intelligenz geläufig geworden. Doch ist nicht zu leugnen, daß, wenn auch manche Menschen behaupten, das Spiegelbild in der Ebene des Rahmens zu sehen, doch der Eindruck noch etwas Zwingendes hat, und zumindest in gewissem Sinn und für viele Menschen sich von dem des oben angeführten Druckbildes der Netzhaut nicht sehr weit entfernt.

Wie dem auch sei: der Gesamteindruck und das sich daran knüpfende Urteil ist aus den Bahnen des Gewöhnlichen abgewichen, ist modifiziert worden durch Assoziationen aus dem Gedächtnis, uns so sind wir vor dem Irrtum, es läge das gesehene Objekt hinter dem Rahmen, bewahrt worden.

In diesen Fällen ist uns der Mechanismus, nach welchem sich die Vorgänge in uns abspielen, noch recht gut bewußt; es wird Jeder, sei er Naturforscher oder nicht, noch ziemlich gut zu unterscheiden wissen, was dabei ein rein sinnlicher Eindruck, was aus dem Gedächtnis mehr oder weniger bewußt hinzugekommen ist oder modifizierend eingewirkt hat. Diese scharfe Trennung verschwindet aber mehr und mehr, zu je höheren Regionen des psychischen Lebens wir aufsteigen. Man zeichne eine Linie auf ein Blatt Papier und decke dieses Blat mit einem anderen soweit zu, daß eben nur der Endpunkt der Linie bedeckt wird. Ein naiver Beobachter, der die Linie betrachtet, wird, wenn er das deckende Blatt abhebt, einen Moment stutzen, die Linie nicht länger zu finden. Er hatte sich dieselbe länger vorgestellt. Warum? Weil in der ungeheuren Mehrzahl der Fälle das zufällig bedeckende Objekt, wenn es eine Kontur abschneidet, nicht bloß das letzte Ende desselben treffen, sondern dieselbe irgendwo in ihrem Verlauf durchkreuzen wird. Es bildete der vorliegende Fall den Grenzfall von unendlich vielen (oder, mit Rücksicht auf unser sinnliches Unterscheidungsvermögen, von sehr vielen) Fällen, in welchen allein die Linie größer wäre, als sie tatsächlich gefunden wurde. Wir hätten also nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung mit unendlich (sehr) großer Wahrscheinlichkeit, d. h. mit Sicherheit eine größere Linie anzunehmen gehabt, als wir sie fanden. Daß wir in der Tat eine längere Linie zu sehen glaubten, zeigt, daß sich in uns ein Vorgang nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeitsrechung abgespielt hat. Mit anderen Worten: es hat sich unser Urteil nach dem Gemeinhin-Zutreffenden gebildet, und so ist der Irrtum im vorliegenden speziellen Fall entstanden. Man wird darüber streiten können, ob man es hier noch mit einer Sinnestäuschung in der früher angeführten Bedeutung des Wortes, oder ob man es schon mit einem Denkfehler zu tun hat.

Wesentlich von dieser Art nun ist eine ungeheure Anzahl von Täuschungen, denen wir ausgesetzt sind. Ich erwähne nur alle Taschenspielerkünste. Die ganze Serie der in einem Handbuch für Taschenspieler aufgezählten Kunststücke könnte als eine ebensogroße Serie von Beispielen dieser Art Irrtümer dienen, ja gerade die eigentliche Kunst des Taschenspielers, die Feinheiten, durch selche sich der gewandte Meister vor den anderen auszeichnet, beruhen nahez ausschließlich auf der Ausnutzung der geschilderten Art unserer psychischen Prozesse.

Ein plötzlich nach einem Ort geworfener Blick genügt dem Taschenspieler, für einen Moment die Blicke des ganzen Publikums dahin zu lenken, und ihn eine unbemerkte Handbewegung ausführen zu lassen, obwohl das Bestreben jedes Zuschauers dahin geht, den Taschenspieler nicht aus dem Auge zu verlieren. Er rechnet dabei auf den Umstand, daß ein mit dieser Kopfbewegung, Wimpernstellung, Lidhebung und Raschheit ausgeführter Blick den Menschen am fixierten Gegenstand in der Tat  in der größten Mehrzahl der Fälle  etwas Interessanteres erblicken läßt, als in seinem ganzen übrigen Gesichtskreis. Das Publikum pflegt dabei gar nicht zu wissen, warum es nach jenem Ort geblickt hat, ja nicht einmal, daß es dahin geblickt hat.

Also auch in diesem, der eigentlichen Sinnesphysiologie schon entrücktem Gebiet, haben wir es immer noch mit Leistungen unseres Nervensystems zu tun, welche die Analogie mit der Bruthenne, mit dem Blinzelreflex nicht verleugnen können. Die Funktionen laufen ab, wie sie  im Allgemeinen  zweckmäßig sind; wir können geradezu sagen, es wickeln sich, mehr oder weniger bewußt, die gewöhnlichen Vorstellungsreihen ab; das Urteil bildet sich dem Gemeinhin-Richtigen entsprechend. Die in ihren Prämissen dem Bewußtsein mehr oder ganz entrückten Urteile sind das Resultat der in neuerer Zeit so vielfach besprochenen induktiven Schlüsse, der Analogieschlüsse oder Induktionsschlüsse, die im Allgemeinen von JOHN STUART MILL  zuerst gewürdigt, und deren hervorragende Bedeutung für die Sinnesphysiologie später durch HERMANN von HELMHOLTZ erkannt worden ist. Zwischen diesen und den Instinkthandlungen einerseits, dem bewußtesten Denken andererseits gibt es keine scharfe Grenze. Denn Jedermann kann an sich selbst beobachten, daß das Denken zumindest größtenteils auf assoziativen Vorgängen beruth.

Die genannten Assoziationen gewöhnlichster Art, die nur das Gemeinhin-Richtige umfassen, haben, obwohl sie so häufig zu Denkfehlern führen, ihre große praktische Bedeutung. Reichhaltige Assoziationen sind psychische Leistungen, die wir nur mit einem gewissen Zeitaufwand bewältigen können. Eine Mutter, die nach ihrem den Flußdamm hinabkollernden Kind springt, hat keine Assoziationen von der eigenen Gefahr, in der sie schwebt, auch nicht von der Gefahr, ihre übrigen Kinder der Mutter zu berauben, und aller anderen sich daran knüpfenden Konsequenzen. Und man begreift, daß im Laufe der phyogenetischen Entwicklung auch für die geistig höchststehenden Individuen die einfachen Assoziationen nicht verloren gegangen sind; sonst wäre jenes Kind längst ertrunken, ehe der Denkprozeß zum Abschluß gekommen ist.

Trotzdem unterscheidet sich ein hochstehendes Denken von einem Denken niederer Art durch den Reichtum an Assoziationen.

Das, was im früher angeführten Beispiel der Hund nicht leisten konnte, die Übertragung der Elemente einer Vorstellungsreihe in eine andere, die Möglichkeit dieser Assoziation und der Reichtum dieser Assoziationen, bedingt wohl in erster Linie den Grad des Verstandes. Wir Deutsche haben ein treffendes Wort hierfür, das Wort  Umsicht.  Es ist deshalb so treffend, weil es auch auf den bestimmten Standpunkt hinweist, von dem aus Umsicht gehalten werden muß, entsprechend dem speziellen Fall, um den sich der Denkprozeß dreht (5).

Der Volkswirt hat das eben Gesagte gut illustriert in der Anekdote von einem Hanswurst, der, als er am Montag zum Galgen geführt wurde, sagte: "Nun, die Woche fängt ja gut an." Sie demonstriert den Ablauf der Vorstellungsreihe für das Gemeinhin-Richtige, und den Mangel der Assoziation des Umstandes, daß für den Hanswurst keine Wocheneinteilung mehr existiert.

Der größte Teil der, ich möchte sagen üblichen Denkfehler der Menschen, beruth nun auf diesem, wie man sieht, immer noch den Stempel der Instinkthandlung tragenden,  im Großen und Ganzen richtigen und zweckmäßigen Ablauf von Vorstellungsreihen, bei einem Mangel der für den speziellen Fall wichtigen Assoziationen.  Mit anderen Worten: die typischen Denkfehler beruhen auf der Assoziation des Gewöhnlichen und dem Übersehen des Besonderen.

Es liegt die Frage nahe: warum denken wir bei der Freiheit, mit der wir unseren Gedanken willkürlich ihre Richtungen zu geben vermögen, in dieser zu Fehlern führenden Art auch dann, wenn wir Zeit genug zur Überlegung haben?

Die Antwort hierauf lautet, daß es mit dieser Freiheit des Denkens eben nicht so einfach steht, wie uns das gewöhnlich vorstellen. Ohne mich hierauf näher einzulassen, möchte ich nur hervorheben, daß mir der Ausdruck "ich denke", "ich fühle", kein guter zu sein scheint. Für den gewöhnlichen Zustand unseres psychischen Lebens sollte es heißen, "es denkt in mir", "es fühlt in mir." Wir sind eben nicht unbeschränkte Herren unserer Assoziationen, so wenig wir wir überhaupt Herren unserer  Gefühle  sind (6).

Es sei mir gestattet, als Beispiele zum eben Mitgeteilten einige der allgemeinsten Denkfehler zu nennen.

In meiner Heimat gibt es eine sogenannte Staatslotterie. An gewissen Tagen des Monats werden bei den öffentlichen Verkaufsstellen von den neunzig disponiblen Nummern die fünf gezogenen angeschrieben. Man kann dann vor jeder derselben eine Schar aufgeregter Menschen finden, die hier nicht nur erfahren, ob ihre Hoffnung abermals enttäuscht worden ist, sondern welche auch mit großer Gewissenhaftigkeit alle gezogenen Nummern sorgfältig abschreiben, die arme Tagelöhnerin auf einen vergilbten und zerknitterten Zettel, der elegant gekleidete Herr in ein nettes Notizbuch. Frägt man nach dem Zweck dieser sorgfältigen Buchführung, so bekommt man eine Antwort, deren gedanklicher Inhalt sich etwa folgendermaßen wiedergeben läßt: es werden alle Nummern im Laufe der Zeit gleich oft gezogen; demnach haben diejenigen, welche schon längere Zeit nicht gezogen worden sind, die größere Wahrscheinlichkeit, demnächst auf der Liste der gezogenen zu erscheinen.

Derselbe Gedankengang begegnet uns unzählige Male nicht nur bei anderen Hazardspielen jeglicher Art. Auch dem in den Sommerfrischen oft zu hörenden Ausspruch: es soll jetzt nur tüchtig regnen, so wird es dann wieder schön (7), oder dem Urteil über das ausgleichende Geschick, das einem Glücksfall Unglück folgen läßt, und das in der Sage vom Ring des  Polykrates  zum Ausdruck kommt, liegt dieser Gedankengang zugrunde. Hier handelt es sich als wahrlich um einen  allgemeinen  Denkfehler; Tausende und aber Tausende begehen ihn täglich. Das Gemeinhin-Richtige in diesem Gedankenprozeß ist, daß alle Nummern die gleiche Wahrhscheinlichkeit haben zu gewinnen; dem assoziieren sich unsere anthropomorphen Vorstellungen von einer Gerechtigkeit, die für eine gleiche Verteilung sorgt, und die beim Ring des  Polykrates  die Form des Neides der Götter angenommen hat, ferner die zahlreichen aus unserem Inneren entnommenen Erinnerungen an die Erschöpfbarkeit, und die Neigung zur Abwechslung; weiterhin assoziieren sich als gewöhnlich zutreffend die zahlreichen Erfahrungen, nach welchen z. B. die Wahrscheinlichkeit den Freund in seinem einrückenden Regiment zu finden, umso größer wird, je mehr Kompanien schon vorbeimarschiert sind, ohne daß er unter ihnen sichtbar wurde; oder ein Baum in einem zu fällenden Wald umso sicherer heute unter die Axt kommt, je mehr andere Bäume desselben schon auf dem Boden liegen, und die einzige weiße Kugel umso wahrscheinlicher aus der Urne gezogen wird, je mehr schwarze Kugeln schon vorher aus derselben gehoben wurden. Das übersehene Spezielle in diesem Fall, was zum Denkfehler führt, ist, daß in der Lotterei vor jeder Ziehung wieder alle Numern in die Urne gelegt werden, deshalb das Vorhergegangene ohne Einfluß auf die Wahrscheinlichkeit des gegenwärtigen Falles bleibt. Die Assoziation dieses Umstandes war mangelhaft. Ein anderes Beispiel: Ich mußte häufig lächeln, wenn Leute, die sich in anderer Beziehung mit gewissem Selbstbewußtsein zu den sogenannten "Aufgeklärten" rechnen, und alle Vorurteile abgestreift zu haben glauben, mit beneidenswerter Sicherheit davon sprachen, dieser Mensch habe Glück im Spiel, jener habe Unglück. Ja, man würde Gefahr laufen, in ausführliche Diskussionen zu verfallen, wollte man die Meinung solcher Spieler - ich denke da zunächst an harmlose Kartenspieler - angreifen, oder sie zu widerlegen suchen.

Es kann jemand an einem Abend, auch an mehreren Abenden Glück  gehabt  haben, d. h. es hat sich in dieser Zeit das Verhältnis der günstigen zu den möglichen Fällen gut gestaltet; das kann sich aber immer nur auf die Vergangenheit beziehen. Der Satz: der Mann  hat  Glück im Spiel, beruth immer auf einem Denkfehler. Wir sind gewohnt, die Schicksale und Erlebnisse eines Menschen mit seinen Eigenschaften in Verbindung zu bringen, und mit vollem Recht. Ein Mensch ist charakterstark, ist liebenswürdig, hat ein glückliches Temperament. Diese Herstellung einer Verbindung zwischen den Erfahrungen, die wir an einem Menschen machen, und seinen Eigenschaften ist das Gemeinhin-Richtige. Diesen gewöhnlichen Assoziationen folgend, sind wir nun geneigt, auch sein Glück im Spiel einer Eigenschaft zuzuschreiben, und tun es, indem wir ihn "glücklich im Spiel" nennen. Man braucht keine Kenntnisse über die Gesetze der Wahrscheinlichkeit zu haben, um das Spezielle dieses Falls, die Unmöglichkeit, daß die Verteilung der Karten vom Beteiligten abhängig ist, einzusehen, und dem Denkprozeß zu assoziieren.

Das Vorurteil in diesen Dingen beruft sich immer auf Erfahrungen. Man behauptet eben, beobachtet zu haben, daß der Eine gewöhnlich gute, der Andere gewöhnlich schlechte Karten bekommt. Es ist hierbei aber zu bedenken, daß das richtige Beobachten eine schwere Sache ist. Ich erinnere nur an das weit verbreitete Vorurteil vom Einfluß des Mondes auf das Wetter. Die Meteorologie hat nach den ausführlichsten Witterungstabellen festgestellt, daß ein solcher Einfluß in keinem merkbaren Grad existiert (8). Und doch wollen so viele, selbst hervorragende Männer, aber meistens Laien in naturwissenschaftlichen Dingen, den Einfluß  beobachtet  haben. Natürlich, wenn man bei einem Wetterumschlag nach dem Kalender sieht, und den morgen oder übermorgen eintretenden Wechsel des Mondviertels als Bestätigung seiner vorgefaßten Meinung annimmt, dann ist eine solche leicht gefunden, und ich möchte bezweifeln, ob viele jener "Beobachter" anzugeben wüßten, innerhalb wie vieler Stunden vor oder nach dem Mondwechsel der Wetterumschlag gewöhnlich eintreten muß, um noch mit jenem in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht werden zu dürfen.

Auch hier geht der Gedankengang die vielleicht von Jugend auf ausgefahrenen Bahnen; es sind die Assoziationen des Gewöhnlichen, welche durch falsche Beobachtungen und Erfahrungen und durch Bestätigungen von anderer Seite vielleicht bestärkt worden sind. Wir dürfen uns über die Macht dieser im menschlichen Verkehr entstandenen Assoziationen, die für uns nun auch die Assoziationen des Gewöhnlichen sind, nicht wundern; sind es doch diese, welche jedem Zeitalter und jedem Jahrhundert ihren Charakter erteilen; ist es doch ihre Macht, welche bewirkte, daß die Mehrzahl der im Mittelalter verbrannten Hexen von ihrer Schuld überzeugt, und sich als behext bekennend, in den Tod gingen (9).

Aber nicht nur in den Kreisen des alltäglichen Lebens finden wir die geschilderten typischen Denkfehler; sie dringen, immer noch ihren Charakter bewahrend, bis in die höchsten Sphären menschlichen Könnens, in die Gebiete von Kunst und Wissenschaft vor.

Hier zeigt sich so recht der Unterschied zwischen diesen beiden Arenen des strebenden und schaffenden Menschengeistes. Während sich auf dem Gebiet der nach Wahrheit suchenden Wissenschaft jeder Denkfehler, er mag typisch sein oder nicht, auf das Schwerste rächt, walten die typischen Denkfehler frei auf dem Gebiet der Kunst, die nicht nach Wahr und Falsch, sondern nur nach Schön und Unschön frägt; ja sie bilden in vielen Beziehungen geradezu die Grundlagen des künstlerischen Schaffens und des künstlerischen Genießens.

Legt ein Architekt die Fußplatte eine Balkons über zwei Eisenschienen, und mag sie da noch so sicher ruhen, die Rechnung, nach welcher die Schienen konstruiert sind, für das Zwanzigfache der tatsächlichen Belastung ausgeführt und die Belastungsprobe noch so glänzend ausgefallen sein - schön werden wir den Balkon nicht finden; er wird uns häßlich erscheinen, gegenüber einem anderen, dessen Steinplatte durch ein Paar passend geformter, gleichsam aus der Mauer wachsender Steinkonsolen oder einem steinernen Unterbau, wie wir solche an Erkern zu sehen gewohnt sind, getragen wird. Das Mißverhältnis zwischen dem Tragenden und dem Getragenenn ist ein grober Kunstfehler, und das, was hier ein Mißverhältnis heißt, liegt nicht in der Rechnung - die kann in schönster Ordnung sein - sondern liegt im "instinktiven" Urteil des Beschauers. Dieses Urteil ist ein allgemeines, wie die massenhafte Fabrikation von Konsolen aus Blech und Gips beweist, die an unseren zahlreichen Neubauten als Scheinstützen unter den tatsächlich stützenden Eisenschienen angebracht werden. So wird in unserer praktischen raschlebigen Zeit vielfach erstn der Vollendung des eigentlichen Baus die Schönheit an denselben angeklebt.

Diese Tatsachen müssen anregen, der psychologischen Grundlage derselben nachzugehen. Die Tragfähigkeit des Steins ist uns durch die direkten Erfahrungen über seine Festigkeit und Härte, mehr aber noch durch den Anblick zahlreicher Bauten, in denen er in der beschriebenen Weise verwendet wurde, geläufig, anschaulich geworden. Jede überhängende Felswand, an der wir vorbeigehen, gibt uns ein neues Maß für die Neigung, in welcher der Stein noch als Konsole zu wirken vermag.

Diese Anschaulichkeit fehlt uns für das Kunstprodukt Eisen (10). Sie aber ist es, welche in unserem Denkprozeß das  Gemeinhin-Richtige  repräsentiert. Es sind die mehr oder weniger bewußten Assoziationen der ungeheuren Menge anderer Fälle, welche uns das Gefühl der beruhigenden Sicherheit geben, und damit den Eindruck des Schönen ermöglichen. Das  Besondere  des Falles, die Verwendung des Eisens, kommt in Bezug auf diesen Eindruck durchaus nicht in Betracht. Wir können uns von der Tragfähigkeit der Eisenschienen selbst durch die Rechnung und durch die Belastungsprobe noch so sehr überzeugt haben, der Balkon wird uns auch dann noch so unschön erscheinen wie vorher. Unser Schönheitsurteil beruth also, eben weil es das Besondere nicht in Betracht zieht, auf einem Denkfehler. Hier ist der Denkfehler aber kein Fehler im gewöhnlichen Sinn des Wortes; im Gegenteil, das Feingefühl für diesen Denkfehler des Beschauers darf keinem Künstler fehlen.

Es gibt kein Gebiet der Kunst, aus welchem nicht ungezählte Beispiel der genannten Art angeführt werden könnten.

Wohl einer der größten deutschen Kunstgelehrten und zugleich der größten Architekten unseres Jahrhunderts, dessen wissenschaftliche Leistungen mit seinen Bauten an Dauer wetteifern werden, der von wenigen Jahren verstorbene GOTTFRIED SEMPER sagt: "Stil ist die Übereinstimmung einer Kunsterscheinung mit ihrer Entstehungsgeschichte, mit allen Vorbedingungen und Umständen ihres Werdens." (11); und sein großes Werk, "Der Stil" ist von der ersten bis zur letzten Seite der Durchführung dieses Gedankens gewidmet. Man ersieht aber schon aus dem angeführten Satz die psychologische Grundlage jeder Kunstleistung; denn stilgerecht kann demnach ein Werk nur sein, sofern es in Übereinstimmung steht mit der großen Zahl von (im Ganzen unbewußten) Assoziationen, die im Beschauer bezüglich der Entstehung derselben auftauchen, und stilgerecht sein, ist eine Bedingung der Schönheit.

Dies ist die psychologische Grundlage dafür, daß eine Schüssel aus Majolika [zinnglasierte italienische Keramik - wp] einen anderen Stil verlangt, als eine solche aus Metall, daß hier wieder die getriebe und die gegossene auseinandergehalten werden müssen, daß die Holzschüsse, die Glasschüssel und vollends die japanische Lackschüssel abermals Werke  sui generis [aus sich selbst heraus - wp] sind.

Ich habe schon früher erwähnt, daß ein großer Teil unserer gewöhnlichsten Assoziationen, die für uns das Gemeinhin-Zutreffende bilden, auf Eindrücken beruhen, die seit unserer frühesten Jugend auf uns gewirkt haben. Die Art dieser Eindrücke aber ist bedingt durch das Gebaren der uns um Jahrhunderte, ja Jahrtausende vorausgegangenen Generationen; mit anderen Worten: diese Traditionen spielen für unsere Kunsteindrücke die größte Rolle. Der Grieche wendete an seinem marmornen Tempel immer noch Motive an, die einer grauen Urzeit entstammten, in welcher der Tempel aus Holz aufgeführt wurde; ja, man kann heute noch am Marmortempel die Strukturelemente bezeichnen, an denen die Balken mit der Längsfaserung und diejenigen, an denen sie in jenen prähistorischen Zeiten mit den Querschnitten frei zutage lagen. Auch hiervon abzuweichen, würde für die Griechen zu einem Mißfallen geführt haben und wäre nach der SEMPERschen Definition stilwidrig. Uns geht es nicht anders. Die ganze ungeheure Masse von ornamentalen Motiven, die man als Kunstsymbole bezeichnet, beruth auf säkularer Tradition. Wir verschmähen auch heute noch kein Akroterion auf unseren Dachgiebeln. Es ist eben auch heute noch das Gemeinhin-Richtige; der besondere Fall, daß es bei der heutigen Konstruktion überflüssig ist, hat für unser künstlerisches Empfinden keine Bedeutung, und wir mögen noch so sehr überzeugt sein, daß es ein Anthropomorphismus ist, den Schöpfer mit menschlichen Eigenschaften auszustatten, so werden uns die Gott-Vater-Figuren eines RAPHAEL, eine MICHELANGELO dennoch entzücken, denn die Erhabenheit, die hehre Kraft und Macht, die Leidenschaftslosigkeit, Gerechtigkeit, die Vereinigung von Strenge und Güte und vor allem die Unnahbarkeit für alles Niedrige sind Eigenschaften, die sich in unserem Geist assoziiert finden mit solchen kräftigen Greisengestalten. Und als jene Künstler diese Figuren schufen, haben sie deshalb so Großes geleistet, weil sie durch dieselben all jene Assoziationen im Beschauer wachzurufen verstanden, gleichgültig, ob derselben sich den Träger der schaffenden Kraft als unerkannt, als unvorstellbar denkt, oder ob er sich denselben schon früher in menschlicher Gestalt vorzustellen pflegte.

Doch kehren wir zu dem uns näher liegenden Gebiet der Wissenschaft zurück. Ich habe erwähnt, daß man auch hier wieder auf die typischen Denkfehler stößt. Es sei mir gestattet, wenn auch nur an einem Beispiel, die Form zu zeigen, in welcher sich hier diese Eigentümlichkeit unserer psychischen Leistungen darstellt.

Es sind mehr als zweitausend Jahre, daß der griechische Philosoph ZENO von Elea ein Sophisma aufgestellt hat, das nicht nur seine Zeitgenossen und die späteren griechischen Philosophenschulen vielfach beschäftigt hat, sondern das sich unter den verschiedensten Urteilen und Deutungen bis auf den heutigen Tag in der philosophischen Literatur erhalten hat und durchaus nicht allgemein als eine erledigte Angelegenheit betrachtet wird.

Wenn man das Sophisma aller unwesentlichen Zutaten entkleidet, und in eine einfache, den Kern immer noch bergende Gestalt bringt, so kann man es folgendermaßen aussprechen: der schnellfüßige  Achilles  kann eine Schildkröte im Lauf nicht erreichen, denn in dem Moment, da er zu laufen anfängt, trennt ihn eine gegebene Entfernung von der Schildkröte; er muß eine gewisse Zeit laufen, bis diese Entfernung um die Hälfte verkleinert ist; dann muß er wieder eine, wenn auch kleine Zeit, bis sie auf ein Achtel herabgesunken ist; und so geht das, wie man sieht, ins Unendliche fort. Es ist immer noch eine, wenn auch sehr kleine Zeit nötig, um die Distanz wieder zu halbieren, und die Anzahl dieser kleinen Zeitteilchen hat kein Ende; somit kann  Achilles  niemals die dahinschleichende Schildkröte erreichen.

Daß er sie schließlich erreicht, wissen wir; worin also liegt hier der Trugschluß? Oder besteht hier wirklich, wie auch behauptet worden ist, ein Widerspruch zwischen unserem Denkvermögen und der Erfahrung? Gewiß nicht; es handelt sich vielmehr um einen Denkfehler typischer Art. Daß seit Jahrtausenden die Gelehrten und Nichtgelehrten immer wieder von Neuem bei einer Vorlegung dieses Sophismas stutzen, beruth darauf, daß sich ihr Gedankengang eben nach dem Gemeinhin-Zutreffenden abspielte. Und in der Tat, für die gewöhnlichen Fälle ist es richtig, daß, wenn zu einem Zeitteilchen immerfort neue hinzugelegt werden, und dieses Hinzulegen kein Ende nimmt, dann die Summe dieser Zeitteilchen unendlich groß sein wird. Dieses Gemeinhin-Zutreffende bestimmt unser Urteil und mach es zu einem falschen. Denn das Besondere des Problems wurde nicht in Rechnung gezogen. Es besteht darin, daß, wenn jene unendlich vielen Zeitteilchen nach gewissen Gesetzen an Größe abnehmen, die Summe derselben nicht unendlich groß ist, sondern recht klein sein kann. Die Mathematiker sprechen in diesem Fall von einer "konvergierenden Reihe". Es ist aber durchaus nicht nötig, mathematische Kenntnisse zu besitzen, um dies zu wissen und demnach die Lösung des Sophismas zu finden. Denn Jedermann weiß, daß er eine Meterlänge zerlegt denken kann in ½ Meter, mehr ¼ Meter, mehr ⅛ Meter ..., daß er da auch zu einer unendlichen Anzahl von Gliedern gelangt, deren Summe aber nur ein Meter ist, denn er hat ja die einzelnen Glieder selbst durch ein Zerlegen dieses Meters gebildet. Daß man eine unendlich lange Zeit brauchen würde, um die Glieder alle aufzuzählen, kommt hier nicht in Betracht, denn nach  dieser  Zeit ist nicht die Frage. Wenn sich also dem Vorstellungskomplex noch der Gedanke assoziiert, daß jede Zeit oder Raumgröße in dieselbe aus unendlich vielen Gliedern bestehende Reihe zerlegt gedacht werden kann, dann ist der Denkfehler, eben durch die Einbeziehung des Besonderen, vermieden.

Erwägt man, daß seit Jahrtausenden immer wieder über dieses und analoge Sophismen nachgedacht und geschrieben wurde, daß noch in jüngster Zeit ÜBERWEG in seinem "System der Logik" (12) dasselbe ausführlich und in einem ähnlichen sinn, wie ich es eben ausführte, zu behandeln für notwendig fand, so wird man zugeben, daß hier von einem  allgemeinen  Denkfehler gesprochen werden kann. Es ist aber auch ein  typischer  Denkfehler, denn wieder handelt es sich um das Dominieren des Gemeinhin-Zutreffenden und den Mangel der Assoziation des Besonderen, in voller Analogie zu den Beobachtungen aus dem psychischen Leben der Tiere, von denen ich einige angeführt habe, zu den Sinnestäuschungen und den höheren Urteilstäuschungen der Menschen.

Von der Bruthenne, welche ihr leeres Nest bebrütet, bis zum Problem des ZENO von Elea zieht durch das Tier- und Menschenreich eine kontinuierliche Kette von Denkfehlern, alle darauf beruhend, daß das Nervensystem der Außenwelt gegenüber so fungiert, wie es in der größten Mehrzahl der Fälle, nicht aber in einem speziellen Ausnahmefall zweckmäßig ist, und deren typische Art uns einen Einblick in die stammesgeschichtliche Entwicklung und in die Mechanik des Denkprozesses, diesen im weitesten Sinn genommen, gewährt.

Von der anderen Seite besehen, haben uns unsere Betrachtungen zu einer wenig ermutigenden Aussicht geführt. Zur Vermeidung der Denkfehler, d. h. zur Erforschung der Wahrheit müssen, wie wir zeigten, die Besonderheiten des Falles in Betracht gezogen werden. Dadurch ergibt sich eine immer größere Detaillierung des Forschens sowie des Erforschten, und die Erklärung für die tausendfältige Erfahrung des Forschers, die sich in dem Ausruf Luft machen möchte: "Schöne Zeiten des  Aristoteles,  der das Gehirn für eine Fettmasse hielt; schöne Zeiten der vier Elemente! Das Gewebe der Natur ist immer noch viel kunstreicher, als es sich der beste Weber träumen läßt!"
LITERATUR - Sigmund Exner, Über allgemeine Denkfehler, Deutsche Rundschau, Bd. 58, Berlin 1889
    Anmerkungen
    1) Nach einem Vortrag, gehalten in der allgemeinen Sitzung der 61. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Köln am 22. September 1888.
    2) Ob einzelne Vogelgattungen, z. B. die Papageien, klug genug sind, einen Knoten zu lösen, kann dahingestellt bleiben, da diese hier nicht in Betracht kommt.
    3) Noch in anderer Beziehung ändert sich das physiologische Verhalten der Henne, wenn sie brutig wird, doch kommt auch dies hier nicht in Betracht.
    4) Es soll einzelne Individuen geben, welche beißen. Ich habe das trotz reichlicher Gelegenheit nie erfahren.
    5) Der Stumpfsinnige pflegt von Problemen immer nur eine oder einige Seiten zu sehen, gewöhnlich diejenigen, die assoziativ durch Erfahrungen aus der letzten Zeit ins Bewußtsein treten. Aufmerksam gemacht auf diesen oder jenen Umstand, sieht er deren Bedeutung ein; er war aber selbst nicht imstande, diese Assoziationen zu produzieren, wenngleich ihm das Tatsächliche derselben ganz wohl bekannt war. Der Scharfsinnige weiß einzelne Umstände bis in ihre fernen Konsequenzen zu verfolgen, ist er aber nicht zugleich verständig, so kann es geschehen, daß andere Umstände von derselben Bedeutung nicht in sein Bewußtsein treten; es waren dann die Assoziationen zwar reichhaltig, aber nur nach einer Richtung, die "Umsicht" fehlte. - - - In zweiter Linie scheint mir für den Grad des Verstandes die richtige Abschätzung des Gewichts der einzelnen, sich teilweise entgegenwirkenden assoziierten Argumente in Betracht zu kommen. Bei gewissen Formen von Geisteskrankheiten tritt eine ganz enorme Verschiebung der Gewichte solcher assoziativen Vorstellungsreihen ein; doch walten derartige Ungleichheiten auch innerhalb der Grenzen des Normalen und tragen hier zur Charakteristik der Individualität und aller Stufen zwischen dem kalt "erwägenden" Verstand und dem überspannten Sanguinismus [heiteres, lebhaftes, leichtsinniges Temperament - wp] bei.
    6) Unsere Gefühle beherrschen wir nur in ganz indirekter Weise, indem wir uns gewisse Gedanken aus dem Kopf schlagen usw. Auch das wirkt aber nur teilweise. Es kommt vor, daß wir ein Bangen empfinden und uns erst wieder besinnen müssen, welche Nachricht uns in diese Stimmung versetzt hat und dgl. mehr. Diese Beeinflussung der Stimmungen ließe sich also etwa mit der willkürlichen Beeinflussung unserer Pulsfrequenz vergleichen, die wir auch durch das willkürliche Wachrufen gewisser Vorstellungen von freudigen oder grausigen Ereignissen bis zu einem gewissen Grad ändern können. - - - Aber auch bei den Verstandesoperationen ist unserer Willkür kein großer Spielraum gegeben. Die einem Problem sich assoziierenden Vorstellungsreihen assoziieren sich eben selbst; es hängt nicht unbedingt von uns ab, die eine Reihe ins Bewußtsein treten zu lassen oder nicht, und ebenso ist das Gewicht der Argumente nicht von unserer Willkür abhängig. So bildet sich ein Urteil in uns - man kann sagen: es denkt in uns. Hier ist eine absichtliche Beeinflussung natürlich nicht ganz ausgeschlossen, doch trägt sie auch den Stempel des Indirekten. Man kann gewisse angenehme Vorstellungsreihen willkürlich weiter ausspinnen und ihnen dadurch ein größeres Gewicht verschaffen, andere unterdrücken. Die Beeinflussung unseres Urteils durch egoistische Motive ist aber im Allgemeinen keine willkürliche. - - - Mit dieser Form der unwillkürlichen Urteilsbildung hängt es zusammen, daß ein Mensch sehr verständig sein kann, dabei aber überaus ungeschickt in der Motivierung seines Urteils. Die Assoziationen eines gescheiten Bauern können eben reichhaltig, die Gewichtsschätzung der einzelnen Vorstellungsreihen richtig sein, da sich das aber alles in ihm ohne bewußte Intervention abspielt, so kann er sehr weit von dem Vermögen entfernt sein, diese Vorgänge in Worte zu kleiden.
    7) Ein zeitlicher Ausgleich des Wetters gibt es nach Ansicht der Metereologen nicht.
    8) Vgl. PERNTER, Der Mond und das Wetter, Schriften des Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien, 1886.
    9) Von diesem allgemeinen im Verkehr der Menschen untereinander entstandenen Vorurteilen, sowie von ihrem Ursprung, ebenso von anderweitigen Denkfehlern (Idola) spricht BACO von VERULAM in seinem  Novum Organum,  1650, Seite 38f.
    10) Es ist zu bemerken, daß wir uns in einem Zeitalter befinden, in welchem diese Anschaulichkeit für die Eigenschaften des Eisens zu erwachen scheint, wodurch ein "Eisenstil" für Architektur ermöglicht ist. Die Anfänge desselben weist wohl schon jede größere Stadt Europas, insbesondere aber Amerikas auf.
    11) GOTTFRIED SEMPER, "Kleine Schriften", hg. von MANFRED und HANS SEMPER, Berlin und Stuttgart, 1884, Seite 402.
    12) FRIEDRICH ÜBERWEG, System der Logik, fünfte Auflage, Seite 470.