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EDITH LANDMANN-KALISCHER
Über den Erkenntniswert
ästhetischer Urteile

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"Die ästhetischen Urteile treten, wie die Sinnesurteile, in zwei Formen auf, in einer subjektiven Form: dies gefällt mir - ich sehe ein Blau und einer objektiven: dies ist schön - dies ist blau. Wie das Sinnesurteil, so wird auch das ästhetische Urteil unmittelbar und ohne Reflexion gefällt; es kann in seiner subjektiven Form weder bewiesen noch widerlegt werden, und es kann dennoch wahr oder falsch sein."

"An Hermann und Dorothea fanden die Weimarer Damen, es sei eine Zumutung, am Schicksal eines Gastwirtes Interesse zu nehmen."


Abschnitt II
Kapitel 3. Die subjektive Zuverlässigkeit
der Werturteile.

Haben wir im vorhergehenden Kapitel die erkenntnistheoretische Gleichstellung der Werte mit den sinnlichen Eigenschaften der Dinge durch allgemeine Überlegungen nahezulegen gesucht, so hängt doch die Berechtigung dieser Gleichsetzung noch von der Beantwortung der spezielleren Frage ab, ob und inwieweit den ästhetischen Urteilen der gleiche Grad objektiver Gültigkeit zugeschrieben werden kann, wie den Sinnesurteilen. Wir versuchen daher im Folgenden die Analogie zwischen Sinnes- und Werturteilen in Bezug auf die Art und den Grad ihrer Gültigkeit durchzuführen, wobei sich im Einzelnen auch Analogien ergeben werden, welche die Auffassung des ästhetischen Gefühls als einer Art von Sinnesorgan berechtigt erscheinen lassen.

Die ästhetischen Urteile treten, wie die Sinnesurteile, in zwei Formen auf, in einer subjektiven Form: "dies gefällt mir" - "ich sehe ein Blau" und einer objektiven: "dies ist schön" - "dies ist blau". Wie das Sinnesurteil, so wird auch das ästhetische Urteil unmittelbar und ohne Reflexion gefällt; es kann in seiner subjektiven Form weder bewiesen noch widerlegt werden, und es kann dennoch wahr oder falsch sein.

Wir prüfen zunächst die subjektive Form der Sinnes- und Werturteile, in welcher sie sich als Urteile einer inneren Wahrnehmung darstellen. - In der Logik gelten die Urteile der inneren Wahrnehmung bis auf den heutigen Tag für evident, also für unzugänglich für die Frage nach wahr und falsch. SIGWART spricht von ihrer "unmittelbaren", "absoluten" Gewißeit, ihrer "selbstverständlichen Gültigkeit" (39). Selbst ein Psychologe wie MEINONG betrachtet "jene Gewißheit und Evidenz, die kein anderes unmittelbares Existenzwissen mit der inneren Wahrnehmung gemein hat", als Charakteristikum derselben (40). Und dies gilt ihm nicht nur für Urteile so allgemeinen Inhalts wie: "ich fühle Schmerz" oder: "ich sehe Licht", sondern er formuliert speziell ein Evidenzgesetz für Verschiedenheitsurteile, für dessen Widerlegung durch die psychologischen Tatsachen selbst ich auf SCHUMANNs "Beiträge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen" (41) verweise.

Die eingehendste Prüfung der Sinnesurteile in Bezug auf ihre Gültigkeit findet sich wohl in STUMPFs Tonpsychologie, auf welche ich mich im Folgenden beziehe.

STUMPF unterscheidet zwischen objektiver und subjektiver Zuverlässigkeit der Urteile. Unter letzterer, mit der wir es hier zunächst zu tun haben, versteht er die Zuverlässigkeit eines Urteils im Hinblick auf die richtige Auffassung der Empfindungen als solcher zum Unterschied von ihrer richtigen Deutung auf äußere Objekte (42). Als Faktoren der subjektiven Zuverlässigkeit führt er an: Sicherheit und Genauigkeit der Vorstellungsproduktion, Grad der Aufmerksamkeit, Gefühle, Nebenvorstellungen. Dieselben Momente beeinflussen auch das ästhetische Urteil. Es verwechselt leicht ästhetische und intellektuelle Befriedigung; es wird abgelenkt durch die zufällige Stimmung, den Affekt oder das Vorurteil, die bei Aufnahme des ästhetischen Eindrucks bestehen.

So gewiß es nun ist, daß all diese Faktoren auch die richtige Beurteilung des ästhetischen Gefühls hemmen oder fördern, so einleuchtend ist es andererseits auch, daß diese Faktoren nicht nur das Urteil über das Gefühl, sondern, und in noch höherem Grade, das Gefühl selbst beeinflussen. Wir werden sie daher, um Wiederholungen zu vermeiden, erst bei einer Erörterung der objektiven Zuverlässigkeit besprechen.

In das Gebiet der subjektiven Zuverlässigkeit dagegen gehört der Fall, in dem tatsächlich vorhandene Gefühle von anderen übertönt und daher nicht beachtet werden. Diese Erscheinung, die aus dem Sinnesgebiet wohlbekannt ist, spielt bei den ethischen und ästhetischen Gefühlen, besonders in der Erziehung, eine große Rolle. Durch die bloße Benennung, durch das bloße Daraufaufmerksammachen können solche Gefühle ins Bewußtsein gehoben werden. Und wie für die individuelle, so ist dies auch für die Erziehung und Entwicklung der Gefühle im Völkerleben von größter Bedeutung. Wenn WINCKELMANN die antike Kunst "entdeckte", wenn VICTOR HUGO die Franzosen die Denkmäler ihrer gotischen Kunst lieben lehrte, wenn GOETHE das Gefühl für die Alpen erschloß, so entwickelten sie hierdurch das ästhetische Gefühl ihrer Zeitgenossen. Auf dieselbe Weise kann auch das sittliche Gefühl beeinflußt werden. So z. B. war durch die Dichter der Empfindsamkeit nicht bloß die Poesie, sondern das ganze Leben, besonders das sittliche Leben des deutschen Volkes, in völlig neue Bahnen gelenkt worden. Vom Umfang, in dem unsere ethischen Gefühle unter dem Einfluß der begrifflichen Hervorhebung sich entwickeln, macht man sich gemeinhin keine genügende Vorstellung. Mitleid und Hingabe, wie Selbstgefühl und Härte, religiöse Empfindsamkeit und prometheischer Trotz werden auf diese Weise von kaum wahrnehmbaren Ansätzen bis zur Hypertrophie [Übersteigerung - wp] entwickelt. - Die gleiche Rolle spielt natürlich auch der umgekehrte Fall, in dem man an das Vorhandensein nicht vorhandener Gefühle glaubt, weil sie reproduziert, lebhaft vorgestellt und unter dem Einfluß eines Wunsches, eines Ideals oder eines bloßen Glaubens künstlich exaltiert werden. So in vielen Fällen, unter dem Einfluß religiöser Suggestion, das Gefühl der Sünde.

Wir haben in diesen Fällen also falsche Urteile innerer Wahrnehmung in Bezug auf ästhetische und ethische Gefühle vor uns, welche auf dem Sinnesgebiet im "Überhören" und "Übersehen", und in der Fälschung des Sinnesurteils durch vorgefaßte Meinung ihr Analogon haben. Beiläufig erhellt sich schon hier, aus der subjektiven Unzuverlässigkeit der ästhetischen Urteile, die Unhaltbarkeit der Position EISLERs, nach der schön all das sein soll, was als gefallend ausgesagt wird.

Es fragt sich nun, welche Kriterien vorhanden sind, um die subjektive Zuverlässigkeit der einzelnen Urteile zu kontrollieren. In den Sinnesgebieten, in denen die Reize und die Empfindungen Reihen bilden, geschieht die Messung der subjektiven Zuverlässigkeit durch das Abfragen einer Reihe unter gleichen adäquaten äußeren Reizen und störenden Nebenumständen. Auf dem ästhetischen Gebiet ließe sich eine Untersuchung hierüber vielleicht in der Weise ausführen, daß derselbe Gegenstand der Versuchsperson vorgelegt wird, während man systematisch die Aufmerksamkeit lenkt oder ablenkt, Nebenvorstellungen erzeugt, durch Kontrast bestimmte Gefühlsdispositionen erregt, den Einfluß der Übung untersucht usw. Besonders die Beurteilung geometrischer Figuren würden verschiedene, jedesmal vorgeschriebene Gesichtspunkte ihrer Apperzeption interessante Ergebnisse liefern.

Durch die Tatsache der Änderungen der Urteile durch mehr oder weniger zufällige Mitbestimmungen wird natürlich die Möglichkeit, subjektiv richtige Urteile zu gewinnen, nicht ausgeschlossen. Sobald die Mitbestimmungen erkannt sind, lassen sie sich auch abschätzen, bzw. eliminieren. Auch auf dem Sinnesgebiet muß man sich mit der ungefähren Schätzung der störenden Momente begnügen (43). Daß aber die Übung und damit die Verfeinerung des ästhetischen Urteils bis ins Unendliche fortgehen könnte, haben wir nach Analogie der bei den Sinnesurteilen vorliegenden Verhältnissen keinen Grund anzunehmen. Denn nach dort vorliegenden Versuchen steigert sich die Übung nach der Erreichung einer gewissen Höhe nicht mehr wesentlich, so daß sie als gleichbleibend angesehen werden kann (44). Man kann somit schätzungsweise von einer "maximalen subjektiven Zuverlässigkeit" (45) sprechen, nämlich nicht einer absoluten, aber einer im Verhältnis zu anderen Versuchsumständen und - individuen größten und dem idealen Maximum verhältnismäßig naheliegenden.

Zur Erreichung dieser maximalen subjektiven Zuverlässigkeit des ästhetischen Urteils wird durch Übung und systematische Erziehung viel geschehen können. Aber auch die psychologische Ästhetik ist hierfür von Bedeutung. Die immer genauere Kenntnis des spezifisch ästhetischen psychischen Zustandes und der Faktoren seiner Entstehung ist die Vorbedingung für eine Ausschaltung alles Nebenwerkes und damit für die Möglichkeit subjektiv zuverlässiger Urteile überhaupt. Die Leistung der Wissenschaft ist hier für die Erziehung subjektiv richtiger Urteile wichtiger, als man bei einem so persönlichen und komplizierten Vorgang glauben sollte. Indem die Psychologen das, was sie für ihr ästhetisches Gefühl halten, beschreiben und zergliedern, muß sich durch gegenseitige Ergänzung und Abschleifung das typische ästhetische Verhalten herausstellen, und seine Merkmale können dem Laien als Wegweiser für subjektiv richtige Urteile dienen.


Kapitel 4. Die objektive Zuverlässigkeit
der Werturteile. Urteilstäuschungen.

"Objektive Zuverlässigkeit ist die Zuverlässigkeit eines Sinnesurteils, in welchem mit der Empfindung zugleich Objektives beurteilt wird, oder ein Urteil über Empfindungen als Zeichen äußerer Vorgänge (Reize)." (46) Auf ästhetischem Gebiet verläßt das Urteil das eigene Gefallen und behauptet aufgrund desselben die Schönheit der gefallenen Objekte. Indessen stößt der Versuch, die Analogie hier durchzuführen, auf eine fundamentale Schwierigkeit. STUMPF bestimmt den Sinn der objektiven Zuverlässigkeit näher auf folgende Weise:
    "Ob ein Ton, der uns höher erscheint als ein anderer, auch wirklich höher ist, bedeutet, ob die betreffende Stimmgabel oder Saite, deren Schwingungen mit dieser Gehörserscheinung gleichzeitig stattfinden, schnellere Schwingungen zeigt als eine andere." (47)
Man sieht, daß die Frage nach dem wirklich schön sein keine analoge Bedeutung haben kann. Wir sind in einigen Sinnesgebieten in der Lage, die adäquaten Reize der Empfindungen mit den Empfindungen selbst vergleichen zu können. Auf ästhetischem Gebiet fehlt uns hierzu nicht weniger als alles. Vor allem haben wir keinen Namen für die verschiedenen Arten des Schönheitsgefühls. Hieran sind bisher alle experimentellen Versuche gescheitert. Der einzige, der diese Verschiedenheiten bisher berücksichtigt hat, ist LIGHTNER WHITMER (48), der zwischen dem Wohlgefallen an Gleichheits- und dem an Ungleichheitsverhältnissen unterschied. Da außer diesem ersten Ansatz alle Unterscheidungen fehlen, so wissen wir überhaupt nicht, ob adäquate ästhetische Reize, d. h. feste Beziehungen zwischen bestimmten Gefühlen und bestimmten Qualitäten, bestehen, und wenn solche bestehen, so kennen wir sie nicht.

Dieser Tatbestand wird von Vielen als zwingendes Argument gegen die Gleichstellung der Sinnes- und der ästhetischen Urteile begrüßt werden. Indessen ist in keinem Gebiet die Beziehung zwischen Reiz und Empfindung von vornherein gegeben. Es bedurfte der Akustik und Optik, um jene für die Psychologie so wichtige Reihe von Reizen aufstellen zu können. Es bedurfte der Erfindung des Thermometers, um objektive von subjektiver Wärme überhaupt unterscheiden zu können. Zudem liegt es, wie WUNDT (49) vermutet, an der besonderen Feinheit des Organs, vermöge deren wir äußerst feine Abstufungen in der Verschiedenheit der Töne aufzufassen vermögen, daß man die Tonwelt in eine kontinuierliche Reihe ordnen kann. "Bei Geruch und Geschmack sind uns die feineren Übergänge der Empfindung verschlossen." Daher sind wir auf dem Gebiet des Geruchssinns noch in genau derselben Lage wie im ästhetischen: wir haben Objekte, von denen verschiedene Gerüche ausgehen, für deren Verschiedenheit wir keine sprachliche Bezeichnung haben; wir können die einzelnen riechenden Substanzen nicht in nuce [im Kern - wp] herstellen und noch weniger sie in eine Reihe ordnen. Wenn es für die Sinnesgebiete so vieler aus den verschiedensten Wissensbereichen zusammenströmender Arbeit bedurfte, um die Gleichung zweier Empfindungsgruppen aufstellen zu können, weshalb sollte dies nicht auch für die ästhetischen Gefühle die Aufgabe einer Wissenschaft sein, auf deren Lösung wir hoffen dürfen? Man wird einwenden, daß die Ästhetik diese Aufgabe bereits häufig in Angriff genommen, doch nie gelöst hat, und daß in der Stellung der Aufgabe die unbewiesene Voraussetzung enthalten ist, daß feste Beziehungen zwischen Reizen und Empfindungen (ästhetischen Gefühlen) überhaupt existieren, wogegen die populäre Ergebung in die Geschmacksverschiedenheiten sich sträubt. Aber daß die Ästhetik jene Aufgabe bisher noch nicht gelöst hat, ist kein Beweis gegen die richtige Stellung der Aufgabe, und was die individuellen Urteilsdifferenzen betrifft, so ist die Konstanz des Urteils allerdings eine unbewiesene Voraussetzung, aber es ist eine Voraussetzung, welche sie mit jeder Wissenschaft gemein hat, und welche erst ihre eigenen Fortschritte rechtfertigen können: es ist das Postulat der Erkennbarkeit ihres Gegenstandes überhaupt. Gerade die vorliegende Untersuchung sucht die wirre Verschiedenheit der Aussagen, welche der Ästhetik den Lebensfaden abzuschneiden droht, zu vermindern, indem sie zwischen subjektiver und objektiver Schönheit unterscheidet und die Gesichtspunkte aufstellt, welche bei der Prüfung eines jeden ästhetischen Urteils auf seine Richtigkeit hin angewandt werden müssen.

Da wir die objektive Zuverlässigkeit der ästhetischen Urteile nicht auf dieselbe Art prüfen können wie die der Ton- oder Farbenurteile, so werden wir im Folgenden das Verfahren einschlagen, theoretisch die Bedingungen der objektiv zuverlässigen Urteile zu bestimmen, die hier möglichen Täuschungen in Analogie mit den Sinnestäuschungen zu erörtern und in der Geschichte der ästhetischen Urteile solche Täuschungen aufzuzeigen. Das objektiv richtige Urteil bleibt dabei vorläufig eine Voraussetzung, ein idealer, imaginärer Punkt, den wir bei einer Ausschaltung aller Täuschungsursachen finden zu können hoffen müssen. Wir sind hier gezwungen, die umgekehrte Maxime des SPINOZA zu befolgen; nicht: veritas norma sui et falsi [Die Wahrheit ist die Norm ihrer selbst und der Falschheit - wp], sondern umgekehrt: falsum norma sui et veritas. [Das Falsche ist die Norm seiner selbst und der Wahrheit. - wp].

Die objektive Zuverlässigkeit setzt die subjektive voraus. Bedingungen der objektiven Zuverlässigkeit sind demnach alle Bedingungen der Zuverlässigkeit überhaupt; doch sollen die der subjektiven Zuverlässigkeit, da sie bereits besprochen wurden, hier ausgeschaltet werden.

Die Bedingungen der objektiven Zuverlässigkeit können bei den Sinnes- wie bei den ästhetischen Urteilen psychologischer, physiologischen oder psychologischen Umständen begründet sind (50). Die Ursache von Täuschungen kann in einer besonderen Konstellation des Objekts liegen - wie beim gebrochenen Stab - oder in einer sondertümlichen Beschaffenheit des aufnehmenden Organs - wie bei Kontrasten und Nachbildern - oder in zentralen Bedingungen - Irreführung der Aufmerksamkeit - wie bei den optischen Vergleichstäuschungen.

Vorausschicken möchte ich hier, daß, wie bei den Sinnes-, so auch bei den ästhetischen Täuschungen die Frage häufig offen bleibt, in welche der genannten Gruppen ein falsches Urteil gehört, ferner, daß es nach mehreren Richtungen hin falsch sein, also verschiedenen Gruppen zugleich angehören kann.

Wir beginnen mit den zentralen Bedingungen des Urteils und den psychologischen Täuschungen.


Psychologische Täuschungen

Die erste Bedingung für die Richtigkeit eines ästhetischen Urteils ist zweifellos die, daß es wirklich ein ästhetisches Urteil, d. h. daß es rein ist, daß es nichts anderes als die unmittelbare Beziehung des Gefühls auf den Gegenstand ausdrückt. Gleich die erste, selbstverständliche Bedingung ist in zahllosen Urteilen nicht erfüllt. Wie das Urteil über Tonhöhen falsch wird, wenn anstelle des Urteils über die Qualität das über die Stärke des Tones tritt, wie Urteile über Raumstrecken falsch sind, wenn andere als die bezeichneten Strecken miteinander verglichen werden, so wird auch in zahllosen Fällen im ästhetischen Urteil anstatt des ästhetischen Objekts eine dadurch veranlaßte Handlung oder Stimmung, eine politische oder wissenschaftliche Theorie beurteilt. Es wird nicht unterschieden, ob an einem Kunstwerk das Wollen und das Talent des Künstlers, der Stoff des Kunstwerks und das Kunstwerk selbst als Ganzes oder nur in einzelnen Teilen beurteilt wird.

a. Ein Kunstkritiker wird Werke preisen, an denen der Laie vorübergeht, weil er darin die Ankündigung einer neuen, fruchtbaren Richtung oder Begabung findet. Nicht das Kunstwerk als solches, sondern seine historische Stellung wird beurteilt. So erregte, als RUGE mit seinen ersten Bildern auftrat, nicht die Leistung, sondern die Absicht Aufsehen.

b. Was an einem Kunstwerk beurteilt wird, ist nicht die Kunst, sondern ihr Gegenstand. Alle Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte ist voll von Urteilen, die aus dieser Quelle stammen. Auch die größten Kunstwerke sind dank dieser Verwechslung dem Streit der Meinungen nicht entgangen. An Hermann und Dorothea fanden die Weimarer Damen, es sei eine Zumutung, am Schicksal eines Gastwirtes Interesse zu nehmen. Der überschwengliche Preis, den man im 17. Jahrhundert der Blumenmalerei zollte, kam zum größten Teil auf die einer mystischen Geistesrichtung entsprechende Liebe zu Blumen. Die Geschmacksverschiedenheiten, soweit sie sich auf ganze Stile richten und als sich als Mode äußern, sind zum Teil auch von einem solchen stofflichen Interesse abhängig. Eine Verwechslung des ästhetischen mit dem stofflichen Interesse liegt auch dann vor, wenn die Erfüllung geistiger Bedürfnisse vom Kunstwerk verlangt, und über ihre Befriedigung statt über das Kunstwerk selbst geurteilt wird. So, wenn ein Kunstwerk abgelehnt wird, weil es nichts lehrt, nicht bessert, kein Übersinnliches verkörpert. Wer umgekehrt die Kunst als Naschwerk betrachtet und nichts in ihr sucht als "d'agréables distractions" [angenehme Ablenkung - wp], den wird die tragische Gewalt WAGNERs und MICHELANGELOS unangenehm berühren. Dies war auch eine der Ursachen des allgemeinen Urteils gegen den sogenannten Naturalismus der 80-er Jahre. Und auch wer der Kunst keine bestimmten Aufgaben stellt, wird doch leicht intolerant sein gegen ein Werk, dessen Idee einer bestimmten Weltanschauung, von der er beseelt ist, direkt widerspricht. So erklären sich die Urteile über Tragödien, deren Helden untergehen, ohne eine Schuld begangen zu haben.

c. Ein Kunstwerk kann nach vielen Richtungen hin schön sein; ein Musikstück kann in Bezug auf seine Themen, auf Durchführung der Themen, Orchestrierung usw. gelobt werden; einem Drama kann eine szenische, lyrische, kompositionelle, einem Gemälde eine malerische, zeichnerische, poetische Schönheit zukommen; ein Teil kann gelungen sein, ein anderer nicht. Bei allen nicht höchst Gebildeten ist die Aufmerksamkeit gewöhnlich auf einen oder einige dieser Faktoren beschränkt, und ihr Urteil über den Teil verwechseln sie mit dem über das Ganze.

Die Analogie dieser großen Gruppe von ästhetischen Täuschungen mit den z. B. optischen Vergleichstäuschungen tritt auch darin hervor, daß die Täuschung verschwindet, sobald ihre Ursache erkannt ist und eine größere Konzentration auf das Objekt eintritt.

Eine andere Form psychologischer Täuschung ist die Verwechslung des unmittelbar mit dem assoziativ Gewerteten. Wie wir zu sehen glauben, was mit dem wirklich Gesehenen in engster assoziativer Verknüpfung steht, sinnlich aber entweder gar nicht, oder ganz anders gegeben ist - wofür die schlagendsten und zahlreichsten Beispiele die Psychologie der Aussage geliefert hat -, so gewinnt auch ein ansich indifferenter, ja störender und zufälliger Faktor einen Wert, wenn er in steter Verknüpfung mit wertvollen Gegenständen auftritt. Dies ist der Wert der Reliquien, der erst dann zur Täuschung wird, wenn sein Ursprung vergessen, und er dem Objekt, ohne Beziehung auf den ihn vermittelnden Wert, zugesprochen wird. So erschien ein Bild schön, welches denselben "Galerieton" aufwies, welchen den berühmten Gemälden der alten Meister die Zeit verliehen hat; so wurde die Farblosigkeit in der Plastik ein ästhetischer Wert, weil man die höchst gewerteten antiken Skulpturen farblos vorfand. (51)

Physiologische Täuschungen

Die Vieldeutigkeit des Wortes "Gefallen" leistet zweifellos den genannten Verwechslungen den größten Vorschub; aber wie gewöhnlich, so ist auch hier der Mangel der Sprache zugleich ein Mangel der Sache. Es sind die verschiedenen Gefühle einem Gegenstand gegenüber, welche verwechselt werden, und zwar geschieht dies deshalb so leicht, weil sie, wie manche Sinnesqualitäten auch, tatsächlich so ineinander übergehen, daß nur eine sehr verschärfte Aufmerksamkeit sie zu unterscheiden vermag. Den Hauptgrund für diese Verschmelzung hat man wohl darin zu suchen, daß jene außerästhetischen, besonders die ethischen Gefühle, stark ausgebildet, die ästhetischen dagegen nur zu oft gering entwickelt sind. Sie werden daher von jenen gleichsam übertönt, und man müßte, um sie fühlbar zu machen, ästhetische Resonatoren erfinden. Daher tritt auch der reine Begriff des Ästhetischen historisch erst spät, eigentlich erst mit KANT, hervor und wird in der Kunstkritik erst von den Romantikern mit gebührender Schärfe hervorgehoben. Sowohl vor wie noch nach KANT werden religiöse, moralische und Gefühle ganz persönlicher Art, überhaupt alle "höheren Gefühle" zu den ästhetischen gerechnet. Noch BOLZANO spricht von der Schönheit Gottes und findet, daß das Porträt eines Bekannten besser gefällt, als das eines Unbekannten.

War die Verwechslung von Künstler und Kunstwerk, von Stoff und Form, vom Teil und vom Ganzen, vorwiegend, aber nicht immer lediglich logischer Natur, so kann man bei Ablenkungen des Urteils, welche auf solchen Verschmelzungen verschiedener Gefühle beruhen, vollends schwanken, ob man die daraus resultierenden Täuschungen zu den physiologischen oder zu den psychologischen rechnen soll; jedenfalls leiten sie schon zu den physiologischen Täuschungen über.

Zunächst kann die allgemeine Gefühlsdisposition der richtigen Beurteilung des ästhetischen Eindrucks entweder günstig oder ungünstig sein. Allgemein muß jeder Affekt als die allseitige Empfänglichkeit störend und falsche Urteile bedingend angesehen werden. Zwar kann er dadurch, daß er die Empfänglichkeit nach einer Seite steigert, das ästhetische Organ in dieser Richtung schärfen und geradezu zur Entdeckung neuer Werte führen - eine Bedeutung der Affekte für die Erkenntnis, welche durchaus noch nicht genügen anerkannt ist -, aber weil diese Wirkung nur nach einer Seite ausgeübt wird, und die Empfänglichkeit nach jeder anderen Richtung entsprechend herabgemindert ist, so wird der Affekt in der Mehrzahl der Fälle zur Quelle falscher Urteile. Wenn z. B. auf eine stürmisch bewegte Seele der Friede einer Abendlandschaft einwirkt, so wird der ästhetische Charakter der Landschaft durch den Kontrast deutlicher hervortreten, als wenn dieser Eindruck ein seelisches Gleichgewicht angetroffen hätte. Wenn aber aufgrund dieses im Affekt aufgenommenen Eindrucks jene Landschaft als besonders friedvoll im Vergleich zu anderen beurteilt würde, so ist durch den Affekt das Urteil gefälscht.

Außer diesem Seelenzustand im Allgemeinen kann auch ein bestimmtes Gefühl dem ästhetisch zu beurteilenden Gegenstand gegenüber auf das Urteil ablenkend wirken. Da jedem Gefühl in hohem Grad die Tendenz zur Anähnlichung neuer Eindrücke innewohnt, so wird z. B. einem Kunstwerk gegenüber die bereits festgewurzelte Abneigung gegen oder die blinde Liebe für seinen Schöpfer den Eindruck des Werkes von vornherein färben. Man kann jede Gegenstand sozusagen vom "Ja" oder vom "Nein" aus werten.

Aber auch der ästhetisch gewertete Gegenstand selbst kann Gefühle auslösen, welche mit dem ästhetischen Gefühl verschmelzen und das Urteil beeinflussen. Dies ist der bereits besprochene Fall, in welchem das Miß- oder Wohlgefallen an Stoff oder Inhalt des Kunstwerks mit dem Gefühl für oder gegen das Kunstwerk selbst verwechselt wird.

Nimmt man nun noch hinzu, daß man sich häufig aus Anlaß irgendeines Eindrucks in angeregter oder niedergeschlagener Stimmung befindet und daraufhin urteilt, ohne um die ästhetische Komponent derselben recht zu wissen, so ergibt sich, daß auf diesem Gebiet ganz ähnliche Vermischungen vorliegen, wie sie bei Sinneseindrücken, bei der Verschmelzung von Geschmacks- und Berührungs-, Temperatur- und Tastempfindungen, bekannt genug sind.

Außer Affekten und Gefühlen sind es Willensrichtungen, welche in hohem Grad ablenkend auf die unmittelbaren Geschmacksurteile wirken. Die vorwiegende Tendenz des Wesens nach einer Seite hindert, wie der Affekt, die allseitige Empfänglichkeit. Mit der Willensentscheidung für einen Wert werden die Werte aus dem Reich der Betrachtung, in welchem sie nur vorgefunden und erkannt werden, in das der Wirklichkeit versetzt, in welchem sie erst neu geschaffen werden sollen, und während die Gedanken leicht beieinander wohnten, und die uninteressierte Betrachtung den verschiedensten Werten gerecht werden konnte, stellt sich beim ersten Versuch der Verwirklichung eines Wertes heraus, daß hart im Raum sich die Dinge stoßen und gewisse Werte in einem derart gegensätzlichen Verhältnis zueinander stehen, daß sie nicht zugleich verwirklicht werden können. Daher erzeugt die Willensentscheidung für einen Wert so leicht eine künstliche Blindheit gegen alle andern und direkt eine Umkehrung der Wertung derjenigen Gegenstände, deren Wert jenem gewollten widerspricht. Diese Tatsache ist wichtig für die Würdigung einer Erscheinung, welche in ihr ihre Wurzel hat, und welche auf den ersten Blick aller Gesetzmäßigkeit des Miß- und Wohlgefallens zu widersprechen scheint - ich meine die Erscheinung der "Umwertung der Werte"

Dem ersten eingehenderen Blick schon zeigt sich, daß sogar das Wort die Deutung ausschließt, als handle es sich hierbei um ein Neuschaffen und Zerstören von Werten. Nicht dem einen Ding, das einen Wert hatte, wird dieser genommen, und dem ndern, das keinen Wert hatte, einer gegeben, sondern das eine Ding, das einen Wert X hat, wird gegen ein anderes, das einen Wert Y hat, abgewogen, und unter dem Einfluß einer neuen Willensrichtung wird für die Willensentscheidung, für welche früher X mit der Unterdrückung von Y maßgebend war, jetzt Y zuungunsten von X geltend gemacht. Es ist nur natürlich, daß im einen wie im andern Fall der unterdrückte Wert möglichst herabgesetzt, sein Negatives, das, worin er nicht X, nicht Wert ist, möglichst stark betont wird. So geht es mit den ethischen sowohl wie mit den ästhetischen Werten. Ein Kunstwerk kann nicht zugleich idyllische und erhabene, apollinische und dionysische Schönheit haben. Ein Künstler aber, der eine dieser Schönheitsformen selbst mit Leidenschaft anstrebt, wird gegen die andern blind oder ungerecht sein. (Daher sind Künstler, welche, ihrem Wesen nach, eine bestimmte Schönheitsform in ihren Werken zu verwirklichen suchen, in ihrem ästhetischen Urteil meist der Einseitigkeit verdächtig, so sehr Anlage und Übung ihrer Fähigkeiten sie sonst zu Richtern in Geschmacksurteilen als prädisponiert erscheinen ließen.) Ein Mensch kann nicht des Löwen Mut, des Hirsches Schnelligkeit usw. zugleich besitzen, oder besitzen wollen. Welchen Wert er tatsächlich verwirklicht und zu verwirklichen strebt, das hängt zum geringsten Teil von der Größe des Wertes ab, der etwa einmal richtig, ein andermal falsch gegen andere Wert abgeschätzt worden wäre, - es hängt vielmehr davon ab, zu welchem Ideal am meisten Kraft und Anlage im wertenden Menschen ist. Daher geht alles Wählen von Werten über die unmittelbare Beziehung des Objekts auf das Gefühl hinaus. Die uninteressierte Betrachtung wird allen Werten gleichmäßig gerecht. So prinzipielle Wertdifferenzen wie die zwischen NIETZSCHE und dem Christentum stellen einen Kampf der Werte um die Eroberung des Willens dar; alle daraus fließenden Urteilsdifferenzen sind abgeleitete Werte, und als solche nur in Bezug auf den Grundwert falsch oder richtig. Es ist nicht wahr, daß die Sitte unzivilisierter Völker, ihre alten Väter totzuschlagen, plötzlich, da man das Kraftideal in die Ethik eingeführt hatte, lobenswert geworden wäre. Sondern: der negative Wert der Undankbarkeit, der Verletzung der Menschenwürde bleibt an dieser Sitte haften, an der aber andererseits der positive Wert, die darin zum Ausdruck kommende Lebensbejahung, unter dem Einfluß eines nach dieser Seite gerichteten Willens neu hervorgehoben, gleichsam entdeckt wurde.

Die geschilderte Komplikation beruth letzten Endes darauf, daß der Mensch nicht nur ein erkennendes, sondern auch ein handelndes Wesen ist, daß er Werte nicht nur vorfindet, sondern auch - und zum größeren Teil - selbst verwirklicht. Eine reinliche Scheidung zwischen der theoretischen und praktische Seite seines Wesens ist selten. Doch gibt es auch solche besonnenen und reichen Naturen, bei welchen man eine entscheidende Willensrichtung und treue Anhänglichkeit an ein Ideal mit dem deutlichen Bewußtsein und der Anerkennung vereint findet, daß es andere, vielleicht höhere Werte gibt, welche aber dem betreffenden Individuum nicht gemäß sind (52).

Ein genaues Analogon nun zu den physiologischen Täuschungen auf dem Gebiet der Sinne haben wir im ästhetischen in allen Fällen, in denen das ästhetische Gefühl auf eine bestimmte Schönheitsform sozusagen abgestimmt ist, und daher jede Abweichung von dieser als häßlich abweist. Was die erste Farbe für die Erscheinung der zweiten, das ist der herrschende Stil für die ästhetische Beurteilung des neu aufkommenden. Das Kunstwerk wird dann nicht auf ein frisches, normales Organ, sondern auf ein an einen anderen Reiz bereits adaptiertes, nach irgendeiner Richtung hin vorbereitetes.

Auf diese Weise schafft jede Gewohnheit, jede Mode, jeder Stil eine beständige Prädisposition des Organs, durch welche jeder neue Eindruck gefärbt wird. So mußte VOLTAIRE und der der französischen Nation, welche an die drei Einheiten gewöhnt war, das englische Theater als barbarisch vorkommen. Durch die verschiedene Prädisposition des ästhetischen Organs wird es auch möglich, daß oft gerade das an einem Künstler getadelt wird, was eine spätere Zeit ihm zum höchsten Ruhm rechnet. Es soll ein Ausdruck der Geringschätzung sein, wenn QUANDT 1853 von REMBRANDT urteilt, er habe als Stecher nichts geleistet als ein Spiel von Licht und Schatten. PUVIS de CHAVANNES wurde bei seinem Auftreten der Fou tranquille [leise Verrücktheit - wp] gescholten und auch an DELACROIX tadelte man gerade das, worin seine reformatorische Bedeutung lag (53). So richteten sich auch die Vorwürfe gegen BÖCKLIN gerade gegen das, was uns heute als sein Verdient erscheint.
    "Man hielt seinen Ernst für Verbohrtheit, seine Naivität für Raffinement, seine Gestaltungskraft für Geschmacklosigkeit, seine Originalität für Willkür." (54)
Interessant, weil besonders schlagend und auf individueller Prädisposition des ästhetischen Organs beruhend, sind nach dieser Richtung die Urteil TAINEs und SAINT BEUVES über BALZAC. Des einen Auge ist auf den Zusammenhang gestellt, das des andern gerade auf die Durchbrechung desselben, auf das Unvorhergesehene und Überraschende. [...]

Wenn allgemein eine Enttäuschung derjenigen Erwartung, welche mit jeder Prädisposition gegeben ist, Unlust erregt, so liegt eine Ausnahme von dieser Erscheinung dann vor, wenn, bei übermäßiger Ermüdung des Organs durch den gleichen Reiz, die Disposition zur Wahrnehmung einer bestimmten Qualität in die zur Wahrnehmung ihres Gegensatzes umschlägt. Wie das durch Grün ermüdete Auge die Kontrastfarbe selbst hervorbringt, so erzeugt das lange von einerlein Schönheitsform genährte ästhetische Gefühl ein Bedürfnis ihres Gegensatzes. Ist das Umschlagen der Moden Beweis genug für diese Eigenschaft des ästhetischen Gefühls, so finden wir auch in der Geschichte der einzelnen Künste eine ständige Wiederholung dieser Erscheinung. Auch kommt es vor, daß, bevor noch die Kontrasterscheinung hervortritt, die Ermüdung allein sich geltend macht, so in der Baukunst nach dem Höhepunkt der Palladiozeit, als sich der Überdruß an den ernsten Formen des Meisters in einem Kunterbunt von Nachahmungen bizarrer, exotischer Stile Luft machte.

Diesen durch Tempo und Art des "Abklingens" bedingten Täuschungen stehen diejenigen Erscheinungen gegenüber, die man bei den Sinnesempfindungen das "Anklingen" genannt hat, und welche, wie mir scheint, auf ästhetischem Gebiet ebenfalls ein deutliches Analogon haben. Wie der Sinnesreiz einer bestimmten Einwirkungsdauer bedarf, um die ihm adäquate Empfindung hervorzurufen, und wie, bevor diese erreicht ist, verschiedene andere Empfindungsstadien auftreten, so erregt auch der ästhetische Reiz zunächst nicht die ihm adäquaten, sondern andere, jenen häufig entgegengesetzte Gefühle. Der größeren Kompliziertheit des ästhetischen Organs entspricht die längere Dauer dieser Periode des Anklingens. Sie kann Minuten, ja Stunden dauern und wird bei nur kurz einwirkenden Reizen durch eine häufige Erneuerung des Reizes ersetzt. Als Kriterium für die Adäquatheit eines ästhetischen Gefühls muß die Konstanz desselben in Bezug auf den Reiz gelten. Treten doch, während für mehr oder weniger kurze Zeit das Urteil über einen Gegenstand individuell konstant ist, bei der ersten Darbietung desselben fast durchgängig Schwankungen auf. Wer daher diese Periode des Anklingens nicht vor der Urteilsfällung vorübergehen läßt, ist unfehlbar Irrtümern ausgesetzt. Tatsächlich findet man bei Kennern häufig ein Mißtrauen gegen den ersten Eindruck.

Übrigens kann man auch bei den sogenannten sinnlichen Gefühlen, z. B. bei den Gefühlen, die sich an die Geschmacksempfindungen knüpfen, dieses Anklingen deutlich beobachten. Tritt eine neue Geschmacksempfindung auf, so ist gewöhnlich erst das zweite oder dritte Mal ihres Auftretens ausschlaggebend für das Gefühl, das von nun an konstant mit dieser Empfindung verknüpft sein wird. So bei vielen Delikatessen (haut-goût! [des höheren Geschmacks - wp]) und Genußmitteln, wie Alkohol, Tabak usw.

Für die physiologisch bedingten Täuschungen kommen nicht nur temporäre Veränderungen, sondern auch dauernde Unvollkommenheiten in der Funktion des aufnehmenden Organs in Betracht. Wenn wir von einem ästhetischen Organ sprechen, so ist darunter die Summe jener seelischen Tätigkeiten zu verstehen, deren Zusammenwirken den ästhetischen Eindruck hervorbringt. Wir unterscheiden hier mit KÜLPE (55) zwischen dem direkten und dem assoziativen Faktor, also diejenigen Momente betrifft, die für die Auffassung der jedem ästhetischen Gegenstand zugrundeliegenden Sinneseindrücke in Betracht kommen, so sind es dieselben, die auch für die Bildung der Sinnesurteile erforderlich sind. Wir brauchen hier daher nur auf den wichtigsten, auf die Aufmerksamkeit, Konzentration auf den sinnlichen Eindruck, hinzuweisen. Wie häufig gegen diese Basis alles ästhetischen Gefühls gesündigt wird, ist überflüssig auszuführen. Es genügt, anzudeuten: ein Gedicht leise lesen, von Musik sich in Träumereien wiegen zu lassen, von einem malerisch oder plastisch Gegebenen auf den Gegenstand abschweifen, aus einem Drama Lebensmaximen abnehmen usw.

Damit der assoziative Faktor richtig arbeitet, wird vor allem eine gewisse Vorstellungskraft überhaupt vorausgesetzt. Wie Plastik und Malerei aus der Gesamtvorstellung der Dinge ein Moment herausgreifen und nun dieses so wählen und anordnen, daß von diesem einen aus die Vorstellung des Ganzen reproduziert werden kann (56), wie also in der Malerei durch ein paar Farbflecken Menschen oder Bäume, so werden auch im Drama durch kurze Dialoge ganze Charaktere, Stimmungen, vergangene und künftige Handlungen, in der Musik durch bloße Tonfolgen ganze Gefühlswelten entwickelt. Es gehört nun eine gewisse Intensität und Bereitschaft der Vorstellungen dazu, damit die erforderlichen Reproduktionen leicht, sicher und stark auftreten können. Unzivilisierte Völker und Kinder vermögen aus einem Flächenbild die Körpervorstellung nicht zu entwickeln.

Außer dieser formalen Seite der Vorstellungsbildung ist auch der individuelle Vorstellungsschatz seinem Inhalt nach für die ästhetische Empfänglichkeit von Bedeutung. Abgesehen davon, daß jer größere Reichtum von Vorstellungen und Gefühlen und die Fähigkeit, aus den bekannten neue zu bilden, die Empfänglichkeit erweitert, kommt doch auch der Inhalt der Vorstellungen selbst insofern in Betracht, als völlig fremde Inhalte überhaupt nicht reproduziert werden können, das Kunstwerk also dem Beschauer tot bleiben muß. In einem solchen Fall befinden wir uns ständig den Kunstwerken untergegangener oder uns fremder Kulturen, z. B. häufig japanischen Bildern gegenüber, wo uns die dargestellte Handlung, die Art des Gefühlsausdrucks unbekannt ist. In dieser Lage befinden wir uns aber auch ständig allen Kunstwerken gegenüber, welche, wie es bei Komödien, Satiren, Karikaturen besonders häufig der Fall ist, Tagesereignisse zum Stoff haben und daher mit diesen vergessen werden. Dies ist wohl der Grund, weshalb sie als minderwertig angesehen werden, obgleich die Kunstleistung in ihnen ebenso hoch stehen kann wie in einem Werk, das allgemein Menschliches zum Gegenstand hat. Alle Kunstwerke, die in der Hauptsache mit Vorstellungen rechnen, in deren Besitz nur eine bestimmte Klasse von Menschen, z. B. eine Nation, eine bestimmte Art Gebildeter, sich befindet, bleiben in ihrer Wirkung auf diese beschränkt. Deshalb aber kann man solchen Kunstwerken, sobald nur diese Vorstellungen in ihnen wirklich angelegt sind, eine objektive Schönheit nicht absprechen, und nur, wenn durch individuell zufällige Assoziationen das Schönheitsgefühl erregt wird, wenn z. B. eine alte Komödie durch die Beziehung auf einen gegenwärtigen Vorgang einen Reiz erhält, auf den sie nicht angelegt war, nur dann muß dieses Schönheitsgefühl als ein subjektives Phänomen und im objektiven Sinn als Täuschung bezeichnet werden. Das Abstruse, das darin liegt, einem Werk, das niemand mehr würdigen kann, Schönheit als objektive Eigenschaft zuzuschreiben, verschwindet vielleicht eher, wenn man bedenkt, daß das ästhetische Objekt, sobald es nicht als schön gefühlt wird, ja nicht als Ganzes vorliegt, daß es dann nicht anders existiert, als die Töne, wenn wir uns die Ohren verstopfen, als die Farben in der Nacht, als Worte in einer Sprache, die wir nicht verstehen.
    "Mancher Edelstein ruht
    Verscharrt in der Finsternis Hut
    Und weit von Stichel und Brille ...
Seine - jetzt abstruse - Seinsform hat das Werk doch nur erhalten um jener untergegangenen Beziehung willen. Wollte man ihm diese als wesentliche Eigenschaft absprechen, so wäre sein Sein überhaupt nicht begreiflich.

Außer den Vorstellungen kommt für die normale Funktion des ästhetischen Organs die Gefühlswelt, speziell die Fähigkeit der Einfühlung in Betracht. Ein Mensch, diese Fähigkeit überhaupt nicht hätte, wäre auch des ästhetischen Eindrucks und Urteils nur in einem minimalen Grad fähig. Wenige Menschen aber mag es geben, die zu jeder Einfühlung fähig sind. Die Prädisposition für bestimmte Gefühle wird ein Hindernis für die Reproduktion der diesen entgegengesetzten sein. Wenn MAETERLINCK Dramen wie Othello als Vordergrundskunst brandmarkt so kann dies nur darauf beruhen, daß die seelischen Inhalte solcher Dramen ihm zu gleichgültig und fremg geworden sind, um von ihm noch lebhaft reproduziert werden zu können. Ganze Zeitalter sind von einer Stimmung so beherrscht, daß Kunstwerke mit einem anderen Gefühlsinhalt überhaupt nicht mehr genossen werden und die Befriedigung dieses Gefühls für sonstige künstlerische Mängel blind macht. So entschädigte der eine formensinnbildliche Gedanke der Gotik für alle Leerheit und Dürftigkeit der Ausführung.


Physikalische Täuschungen

Wir kommen nun zu jenen Täuschungen des ästhetischen Urteils, die wir in Analogie mit den Sinnestäuschungen die physikalischen nennen wollen. Von einer physikalisch bedingten Täuschung werden wir da sprechen, wo wir die Täuschungsquelle, wie auf dem Sinnesgebiet im physikalischen Reiz der Empfindung, so hier im ästhetischen Reiz zu suchen haben. Den Begriff des ästhetischen Reizes müssen wir zuvor jedoch näher bestimmen.

Wie in der Sinnespsychologie, so müssen wir auch hier zwischen einem physikalischen und einem physiologischen Reiz unterscheiden. Dem physikalischen Reiz würde das ästhetische Objekt, dem physiologischen (dem Reiz im engeren Sinn) das aufgefaßte Objekt entsprechen. Soll der adäquate ästhetische Reiz in einem engeren Sinn zustande kommen, so müssen schon eine Reihe psychischer Tätigkeiten vorausgehen, welche ihrerseits Täuschungen bedingen können; denn durch die Verschiedenheiten in der sinnlichen und geistigen Auffassung des ästhetischen Objekts können dem ästhetischen Organ bei objektiv gleichem Objekt noch verschiedene Reize zugeführt werden. Durch eine irrige Auffassung der jedem ästhetischen Objekt zugrunde liegenden Sinneseindrücke wird, bei völlig korrekter Funktion des ästhetischen Organs, doch ein ebenso falsches Urteil entstehen, wie bei dem nach allen Gesetzen des Sehens richtig gefällten und doch falschen Urteil, daß der halb im Wasser befindliche Stab gebrochen ist. Nur bei dieser engen Fassung des Begriffs des ästhetischen Reizes wird man die wirklichen Übereinstimmungen und Unterschiede des ästhetischen Urteils rein herausfinden können.

Wir besprechen zunächst die Täuschungen, welche durch die verschieden möglichen Übergänge des physikalischen in den physiologischen Reiz bedingt sind.

Wie mannigfaltig die Apperzeptionsmöglichkeiten des physikalischen Reizes sein können, tritt am Deutlichsten bei den geometrischen Figuren hervor. Die Linien stellen eine andere Figur dar und erhalten eine andere Beziehung zueinander, je nachdem sie räumlich oder flächenhaft aufgefaßt, von links nach rechts und von oben nach unten oder umgekehrt durchlaufen, je nachdem diese oder jene Teile zu einer Einheit zusammengefaßt werden. Es ist klar, daß, wenn diese Linie ästhetisch beurteilt werden sollen, die eine oder die andere Apperzeptionsart zugrunde gelegt werden muß; nur so gewinnt man einen einheitlichen Reiz, dessen ästhetische Beurteilungen durch verschiedene Personen unter sich vergleichbar sind.

Da nun Schönheit in der großen Mehrzahl der Fälle auf der Wahrnehmung von Verhältnissen der Sinneseindrücke zueinander beruth, eine verschiedene Kombination der Elemente aber häufig möglich ist, so kann ein Objekt, je nachdem die Beziehung seiner Teile aufgefaßt wird, bald schön und bald häßlich und bald beides zugleich sein. Dazu kommt, daß verschiedene Schönheitsformen möglich sind, die sich ausschließlich zueinander verhalten, so daß von einem positiv wertvollen Objekt unter Umständen nur der negative Wert zur Apperzeption gelangen kann. Man wird nie ein Objekt schön nennen können, wie man eine Farbe blau nennt, es wird bestenfalls in einer Beziehung schön, in einer anderen indifferent sein, meist aber wird dasselbe, das es in der einen Beziehung schön macht, es in der anderen häßlich machen. Die augenfälligsten Belege für diese Behauptung liefern die Auffassungen des menschlichen Körpers, wie sie in der Mode hervortreten. Das glatt anliegende Haar z. B. ist schön, sofern es die Struktur des Kopfes klar hervortreten läß, das lose in die Stirn fallende, sofern es dem Gesicht einen anmutigen Rahmen, die Rokokotracht, die ägyptische Perücke, soweit sie der ganzen Gestalt einen linear abgeschlossenen Charakter verleihen. Insofern aber die ägyptische Perücke z. B. die Struktur des Kopfes verhüllt, ist sie häßlich, oder zumindest indifferent. Da nun das Haar nicht auf alle Arten zugleich getragen werden kann, so muß jede der bezeichneten Trachten zugleich schön und häßlich genannt werden. Man braucht daher auch den Geschmack an der Allongeperücke durchaus nicht nur, wie dies FECHNER tat (57), der offenbar noch unter dem Eindrück der unmittelbaren Reaktion gegen diese Mode stand, aus Assoziationen zu erklären. Auch ohnedies kann man dem positiven sowohl wie dem negativen ästhetischen Wert der Allongeperücke gerecht werden, wenn man auf die Elemente ihrer ästhetischen Wirkung zurückgeht. Die Notwendigkeit der Beziehung des Objekts zum Gefühl haftet eben niemals an den komplizierten schönen Objekten, sondern an den schönen Elementen, und der ästhetische Reiz im engeren Sinne muß erst bezeichnet werden, bevor man vergleichbare Urteile gewinnen kann.

Kunstwerke freilich sollten dergestalt angeordnet sein, daß ihnen gegenüber nur eine Art der sinnlich-geistigen Auffassung möglich und notwendig wäre. Indessen treten hier neue Schwierigkeiten auf. Das Kunstwerk tritt nur in den seltensten Fällen unmittelbar in der Gestalt, wie der Künstler es plante, dem Genießer vor Augen. Ein Musikstück bedarf der Aufführung, ein Drama der Bühne, ein Gedicht des Vorlesers; selbst Malerei und Skulptur bedürfen der richtigen Aufstellung, der richtigen Umgebung und Beleuchtung. Zwischen das Kunstwerk in der Gestalt, wie es in der Seele des Künstlers lebte und den Genießer schieben sich Mittelspersonen, welche mit mehr oder weniger Glück die Schöpfung des Künstlers ergänzen. Durch falsche Interpretation werden nicht nur wertvolle Werke um ihre Wirkung gebracht, sondern auch wertlose zu einer unberechtigten Wirkung erhoben, so, wenn ein hervorragender Schauspieler eine ansich unbedeutende Rolle "hält". Häufig vollbringt die Phantasie des selbst die Leistung, das in unvollendeter Gestalt als Buch, als Partitur vorliegende Werk zum physiologisch-ästhetischen Reiz zu entwickeln. Dabei erfordert es nun die größte Konzentration, um ein Musikstück zu verstehen, die einzelnen Farben- und Raumwerte eines Bildes in die richtige Beziehung zueinander zu setzen, einer Skulptur gegenüber den richtigen Standpunkt zu finden, die Komposition eines Romans, eines Dramas zu begreifen, - und doch ist erst, wenn dies geschehen ist, der ästhetische Reiz im engeren Sinn gegeben. Eine erworbene Gewohnheit der Auffassungsart kann es auch hier verhindert, daß eine neue Kunstart Eingang findet. Wer z. B. gewohnt war, an einem Bild jedes Pünktchen zu unterscheiden, mußte ein Chaos in impressionistischen Bildern sehen, welche nur bei der Betrachtung aus der Ferne zu räumlicher Klarheit gelangten. Wer BEETHOVENs Art der Themenführung gewohnt war, konnte einem Tonstück, das sich nach Leitmotiven gliederte, nicht folgen.

Eine andere Täuschung, deren Ursache auf dem Weg vom physikalischen zum physiologisch-ästhetischen Reiz liegt, ist durch die Veränderung bedingt, welche der Inhalt des Sinneseindrucks durch die Erinnerung, also dadurch erfährt, daß er zum Vorstellungsinhalt wird. Ein großer Teil von "Wertirrtümern" beruth auf Vorstellungen, welche, gegenüber dem tatsächlich eintretenden Empfindungsinhalt verschoben, meist unvollständig sind. Ein Linienverständnis, das der Laie sich als wohlgefällig vorstellt, wird, seinen Augen geboten, vor seinem eigenen Urteil nicht standhalten. Ein als unmöglich vorgestellter Akkord kann, sobald er wirklich erklingt, überraschend wirken. - Daß dieser Sachverhalt meist nur bei Laien stattfindet, scheint mir gegen die Auffassung zu sprechen, als würde bei richtiger Vorstellung dennoch das Wertgefühl der Vorstellung gegenüber anders reagieren als dem Sinneseindruck gegenüber. Können doch Künstler aus der bloßen Vorstellung über Wert und Unwert von Farbenverbindungen und dgl. entscheiden. Hiermit soll aber nicht gesagt sein, daß das ästhetische Gefühl, welches bloße Vorstellungen zur Voraussetzung hat, von dem an den ursprünglichen ästhetischen Reiz geknüpften überhaupt nicht unterschieden ist. Vielmehr: Wie die Vorstellung der Sinnesempfindung, obgleich in Qualität und Intensität ihr ähnlich, dennoch von der Empfindung selbst spezifisch verschieden ist, so haben auch ästhetische Gefühle, wenn sie sich nur an Vorstellungen ästhetischer Reize knüpfen, nicht mehr ihre ursprüngliche Lebhaftigkeit.


Täuschungen über Intensität

Wir haben nun noch die Täuschungen über die Intensität zu besprechen, diejenigen nämlich, welche aus der Wirksamkeit des Weberschen Gesetzes auf ästhetischem Gebiet resultieren. Man mag sie ja nach der Auffassung, welche man von diesem Gesetz hat, zu den psychologischen, physiologischen oder physikalischen Täuschungen rechnen. Ich füge sie hier den physikalischen hauptsächlich deshalb an, um sie im Zusammenhang besprechen zu können, ohne mir im Übrigen zu verhehlen, daß z. B. die durch die Unterschiedsempfindlichkeit bedingten Täuschungen, sofern in ihnen die Bedeutung der verschiedenen Vorbereitung des aufnehmenden Organs zum Ausdruck kommt, zu den physiologisch bedingten zu zählen wären.

Auf ästhetischem Gebiet bilden weder die Reize noch die Empfindungen Reihen; wir können daher die Umfangsempfindlichkeit, welche bei Ohr und Auge durch eine Bestimmung der oberen und unteren Hörgrenze und der äußersten Grenzen des sichtbaren Spektrums bezeichnet wird, bestenfalls nur durch eine Aufzählung derjenigen Reize gewinnen, welche noch ästhetische Gefühle erwecken, und solcher, die es nicht mehr tun. Hierhin würde die aristotelische Bestimmung des "nicht zu klein" und "nicht zu groß" gehören. FECHNER und in allgemeinerer Fassung SIMMEL haben bereits den Begriff der ästhetischen Schwelle eingeführt (58). Die obere ästhetische Schwelle würde da liegen, wo der ästhetische Eindrück so stark wird, daß er den Rahmen des ästhetischen Verhaltens sprengt und eine allgemeine Gefühlserregung hervorruft. Wenn WAGNER eine zu stark sinnliche Kunstwirkung vorgeworfen wurde, so lag für den so Urteilenden offenbar eine Überschreitung der oberen ästhetischen Schwelle vor. Große individuelle Differenzen zeigen sich auch in der Höhe der unteren Schwelle; sie kann ebenso wie die der Sinnesempfindungen durch Übung erheblich herabgedrückt werden. Die Steigerung der ästhetischen Ansprüche des Gebildeten, die hiermit in Widerspruch zu stehen scheint, beweist doch nur sein feineres Organ auch für das Häßliche und Unvollkommene, welches mit seiner Fähigkeit, die geringsten Schönheiten zu entdecken, Hand in Hand geht.

Wichtiger noch als die Umfangs- ist die Unterschiedsempfindlichkeit, welche, wie jene, durch Übung erhöht wird. Der Kenner, welcher das Werk eines Künstlers oder besten Fälschers unterscheidet, steht an Richtigkeit des Urteils über dem Laien, der die Schönheiten des Meisters unbehelligt durch die roheste Nachbildung bewundert. Volle Körperlichkeit und Naturtreue findet der schon bei RAFFAEL, der REMBRANDT nicht kennt. Daher die Verschiedenheit des Urteils in verschiedenen Epochen und das Erscheinen gleicher Urteile da, wo objektiv nur gleiche Verhältnisse der Reize vorliegen. So, wenn im 14. Jahrhundert GIOTTO in ganz eben dem Sinne naturalistisch genannt wird, wie im 19. Jahrhundert MANET. So, wenn RAFFAEL von den Nazarenern, deren Auge sich an der klassizistischen Kunst geschult hatte, als seelenvoll bewundert wurde, während die englischen Präraffaeliten, deren Phantasie von den Bildern des Quattrocento erfüllt war, RAFFAEL kalt fanden. Man macht sich bei Urteilsdifferenzen gewöhnlich nicht klar, eine wie große Reihe ästhetischer Kateogiren, um deren Anwendung im einzelnen Fall sich ein Streit dreht, lediglich Relationsbegriffe sind und sich auf Intensitätsgrade beziehen. So, wenn von Reichtum, Schlichtheit, Klarheit usw. die Rede ist. Ja, vielleicht läßt sich sagen, daß alle ästhetischen Kategorien nicht nur Qualitäts-, sondern zugleich Intensitätsbezeichnungen sind.
LITERATUR Edith Landmann-Kalischer, Über den Erkenntniswert ästhetischer Urteile, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 5, Leipzig 1905
    Anmerkungen
    1) GEORG SIMMEL, Philosophie des Geldes, 1900, Seite 1.
    2) SIMMEL, a. a. O., Seite 4
    3) SIMMEL, a. a. O., Seite 4
    4) von EHRENFELS, System der Werttheorie, 1897, Seite 65
    5) MEINONG, Psychologisch-ethische Untersuchungen der Werttheorie, 1894, Seite 26.
    6) KREIBIG, Psychologische Grundlegung eines Systems der Werttheorie, 1902, Seite 6
    7) JONAS COHN, Allgemeine Ästhetik, 1901, Seite 17
    8) MAX WEBER, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 14, 1904, Seite 22f.
    9) JONAS COHN, a. a. O., Seite 37
    10) ROBERT EISLER, Studien zur Werttheorie, 1902, Seite 97
    11) SIMMEL, a. a. O., Seite 10
    12) SIMMEL, a. a. O., Seite 12
    13) COHN, a. a. O. Seite 40-42
    14) MEINONG, a. a. O. Seite 81
    15) MEINONG, a. a. O. Seite 76
    16) von EHRENFELS, a. a. O. Seite 11
    17) Dasselbe gilt auch für MEINONGs Zurückführung der Werte auf Existenz- oder Urteilsgefühle.
    18) MEINONG, a. a. O., Seite 15. So auch KREIBIG (a. a. O., Seite 80): "Alles Wollen ist auf die Verwirklichung von Werten gerichtet."
    19) von EHRENFELS, a. a. O., Seite 149: "Jede Wertung ist eine Gefühlsdisposition".
    20) WITASEK, Wert und Schönheit, Archiv für systematische Philosophie, Bd. VIII, Seite 164
    21) HERMANN SCHWARZ, Gefallen und Lust, Philosophische Abhandlungen Rudolf Haym gewidmet (Festschrift), 1902, Seite 407-506
    22) MEINONG, a. a. O., Seite 22f.
    23) MEINONG, a. a. O., Seite 22
    24) KREIBIG, a. a. O., Seite 88. Das Kriterium, nach dem autopathisch gewertet wird, sind die Gegensatzpole "gut im Sinne von lustauslösend, bezogen auf das Subjekt des Wertenden" und "schlecht im Sinne von unlustauslösend, bezogen auf das Subjekt des Wertenden". Entsprechend wird (Seite 106) unter Heteropathik die Lehre von der Wertung aller gegebenen Inhalte nach den polaren Gegensätzen "gut im Sinne von lustauslösend, bezogen auf ein fremdes Subjekt", und "schlecht im Sinne von unlustauslösend, bezogen auf ein fremdes Subjekt" verstanden. Unter Ergopathik schließlich will KREIBIG (Seite 155) die Lehre von der Wertung aller gegebenen Inhalte nach den Gegensätzen "schön" und "häßlich" im Sinne von lustauslösend und unlustauslösend bei reiner Hingabe an das Objekt, d. h. ohne Beziehen auf das eigene oder fremde Subjekt, verstanden wissen.
    25) 25) Wertobjekte, d. h. gewertete Gegenstände der Außenwelt; für psychische Werte gilt das Gesagte nicht; diese können niemals zu wirtschaftlichen Werten werden.
    26) siehe auch MEINONG, a. a. O., Seite 13
    27) vgl. KÜLPE, Grundriß der Psychologie, 1893
    28) WUNDT, Vorlesungen über Menschen- und Tierseele, 1897, Seite 223. Siehe auch weitere Zitate gleichen Inhalts von WUNDT und solche von LIPPS, LEHMANN u. a. bei ORTH, Gefühl- und Bewußtseinslage", Berlin 1903, im Paragraphen "Über das Subjektive als Kriterium des Gefühls", Seite 20-28
    29) LAAS, Idealistische und positivistische Erkenntnistheorie, 1884, Seite 66
    30) LAAS, a. a. O., Seite 67
    31) von EHRENFELS, a. a. O., Seite 64
    32) TETENS, Philosophische Versuche über die menschliche Natur, Bd. I 1777, Seite 190.
    33) TETENS, a. a. O., Seite 184
    34) TETENS, a. a. O., Seite 184
    35) Vgl. WRESCHNER, Ernst Platner und Kants Kritik der reinen Vernunft, Leipzig, Seite 97
    36) KANT, Kritik der Urteilskraft, § 36
    37) KANT, a. a. O., § 37
    38) von EHRENFELS, a. a. O., Seite 2
    39) SIGWART, Logik I, 1889, Seite 391
    40) MEINONG, Über Gegenstände höherer Ordnung, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 21, 1899, Seite 212.
    41) FRIEDRICH SCHUMANN, Zeitschrift für Psychologie etc., 1902, Bd. 30, Seite 331f
    42) STUMPF, Tonpsychologie, 1883, Seite 31
    43) STUMPF, a. a. O., Seite 46
    44) STUMPF, a. a. O., Seite 47
    45) STUMPF, a. a. O., Seite 47
    46) STUMPF, a. a. O., Seite 23
    47) STUMPF, a. a. O., Seite 24
    48) WUNDT, Philosophische Studien, Bd. 8 und 9.
    49) WUNDT, Beiträge zur Sinneswahrnehmung, 1862, Seite 30 und 32.
    50) vgl. KREIBIG, Über den Begriff der Sinnestäuschung, "Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik", 1902, Bd. 120, Seite 197-203.
    51) Letzteres Beispiel findet sich auch bei COHN, Beiträge zur Lehre von den Wertungen, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 110, Seite 240.
    39) SIGWART, Logik I, 1889, Seite 391
    40) MEINONG, Über Gegenstände höherer Ordnung, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 21, 1899, Seite 212.
    41) FRIEDRICH SCHUMANN, Zeitschrift für Psychologie etc., 1902, Bd. 30, Seite 331f
    42) STUMPF, Tonpsychologie, 1883, Seite 31
    43) STUMPF, a. a. O., Seite 46
    44) STUMPF, a. a. O., Seite 47
    45) STUMPF, a. a. O., Seite 47
    46) STUMPF, a. a. O., Seite 23
    47) STUMPF, a. a. O., Seite 24
    48) WUNDT, Philosophische Studien, Bd. 8 und 9.
    49) WUNDT, Beiträge zur Sinneswahrnehmung, 1862, Seite 30 und 32.
    50) vgl. KREIBIG, Über den Begriff der Sinnestäuschung, "Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik", 1902, Bd. 120, Seite 197-203.
    51) Letzteres Beispiel findet sich auch bei COHN, Beiträge zur Lehre von den Wertungen, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 110, Seite 240.
    52) von EHRENFELS (a. a. O., Seite 146f) erklärt den Kampf ums Dasein der Wertungen aus dem begrenzten Maß an Lebenskraft, das jedem Individuum nur zukommt und das bedingt, daß das Vorhandensein einer Wertung in einem Individuum schon ein Hindernis für das Entstehen und Anwachsen anderer Wertungen ist.
    53) Auch weitere Beispiele bei MUTHER, Geschichte der modernen Malerei und GURLITT, Geschichte der deutschen Kunst im 19. Jahrhundert (1900).
    54) LICHTWARK, Urteile über Böcklin, in "Zukunft", Bd. 22, 1897, Seite 245-251.
    55) KÜLPE, Der assoziative Faktor in der neueren Ästhetik, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1899.
    56) Vgl. meine "Analyse der ästhetischen Kontemplation" (Malerei und Plastik), Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 28, Seite 199f.
    57) FECHNER, Vorschule der Ästhetik, Bd. I, Seite 236f.
    58) SIMMEL, Philosophie des Geldes, Seite 256f. - FECHNER, a. a. O., Seite 49/50.