ra-2Ernst CassirerHarald Höffding    
 
SIEGFRIED MARCK
(1889-1957)
Substanz- und Funktionsbegriff
in der Rechtsphilosophie

[2/2]

"Die Qualität des  Höchsten  und Absoluten in der Souveränität ist für die normlogische Betrachtungsweise eine logische Übergeordnetheit des ersten Ausgangspunktes, eine logische Absolutheit. Die Souveränität wird so zum Ausdruck der  Autonomie der Rechtsordnung  als eine von der Rechtswissenschaft durchrationalisierten Systems, zum Ausdruck dieser systematischen Einheit selber. Sie ist das Sinnild nicht mehr der Herrschaft eines mächtigen Staates, sondern der theoretischen Grundgesetzlichkeit im Denken der Rechtswissenschaft."

 "Bergbohm  gründet die Positivität des Rechts auf den geschichtlichen Vorgang, in welchem eine zur Normsetzung kompetente Macht die Rechtsordnung als einen Inbegriff von Normen verkündet. Sehr mit Recht stellt demgegenüber  Kelsen  die Frage, wann eine normierende Macht kompetent ist. Er wirft damit das Vexierproblem aller Jurisprudenz nach der "Entstehung des Rechts auf. Ohne Zweifel muß eine unkritische Vermischung der explikativen und normlogischen Methode bei dieser Frage zu einer wirren Metaphysik führen. Etwas Rechtliches kann natürlich immer nur selbst aus etwas Rechtlichem abgeleitet werden, nur ein Rechtsgrund kann die Antwort auf eine  quaestio iuris  erteilen. Wenn man also auf dem Boden der Rechtsfrage das Recht selbst  erzeugt  sein lassen will, seine kausale Entstehung erklären will, so muß man einer bestimmten Norm als Norm Kausalität beilegen, wodurch man sie ganz gewiß aus der Einheit des Normensystems herauslöst und ihr eine metaphysische Einheit von Wert und Sein zugeschrieben hat."

"Der Staat ist soziologisch Ideologie in dem Sinn, daß er ein geistiger Inhalt, ein objektiver Sinn ist. Und da er diesem objektiven Sinn nach für  Kelsen  ja die normative Rechtsordnung ist, kommt er für ihn auch soziologisch nur in dieser Form in Frage. Wohl mag er der subjektiven Seite nach als Normvorstellung auftreten, wohl mag seine Macht auf der Rolle dieser Normvorstellungen in den Seelen der einzelnen beruhen. Vom realen Vorhandensein eines Staates kann nur soweit gesprochen werden, wie die Chance einer Orientierung des Handelns der Einzelnen an der staatlichen Ordnung vorliegt. Die Macht des Staates ist nicht auf dinglicher Gewalt, sondern diese selbst auf der Suggestion auf die Gemüter gegründet."


2. Die Identität von Staat und Recht

a) Das Problem der Souveränität
in der reinen Rechtslehre

Die gekennzeichnete Entwicklung vollzieht sich bei KELSEN im Rahmen eines Einbaus des Souveränitätsbegriffs in seine reine Rechtslehre. An diesem Brennpunkt der Staatsrechtslehre und der Staatsphilosophie muß der Gegensatz der explikativen und der normologischen Methode eine besonders scharfe Beleuchtung erfahren. Drückt sich doch in jenem Begriff das Problem des "Ursprungs" von Staat und Recht, ganz eigentlich die Frage nach der Absolutheit und nach dem Charakter ihres Geltens aus. Für die explikative Betrachtungsweise muß nach KELSEN die Ursprünglichkeit und Unabhängigkeit des Staates, die der Souveränitätsgedanke fordert, eine natürliche Tatsache darstellen. Sie bedeutet hier ein Herrschaftsverhältnis, eine sich aus eigener Kraft unabhängig behauptende, von außen nicht determinierte Macht. Sie ist also hier, konsequent zuende gedacht, ein Gegenstand metaphyshischer Naturphilosophie, der aus dem Zusammenhang der Natur der Erfahrung herausfallen müßte. Denn nur eine erste Ursache ist ja schlechthin ursprünglich, unabhängig und durch keine andere mehr bestimmt, nur eine metaphysische Substanz bedeutet ein absolutes Sein, das in schlechthinniger Unabhängigkeit und Einzigkeit verharrt. Eine gleichzeitig seinsmäßig explikative Auffassung der staatlichen Souveränität und eine Beibehaltung ihres Absolutheitscharakters scheint tatsächlich ohne metaphysische Konsequenz nicht möglich. Es heißt den Anspruch der Absolutheit im Souveränitätsgedanken aufgeben und ihn relativieren oder die in der geschichtlichen Wirklichkeit sich wenigstens als Tendenz aussprechende Richtung jedes machtsouveränen Staates zur Alleinherrschaft anerkennen, wenn man in der Sphäre des Seins verbleibt. Die HEGELsche Geschichtsphilosophie, die den ontologischen Souveränitätsbegriff wuchtig ausprägt, hat ja dann auch im Gedanken der repräsentativen Weltvölker und der Weltgeschichte als einzigem Weltgericht die letztgenannte Folgerung gezogen. Der metahpysische Charakter des so gefaßten Souveränitätsbegriffs bleibt auch bestehen, wenn man mit KELSEN sie als erste motivierende Ursache bezeichnet. Ein Herrschaftsverhältnis, das in seiner Unbedingtheit allen anderen seelischen Motiven entrückt, vorgeordnet und von ihnen isoliert ist, bleibt außerhalb des Zusammenhangs der objektiven Erfahrung, auf den alles seelisch Motivierende muß bezogen werden können.

Der Alternative zwischen Relativierung und Metaphysizierung des Souveränitätsbegriffs glaubt KELSEN bei seiner rein logischen Fassung entgehen zu können. In ihr bedeutet die Souveränität kein natürliches oder übernatürliches Faktum, sondern die Unableitbarkeit der grundlegenden Voraussetzungen eines reinen normlogischen Geltungssystems und in ihnen die Unableitbarkeit des normlogischen Geltungsgedankens selber. Die Qualität des "Höchsten" und Absoluten in der Souveränität ist für die normlogische Betrachtungsweise eine logische Übergeordnetheit des ersten Ausgangspunktes, eine logische Absolutheit. Die Souveränität wird so zum Ausdruck der  Autonomie der Rechtsordnung  als eine von der Rechtswissenschaft durchrationalisierten Systems, zum Ausdruck dieser systematischen Einheit selber. Sie ist das Sinnild nicht mehr der Herrschaft eines mächtigen Staates, sondern der theoretischen Grundgesetzlichkeit im Denken der Rechtswissenschaft. Die Begriffe der modernen Wissenschaft: Gesetz, Denkbedingtheit der Natur usw. sind mit den Bildern der Anthropomorphismen sozialen Lebens zum Teil geschaffen worden. Von der Herrschaft des Gesetzes über die Erscheinungen, des Verstandes über die Natur wurde gesprochen, um logische Abhängigkeits- und Bedingungsverhältnisse zu kennzeichnen. Nunmehr will umgekehrt die reine Rechtslehre die Herrschaftsbeziehungen auf juristischem Gebiet, das stets als ihre eigentliche Domäne galt, in Beziehungen logischer Abhängigkeit verwandeln und dabei in erster Linie den Grundbegriff staatsrechtlicher Herrschaft selbst in ein Postulat der normlogischen Methode. SANDER hat hier ganz gewiß den zugespitztesten Ausdruck der Situation gefunden, wenn er Souveränität und Reinheit der Rechtserkenntnis geradezu gleichsetzt. Für die Souveränität ihrer Methode gegenüber allen empirischen Beisätzen soll jetzt der juristische Begriff der Souveränität einstehen. Bei allen Berührungspunkten mit einer Lehre, die wie die KRABBEs (16) die Rechtssouveränität der Machtsouveränität gegenüberstellt, geht KELSENs Theorie doch erheblich über jene Lehre hinaus. Denn in jene mischen sich ethisch-politische, mit einem Wort, inhaltliche Gesichtspunkte: der Gegensatz der Rechts- zur Machtidee. Für KELSEN dagegen handelt es sich lediglich um den formalen rechtslogischen Gesichtspunkt, mit dem sich seine Einstellung gegen jede soziologische und ethisch-politische Betrachtung abgrenzt. Wiederum wird betont, daß nur ein Gegenstand der einheitlichen normlogischen Methode der Rechtswissenschaft zugeordnet werden kann, daß der juristische und der soziologische Souveränitätsbegriff in zwei verschiedenen Ebenen liegen. Wenn dennoch die souveräne Rechtsordnung als eine Zwangsordnung bezeichnet wird, so ist auch hierbei nicht an das soziologische Faktum des tatsächlich ausgeübten Zwangs und der kausalen Durchsetzung zu denken, vielmehr wird von diesem faktischen Zwang der Zwang selbst als Norminhalt scharf unterschieden. Als solcher ist er in die Form des Rechts hineingehoben und der Sphäre der bloßen Faktizität entrückt.


b) Der Staat als Personifikation der Rechtsordnung

Die Auseinandersetzung zwischen dem Souveränitätsbegriff KELSENs und jener Sphäre der Faktizität, der er hier doch nicht entgehen kann, wird uns im folgenden zu beschäftigen haben. Vorher soll jedoch die Rückwirkung des neuen Souveränitätsgedankens auf den bisher bekannten Staatbegriff bei KELSEN geschildert werden. Mit diesem Souveränitätsbegriff fällt die Entscheidung zugunsten einer streng objektivistischen Staatsauffassung und weist deutlich hin auf die sich immer mehr durchsetzende völlige Identifikation von Staat und Recht. Das grundlegende Attribut des Staates, die Souveränität, ist der Rechtsordnung, und zwar der Rechtsordnung als Gegenstand der reinen Rechtslehre, zugesprochen. Die Souveränität ist keine Auswirkung der Staatsperson und ihrer etwa ethisch verstandenen Freiheit. Vielmehr ist diese ethische Grundkategorie in die logische Grundkategorie der Gesetzlichkeit, der Identität, der widerspruchslosen systematischen Einheit transponiert worden. Mit ethischer Freiheit und soziologischer Macht aber steht der übliche Begriff der Staatsperson im engsten Zusammenhang. Mit der Elimination jener Gesichtspunkt ist nunmehr auch ein weiterer Grund für seine Beseitigung vorhanden. In den "Hauptproblemen" konnte der Staat noch als Träger, wenn auch nicht mehr als Schöpfer der Rechtsordnung erscheinen. In dem freilich verschwommenen Begriff eines Trägers wirkte doch noch ein wenig Substantialismus, eine gewisse Verbundenheit mit dem Gedanken eines realen Willens und einer realen Persönlichkeit nach. Indem die formale Rechtssouveränität als rein logische Kategorie von der Souveränität im Machtsinne gänzlich losgelöst wird, kann jetzt auch jeder Zusammenhang des Begriffs  Staatsperson  mit der Persönlichkeit im psychologischen Sinne und damit auch im ethischen Sinne aufgegeben werden. Tatsächlich kennt KELSEN jetzt die Bezeichnung der Staatsperson nur noch als eine  Veranschaulichung der systematischen Einheit der Rechtsordnung.  Wenn die "Hauptprobleme" den Begriff des Staatswillens im psychologischen Sinne beseitigten, den Begriff der Staatsperson selber, die im Grunde eine überflüssige Konzession an anthropomorphistische Denkgewohnheiten darstellt. Personifikation gegenüber Person - damit ist die fortschreitende Zersetzung des Substantiellen in fiktiver Richtung, die Akzentuierung der Theorie in objektivistischer Richtung gekennzeichnet. Denn was der Begriff der Personifikation hier leisten soll, das leistet der der Identität, der widerspruchslosen systematischen Einheit der Rechtsordnung selbst bereits vollständig. In dieser Personifikation tritt kein neuer und selbständiger "Ichbezug" zu einem "Istbezug" hinzu. Die objektive unpersönliche Rechtsordnung hat jede grundlegende Rolle des Subjekts erdrückt. Denn mit der Staatsperson erleiden auch alle übrigen Subjekte in der Rechtsordnung das Schicksal der Elimination als selbständig konstitutive Faktoren zugunsten der objektiven Ordnung. Auch die juristischen wie natürlichen Personen treten nunmehr lediglich als Personifikationen von Rechtssätzen auf. Dem Staat als der Personifikation der Gesamtrechtsordnung entsprechen stufenweise gegliedert die übrigen Subjekte als Personifikationen sogenannter Teilrechtsordnungen. Es muß diesen so konsequent zuende gedachten Gedankengängen gegenüber als ein stehengebliebener Rest aus den "Hauptproblemen" erscheinen, wenn es gelegenlich noch heißt, daß die juristische Konstruktion der "Staatsperson unter der Rechtsordnung" auf die ursprünglich übergeordnete Staatsperson als Personifikation der Rechtsordnung verzichtet. Es behauptet sich durchgehends der Standpunkt, daß die Zurechnung zu einer Person eine Veranschaulichung der Systemeinheit und ein bildlicher Ausdruck des Einheitsbezuges ist. Weder bei der juristischen Person, noch auch bei den sogenannten natürlichen Personen wird eine Anknüpfung an eine reale Gegebenheit zugelassen, die Person-Qualität ist restlos von der Rechtsordnung verliehen, und da sie in ihr einen mehr oder minder fiktiven Charakter besitzt, muß eigentlich die Verbundenheit des juristischen Subjektbegriffs im Sinne der Personifikation mit irgendwelchen an einen realen Erfahrungstatbestand geknüpften Subjekte kollektiver oder individueller Art als schlechthinnige Zufälligkeit erscheinen.


c) Souveränität, Rechtspositivität, Faktizität

Indessen muß KELSENs rein normlogischer Begriff der Souveränität zu einer Auseinandersetzung mit der Posititävit des Rechts drängen. Denn von der positiven Rechtsordnung, nicht von einem rein gedanklichen Naturrecht war in allen Deduktionen die Rede. Aber scheint nicht die Logisierung des Souveränitätsgedankens, ihre Loslösung von geschichtlicher Macht wie selbst von der Rechts idee  in die Richtung des Naturrechts zu weisen? Wird hier nicht ein in sich ruhendes, auf logisch unableitbaren Voraussetzungen basiertes System der positiven Rechtsordnung gegenübergestellt? Die unableitbaren Prämissen, die die logische Souveränität jener Ordnung ausmachen, scheinen doch auf einer inneren Evidenz und theoretischen Wahrheit beruhen zu müssen, die sich von aller Gesatztheit und willkürlichkeit der Machthaber-Imperative scharf abhebt. Der Rechtspositivismus hat bei SOMLO (17) die Unterscheidung der empirischen und der absoluten Normen vorgenommen. Uralt ist die naturrechtliche Unterscheidung zwischen dem der Satzung nach (thesei) und dem der Natur oder der Vernunft nach (physei) Geltenden. Zweifellos will auch das Naturrecht mit seinen absoluten Normen eine im logischen Sinne souveräne Rechtsordnung der machtsouveränen gegenüberstellen. Es will sich ebenfalls als eine sozusagen ewige Mathematik des Rechts gegen die historisch bedingte positive Rechtsordnung setzen. KELSENs Theorie hat also wohl alle Veranlassung sich mit dem Naturrechtsprobelm auseinanderzusetzen, ist ihm doch sogar von SANDER später der Vorwurf gemacht worden, ein logisches Naturrecht an die Stelle des ethischen gesetzt zu haben. Für den rechtsphilosophischen Kritizismus muß der Wille, sich als Theorie des positiven Rechts zu erweisen, gegenüber jedem naturrechtlichen Beisatz von ausschlaggebender Wichtigkeit sein. So ist also von KELSEN sein logischer Souveränitätsbegriff durchaus als Qualität der  positiven  Rechtsordnung gedacht, so sollen auf das positive Recht bezogene Normen die Rolle unableitbarer Prämissen spielen. Die Abgrenzung gegen das Naturrecht sucht KELSEN durch eine Identifikation der Begriffe Souveränität und Positivität selbst zu vollziehen. Souveränität bedeutete ihm ja logische Autonomie der von der Rechtswissenschaft zu einer widerspruchslosen Einheit konstruierten Rechtsordnung, d. h. ihre Unabhängigkeit von einem jeglichen anderen Normensystem wie dem der Ethik oder dem der Religion. Besagt nun nicht die Positivität des Rechts genau dasselbe, insbesondere die Abwehr des Naturrechts, das die Ethik den positiven Rechtsnormen überordnen will? In der Tat gestattet die formale Fassung seines Souveränitätsbegriffes und die Unbelastetheit seiner Theorie mit allen inhaltlichen Beziehungen, als auch gerade ethisch-politischen, eine Frontstellung gegen das Naturrecht, das inhaltliche Rechtssätze verabsolutiert und damit eine wenigstens partielle Deckung seines Souveränitätsbegriffs mit dem Begriff der Rechtspositivität. Wenn STAMMLER sein "richtiges Recht" als Naturrecht mit welchselndem Inhalt bezeichnet, so kann sich KELSEN hier noch viel mehr auf die Frontstellung seiner formalen normativen Logik gegen alles Inhaltliche berufen. Aber die Positivität des Rechts bedeutet nach der herrschenden Auffassung nicht bloß die Unabhängigkeit der Rechtsordnung von anderen Normensystemen, sondern zugleich ihre  Abhängigkeit von geschichtlichen Mächten,  die als Inhaber staatlicher Gewalt die faktische und daher rechtliche Kompetenz besitzen, verbindliche Befehle zu erteilen. Gegen diesen Begriff der Rechtspositivität jedoch, mit dem man ganz offenbar zur Machtsouveränität zurückgelangt, nimmt KELSEN Stellung. Scharf will er die Positivität des Rechts als logische Autonomie von seiner Faktizität, d. h. seiner Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit trennen. Es ist eine Lebensfrage seiner Rechtsphilosophie, ob ihm jene Trennung gelingen kann, ob die Positivität wirklich als selbständiger normlogischer Begriff gefaßt werden kann oder ob sie nicht letztlich in der Faktizität fundiert. Wir werden diese Frage zu verneinen haben, auch wenn sehr wesentliche Erfolge von KELSEN in diesem Kampf errungen werden, die den Begriff der Positivität und seinen Zusammenhang mit der Faktizität zu vertiefen geeignet sind.

Diese Vertiefung bringt seine Lehre von der Ursprungshypothese oder der Grundnorm der Rechtsordnung. BERGBOHM (18), der unermüdliche Vorkämpfer des Positivismus gegen das Naturrecht, gründet die Positivität des Rechts auf den geschichtlichen Vorgang, in welchem eine zur Normsetzung kompetente Macht die Rechtsordnung als einen Inbegriff von Normen verkündet. Sehr mit Recht stellt demgegenüber KELSEN die Frage, wann eine normierende Macht kompetent ist. Er wirft damit das Vexierproblem aller Jurisprudenz nach der "Entstehung des Rechts auf. Ohne Zweifel muß eine unkritische Vermischung der explikativen und normlogischen Methode bei dieser Frage zu einer wirren Metaphysik führen. Etwas Rechtliches kann natürlich immer nur selbst aus etwas Rechtlichem abgeleitet werden, nur ein Rechtsgrund kann die Antwort auf eine  quaestio iuris  erteilen. Wenn man also auf dem Boden der Rechtsfrage das Recht selbst "erzeugt" sein lassen will, seine kausale Entstehung erklären will, so muß man einer bestimmten Norm als Norm Kausalität beilegen, wodurch man sie ganz gewiß aus der Einheit des Normensystems herauslöst und ihr eine metaphysische Einheit von Wert und Sein zugeschrieben hat. So falsch aber ein solches Abgleiten ins Explikative auf rein juristischem, also normlogischem Boden sein mag, und so sehr es dort zu metaphysischen Konsequenzen führt, so berechtigt ist die Frage nach der Entstehung des Rechts als einer sozialen Erscheinung, nach seiner sozialen Wirksamkeit. Wenn aber diese konstitutiv mit in den Begriff des Rechts hineingehört,, so ist die Frage nach der Entstehung einer Rechtsordnung zwar gewiß nicht mehr juristisch und nicht mit juristischen Mitteln lösbar, sie gehört dann aber gewiß in eine Betrachtungsweise der Totalität des Rechtsproblems hinein. KELSEN wirft mit dem Problem der Kompetenz der rechtsetzenden Faktoren auch die Frage nach der "Erzeugung" des Rechts in der logischen, dem Neukantianismus geläufigen, Bedeutung dieses Bildes auf. Indem er nur nach dem Rechtsgrund der Rechtssatzung fragt, entgeht er dem Abgleiten der Methode sowohl ins Metaphysische wie ins Soziologisch-Historische. Und hier soll nun KELSEN der Gedanke der Grundnorm die Befestigung des gesamten Normensystems an einem selbst normativen Ausgangspunkt gestatten. Für das positive Recht bedeutet die Verfassung eines Staates, das sogenannte Staatsgrundgesetz, wohl den Ausdruck der höchsten Ordnung inhaltlicher Art im Stufenbar des gesamten Systems von Rechtsnormen. Sie stellt den Rechtsgrund der Gesetze dar, die nur durch ein von ihr legitimiertes Verfahren gesetzt werden kann. Worin aber findet die Setzung der Verfassung selber ihren Rechtsgrund? Hier nun sucht KELSEN im Gegensatz zu den herrschenden Theorien, die das Innehaben der faktischen Gewalt ins Spiel bringen, also die Rechtsordnung letztlich in Machtverhältnissen verankern, dem Faktischen, Historischen und Politischen noch ein Terrain zugunsten des Normativen zu entreißen. Nicht die tatsachlich vorhandenen politischen Gewalten als solche stellen den Ursprung der Rechtspositivität dar, sondern die Norm, die Gehorsam gegen diese Gewalten befiehlt. Diese Norm wird von KELSEN als Grundnorm oder Ursprungshypothese des Rechts bezeichnet.

Die Grundnorm bedeutet also die rechtliche Legitimierung und Einsetzung der sogenannten verfassunggebenden Gewalten.  Sie "schafft" im logischen Sinne den Gesetzgeber, sie enthält in Bezug auf alles positive Recht die Delegation zur Normsetzung, so wie die Verfassung gesetzgebende Organe und die Gesetzgebung Verwaltungsorgane deligiert. Sie ist selbst kein Tatbestand des positiven Rechts mehr (wie es die Verfassung noch ist), aber die durch die Rechtswissenschaft zum Rechtsinhalt ergänzte Hypothese, und zwar im platonischen Ursinn: Hypothesis, Grundlegung der positiven Rechtsordnung, die ihr logisch vorangeht. So kann sie als Verfassung im rechtslogischen Sinn der Verfassung im positiv-rechtlichen Sinne gegenübergestellt werden, wobei sich dieses von den ersten logischen Stufen des Systems dann weiter über Gesetz, Verordnung und richterliches Urteil zu Akten der Rechtsvollstreckung aufbaut.

Wenn nicht die prekäre und unabweisbare Frage nach dem Inhalt dieser Grundnorm die ganze versuchte Trennung zwischen Positivität und Faktizität schließlich doch zunichte machen würde, so könnte in dieser Lehre von der Ursprungshypothese der Rechtslogismus seine Krönung und sein Ziel erreicht haben. In einer formalen Übertragung scheint dieser Gedanke wirklich, wie auch KELSEN selbst hervorhebt, dasselbe zu leisten wie der des Urvertrags im Naturrecht. Ein apriori der positiven Rechtsordnung scheint damit gewonnen, die Analogie zur Hypothesis der analytischen Methoden in Mathematik und Philosophie scheint für die positive Rechtsordnung gewährleistet. Die Wahl des Ausgangspunktes der Rechtswissenschaft scheint in der gleichen Freiheit und Gebundenheit wie in der Mathematik zu erfolgen und so die Analogie der Jurisprudenz zur Mathematik zu einer tatsächlichen Durchführung zu gelangen.

In Wahrheit steht man hier aber an den Schranken des Rechtslogismus, an denen er zusammenbricht.  Ist denn jene Ursprungshypothese ein apriori, ein die innere Selbstgewißheit des autonomen Geltungsmodus besitzender Ausgangspunkt? Im Naturrecht bedeutet die Kategorie der Urverträge einen solchen Ausgangspunkt als Ausdruck der souveränen, absoluten Rechtsidee. Aber hier soll es sich ja um die Grundlegung der Positivität selbst als autonomer Ordnung, nicht um einen ihr transzendenten Maßstab handeln. Aber irgendeinen Inhalt muß nun doch auch jene Grundnorm besitzen. Besagt sie doch eine Verbindlichkeitserklärung der Befehle bestimmter Gewalten, in einem Fall eines absoluten Königs, im anderen der Nationalversammlung eines souveränen Volkes usw. Nimmt sie nun etwa diesen Inhalt aus irgendeinem reinen Denken einer Rechtslogik? Ist der Rechtswissenschaftler in der "Wahl" seines Ausgangspunktes wirklich nur an die Denknotwendigkeit apriorischer Elemente gebunden, frei von Willkür sowohl wie von Abhängigkeit vom Empirischen? Nimmt er wirklich eine echte Grundlegung im Sinne der Mathematik und Philosophie vor? Nun: die berechtigte Unterscheidung zwischen den faktischen Machtverhältnissen ansich, sozusagen in ihrer soziologischen Essenz, und den faktischen Machtverhältnissen als Inhalt einer sogenannten Grundnorm kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß eben der Inhalt dieser den Gesetzgeber delegierenden Grundnorm restlos aus den faktischen Machtverhältnissen entnommen ist, daß durch diese Determiniertheit des Inhalts der Grundnorm der Unterschied zwischen Positivität und Faktizität, der durch die ganze Konstruktion gestützt werden sollte, hinfällig wird. Denn es ist nicht möglich, das Inhaltsproblem als Problem der Entstehung des Inhalts und somit als metajuristische Frage beiseite zu schieben. Es ist vielmehr ein logisches Postulat, daß die Durchsetzbarkeit und Wirksamkeit des positiven Rechts in den Inhalt der die verfassunggebende Gewalt delegierenden Grundnorm eingeht. Oder anders gewendet: indem man bei der konsequenten Analyse des Ursprungs des positiven Rechts auf eine die realen Machtverhältnisse in ihrem Inhalt wiederspiegelnde Grundnorm stößt, wird der indirekte Beweis geliefert, daß die Durchsetzbarkeit, die Faktizität ein Begriffslement der Positivität selbst darstellt, diese also nicht lediglich eine logische Autonomie der Rechtsordnung gegenüber anderen Normsystemen bedeutet. Dieser Punkt ist dann auch von verschiedenen Seiten als die Klippe des KELSEN'schen Rechtslogismus erkannt worden (19).

KELSEN selber hat übrigens bei der Entwicklung dieser Gedankengänge im "Problem der Souveränität" und bei ihrer Verteidigung im "Juristischen und soziologischen Staatsbegriff" die notwendige Konkretheit seiner Grundnorm, ihre enge Bezogenheit auf Faktizität und Wirksamkeit der Rechtsordnung eingesehen. Er hat vom "Postulat der bestimmten Relation zwischen dem Inhalt des durch die Ursprungsnorm zu begründenden Sollens und dem Inhalt des korrespondierenden Seins", von der Übereinstimmung des Inhalts der Grundnorm mit Seinstatbeständen gesprochen. Das Eingeständnis der Schranken des Rechtspositivismus macht er jedoch nicht, sondern verhüllt es durch sein Prinzip der Wertökonomik, das gänzlich aus dem Rahmen seines Kritizismuns durch eine Anlehnung an MACH'sche (20) Gedankengänge herausfällt und daher von jeher die Überraschung seiner Kritiker gebildet hat. Indem er den Schein einer überempirischen Auswahlfreiheit des Rechtstheoretikers beim Ausgangspunkt der die Rechtsordnung konstruierenden Wissenschaft zu wahren sucht, setzt er dem Prinzip der Erkenntnisökonomie bei MACH ein entsprechendes Prinzip der Wertökonomie bei normativen Systemen gegenüber. Unter den Gesichtspunkten der Erkenntnisökonomie hat eine Setzung des Denkens vor anderen dadurch den Vorrang, daß durch sie eine möglichst große Fülle von Erscheinungen überschaubar und gedanklich bewältigt wird. Dementsprechend soll hier nur diejenige Norm inhaltlich zur Grundnorm taugen, durch die die größtmögliche Fülle von Rechtserscheinungen sich einem System der Rechtswissenschaft einfügt. Das wird aber nur bei einer ihrem Inhalt nach wirksamen und durchsetzbaren Rechtsnorm der Fall sein. Diese Konstruktion kann ni der Tat nicht über die Kapitulation vor dem Empirismus hinwegtäuschen, die ERICH KAUFMANN (21) KELSEN zum Vorwurf gemacht hat, die aber ansich durch die Schranken des Rechtslogismus notwendig bedingt ist. Wäre das Prinzip der Erkenntnis bzw. Wertökonomik selbst in sich ein den übrigen kritischen Bedingungen gleichzuordnendes Prinzip, so bliebe der Fehler bestehen, die Wahl des Ausgangspunktes zu ener reinen Erkenntnisangelegenheit des Rechtstheoretikers zu machen. Es bleibt diesem weder die willkürliche nocht die gesetzlich gebundene, der mathematischen Freiheit des Ausgangspunktes analoge Wahlfreiheit, sondern er ist vielmehr ganz an das vorliegende empirische Material der faktischen Machtverhältnisse gebunden. Nicht irgendeine Erkenntnisökonomie, nicht methodologische Gesichtspunkte bedingen die Auswahl der durchsetzbaren, die verfassunggebende Gewalt delegierenden Grundnorm, sondern als positive Rechtsordnung wird vom Rechtstheoretiker einfach eine in einer solchen Grundnorm wurzelnde Rechtsordnung  vorgefunden.  Was bei einer späteren umfassenden Kritik der KELSEN'schen Schule hervorgehoben werden soll, drängt sich hier bereits der immanenten Kritik auf: die Konstruktion der Rechtswissenschaft ist  keine selbständige Konstruktion, sondern eine Nachkonstruktion der Phänomene.  Die Analogie mit der Mathematik hat sehr enge Grenzen: sie sind durch den historischen und soziologischen Charakter der Rechtsnorminhalte gezogen. Der Unableitbarkeit des Inhalts jeder einzelnen Rechtsnorm entspricht die Abhängigkeit des Systemausgangspunktes von rechtsirrationalen Faktoren.  Eine Pseudo-Mathematik, eine Als-Ob-Mathematik der Rechtswissenschaft darf keineswegs über diesen schlichten Tatbestand hinwegtäuschen. 

In Veröffentlichungen, die seinem "Problem der Souveränität" zeitlich nachfolgen, hat KELSEN den Zusammenhang zwischen Positivität und Faktizität noch deutlicher enthüllt (22). Er spricht von einem Maximum und Minimum in Bezug auf die Spannung zwischen Gültigkeit und Wirksamkeit der Rechtsnormen, die freilich nur in der Form der Normvorstellungen in die Sphäre der faktischen Wirksamkeit eingehen. Den zwischen diesem Maximum und diesem Minimum gelegenen Bereich zu untersuchen, sei eine Aufgabe der Soziologie. So wird dieser wenigstens hier eine freilich von der Rechtsdogmatik abhängige Aufgabe gegenüber dem Recht zuerkannt. Allerdings will KELSEN auch bei dieser Einbeziehung einer soziologischen Methodik in seinen Problemkreis keine Einschränkung der Eigengesetzlichkeit des Normsystems durch die Beziehung der Rechtsnorminhalte zu faktischen sozialen Inhalten eingestehen. Es sei demgegenüber nur hervorgehoben, daß jene Beziehung nicht mehr und nicht weniger als die Grundlage und die gesamte Struktur des Rechtsnormensystems bestimmt.


d) Völkerrecht und Staat

Auf der Grundnorm, die die verfassunggebende Gewalt delegiert, und die stets als "Gesamtwille" hinter der bestehenden Verfassung zu denken ist, beruth nach KELSEN die Identität des ja mit der positiven Rechtsordnung zusammenfallenden Staates. Die Rechtsordnung bestimmt in der positiv-rechtlichen Verfassung selbst die Bedingungen ihre Abänderbarkeit. Mit dem STAMMLERschen Gedanken der unverletzbaren Selbstherrlichkeit der Rechtsordnung stimmt somit KELSEN überein und gibt ihm mit der Verfassung im rechtslogischen Sinn seine Stütze. Mit der Innehaltung der positiv rechtlichen verfassungsgemäßen Bestimmungen ist also zugleich auch die Grundnorm gewahrt und die Identität des Staates beibehalten. Beim Bruch der Verfassung auf revolutionärem Weg wird zugleich eine neue Grundnorm eingesetzt, mit der ein neuer Staat, weil eine in ihrem Fundament neue Rechtsordnung erscheint. Jedoch ist auch für KELSEN wir für die herrschende Lehre die Diskontinuität zwischen dem neuen und dem alten verfassungsrechtlichen Gebilde nur relativ. Völkerrechtlich bleibt der Staat unter bestimmten Bedingungen auch bei einer geänderten Grundnorm derselbe. Eine diese Bedingungen festlegende völkerrechtliche Norm muß als der neuen Verfassung übergeordnete Völkerrechtsordnung dürfte die Souveränität im normlogischen Sinn erst bei der rechtslogischen Verfassung des Völkerrechts, bei der die Völkerrechtsordnung delegierenden Grundnorm ihren eigentlichen Ausgang nehmen. Diese Konsequenz hat dann auch KELSENs Schüler VERDROSS (23) gezogen. Die Berührung mit dem Naturrecht wird bei dieser Konstruktion gewiß noch intensiver sein, denn welche faktischen Gewalten werden als verfassunggebend von einer Völkerrechtsverfassung in einem rechtslogischen Sinn eingesetzt, wenn eine solche Verfassung im positiv-rechtlichen Sinne ein umfassender Universalstaat oder Völkerbund als sich unbedingt durchsetzende machtvolle Organisation gar nicht besteht? KELSEN selbst ist dann auch in seinen Folgerungen hier zurückhaltender geblieben. Er hat lediglich die  Alternative  einer Delegation des Völkerrechts durch das Recht des einzelnen Staates (HEGEL, ZORN usw.) oder die des Einzelstaatsrechtes durch das Völkerrecht (civitas maxima), die  Wahl  zwischen der Souveränität des Einzelstaates oder der des Völkerrechts gefordert. Er hat von der Forderung dieser monistischen Konstruktion aus gegen das dualistische Schwanken der herrschenden Lehren zwischen Staatsrecht und Völkerrecht Stellung genommen. Welcher Ordnung aber der Primat zukommen soll, hatte er einer weltanschauungsmäßigen Entscheidung zwischen "Liberalismus" und "Nationalismus" überlassen. Er hatte beide Ausgangspunkte wiederum wohl mit einer Überschätzung der Wahlfreiheit in Bezug auf die grundlegende Hypothese für juristisch gleichwertig erklärt. Seine persönliche Entscheidung lag freilich auf der Seite eines Primats der Völkerrechtsordnung, wobei sich diese Auffassung auch immer mehr juristisch in Richtung der VERDROSS'schen Gedankengänge zu modifizieren schien. Charakteristisch für KELSENs Einstellung bleibt hier jedoch vor allem die restlose  Gleichsetzung  der Völkerrechtsordnung mit dem Staatsbegriffe im Falle ihres Primats über die Rechtsordnung der Einzelstaaten. Jede Zwangsordnung - wobei der Zwang stets als Norminhalt und nicht als faktisch-kausaler Zwang zu verstehen ist - stellt ja für KELSEN einen Staat dar. Der faktisch dieser Zwangsordnung zu ihrer Durchsetzung zur Verfügung stehende Apparat, ihre Organisation als politische Macht, ist für ihn eine untergeordnete metajuristische Angelegenheit. Mag also immerhin das Völkerrecht eine Rechtsordnung auf technisch niederer Stufe bedeuten, dies hindert durchaus nicht, sie als einen Staat, also dann als Weltstaat (civitas maxima) zu bezeichnen. Freilich müßte die unmittelbare Paradoxie dieses Gedankens im Hinblick auf die aus der KELSEN'schen Grundnormlehre gezogenen Konsequenzen erheblich gemildert werden. Denn wenn wie bei der VERDROSS'schen Fassung auch die Positivität der Völkerrechtsordnung in der Faktizität der eine Völkerrechtsverfassung setzenden realen Gewalten fundiert, so ist die mit der Positivität dieser Ordnung identische Staatlichkeit eben nur dann vorhanden, wenn die Voraussetzungen für den Weltstaat oder dessen tatsächliche Organisation als Zwangsapparat bereits da sind. Hier löst sich dann also beim Zuendedenken des Gedankens seine scheinbare Paradoxie in eine Tautologie auf.


e) Juristischer und soziologischer Staatsbegriff

Vor der Darstellung der in KELSENs gleichnamigem Werk niedergelegten Gedankengänge seien noch einmal die Grundzüge dieser Staatslehre ohne Staat in ihrer positiven Leistung und in ihren problematischen Konsequenzen kurz zusammengefaßt. Ausgeschaltet ist mit vollem Recht der metajuristische Staat, der als eine metaphysische Realität außerhalb der Rechtsordnung, diese erzeugend oder tragend auf einer Hypostase [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] von Relationen ins Substantielle beruth. Jener Staat, wie er in der Selbstverpflichtungslehre erscheint, in der sich ein reines Machtgebilde erst nachträglich unter die Rechtsordnung stellt und sie als seinen Willensinhalt ausgibt. Ein von jeder Beziehung auf das Recht losgelöster sowie ein dinglich substantiell gefaßter Staat muß als durch KELSEN beseitigt erscheinen. Jedoch ist damit weder das Problem der Staatspersönlichkeit in ihrer vom Substantiellen zu unterscheidenden Ichhaftigkeit noch die Beziehung der juristischen zur soziologischen Begriffsbildung endgültig gelöst. Mit dem ontologischen hypostasierten Staat ist auch der sozialrechtliche Staatsbegriff, ja selbst der soziologische von Kelsen eliminiert worden. Der Staat sowohl als sozialer Verband wie als sozialrechtliche Körperschaft soll in die unpersönliche Rechtsordnung aufgelöst sein. Organisation und Ordnung sind einander gleichgesetzt, der Zwangsapparat soll ein bloßes  Bild  der Zwangsordnung bedeuten.

Bisher sind im Anschluß an KELSEN diese Gedankengänge nach ihrer juristischen Seite hin verfolgt worden. Sie erfahren eine weitere Klärung bei ihrem von KELSEN vorgenommenen Weiterdenken ins Soziologische. Aus der Abwehr der Soziologie von der Jurisprudenz geht KELSEN - eine Parallele zu STAMMLERs Angriff gegen die materialistische Geschichtsauffassung sei hier bloß angedeutet - zur Offensive gegen die soziologische Betrachtungsweise vor. Vorstoß und innere Berührung mit dem Gegner bedingen sich hierbei wie bei jedem Angriff wechselseitig. Nicht nur sollen die soziologischen Elemente im Staatsbegriff und mit ihnen das Sozialrecht des Staates in der juristischen Begriffsbildung ausgeschaltet werden, die Möglichkeit einer selbständigen  Soziallehre vom Staat  (24), also eines soziologischen Staatsbegriffs, wird von KELSEN überhaupt geleugnet.  Ein  Staatsbegriff, und zwar der staatsrechtliche, soll an die Stelle des Dualismus zwischen juristischem und soziologischem Staatsbegriff treten, die staatsrechtliche Begriffsbildung für die sogenannte allgemeine Staatslehre monopolisiert, diese nicht mehr wie bei JELLINEK als eine Zusammenfassung der Staatsrechtslehre und der Soziallehre vom Staat angesehen werden. Der Staat darf nicht als Verband vom Normensystem der Rechtsordnung nach unterschieden werden. Als  Verband  würde er unter die Kategorien der Gesellschaft gestellt, in diesen aber verflüssigt und relativiert; die Beständigkeit und Festigkeit des Staatsbegriffs ist in den soziologischen Relationen schlechthin nicht aufzufinden, aus den Abgründen der Gesellschaft mit ihren widersprechenden Einstellungen des Für- und Gegeneinander ist der hier freilich formalisierte Solidarismus des Staatsgedankens (25) nicht herauszuholen, aus den übrigen soziologischen Gruppen ist er in seiner überragenden Normhaftigkeit bei soziologischer Betrachtungsweise nicht herauszuerkennen.

Freilich zeigt sich nunmehr sehr kraß die Einseitigkeit des KELSEN'schen Soziologiebegriffs, der von der noologischen Soziologie deutscher Prägung ziemlich fern ist (26) und deren entscheidende Wendung nicht mitgemacht hat.  Für ihn ist nämlich Soziologie eine Form naturwissenschaftlich verstandener Psychologie.  Da aber wiederum diese Psychologie als eine beim Individuum verharrende, dieses atomar isolierende Psychologie verstanden wird, ist eigentlich für KELSEN nicht nur eine Soziologie des Staates, sondern auch eine Soziologie anderer Gruppen, ja Soziologie überhaupt unmöglich gemacht. Dies ist wohl die Konsequenz seiner Kritik der soziologischen Theorien, die mit dem Begriff der Wechselwirkung oder der Parallelität psychologischer Vorgänge soziale Gebilde zu erklären versuchen. Man bliebe, so meint er, hierbei stets innerhalb der individuellen Psyche und käme nicht zum Supra-Individuellen der Gemeinschaft und gar einer derartig komplizierten wie dem Staat hinauf.

In diesen allgemeinen Analysen steckt zweifellos eine über die Soziologie des Staates hinausweisende allgemeine Soziologiekritik, steckt die Feststellung, daß alle Soziologie nur eine Form der verstehenden intentionalen Psychologie sein kann, der nicht nur die seelischen Ablaufsreihen als solche, sondern ihr gemeinter Inhalt ihr objektiver Sinn, sie selbst in ihrer Bedeutung von Wichtigkeit sein. So legt dann auch KELSEN bei diesen Betrachtungen auf die Gegenüberstellung des Inhalts zum Prozeß (auf die Trennung als von Akt und Inhalt) den größten Nachdruck. Freilich will er ganz einseitig hierbei als soziologisch relevant nur die Ideologien, darunter versteht er nämlich den Inhalt, den objektiven Sinn des seelischenAktes gelten lassen. Wenn man wegen der Beschlagnahme des Terminus  Ideologien  durch den Marxismus, in dem sie wesentlich die Wirksamkeit der seelischen Akte selbst und nicht den in ihnen erfaßten Inhalt bedeuten, diesen Inhalt vielmehr als Idee der Ideologie gegenüberstellt, so wäre das von KELSEN hier Gemeinte besser mit diesem Terminus  Idee  zu bezeichnen. Jedenfalls ist festzuhalten, daß lediglich der objektive Sinn der "Vorstellungen", nicht ihr subjektiver Sinn, wie MAX WEBER dies in der Auseinandersetzung mit SIMMEL nannte, für KELSEN als soziologisch relevant in Frage kommt.

Auch der Staat ist soziologisch Ideologie in dem Sinn, daß er ein geistiger Inhalt, ein objektiver Sinn ist. Und da er diesem objektiven Sinn nach für KELSEN ja die normative Rechtsordnung ist, kommt er für ihn auch soziologisch nur in dieser Form in Frage. Wohl mag er der subjektiven Seite nach als Normvorstellung auftreten, wohl mag seine Macht auf der Rolle dieser Normvorstellungen in den Seelen der einzelnen beruhen. KELSEN wird MAX WEBER darin zustimmen, daß vom realen Vorhandensein eines Staates nur soweit gesprochen werden kann, wie die Chance einer Orientierung des Handelns der einzelnen an der staatlichen Ordnung vorliegt. Auch für ihn ist die Macht des Staates nicht auf dinglicher Gewalt, sondern diese selbst auf der Suggestion auf die Gemüter gegründet. Aber da Kelsen auch als Soziologe Rechtsdogmatiker bleibt, d. h. sich von der Normvorstellung immer wieder nur unmittelbar auf die Norm selbst richten kann, so ist für ihn die Wirksamkeit der Normvorstellungen nicht nur von der Norm abhängig, sondern auch eine gänzlich sekundäre Angelegenheit, die die Soziologie auch eigentlich gar nicht zu beschäftigen bräuchte.

In Bezug auf den Staat glaubt er daher den Soziologen die Anwendung einer krypto-juristischen Methode zum Vorwurf machen zu können, die den Charakter des Staates als positive Rechtsordnung verhüllt. In dieser Hinsicht ist seine Auseinandersetzung mit der Soziologie MAX WEBERs besonders lehrreich. Für diesen soll die verstehende Soziologie doch zugleich eine erklärende sein, soll nicht nur der Sinn der sozialen Relationen, den man ja ohne die Beziehung auf ein System objektiver Kulturwerte, also auch von Normen nicht feststellen kann, erhellt werden, sondern auch die Ablauf-Chance einer psychischen Einstellung auf diesen Sinn den Gegenstand der soziologischen Betrachtung bilden. Indem KELSEN über die Gleichförmigkeit der soziologischen Staatsdefinition bei MAX WEBER mit der juristischen in Bezug auf den "Inhalt" mit Recht triumphiert, übersieht er die gleiche Wichtigkeit des Begriffs der Ablauf-Chance, durch welche sich die eigentliche soziologische "Existenz" des Staates vom Staat als einem für die Soziologie gewiß auch relevanten soziologischen "Bestand" unterscheidet.

So wird also dagegen Front gemacht, die Wirksamkeits-Chance des Staates als Recht noch neben die Rechtsordnung als Macht des Staates zu stellen; so kann es heißen, daß man ebenso gut wie man den Staat als Macht dem Recht als Norm, den Staat als Norm (Staatsordnung) dem Recht als Macht (Rechtsmacht) gegenüberstellen kann. Freilich ist mit diesem terminologischen Verschieben des Problems die uralte Frage der Beziehung zwischen Recht und Macht, der Beziehung von Satzung und Organisation, von Verband und unpersönlicher Ordnung nicht gelöst. Aber die Konsequenzen der Lehre, die die Macht des Staates der Rechtspositivität gleichsetzt, sind allerdings weitreichend auch gegenüber KELSENs eigenen Ausgangspunkten. Nicht nur der Staat, auch alle übrigen Personen, physische wie juristische, sind nur noch Personifikationen von unpersönlichen Ordnungen. Sie können daher auch nicht mehr Pflichten (und daher auch wohl keine subjektiven Rechte mehr?) haben, denn das hieße "die Ordnung ordnen, die Norm normieren". Pflichten kann vielmehr nur ein Mensch haben, nicht eine Personifikation, aus welcher Feststellung allerdings wohl die meisten andere Konsequenzen als KELSEN selbst zu ziehen geneigt sein würde.

Freilich deutet KELSEN neben seinem die Gesamtrechtsordnung personifizierendem Staat die Möglichkeit an, den Staat auch als Rechtsinhaltsbegriff, als eine rechtinhaltlich irgendwie abgegrenzte Teilrechtsordnung aufzufassen. Dies aber kann jedenfalls nur ein engerer und spezieller Staatsbegriff sein, der den Begriff des Staates als Totalrechtsordnung, als Hilfsbegriff der normativen Erkenntnis nicht überflüssig machen kann. Dieser letztgenannte Begriff ist zumindest der Staatsbegriff der allgemeinen Staatslehre.

Die folgenden Ausführungen werden zu zeigen haben, wie dieser von KELSEN flüchtig gestreifte Gesichtspunkt zum Eckstein einer aufbauenden Kritik seiner Lehre werden kann. Diese Kritik wird sowohl von juristischer wie von soziologischer Seite aus, vor allem aber von der bei ihm so heftig bekämpften Einheit der beiden Betrachtungsweisen aus erfolgen müssen. Weiterbildung, Zersetzung und Krise der KELSEN'schen Gedankengänge innerhalb der von ihm gegründeten Schule werden als problemgeschichtliche Ergänzung die systematische Kritik wesentlich fördern können.
LITERATUR Siegfried Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, Tübingen 1925
    Anmerkungen
    16) HUGO KRABBE, Die Lehre der Rechtssouveränität, Beitrag zur Staatslehre, 1906
    17) FELIX SOMLO, Juristische Grundlehre, Leipzig 1917
    18) CARL BERGBOHM, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892
    19) So von ERICH KAUFMANN, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, 1921
    20) ERNST MACH, Erkenntnis und Irrtum, 2. Auflage, 1906
    21) KAUFMANN, a. a. O.
    22) KELSEN, Die Lehre von den drei Gewalten und der Funktion des Staates, Kant-Festschrift, Berlin-Grunewald 1924, Seite 214- 248.
    23) ALFRED VERDROSS, Zur Konstruktion des Völkerrechts, Zeitschrift für Völkerrecht, 1914
    24) Im Sinne von GEORG JELLINEKs "Allgemeiner Staatslehre", 4. Auflage 1919.
    25) KELSEN, Staat und Recht, Kölner Vierteljahrshefte für Sozialwissenschaften, 2. Jahrgang, Heft 4, Seite 18 - 37.
    26) Vgl. WERNER SOMBART, Soziologie, Quellenhandbücher der Philosophie, Berlin 1923, Einleitung.