ra-2von AlleschJ. Cohnvon KernM. DessoirA. Döring    
 
EDITH LANDMANN-KALISCHER
Über den Erkenntniswert
ästhetischer Urteile

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"Indem wir die Analogie zwischen den Sinnesempfindungen und den ästhetischen Gefühlen durchzuführen und speziell durch den Vergleich zwischen den Sinnesurteilen und den ästhetischen Urteilen in Bezug auf ihre Gültigkeit und ihre Täuschungsquellen zu erhärten versucht haben, glaubten wir erkenntnistheoretisch zum dem Schluß berechtigt zu sein, daß Schönheit in demselben Sinn als eine Eigenschaft der Dinge aufzufassen ist, wie die sinnlichen Qualitäten. Wir kommen damit in einem seltsamen Zirkel auf die Lehre zurück, die noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Bezug auf das Verhältnis von Gefühl und Empfindung herrschend war. Bevor man damals dazu gelangte, zwischen Empfindung und Gefühl zu unterscheiden, wurden die sinnlichen Qualitäten auf der einen, und das Vollkommene und Unvollkommene, das Schöne und Häßliche, das Gute und Böse auf der anderen Seite in gleicher Weise entweder als Eigenschaften den Dingen zugeschrieben, oder ihnen in gleicher Weise abgesprochen und als Produkt der Einbildungskraft von der wahren Erkenntnis der Dinge ausgeschlossen."


Abschnitt II
Kapitel 5. Die Kriterien für die Richtigkeit
der Sinnes- und Werturteile

Suchten wir im vorhergehenden Kapitel die Analogie zwischen den Täuschungen und Täuschungsbedingungen der Werturteile mit denen der Sinnesurteile zu ziehen, so fragt es sich nun, ob sich auch für die positiven Kriterien dieser beiden Urteilsgruppen die Analogie durchführen läßt.

Wenn ich es im Folgenden wage, eine kurze schematische Orientierung über die Wahrheitskriterien der Sinnes- und Werturteile zu versuchen, so muß ich, um nicht mißverstanden zu werden, vorausschicken, daß ich mich hier jeder metaphysischen Absicht enthalte. Ich will nur den tatsächlichen Stand der Dinge beschreiben. Auch die Erkenntnistheorie muß, wie jede Wissenschaft, Voraussetzungen machen; sie muß eine Wahrheit voraussetzen, um eine andere prüfen oder finden zu können. Ich gehe daher ohne Vorbetrachtung vom gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse aus und messe die Wahrheit der Sinnes- und Werturteile an diesen. Statt jeder umständlichen Verteidigung dieser Methode dient mir der Hinweis auf den Stanpunkt SPINOZAs: "... illa bona erit Methodus, quae ostendit, quomodo mens dirigenda sit ad datae verae ideae normam." [Tauglich wird daher diejenige Methode sein, die zeigt, wie der Geist nach der Norm einer gegebenen wahren Idee zu bestimmen ist. - wp]. (59)

Die Wahrheit der Sinnes- und Werturteile hat keine anderen Kriterien als diejenigen, welche auch für die Wahrheit aller anderen Urteile gelten. Den mehr oder weniger hypothetischen Charakter aller Wahrheiten als zugestanden vorausgesetzt, gibt es, wenn das Urteil in Bezug auf seine Gewinnung den formalen Ansprüchen der Logik genügt, nur ein großes Kriterium für seine Wahrheit: seine Übereinstimmung mit anderen Urteilen.

Der Anwendung dieses Kriteriums auch für die Sinnes- und Werturteile scheint nun zunächst die mehrfach hervorgehobene Unmittelbarkeit dieser Urteile entgegenzustehen. Durch diese Eigenschaft gerade sticht ja das Sinnes- und Werturteil charakteristisch von den wissenschaftlichen Urteilen ab, welche stets in Bezug auf andere Urteile gefällt und nur so lange als wahr anerkannt werden, als sie ohne Widerspruch mit anderen, bereits erhärteten bestehen können. Bezeichnet die Eigenschaft der wissenschaftlichen Urteile, voneinander abhängig zu sein, zugleich ihren allgemeinen Inhalt, welcher darin besteht, Beziehungen zwischen den Dingen auszusagen so scheint die Eigentümlichkeit der Sinnes- und Werturteile, unabhängig und unbeeinflußt das eine vom andern gefällt zu werden, nur der Ausdruck für ihren stets partikularen Inhalt zu sein. Wie sie sich stets nur auf einen Gegenstand beziehen, so scheint auch ihre Wahrheit stets nur von diesem abzuhängen.

Aber um diesen scheinbaren Widerspruch zu lösen, brauchen uns nur bewußt zu werden, daß jene unmittelbaren Urteile zwar die Grundlage für jedes Sinnes- und Werturteil bilden, daß aber diejenigen von ihnen, welche einen Anspruch auf objektive Zuverlässigkeit machen - und nur mit diesen haben wir es hier zu tun -, entweder nicht lediglich aufgrund des unmittelbaren Eindrucks gefällt, oder doch nachträglich dem Vergleich mit anderen unterzogen und daraufhin modifiziert werden. Vollzieht sich doch auch die Bildung wissenschaftlicher Urteile - und gerade der originellsten - häufig ganz intuitiv, mit Rücksicht nur auf den einzelnen, gerade vorliegenden Fall; niemand aber wird hier daran zweifeln, daß die Wahrheit solcher Urteile sich nur durch die Übereinstimmung mit anderen erhärtet.

Daß das Kriterium der Übereinstimmung bewußt oder unbewußt auch bei der Urteilsbildung mitwirken kann, ist bei den Sinnesurteilen bekannt genug. Aber ein Gegenstand kann nicht nur trotz des Dunkels blau, sondern auch, ohne ästhetische Lust zu erregen, schön genannt werden. Auch bei den Werturteilen wird das subjektive Urteil "dies gefällt mir" vom objektiven "dies ist schön" deutlich unterschieden. Häufig tritt der Fall ein, daß ein Objekt als schön beurteilt wird, welches momentan keine oder nur eine sehr schwache ästhetische Lust hervorruft. Umgekehrt ist man bei lebhaftem Gefallen oft mit dem Urteil über die Schönheit zurückhaltend. [...] Auch daß die Intensität des aktuellen Lustgefühls (bzw. des Begehrens) kein Maßstab ist für die Höhe des Wertes, wird von modernen Werttheoretikern anerkannt. (60)

In dieser Anomalie, daß eine Erkenntnisquelle für unzulänglich erklärt oder gänzlich mißachtet wird aufgrund von Kenntnissen, die doch nur aus ebendieser Quelle stammen, in diesem leidigen Verhältnis, in dem der Schüler den Meister mit Waffen schlägt, die er nur von ihm selbst erhalten konnte, - gerade hierin zeigt sich die Hauptanalogie in der Geltungsart der Sinnes- und Werturteile.

Und nicht nur in diesem Widerspruch, sondern auch in seiner Lösung.

Wir beginnen mit der Untersuchung der Sinnesurteile. Bei jedem einzelnen Sinnesurteil kann man vier Gruppen von Urteilen unterscheiden, mit denen es übereinstimmen oder nicht übereinstimmen, und von deren Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit ihm seine Gültigkeit abhängen kann.

Es kann übereinstimmen:
    1) mit den anderen Urteilen desselben Sinnes;

    2) mit den Urteilen anderer Sinne;

    3) mit den Sinnesurteilen anderer Individuen;

    4) mit unseren sonstigen Kenntnissen, insbesondere unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen von den Dingen.
Das erste Prinzip, die Übereinstimmung gleichartiger Sinnesurteile, dient zur Korrektur vieler sozusagen "normaler" Sinnestäuschungen. Wenn Berge im Nebel in weiter Ferne erscheinen, so zeigt klareres Wetter sie näher. Wenn Land oder Wasser sich zu bewegen scheinen, so zeigt der eigene Stillstand sie als ruhend. Der Stab, aus dem Wasser genommen, erscheint wiederum gerade. Ist die Kontrastfarbe entfernt, so tritt die Eigenfarbe der Unterlage wieder hervor. Der seitlich oblong [länglich - wp] gesehene Tisch wird rund, sobald er von oben betrachtet wird (61), usw. usw. Das Prinzip, nach dem in all diesen Fällen von der momentanen Empfindung abstrahiert und diese als Täuschung erkannt wird, ist der Widerspruch mit den übrigen Erfahrungen desselben Sinnes. Ein Sinnesurteil, das Anspruch auf objektive Gültigkeit erhebt, wird nicht aufgrund eines einzelnen Eindrucks, sondern aufgrund der gesamten Sinneserfahrungen über das betreffende Objekt gefällt. Freilich, soweit die Dingvorstellung hierzu mitwirkt, gehört dieser Fall schon unter das vierte Prinzip, die Übereinstimmung der Sinnesurteile mit unseren Vorstellungen.

Das zweite Prinzip, die Übereinstimmung verschiedenartiger Sinneseindrücke, ist in seiner Bedeutung für die Berichtigung der Sinnesurteile bisher wohl überschätzt worden. Übereinstimmen oder sich widersprechen können ja - strenggenommen - Eindrücke verschiedener Sinne überhaupt nicht. Nur in zwei Gruppen von Fällen ist die Aussage des einen Sinnes für die des andern von Bedeutung:

1) In all den Fällen, in denen verschiedene Sinneseindrücke sich so assoziiert haben, daß ihre Assoziation einen wesentlichen Teil der Objektvorstellung ausmacht. So werden wir eine Halluzination zu haben glauben, wenn wir, auf freiem Feld stehend, laut sprechen hören, ohne Menschen zu erblicken. Oder wir werden taub zu sein glauben, wenn wir Bewegungen der Lippen sehen, ohne Laute zu hören. Sogar ein negatives Sinnesurteil würde also infolge einer fest gewordenen Assoziation dem Zweifel anheimfallen. Betrachten wir aber diesen Fall genauer, so zeigt sich uns die Bedeutung, welche hier die Aussage des einen Sinnes für die des anderen gewinnt, nur durch eine Vermittlung von Vorstellungen erlangt. Die Abwesenheit erwarteter oder das Auftreten unerwarteter Sinneseindrücke gibt für das objektive Urteil den Ausschlag. Auch dieser Fall gehört also, zumindest zum Teil, in die vierte Rubrik.

2) In den Fällen, in denen zwei Sinnesorgane ein und dieselbe Wahrnehmung vermitteln oder vielmehr in einem solchen Kontakt stehen, daß die Empfindungen beider Organe zu einer Wahrnehmung zusammenwirken. Dieses exzeptionelle Verhältnis liegt nur bei Gesichts- und Tastsinn in ihrem Zusammenwirken zur Raumwahrnehmung vor. Obgleich natürlich der Raum des Auges und der des Getasts verschiedene Räume sind, wird hier dennoch infolge jenes Verhältnisses der Gesichtssinn durch den Tastsinn und dieser durch jenen kontrolliert. Nur ein besonderer Fall dieses Verhältnisses ist die von WEBER nachgewiesene Täuschung über die Zahl der die Haut berührenden Zirkelspitzen, welche beweist, daß das Auge für Flächendistanzen feiner empfindlich ist als die Haut.

Das Prinzip der Übereinstimmung verschiedenartiger Sinneseindrcke fällt also zum Teil mit dem unter 4 genannten und dort näher zu erörternden Prinzip zusammen, zum Teil gründet es sich auf ein ganz spezielles Verhältnis der Sinnesorganisation.

Wir kommen nun zum dritten Prinzip: zur Übereinstimmung von Sinneseindrücken verschiedener Individuen. Man sieht, wir sind hiermit beim "consensus gentium" [allgemeine Übereinstimmung - wp], bei der "Allgemeinheit, jener alten erkenntnistheoretischen crux angelangt, die, zunächst als skeptische Wahrheitsbestimmung - wahr ist, was allen in gleicher Weise erscheint (ÄNESIDEM), - sodann als Wahrheitskriterium in der Geschichte der Erkenntnistheorie immer wieder auftaucht.

Allgemeinheit wird von vielen Autoren mit Objektivität geradezu identifiziert. Wenn man, wie wir es hier tun müssen, die kantische Allgemeinheit, welche keine empirische ist, sondern sich auf den Begriff des "Menschen überhaupt" gründet, ausschaltet, so geht die Unhaltbarkeit jener Position schon aus der Tatsache hervor, daß die Begriffssphären von Objektivität und Allgemeinheit sich nicht decken. Es gibt allgemeine Urteile, die falsch, und wahre Urteile, die nicht allgemein sind.
    "Die Gewißheit über das konstante Verhältnis zwischen dem vorausgesetzten Objekt und dem Subjekt, also über die absolut gleiche Organisation und Empfindungstätigkeit aller" (62)
verbürgt noch nicht die Objektivität des darauf gegründeten Urteils; verließen wir uns auf diesen Bürgen, so würden wir noch immer die Keller im Sommer für kälter halten als im Winter. Andererseits glauben wir an die objektive Existenz gewisser Obertöne, die doch nur von wenigen hervorragend musikalischen Personen noch wahrgenommen werden können. Allgemeinheit allein kann also als Wahrheitskriterium der Sinnesurteile zumindest nicht ausreichen.

Dazu kommt, daß tatsächlich eine Übereinstimmung über die gröbsten Empfindungsunterschiede wohl besteht, eine Übereinstimmung, die gerade so weit reicht, als es zur Gewinnung der Grundlage für den allen gemeinsamen Wirklichkeitsbegriff anzunehmen notwendig ist, die sich aber, wie jede psychologische Untersuchung eines Empfindungsgebietes beweist, durchaus nicht auf feinere Unterschiede erstreckt. Ja, schon wer behaupten wollte, daß die Urteile der Farbenblinden über die Farbe objektiv falsch sind, und sich dabei als auf ein Kriterium der Wahrheit auf die Nichtübereinstimmung dieser Urteile mit den Urteilen der meisten anderen Menschen berufen, schon der würde das Urteil der Minorität durch das der Majorität vergewaltigen. Warum sollte, was man aufgrund individueller Organe vorstellen muß, nicht in demselben Sinne objektiv sein wie das, was die Menschheit infolge ihrer Organisation vorstellen muß?
    "Warum hat das Generelle und Bleibende in Bezug auf die Objektivität vor dem Individuellen und Vergänglichen einen Vorrang? Oder gibt es keine objektiven Urteile über Singuläres und Temporäres?" (63)
Es ließe sich ein Standpunkt denken, der, von der Annahme ausgehend, daß Wahrheit ex definitione nichts anderes bedeuten kann als eine Übereinstimmung der Urteile eines Menschen unter sich, leugnen würde, daß individuell konstante Urteile über Sinneseindrücke bloß wegen ihrer Nichtübereinstimmung mit denen der anderen Menschen falsch genannt werden dürften. Denn Systeme unter sich übereinstimmender Urteile wären auch bei den verschiedensten Ausgangspunkten möglich. Ein solcher Standpunkt würde dem psychischen Tatbestand insofern entsprechen, als ja die bloße Nichtübereinstimmung unserer Urteile mit denen anderer uns niemals von einem Irrtum zu überzeugen vermag, es sei denn, daß sie verbunden ist mit dem Nachweis eines Widerspruchs innerhalb unserer eigenen Urteile. Entsprechend vermag uns die Übereinstimmung unseres Urteils mit den Urteilen anderer von der Wahrheit unseres eigenen Urteils nicht zu überzeugen, wenn wir darin noch einen Widerspruch mit einem unserer übrigen Urteile entdecken. Auch insofern wäre der angedeutete Standpunkt fruchtbar, als er einen dem unsrigen gleichen Wahrheitsbegriff auch für Weltsysteme aufrechtzuerhalten erlaubt, welche auf einer von der unsrigen gänzlich verschiedenen Sinnesorganisation aufgebaut wären. Die Übereinstimmung aller als Kriterium der Wahrheit hätte von diesem Standpunkt aus keinen Sinn, und wir würden die Unterscheidung von wahr und falsch auch bei ganz isolierten Individuen aufrechterhalten, also den Begriff einer individuellen Wahrheit gewinnen können. (64)

Aber auch, wenn man sich zur Annahme dieses Standpunktes nicht entschließen kann, so wird man jedenfalls so viel festhalten müssen, daß das Kriterium der allgemeinen Übereinstimmung höchstens für solche Urteile gültig ist, welche die einfachsten Sinneseindrücke und die gröbsten Unterscheidungen betreffen. Für alle übrigen Urteile bedarf es eines anderen Kriteriums.

Wir kommen damit zum letzten Moment, in welchem ein Sinnesurteil mit anderen Urteilen übereinstimmen kann, zur Übereinstimmung desselben mit unseren Urteilen über die Dinge im Allgemeinen. Daß dieses Kriterium dem der allgemeinen Übereinstimmung ergänzend zur Seite treten muß, nimmt auch LAAS an, wenn er sagt (65):
    "Doppelbilder, Spiegelungen, Echos, obwohl sie von andern ebenso wahrgenommen werden, versagt die Unfähigkeit der Einordnung in die Welt der Dinge die Objektivität."
Wir haben schon gesehen, daß auch die unter 2 erörterte Übereinstimmung eines Urteils mit den Urteilen anderer Sinne, genau besehen, nichts anderes als eine Übereinstimmung mit unseren sonstigen Kenntnissen war. Ebenso verhielt es sich mit den unter 1 genannten "übertragenen" Urteilen in solchen Fällen, in denen die das Urteil korrigierende Erfahrung desselben Sinnes nicht sogleich gemacht wird, sondern nur als Vorstellung gegenwärtig ist. Neben dem allgemeinen Dingbegriff sind es die wissenschaftlichen Erkenntnisse, welche als Kriterien dienen. Wir müssen die ungleiche Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Schall und Licht kennen, um von der späteren Wahrnehmung des Donners nicht auf die zeitliche Priorität des Blitzes zu schließen. Wir müssen die Enge des Bewußtseins kennen, um zu wissen, daß das Verhältnis der subjektiv aufgefaßten Folge von Perzeptionen in keiner festen Beziehung zum Verhältnis der Folge der pezipierten objektiven Vorgänge steht. Wir müssen um die Erscheinungen der Ermüdung und Adaption wissen, um vom Aufhören der Empfindung nicht ohne weiteres auf das Aufhören des Reizes zu schließen. Bedeutungsvoller als diese einzelnen Ergebnisse ist die durch die Wissenschaft - allerdings bei weitem noch nicht für alle Sinnesempfindungen - gewonnene Kenntnis der Reize und ihrer zahlenmäßigen Abstufung. Bedeutet doch für STUMPF in der oben zitierten Definition, das "wirklich so sein" eines Empfindungsinhaltes nichts anderes als seine Übereinstimmung mit dem Reiz (66). Diese Übereinstimmung unterscheidet sich als Wahrheitskriterium von den bisher besprochenen Kriterien wesentlich in einem Punkt. Jene - die Erfahrungen desselben Sinnes, die der anderen Sinne, die Urteile der anderen Menschen, die sonstige begrifflich gewonnene Erfahrung über die Gegenstände, von denen der Reiz ausgeht - sie alle können während der Urteilsbildung im Bewußtsein sein; sie wirken nicht nur als nachträgliche Kriterien, sondern sie bilden, neben der unmittelbaren Veranlassung des Urteils - dem Sinneseindruck selbst -, Faktoren der Bildung des objektiven Urteils, und zwar gleichwertige Faktoren, welche gegen die Überzeugungskraft des momentanen Sinneseindrucks abgewogen werden können. Dagegen kommt gegenüber dem Wissen um den Reiz der Sinneseindruck selbst nicht mehr in Frage; dieses Wissen, wo es vorhanden ist, ist so ausschlaggebend, daß ein Urteil, in welches dieses Wissen eingeht, überhaupt kein Sinnesurteil mehr genannt werden kann. Sind also die übrigen genannten Übereinstimmungen Faktoren der Urteilsbildung, aber nie ganz sichere Kriterien für die Richtigkeit des Urteils, so kann die Übereinstimmung mit unseren wissenschaftlichen Vorstellungen - die Kontrolle der Empfindung durch den Reiz -, das Kriterium für die Richtigkeit der Sinnesurteile schlechthin, dagegen kein Faktor der Urteilsbildung genannt werden.

Schließlich möchte ich noch eines Wahrheitskriteriums gedenken, das für die Urteile, speziell auch für die Sinnesurteile, aufgestellt worden ist. Man hat gesagt: ein Urteil ist dann wahr, wenn es Motiv eines uns nützlichen Handelns werden kann. Daß das Bild hinter dem Spiegel kein wirklicher Gegenstand ist, erweist sich an der Vergeblichkeit des Versuchs, ihn zu ergreifen. Genauer betrachtet läuft doch auch dieses Kriterium auf das der Übereinstimmung mit anderen Urteilen hinaus. An das Sinnesurteil knüpft sich eine Folgerung, deren Richtigkeit durch die ausgeführte Handlung gleichsam experimentell geprüft wird, und deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit auch die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Prämisse ergibt. Die Wahrheit des Sinnesurteils erweist sich hiernach an einer Übereinstimmung mit solchen Urteilen, welche eine Voraussetzung unseres Handelns bilden.

Wir kommen nun zu den Kriterien der Werturteile.

Die Urteile, mit denen ein Werturteil übereinstimmen oder nicht übereinstimmen kann, sind:
    1) Urteile desselben Individuums über denselben Gegenstand zu anderer Zeit und unter anderen Umständen;

    2) Urteile desselben Individuums über andere Gegenstände;

    3) Urteile anderer Menschen;

    4) Urteile, welche allgemeine, speziell wissenschaftliche Vorstellungen zum Gegenstand haben.
Im ersten Prinzip, darin, daß widersprechende Urteile desselben Individuums über denselben Gegenstand nicht miteinander bestehen können, zeigt sich deutlich die, ich möchte sagen, natürliche Objektivität, welche dem ästhetischen Urteil zukommt. Wie nicht die einzelnen Sinneseindrücke Träger des objektiven Urteils sind, sondern die Summe von Eindrücken, die außerhalb der gegenwärtigen Sinnesempfindung vom Gegenstand erhalten wurden, so ist auch nicht das einzelne Lustgefühl, sondern eine ganze Reihe unter verschiedenen Bedingungen vom einem Gegenstand empfangener Eindrücke für das objektive ästhetische Urteil entscheidend. Auf diese Weise geht der "temporäre Wert" (nach EHRENFELS' Terminologie) in den "Normalwert" über, der sich auf das durchschnittliche Maß tatsächlicher Gefühlsdispositionen bezieht. Nur die häufige Wiederholung des Eindrucks schützt vor den "zufälligen Mitbestimmungen", welche im Subjekt oder im Objekt gelegen sein können. Im höchsten Sinn objektiv zuverlässig wären nur diejenigen Urteile zu nennen, welche an der Übereinstimmung mit Urteilen verschiedener Lebensepochen erhärtete wären. Wenn man vom Geschmack eines Alters spricht, so ist hierunter meist eine Fälschung des Urteils durch vorherrschende Gefühls-, Vorstellungs- und Willenstendenzen zu verstehen.

Daß auch die eigenen Urteile über andere Gegenstände als Urteilskriterien in Betracht kommen können, kommt besonders bei Vergleichen zum Ausdruck. Bei Urteilen vor allem, welche einer graduellen Abstufung fähig sind - und dies sind, wie gesagt, fast alle ästhetischen Urteile -, ist die Nebeneinanderstellung verschiedener Gegenstände von entscheidender Bedeutung für das richtige Urteile (siehe auch Kapitel 4 über die "objektive Zuverlässigkeit der Werturteile"). Alles Mittelmäßige enthüllt seine Natur, wenn es von Großem überstrahlt wird. Wenig Beachtetes gewinnt an Wert, wenn es sich Meisterwerken gegenüber bewährt. Das positive ästhetische Urteil über eine Figur THORWALDSENs muß modifiziert werden gegenüber der ebenfalls positiven Wertung eines DORYPHOROS.

Diese Modifizierbarkeit eines Urteils durch Urteile über andere Gegenstände tritt natürlich zunächst bei Urteilen über Gegenstände gleicher Gattung hervor. Ob und wie weit auch Urteile über gänzlich verschiedene Gegenstände hierfür in Betracht kommen können, wäre Sache einer besonderen Untersuchung. Es fragt sich, wie weit die Entwicklung des Verständnisses für eine Kunst auch das Verständnis für andere Künste und für Naturschönheiten "mitübt". Nur so weit dies der Fall wäre, könnte man einen Einfluß des einen Urteils auf das andere erwarten. Zweifellos gibt es eine gewisse Konsequenz oder Moral des ästhetischen Urteils, welche verbietet, daß, wer eine Skulptur MICHELANGELOs zu schätzen weiß, noch ein Bild KARL BECKERs oder einen Gassenhauer bewundert. Es fragt sich aber, wie weit dies geht, und ob dieser Einfluß sich von den sogenennten bildenden Künsten auch auf Poesie und Musik und umgekehr von diesen auf jene erstreckt. Eine weitere Frage wäre, inwieweit die Urteile nicht nur über konkrete Gegenstände verschiedener Gattung, sondern auch über verschiedene ästhetische Qualitäten einander beeinflussen können, ob z. B. das Vermögen richtiger Urteile über wohlgefällige Linienverhältnisse Einfluß gewinnen könnte auf das Urteil über den Ausdruckswert der Farben. Vielleicht geht die einseitige Ausbildung der Linien- und Farbenkunst bei einzelnen Künstlern und Völkern mit einer gegenseitigen Unabhängigkeit der Urteile in dieser Hinsicht Hand in Hand. Solchen Fragen könnte man vielleicht auf experimenteller Basis nähertreten. Ihre Lösung wäre auch insofern von Interesse, als sie darüber Aufschluß geben würde, ob der ästhetische Sinn als ein einheitliches Organ zu betrachten ist oder nicht. Daß ästhetische Urteile über verschiedene Gegenstände, wenn sie in der Tat einander beeinflussen können, in einem einheitlichen Organ wurzeln, daß sie zumindest weniger disparater Natur sind als die Urteile verschiedener Sinne, dies zu vermuten haben wir nach Analogie der bei den Sinnesurteilen vorliegenden Verhältnisse begründeten Anlaß.

Ob die Übereinstimmung ästhetischer Urteile mit den Urteilen anderer Menschen wirklich, ob sie möglich, notwendig, beweisend, wünschenswert ist, wie das analoge Problem bei den Sinnesurteilen, eine ewige Streitfrage. Dem "de gustibus" [Geschmack - wp] steht die Berufung auf die verschiedensten Autoritäten, der subjektiven Genügsamkeit der Anspruch auf Allgemeinheit gegenüber.

Die ästhetischen und ethischen Urteile scheinen hier nach zwei Richtungen der Gleichstellung mit den Sinnesurteilen zu widerstreben. Es scheint in dieser Gleichstellung eine Erhöhung gleichsam und zugleich eine Degradierung der Werturteile zu liegen. Eine Erhöhung- denn von der allgemeinen Übereinstimmung, die in Bezug auf die sinnlichen Qualitäten erzielbar ist, scheinen die willkürlichen ästhetischen Urteile noch weit entfernt zu sein. Eine Degradierung - denn den ästhetischen Urteilen wird doch ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit zugebilligt, der den Sinnesurteilen versagt wird. Gleichwie die innerlich unsichersten Menschen mit der größten Sicherheit und Arroganz nach außen aufzutreten pflegen, so entspricht dem geringeren Grad empirischer Allgemeinheit, welchen die ästhetischen Urteile aufzuweisen haben, der größte Anspruch auf allgemeine Anerkennung. Und mehr noch. Derjenige, welcher mit unserem ästhetischen Urteil nicht übereinstimmt, verfällt häufig sogleich unserer Verachtung.

Um auf diese Degradierung zunächst einzugehen, so ist der größere, von KANT so scharf hervorgehobene Anspruch der ästhetischen Urteile auf Allgemeinheit wohl darauf zurückzuführen, daß wir ein ästhetisches Urteil in einen viel tieferen Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen bringen. An ihren Werturteilen scheiden sich die Geister; die Individualität, die Originalität einer Persönlichkeit kommt in ihrem Werturteil zum Ausdruck. Ein Sinnesurteil aber kann der höchststehende Mensch mit dem niedrigsten, ja mit dem Tier teilen, und seine eigenen Sinnesurteile sind für ihn nur die indifferente Basis, auf der sich als ihr Sinn und Zweck erst die Werturteile erheben. Daher läßt uns das abweichende Sinnesurteil eines anderen uns nahestehenden Menschen gleichgültig, während Differenzen im Werturteil uns leidenschaftlich erzitzen können. - Dieser Unterschied zwischen den Sinnes- und Werturteilen begründet indessen keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen diesen Urteilen, er resultiert vielmehr aus einer bereits erwähnten Eigenart des ästhetischen Sinnes: aus der größeren Vermitteltheit seiner Empfindungen, aus seiner Abhängigkeit von Vorstellungen und Gefühlen, auf die auch sein individuell späteres Hervortreten zurückzuführen ist.

Fragen wir nun, wie es sich mit der scheinbaren Erhöhung der ästhetischen Urteile durch ihre Gleichsetzung mit den Sinnesurteilen, wie es sich mit der tatsächlichen Allgemeinheit verhält, welche den Werturteilen in so viel geringerem Grad zukommen soll als den Sinnesurteilen.

Von einer größeren Zahl von Urteilen haben wir schon nachgewiesen, weshalb sie nicht übereinstimmen können. Die Konstanz der Beziehung zwischen dem Objekt und dem ästhetischen Gefühl kann sich nur auf ästhetische Elemente beziehen, die Urteile aber werden meist in allgemeiner Form abgegeben; sie werden nicht spezifiziert, weder in Bezug auf die spezielle Schönheitsform, die sie aussagen, noch in Bezug auf das Teilobjekt, von welchem sie diese aussagen. Dies und die Schwierigkeit der Herstellung physiologisch gleicher Reize hat befriedigende Feststellungen über den Grad, in dem Urteile über ästhetische Elemente tatsächlich übereinstimmen, bisher verhindert.

So viel läßt sich immerhin sagen: Einige Urteile, welche aauf der allemein menschlichen Organisation beruhen, wie die über Symmetrie, werden einer allgemeinen Übereinstimmund sicher sein. Auch das aristotelische "nicht zu klein und nicht zu groß", die platonische EInheit in der Mannigfaltigkeit, Proportion und Konstrast dürfen als Elemente der allgemein positiv-ästhetischen Wirkung sichergestellt sein. Auch wo wir eine Entwicklung des ästhetischen Sinnes wahrnehmen, sind solche elementaren Übereinstimmungen noch erkennbar. Auf der Beschäftigungs- und Funktionslust der Sinne, welche in unseren Ornamenten, im Schmuck usw. zum Ausdruck kommt, beruhen auch die rohesten Tätowierungen. Dazu kommen die Erfahrungsregeln, welche in der Lehre über die einzelnen Künste zusammengetragen sind: in der Poetik, in der Tektonik, in der Lehre von der Perspektive, von der "Technik" des Dramas (welche recht eigentlich seine Ästhetik ist), us. Das reichste Material enthält wohl die musikalische Kompositionslehre; es gilt heute noch, was HERBART von
    "den musikalischen Lehren, die den seltsamen Namen Generalbaß führen", sagte, nämlich, daß sie "das einzige richtige Vorbild sind, welches für die echte Ästhetik bis jetzt vorhanden ist".
Entspricht die Einhelligkeit in Bezug auf diese Urteile der Übereinstimmung, welche für die gröbsten Empfindungsunterschiede auch auf dem Gebiet der Sinne zu konstatieren war, so dürften wohl auch die nicht übereinstimmenden Urteile, wenn man die auf ästhetischem Gebiet (aus den im vorigen Kapitel bereits behandelten Gründen) häufigeren Täuschungen in Betracht zieht, hier nicht zahlreicher sein als dort. Nur nach einer Richtung liegt vielleicht eine größere Divergenz vor. Es scheint nämlich, daß wir auf ästhetischem Gebiet eine Entwicklung des Organs im Sinne einer Differenzierung, nicht nur, wie bei den Sinnesorganen, im individuellen, sondern auch im Leben der Völker zu konstatieren haben, und daß diese Differenzierung unter dem Einfluß verschiedener äußerer Umstände sich zum Teil nach ganz verschiedenen Richtungen vollzogen hat, so daß wir schließlich in verschiedenen Kulturen ganz verschiedene Arten ästhetischen Gefühls vor uns zu haben glauben.

Man glaubt heute nicht mehr an die Entwicklung des Farbensinnes, welche vor 30 Jahren mit so viel Emphase verkündet wurde. Aber, selbst angenommen, es stünde fest, daß keine Entwicklung stattgefunden hat, so wäre man auch nicht gezwungen, eine solche anzunehmen; denn die dem Auge vorliegenden Objekte waren im Wesentlichen immer dieselben. Die ästhetischen Objekte dagegen, an denen sich der Schönheitssinn entwickeln sollte, sind nach Zeit und Ort verschieden.

Ästhetische Objekte liegen in Natur und Kunst vor.

Da die Natur keine prinzipiell neuen Erscheinungen in ihren Wandlungen bietet, so werden auch die Wandlungen des Naturgefühls, die wir in der Geschichte anzutreffen annehmen müssen, nicht durchgreifender Art sein. In der Tat, soviel aus einer flüchtigen Übersicht hervorgeht, scheint die Wandlung des Naturgefühls mehr eine Erniedrigung der unteren ästhetischen Schwelle und eine allmähliche Eroberung immer neuer Gegenstände für das Gefühl als eine wirre Verschiedenheit in der Wertung der gleichen Objekte zu zeigen. Die eklatanten Unterschiede, die man häufig anzuführen pflegt, bestehen wesentlich in einem Mangel jeglichen Gefühls da, wo es bei uns stark ausgebildet ist. Wenn im Altertum die Alpenreisenden nur über die unfahrbaren scheußlichen Wege zu klagen wissen, das Romantische der Naturszenen sie nie beschäftigte, und JULIUS CÄSAR, als er zu seinen Legionen nach Gallien zurückkehrte, die Zeit benutzte, um während des Übergangs über die Alpen eine grammatische Schrift "De Analogia" anzufertigen (67), wenn bei den Minnesängern, welche an den Kreuzzügen teilnahmen, kein Eindruck weder von der italienischen noch von der orientalischen Landschaft zu bemerken ist (68), so fehlte es hier offenbar an den Vorbedingungen einer interesselosen ästhetischen Kontemplation. Wenn die Griechen und Römer fast allein das gemächlich Bewohnbare in der Landschaft anziehend fanden und keinen Sinn für das Unbelebte in der Natur zeigten (69), so geht daraus nur die in ihnen vorherrschende Stimmung hervor, welche die Entwicklung entgegengesetzter Gefühle hemmte. Und so ist es auch die verschiedene Einstellung des ästhetischen Auges, wenn im Alten Testament der Blick auf das Naturganze gerichtet ist, bei anderen Völkern wiederum liebevoll ins einzelne sich versenkt.

Das andere ästhetische Objekt, welches entgegengesetzt der Natur historisch den größten Wandlungen unterliegt, ist die Kunst. Wollte man nun gegen den Versuch, aus der Verschiedenheit dieses Objekts die verschiedene Entwicklung des ästhetischen Sinnes abzuleiten, von vornherein einwenden, daß, wenn die Kunstobjekte verschieden sind, dies gerade erst die Folge der Geschmacksverschiedenheiten ist, so ist zu erwidern, daß die Kunstentwicklung durchaus nicht nur von ästhetischen Gesichtspunkten bedingt ist. Es wäre eine interessante Aufgabe, an der Entwicklung einzelner Kunstformen das rein ästhetische Moment herauszufinden, - vielleicht würde dies durch seine Gleichartigkeit bei den heterogensten Formen überraschen. Tatsache aber ist, daß die Künste von außerkünstlerischen Motiven in ihrer Entwicklung wesentlich beeinflußt werden. In der Architektur findet sich, z. B. bei SCHNAASE, die Form durchweg aus dem konstruktiven Bedürfnis, der praktischen Bequemlichkeit, dem Zweck des Gebäudes, der religiösen Auffassung - und dem ästhetischen Bedürfnis erklärt (70). Ebenso sind die nachahmenden Künste durch Technik und Gegenstand bedingt. Durch die Technik - hat doch SEMPER alle Stilformen aus den Bedingungen des Materials ableiten wollen! Durch den Gegenstand - ist doch alles, was der Künstler vor sich hat, durch die gesamte Kultur der Zeit bedingt! Die beständige Übung des Organs nun an verschiedenen Objekten muß auch eine verschiedene Ausbildung desselben zur Folge haben. Und diese Verschiedenheit bringt ein System von Urteilen hervor, das von Systemen anderer Kulturkreise charakteristisch abweicht. Es würde sich hiernach bei näherem Eingehen auf die Entstehungsbedingungen der Kunstobjekte die Vermutung FECHNERs bestätigen,
    "daß die meisten Wandlungen des Geschmacks schließlich von Ursachen abhängen, die gar nicht in das Gebiet des Geschmacks gehören, durch eine Vermittlung der Assoziation aber in dasselbe eintreten und sich durch Gewöhnung und Übertragung festigen und fortpflanzen". (71)
Wie weit nun diese Verschiedenheiten sich auf ästhetische Elemente, oder nur auf komplizierte Objekte erstrecken, ist beim gänzlichen Mangel an Untersuchungen hierüber schlechterdings nicht entscheidbar. Jedenfalls müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß der ästhetische Sinne bei vielem Übereinstimmenden doch auch größeren interindividuellen Verschiedenheiten unterliegt als die übrigen Sinnesorgane. Will man insbesondere die historischen Unterschiede in der Wohlgefälligkeit der Intervalle nicht auf eine Differenzierung des Gehörorgans zurückführen, so daß das gleiche Intervall im 13. Jahrhundert einen physiologisch anderen Reiz darstellt als im 19. Jahrhundert, so würden hier tatsächlich Urteilsverschiedenheiten über ästhetische Elemente vorliegen.

Wir sehen also: es gibt Urteile, über welche eine allgemeine Übereinstimmung herrscht, auf ästhetischem Gebiet so gut wie im Bereich der Sinnesorgane. Die größere Zahl nichtübereinstimmender ästhetischer Urteile erklärt sich zum Teil daraus, daß sie sich meist nicht auf ästhetische Elemente beziehen, zum Teil vielleicht aber auch aus der größeren Kompliziertheit des ästhetischen Organs, welche eine Differenzierung desselben nach ganz verschiedenen Richtungen ermöglicht.

Aber wenn und soweit auch Übereinstimmungen als tatsächlich konstatiert werden können, so können sie doch nicht als Kriterium für die Richtigkeit der Urteile dienen. Denn ist die Übereinstimmung schlechthin allgemein, so kann es auch keine Ausnahme von ihr geben; gegensätzliche Urteile sind dann undenkbar, und ein Kriterium für die Richtigkeit dieser Urteile würde jedes Sinnes und Zweckes entbehren. Ist jene Übereinstimmung aber nicht durchaus allgemein, so kann sie auch nicht als Kriterium für die Richtigkeit dieser Urteile gelten; denn jede Fürfalscherklärung eines Urteils aufgrund dieses Kriteriums würde dann wiederum nur eine Vergewaltigung der Minorität durch Majorität bedeuten. - Dies gilt von der allgemeinen Übereinstimmung als einem Wahrheitskriterium für die Richtigkeit der Werturteile. Als Faktor der Urteilsbildung kommt sie überhaupt nicht in Betracht, da hier ebenso wie bei den Sinnesurteilen das Urteil anderer unser eigenes nur indirekt, durch eine Anregung zur Nachprüfung, zu beeinflussen vermag.

Wir sehen uns also auch hier auf den schon für die Sinnesurteile skizzierten Standpunkt gedrängt, den Standpunkt, daß das Kriterium für Wahrheit und Falschheit der ästhetischen Urteil in der allgemeinen Übereinstimmung keinesfalls bestehen kann, individuell konstanten Urteilen also, über welche keine allgemeine Übereinstimmung herrscht, dennoch, auch wenn sie denen anderer direkt widersprechen sollten, individuelle Wahrheit zugesprochen werden kann.

Daß dieser Standpunkt uns erlaubt, den Begriff der Wahrheit auch für ganz verschiedenartig organisierte Weise festzuhalten, ist für die Werturteile von ungleich größerer Bedeutung als für die Sinnesurteile. Mit Wesen von ganz verschiedener Sinnesorganisation können wir uns überhaupt nicht verständigen. Ihre Urteile kommen für uns daher nicht in Betracht. Und Anomalien wie die Farbenblindheit sind in dieser Hinsicht mehr von theoretischer als von praktischer Bedeutung. Dagegen haben wir bei der unter dem Einfluß verschiedenartiger Objekte vollzogenen Entwicklung des ästhetischen Sinnes nach ganz verschiedenen Richtungen keine andere Möglichkeit, die objektive Schönheit ganzer ästhetischer Urteilssysteme (deren Voraussetzungen für uns nicht, oder zumindest nicht unmittelbar nacherlebbar sind) anzuerkennen, als die entschiedene Verwerfung des Kriteriums der allgemeinen Übereinstimmung (72).

Wenn wir nun fragen, welches andere Kriterium an seine Stelle treten soll, so leuchtet ein, daß "individuelle Wahrheit" nur solchen Urteilen zugestanden werden kann, die individuell konstant und unter sich übereinstimmend sind. Ebenso einleuchtend aber ist es, daß diese Übereinstimmung der ästhetischen Urteile eines Individuums unter sich kein vollständiges Kriterium darstellt. Konstante Fehler der subjektiven Zuverlässigkeit könnten nur durch eigens darauf gerichtete Versuche, manche konstanten Fehler der objektiven Zuverlässigkeit, die physiologischen Täuschungen besonders, nur aus der Vogelperspektive, am Lebensende eines Menschen oder von einer späteren Zeitepoche erkannt werden. Auch sind einem Individuum nicht alle möglichen Gegenstände des Urteils gegeben. Und es ist wenig wahrscheinlich, daß es immer gerade in den Besitz solcher ästhetischer Urteile gelangen sollte, an denen die Irrtümlichkeit eines seiner früheren Urteile durch Nichtübereinstimmung erweisen könnte. Tatsächlich scheint für die Praxis des Lebens kein anderes als dieses unvollständige Kriterium zu bestehen. Auch die ästhetische Wahrheit bewährt sich, wie die wissenschaftliche, nur im Kampf der Zeiten. Und kann eine Theorie, über die tatsächlichen hinaus, neue Kriterien aufstellen?

Das einzige auch praktisch ausreichende Wahrheitskriterium der Urteile, das auf einigen Sinnesgebieten gegeben war: die Übereinstimmung der Urteile mit unseren wissenschaftlich gewonnenen Urteilen, ihre Vergleichung mit den Reizen, dieses Kriterium steht uns auf ästhetischem Gebiet, aus den bereits angeführten Gründen, vorläufig nicht zu Gebote: Hier sind wir daher auf das Kriterium der Übereinstimmung der ästhetischen Urteile eines Menschen unter sich angewiesen und müssen uns zu seiner Ergänzung, zur Ausschaltung der individuell konstanten Fehler, als eines indirekten Kriterium des auch für die vorliegende Untersuchung eingeschlagenen Weges bedienen, jedes Urteil auf seine möglichen Täuschungsursachen hin zu untersuchen.

Nun ist auch für die Wahrheit der ästhetischen Urteile noch ein Kriterium aufgestellt worden, welches der Entscheidung über die Wahrheit eines Sinnesurteils durch die darauf gegründete Handlung entspricht. Es ist dies das von FECHNER (73) aufgestellte Prinzip des guten Geschmacks: "Gut (oder richtig) ist ein Geschmack, wenn etwas Gutes bei ihm herauskommt". Wie beim entsprechenden Kriterium für die Sinnesurteile, sind es auch hier die an das Urteil geknüpften Folgen, welche über seine Richtigkeit entscheiden sollen. Hiernach würde ein positives Werturteil über Ungesundes, Unsittliches, innerlich Unwahres oder Unechtes sich als falsch erweisen. Man sieht, es ist die Übereinstimmung mit anderen Werturteilen, welche hier zum Wahrheitskriterium der ästhetischen Urteile gemacht wird. Diese Übereinstimmung kann aber für rein ästhetische Urteile nicht in Betracht kommen. Das Objekt des rein ästhetischen Urteils steht ganz außerhalb der Zusammenhänge, in welche die anderen Werturteile es stellen. FECHNER führt als Beispiel eines unrichtigen Geschmacks das Wohlgefallen der Chinesen an den verkrüppelten Füßen ihrer Frauen an. Aber dieser Fuß gefällt entweder unmittelbar - dann kommt seine Verkrüppelung, welche autopathisch entschieden negativ gewertet werden würde, gar nicht zum Bewußtsein, dann gefällt er nicht im Zusammenhang mit seiner Zweckbestimmung, nicht als Fuß, sondern als ein zierliches, leichtes, feines Gebilde an und für sich: das Gefallen knüpft sich dann also an einen Reiz, der mit der Verkrüppelung gar nichts zu tun hat -; oder aber der Fuß gefällt nicht unmittelbar, sondern nur durch eine assoziative Verkettung, mit anderen Werten: als ein Zeichen der Vornehmheit, des Reichtums, der Bequemlichkeit, - dann ist nicht er selbst falsch oder richtig, sondern dann liegt ein am Widerspruch mit Werten desselben Gebietes sich erweisender Irrtum der autopathischen Wertung vor, an dem der vermittelte Wert partizipiert. Niemals aber kann ein unmittelbares ästhetisches Werturteil an seiner Übereinstimmung mit autopathischen oder heteropathischen Unwerten als falsch erwiesen werden.


Kapitel 6. Die Qualitäten des
ästhetischen Gefühls.

Wir haben bisher vom Schönheitsgefühl als einem einheitlichen Gefühl gesprochen, wurden aber bereits an mehreren Stellen genötigt, verschiedene Schönheitsformen zu unterscheiden. Wir nennen Gegenstände schön, von denen wir auf ganz verschiedene Art affiziert werden, wie wir Gegenstände farbig nennen, deren Farben ganz verschieden sind. In der Ästhetik unterscheidet man von jeher verschiedene Formen, Modifikationen oder Arten des Schönen, die auf mannigfache Weise aus dem Schönen abzuleiten versucht wurden. Das Anmutige und Würdevolle, das Groteske und Liebliche, das Sentimentale und Naive, das Komische und Tragische werden als Gegenstände der Ästhetik behandelt, ohne daß ihr Verhältnis zum Schönen je ganz deutlich geworden wäre. Man leitete sie entweder metaphysisch ab, so wenn SCHASLER das Häßliche die Entfaltung des Schönen durch die mannigfaltige Welt der Schönheit bewirken, ROSENKRANKZ das Schöne durch das Häßliche ins Komische übergehen läßt, - so auch wenn RUGE das Erhabene, Häßliche und Komische Stufen eines dialektischen Prozesses, in den das Schöne eingeht, VISCHER das Erhabene und Komische den Widerstreit seiner Momente nennt. - Oder man faßte die Modifikationen des Schönen rein stofflich auf, indem man sie auf Unterschiede des Gegenstands zurückführte, - so wenn SCHILLER das Anmutige als Ausdruck schöner Seelenbewegung, die Würde als Ausdruck sittlich großen Handelns bestimmt. - Oder schließlich, man faßt sie - wie HERBART - als subjektive Erregungen, "Aufregungen des Gemüts", welche, obgleich ihm fremdartig, doch das für sich ruhige ästhetische Urteil begleiten können.

Von unserem Standpunkt aus wäre es leicht, die Modifikationen des Schönen als Qualitäten der Schönheit aufzufassen, analog der Auffassung der einzelnen Farben als Qualitäten der Farbe. Die Frage, wie die einzelnen Schönheitsformen objektiv entstehen, ginge uns hier so wenig an, wie die nach der Entstehung der verschiedenen Gerüche und Farben. Es würde sich nur darum handeln, die Anzahl der möglichen Empfindungen, deren der ästhetische Sinn fähig wäre, und denen jedesmal eine bestimmte Gruppe ästhetischer Objekte entspräche, festzustellen und (eventuell) in ein System zu bringen. Das Dunkel, das über dem Verhältnis des Schönen zu seinen Modifikationen lagerte, und das man durch metaphysische Erklärungen zu lichten sucht, wäre gehoben, sofern man dieses Verhältnis einer großen Gruppe uns wohlbekannter Erscheinungen koordiniert.

Allein hiermit fängt die Schwierigkeit erst an. Wir dürfen wohl verschiedene Schönheitsformen als Qualitäten des ästhetischen Sinnes vermuten, aber ob wir in den gewöhnlich in der Ästhetik behandelten Modifikationen des Schönen einfache Qualitäten desselben zu sehen haben, ist noch durchaus zweifelhaft. Die Bearbeitung des ästhetischen Gefühls als eines Sinnesorgans müßte eben mit der Aufstellung der einfachen Qualitäten erst beginnen. Es sei daher im Folgenden nur ein Hinweis auf die hierbei auftauchenden Vorfragen gestattet.

Betrachtet man jene obengenannten Modifikationen, so scheinen sie nichts anderes zu enthalten, als verschiedene Gefühle, welche, durch den Prozeß der ästhetischen Kontemplation angeregt, zum Schönheitsgefühl hinzutreten. Das Tragische erscheint als ein ästhetisch behandelter oder angeschauter trauriger Gegenstand, das Komische als ein ebenso behandelter oder betrachteter lächerlicher. Anmutig nennen wir ein ästhetisches Objekt, dessen Inhalt freundlicher Natur ist, naiv oder idyllisch dasjenige, welches Einfaches, Natürliches und Unschuldiges als solches darstellt. Auch wenn das Unschuldige z. B. satirisch oder sentinmental dargestellt wäre, so würde diese Stellung des Künstlers zu seinem Gegenstand für den Betrachter nur den Gegenstand selbst verändern, statt des Unschuldigen würde für ihn, im Falle einer sentimentalen Darstellung, die Sehnsucht nach Unschuld dargestellt sein; der ästhetische Prozeß selbst bliebe der gleiche. Hiernach wären die Modifikationen des Schönen nur als Zusätze zum Schönen im Sinne HERBARTs zu betrachten, oder als Zusätze in demselben Sinn, in dem SCHOPENHAUER das Erhabene als "Erhebung über das erkannte feindliche Verhältnis des kontemplierten Objekts zum Willen überhaupt" und somit als einen "Zusatz" auffaßt, durch den sich das Gefühl des Erhabenen von dem des Schönen unterscheidet (74). - Ist dies richtig, so könnten die Modifikationen nicht als einfache Qualitäten, sondern nur als Mischerscheinungen aufgefaßt werden. Ein Analogon zu einer solchen Mischerscheinung haben wir im Sinnesgebiet z. B. in der Erscheinung des körperlichen Schmerzes und auch hier liß sich bisher nicht zur Genüge unterscheiden, wieviel seiner Eigenart von der Qualität der Empfindung, wieviel von ihrer Intensität, von ihrer räumlichen Ausdehnung, ihrem zeitlich-rhythmischen Verlauf, und wieviel schließlich von ihrem eigentlichen Gefühlston abhängt.

Nun bedarf freilich jeder Gegenstand einer eigenen künstlerischen Behandlungsart. In jeder Kunst gibt es für die Behandlung eines Objekts von bestimmtem Gefühlston eine diesem entsprechende Form der Darstellung. ROSENKRANZ hat in dieser Beziehung den hohen oder strengen, den mittleren und den leichten oder niedrigen Stil unterschieden. Wenn für einen Trauermarsch andere Rhythmen, Tempi, Tonarten und Akkordfolgen verwendet werden als für einen Tanz, wenn für die Tragödie ein anderer, höherer Grad von Wahrscheinlichkeit und ein anderer Aufbau der Handlung, eine andere Charakteristik der Personen erforderlich ist als für die Komödie - was bei der Vernachlässigung der ästhetischen Behandlung der Komödie noch durchaus nicht genügend entwickelt ist -, so könnte man vielleicht in diesen je nach dem Gefühlston des Gegenstandes typisch verschiedenen Formen verschiedene Grundqualitäten des ästhetischen Gefühls sehen. Betrachten wir aber diese Darstellungsform und ihre Unterschiede bei verschiedenen Gegenständen näher, so finden wir ästhetische Elemente, welche durch Einfühlung verschiedene - dem Gegenstand entsprechende - Gefühle hervorrufen; der Prozeß der Einfühlung selbst bleibt der gleiche. Die verschiedenen Rhythmen, Klangfarben, Linien und Farben je nach der Verschiedenheit ihres Gefühlscharakters als so viel einfache ästhetische Qualitäten auffassen, hieße einen stofflichen Faktor zum Einteilungsprinzip ästhetischer Formen machen.

Aus demselben Grund werden wir auch weder auf die verschiedenen, dem Schönheitsgefühl zugrunde liegenden sinnlichen Eindrücke, noch auf die verschiedenen psychischen Prozesse, die sie auslösen, Qualitäten des ästhetischen Gefühls gründen dürfen. Man könnte, wenn man jene zugrunde legt, eine Einteilung der ästhetischen Gefühle nach akustischem oder optischen, gleichzeitigen oder ungleichzeitigen Eindrücken usw. versuchen; wählt man aber zum Einteiligungsprinzip die Verschiedenheit der durch die Eindrücke ausgelösten Prozesse, so könnte man zwischen solchen ästhetischen Gefühlen unterscheiden, welche durch Anregung von Gefühlen (bzw. Vorstellungen von Gefühlen) oder deren allgemeinen Rhythmen, und solchen, welche durch Anregung von Gegenstandsvorstellungen entstehen (musikalische und darstellende Kunstwirkungen). - Alle diese Einteilungen mögen aus heuristischen Gründen empfehlenswert sein. Setzt man aber das Schöne in eine Relation, so kann man auf eine Verschiedenheit ihrer Fundamente keinen Unterschied innerhalb der Relation selbst gründen.

Auf qualitative Unterschiede zwischen den ästhetischen Wertgefühlen selbst sucht LIPPS die Modifikationen des Schönen zu gründen (75). Für LIPPS gibt es so viele Modifikationen des Schönen, als es Gefühle gibt, die einen Eigenwert des Objekts begründen und den Charakter des persönlich Wertvollen haben; Lust und Unlust sind ihm nur überall wiederkehrende Färbungen aller möglichen Gefühle (Seite 508). Er unterscheidet Gefühle der Inanspruchnahme - Quantitätsgefühle -, Gefühle der Langsamkeit und Raschheit, der Masse und des Gegenteils, der Einfachheit und Differenziertheit, der Tiefe und Weite. Zweifellos sind hiermit tatsächliche Unterschiede der ästhetischen Eindrücke angegeben, - aber ob wir in diesen komplizierten psychischen Gebilden überhaupt noch Gefühle, ob wir in ihnen ästhetische, rein ästhetische Gefühle und Grundqualitäten derselben - im Sinne der Grundfarben - zu sehen haben -, dies zu entscheiden, würde noch einer eingehenderen Analyse bedürfen.

Wenn wir einfach Qualitäten des ästhetischen Gefühls finden wollen, so dürfen wir sie nur in Unterschieden des ästhetischen Prozesses selbst suchen. Ein solcher unzweideutiger Unterschied ist der zwischen einem glatten und einem gehemmten Verlauf des Prozesses. Überall, wo der Vorgang der ästhetischen Kontemplation gehemmt wird, entsteht Unlust und der Eindruck des Häßlichen (76). Als Grundqualitäten des ästhetischen Sinnes hätten wir also jedenfalls das Schöne und das Häßliche anzusehen. Sofern beides Grade zuläßt, könnte man versucht sein, sie als Intensitäten aufzufassen; es verhält sich hier aber nicht anders als mit der Temperaturempfindung; obgleich Grade und Übergänge stattfinden, sind doch schön und häßlich als Qualitäten ebenso geschieden wie kalt und warm, schwarz und weiß, hohe und tiefe Töne. Die letzte Analogie dürfte am zutreffendsten sein; denn obgleich in allen diesen Gebieten der Indifferenzpunkt von den beiden Qualitäten am weitesten entfernt ist, so kann er doch objektiv für die schwarz-weiß und die warm-kalt-Skala aus diesen beiden Qualitäten durch Mischung hergestellt werden, während ein mittlerer Ton aus hohen und tiefen Tönen so wenig hergestellt werden kann, wie ein indifferenter Gegenstand aus schönen und häßlichen Eigenschaften.

Die Unterscheidung weiterer Qualitäten muß einer Einzeluntersuchung vorbehalten bleiben.


Indem wir im Vorhergehenden die Analogie zwischen den Sinnesempfindungen und den ästhetischen Gefühlen durchzuführen und speziell durch den Vergleich zwischen den Sinnesurteilen und den ästhetischen Urteilen in Bezug auf ihre Gültigkeit und ihre Täuschungsquellen zu erhärten versucht haben, glaubten wir erkenntnistheoretisch zum dem Schluß berechtigt zu sein, daß Schönheit in demselben Sinn als eine Eigenschaft der Dinge aufzufassen ist, wie die sinnlichen Qualitäten. Wir kommen damit in einem seltsamen Zirkel auf die Lehre zurück, die noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Bezug auf das Verhältnis von Gefühl und Empfindung herrschend war. Bevor man damals dazu gelangte, zwischen Empfindung und Gefühl in unserem Sinne zu unterscheiden, wurden die sinnlichen Qualitäten auf der einen, und das Vollkommene und Unvollkommene, das Schöne und Häßliche, das Gute und Böse auf der anderen Seite in gleicher Weise entweder als Eigenschaften den Dingen zugeschrieben, oder in gleicher Weise ihnen abgesprochen und als Produkt der Einbildungskraft von der wahren Erkenntnis der Dinge ausgeschlossen (77). Aber die Beweisführung hat heute den umgekehrten Weg zu gehen. Während damals die Subjektivität der Sinnesempfindungen dadurch bewiesen wurde, daß man zeigte, daß sie sich von den Gefühlen nicht unterscheiden (LOCKE, Essay on human understanding, II, Kap. 4, §§ 17, 18), so gilt es heute, die Objektivität der durch das Gefühl erfaßten Eigenschaften der Dinge dadurch nachzweisen, daß man sie mit den sinnlichen Qualitäten in eine Reihe stellt.

Wollte man nun einwenden, die durchgeführten Analogien seien viel zu allgemein, um die Gleichsetzung gerade des ästhetischen Gefühls mit den Sinnesorganen zu beweisen - denn wenn das ästhetische Gefühl in einzelnen Punkten mit dem Verhalten der Sinnesorgane übereinstimmt, so folgt es doch hierin nur den allgemeinen Gesetzen, welche das Seelenleben, speziell das Gefühlsleben überhaupt, beherrschten -, wollte man dies einwenden, so hätte ich nichts dagegen. Ich habe auf das gleiche Verhalten des elementaren ethischen Gefallens mehrfach hingewiesen. Ich zweifle nicht daran, daß auch alle anderen Gefühle in ihren Elementen mit derselben Gesetzmäßigkeit auftreten wie die Sinnesempfindungen und daher, wie diese, einer berechtigten Objektivierung fähig sind. Die allgemeinere Gültigkeit meiner These dürfte die Beweisführung für den speziellen Fall nicht erschüttern.
LITERATUR Edith Landmann-Kalischer, Über den Erkenntniswert ästhetischer Urteile, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 5, Leipzig 1905
    Anmerkungen
    59) SPINOZA, De Intellectus Emandatione. Opera, quae supersunt omnia II, Seite 426, Jena 1803
    60) siehe z. B. von EHRENFELS, a. a. O., Seite 67 und öfter.
    61) Urteile dieser Art nennt STUMPF, a. a. O. "übertragene" Urteile.
    62) SIGWART, Logik I, Seite 402, Freiburg 1889.
    63) LAAS, a. a. O., Seite 616
    64) Dieser Begriff findet sich bei SIMMEL, "Kant", 1904, Seite 174 und 175.
    65) LAAS, a. a. O., Seite 456.
    66) Man könnte versucht sein, in der Übereinstimmung des Sinnesurteils mit dem Reiz nichts anderes als die Übereinstimmung zwischen Urteilen verschiedener Sinnesgebiete zu sehen, welchen weiter oben als Wahrheitskriterium abgelehnt wurde. Aber es ist klar, daß bei dieser Gleichung zwischen zwei Empfindungsgruppen durchaus keine Beziehung derart stattfindet, daß ein Urteil über die eine Empfindung das über die andere unmittelbar zu beeinflussen vermöchte, sondern daß dies nur unter der Voraussetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen geschehen kann.
    67) ALEXANDER von HUMBOLDT, Kosmos II, 1847, Seite 25.
    68) von HUMBOLDT, ebd. Seite 36.
    69) von HUMBOLDT, a. a. O. II, 1847, Seite 79.
    70) vgl. über einzelne Formen z. B. Spitzbogen und Portal: SCHNAASE, Grundzüge der Architektur des Mittelalters, 4 Bde., 6. Buch, I. Kapitel.
    71) FECHNER a. a. O., I, Seite 254
    72) In der Ablehnung des Consensus gentium als eines Wahrheitskriteriums kommen wir mit dem Standpunkt von AVENARIUS überein, wie er ihn speziell am Problem einander widersprechender Sinnesurteile im "Menschlichen Weltbegriff" (Leipzig 1891, Seite 121-131) auseinandersetzt. Doch müssen wir AVENARIUS gegenüber an der Unterscheidung von bloßen Wahrnehmungsurteilen auf der eien, und Urteilen als Aussagen über Objektives auf der anderen Seite festhalten. Insbesondere scheint es uns angesichts der mannigfaltigen - im Vorhergehenden erörterten - Mängel, welchen sowohl die subjektive wie auch die objektive Zuverlässigkeit der Werturteile aus dem Standpunkt von AVENARIUS ohne Vorbehalt dieselben Konsequenzen zu ziehen, welche ROBERT EISLER daraus ableitet (siehe oben).
    73) FECHNER, a. a. O., I. Seite 256f.
    74) siehe SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, 3. Buch, § 39.
    75) LIPPS, Grundlegung der Ästhetik, 1903, Seite 506f.
    76) Daß das Häßliche in der Hemmung des ästhetischen Prozesses besteht, gibt auch LIPPS zu. Der ästhetische Widerstreit, sagt er, entsteht, wenn die Mannigfaltigkeit zur Einheitsapperzeption auffordert und sie doch wiederum verbietet. So bei ganz nahe aneinanderliegenden Farben, Tönen, Rhythmen. Wenn er aber weiterhin das Häßliche in das objektivierte Gefühl von der Negation des Lebens setzt (a. a. O., Seite 140), so fällt er in die stoffliche Erklärung zurück.
    77) Die Vermischung und Gleichsetzung von Gefühlen und Empfindungen tritt deutlich auch bei SPINOZA hervor (a. a. O. II, Seite 74; Ethik, I. Teil, Anhang).