SchmeidlerErnst WachlerE. Bernheimvon RümelinGeorg von Belowvon Sybel | |||
Die Wertschätzung in der Geschichte [ 2 / 3 ]
Erster Abschnitt Allgemeine Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaft 1. Die Geschichte als Erkenntnis einmaliger Vorgänge [Fortsetzung] Es erscheint mir nützlich, um meine Auffassung in diesen Punkten vollständiger und anschaulicher darzustellen, auf einige Bemerkungen PAUL HINNEBERGs gegen einige bekannte Ausführungen DROYSENs hier hinzuweisen. DROYSEN erwähnt, im schon zitierten Aufsatz gegen BUCKLE, (1) daß ein Denker, dessen er "mit persönlicher Hochachtung gedenke", alle Leistungen des Menschen in zwei Teile, a + x, zerlege, "indem a alles umfaßt, was er durch äußere Umstände von seinem Land, Volk, Zeitalter usw. hat" und x "sein eigenes Zutun, das Werk seines freien Willens" darstellt. DROYSEN gibt zu, daß das x bei eingehender Prüfung sich als "verschwindend klein" erweist. Aber "wie verschwindend klein immer auch dieses x sein mag, es ist von unendlichem Wert, sittlich und menschlich betrachtet, allein von Wert." Er fordert folglich, daß die Geschichte, die durchgängig eben mit der "sittlichen Welt" zu tun habe, diese "verschwindend kleinen" x als die einzig oder wenigstens hauptsächlich beachtenswerten Objekte ihrer Betrachtung behandeln solle. Treffend führt HINNEBERG dagegen aus (2) daß die hauptsächliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft doch unmöglich darin liegen kann, jene "x", jene Zutaten des freien Willens zum Verlauf des geschichtlichen Geschehens, als solche zu betrachten und zu "würdigen". Er weist nach, daß die Forschung im Gegenteil fortwährend den Bereich jener unerklärbaren x einschränkt, denjenigen der erklärbaren a erweitert. Der Fortschritt der Geschichtsforschung besteht wesentlich darin, daß sie dasjenige, was dem unwissenschaftlichen Betrachter als eine unerklärbare Tat des freien Willens oder als eine bloße Gabe des gottgesandten Genies erscheint, Schritt für Schritt immer vollständiger aus geschichtlich nachweisbaren Zusammenhängen erklärt. So hat z. B. die Kunstgeschichte die sixtinische Madonna immer vollständiger erklärt aus dem religiösen Empfinden der raffaelischen Epoche im allgemeinen und Raffaels im besonderen, aus der Malweise der Lehrer RAFFAELs, aus seinem künstlerischen Entwicklungsgang usw. und eben dadurch hat sie eine tiefere Auffassung auch des individuell Genialischen des Werkes angebahnt. In solchem Sinne haben überhaupt alle geschichtlichen Wissenschaften sich in das Individuelle zu vertiefen und auf solchem Wege verhelfen sie uns zu tieferem Verständnis und vollerer Würdigung der Kulturleistungen. In dieser Weise hat uns auch die politische Geschichtsforschung allmählich zu einem vollständigeren Verständnis der Taten GUSTAV ADOLFs, FRIEDRICHs des Großen, BISMARCKs verholfen. Auch die "sittliche Würdigung" geschichtlicher Taten, die die Geschichte etwa ausübt, soll im allernächsten Zusammenhang mit einer Erforschung ihrer Ursachen geschehen. Somit ist die Hauptaufgabe nicht Betrachtung der Einzelereignisse in ihrer Isoliertheit, sondern Einsicht in den Zusammenhang des ganzen Entwicklungsganges und Aufzeigung der Bedeutung jedes einzelnen Ereignisses für das Ganze. Wenn ich aber in diesem Punkt mit HINNEBERG übereinstimme, so weiche ich allerdings, wie sich schon aus dem Vorhergehenden erhellt , in anderen wichtigen Puntken erheblich von ihm ab, - und zwar vor allem in dem Hauptpunkt, den ich in diesem Kapitel vorwiegend erörtere. HINNEBERG führt, mit polemischer Beziehung auf BERNHEIM, aus: das Interesse an geschichtlicher Forschung "um der speziellen Kenntnis dieser bestimmten Gruppe oder Epoche willen" sei kein eigentlich wissenschaftliches Interesse. Die Behauptung, daß wir die Geschichte hauptsächlich zum Zweck solcher Kenntnis des Besonderen studieren, hat, nach HINNEBERG, nur "bei einer Vertiefung in die Geschichte unseres oder der uns bluts- und kulturverwandten Völker ... einen Schein von Berechtigung, da wir zum Studium dieser nicht nur durch Erkenntnistrieb, sondern auch von seiten des Willens, unseres Gefühls bewogen werden, das natürlich vor allem ein anschauliches Bild dieser bestimmten Gruppe oder Epoche begehrt." Sobald wir aber an Forschungen über die Geschichte z. B. der alten Chinesen, der alten Peruaner usw. denken, so wird deutlich, daß das eigentlich wissenschaftliche Ziel geschichtlicher Arbeit ein anderes sei.
Ich habe weiter oben diese Fassung des Begriffs der Wissenschaft berührt und zurückgewiesen und ich werde darauf zurückkommen. Hier bemerke ich dazu nur noch folgendes: Das allgemeine, "unmittelbare" Interesse an geschichtlichem Wissen, wie es sich im Bewußtsein der Völker und in der bisherigen Beschäftigung mit der Geschichte kund gibt, ist allerdings meiner Ansicht nach im Grunde eine ziemlich komplizierte Erscheinung: es entspring aus mehreren verschiedenen Urquellen. Ich gebe meinerseits zu, daß dahinter teilweise, als ein Moment, jene von HINNEBERG hervorgehobene Endabsicht liegt, - die Endabsicht, das historische Wissen als Material zu verwenden für eine allgemeine und verallgemeinerte Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft und letzthin der menschlichen Seele und allen ihren Lebensäußerungen. Mein historisches Interesse erwächst aber daneben auch aus anderen Wurzeln; darin liegt auch jenes innere, geistige Bedürfnis, gewisse einzelne Vorgänge, Taten und Erzeugnisse, die für mich als Kulturwerte gelten, vor allem die Höhepunkte des Geisteslebens der Menschheit und einzelner Völker, in ihrer individuellen Eigentümlichkeit, ihrem Werden und daher auch in ihrem Zusammenhang mit dem ganzen, großen Entwicklungsprozeß des geschichtlichen Lebens, voll zu erfassen und zu begreifen. Noch andere Grundmotive wirken hier mit. LEOPOLD von RANKE hat betont, daß für den "wahren Historiker" eine ganz allgemeine und unmittelbare "Teilnahme und Freude am Einzelnen an und für sich" erforderlich sei, eine "Neigung zur lebendigen Erscheinung des Menschen schlechthin", die da bewirkt, daß man "ohne allen Bezug auf den Fortgang der Dinge sich daran erfreut, wie er allezeit zu leben gesucht ... so wie man sich der Blumen erfreut, ohne daran zu denken, in welche Klasse des LINNÄUS oder zu welcher Ordnung und Sippe OKENs sie gehören." (4) Bei der allgemeinen menschlichen Teilnahme für historisches Wissen spielt ohne Zweifel auch eine solche Freude ästhetischer Art über das bunte Schauspiel des geschichtlichen Lebens mit; es ist nichts anderes als eine veredelte Umgestaltung des naiven Interesses der Neugierde und Phantasie an merkwürdigen Menschenschicksalen, woraus die allerersten Ansätze zur Pflege der Geschichte entsprungen sind. (5) Es könnten noch andere Quellen angeführt werden, die zur Erregung des geschichtlichen Interesses mitwirken; wir werden solche später zu berühren haben, besonders bei der Erörterung der "Nebenzwecke" der Geschichtsschreibung (Kap. 4 dieses Abschnitts). Diese aus verschiedenen Wurzeln entsprungenen Interessen vereinigen sich aber aufs innigste und machen sich geltend in der Form eines unmittelbaren Gefühls der Teilnahme an der Erkenntnis des großen Werdegangs der Menschheit. In der Geschichte, wie sie tatsächlich vorliegt, richtet sich diese Teilnahme meines Erachtens, wie oben zu bestimmen versucht wurde, im wesentlichen ohne weiteres auf die genaue Erkenntnis des einmaligen Werdegangs als solchen, nicht auf die Ermittlung ihrer Gesetze. Die Geschichte als solche bleibt am richtigsten hierbei stehen. Durch die obigen Ausführungen habe ich teilweise Stellung genommen zu der schwierigen und vielbehandelten Streitfrage über die relative Bedeutung individueller und kollektiver Faktoren im geschichtlichen Leben. Immer noch gehen die Ansichten in dieser Frage stark aneinander und man wird von einigen Seiten gegen die oben ausgesprochenen Sätze scharfen Einspruch erheben. Es gibt erstens eine Gruppe von Verfassern, die allen Einfluß des Individuellen auf den Verlauf geschichtlicher Dinge radikal leugnen. Unter berühmten Historiker ging bekanntlich BUCKLE sehr weit in dieser Richtung. Wirklich tiefgreifende Veränderungen der menschlichen Verhältnisse sind nach ihm nur solche, wodurch die Lebensweise und infolgedessen allmählich die Gedankenwelt der weitesten Kreise verändert werden. Wahrhaft große, wirkungsvolle Taten Einzelner waren daher vor allem die großen technischen Erfindungen sowie auch Ideenschöpfungen, die eine einigermaßen ähnliche Wirkung auf die Gesellschaft ausübten. Die Erfindung und Verbreitung der Dampfmaschine hat die ganze Lage des Menschengeschlechts verändert. Eine ähnlich tiefgreifende Wirkung - "eine bedeutendere als alle Taten der Staatsmänner und Gesetzgeber" - haben nach BUCKLE die Ideen ADAM SMITHs, die siegreiche Darlegung des Prinzips der Freiheit als Norm aller nationalökonomischen Beziehungen, gehabt. (6) Dagegen war NAPOLEON eine Episode; die Wirkungen seiner Taten und seiner individuellen Persönlichkeit sind vorübergehend. Noch extremer wird diese Richtung z. B. von PAUL MOUGEOLLE und LOUIS BOURDEAU vertreten (7). Der letztere versteigt sich zu der Behauptung, daß, falls NAPOLEON BONAPARTE vor Toulon durch eine Kugel getötet worden wäre, "ein anderer" an seiner Stelle hervorgetreten wäre und ungefähr dasselbe vollbracht hätte, so daß die europäische Geschichte im Ausgang des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts im ganzen ein ziemlich ähnliches Aussehen bekommen hätte. Überhaupt vertritt BOURDEAU in sehr schroffer Fassung die Ansicht, daß nur die Massenvorgänge wissenswürdig sind; die Einzelereignisse seien nur Gegenstand schöngeistiger Geschichtserzählung, nicht ernster Wissenschaft. Ich finde es offenbar, daß solche Behauptungen, wie der angeführte Satz BOURDEAUs über NAPOLEON, sich weit von aller geschichtlichen Wahrscheinlichkeit entfernen. Eine so weitgehende Geringschätzung des Individuellen wird dann auch in der Literatur der Gegenwart nur von vereinzelten Stimmen, deren Behauptungen durchweg stark ins Paradoxe gehen, vertreten. Ihre Behauptungen entspringen augenscheinlich hauptsächlich theoretischen Gründen, einer apriorischen Abneigung gegen alle Anerkennung der Wirksamkeit des Individuellen, nicht unbefangener, empirischer Betrachtung des tatsächlichen geschichtlichen Verlaufs und sie erfreuen sich fast keiner Zustimmung unter praktischen Historikern. Ich glaube daher diese ganz extremen Kollektivisten hier einfach beiseite lassen zu können. Unter besonnenen Sachkundigen besteht auch in dieser schwierigen Frage ein gewisses Maß an Übereinstimmung; gewisse vermittelnde Überzeugungen werden so gut wie einstimmig anerkannt, nur von wenigen Starrköpfen mit sehr schwachen Gründen bestritten. In Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten besonders der sogenannte "Lamprechtsche Streit" im Kreis der Historiker die Leidenschaften erreigt. Die entgegengesetzten Ansichten sind mit größter Schärfe zusammengestoßen. Ein wichtiger Streitpunkt ist dabei eben die Frage über die relative Bedeutung der kollektiven und der individuellen Faktoren in der Geschichte gewesen. Indessen, wenn wir näher zusehen, so können wir nicht umhin zu konstatieren, daß sogar jene beiden sich so heftig befehdenden Parteien, - wenigstens in Bezug auf den hier in Frage stehenden Punkt und so wie die Beteiligten in ihren späteren, endgültigen Erörterungen ihre Ansichten dargelegt haben, - im Grunde durchaus nicht so scharf auseinandergehen, wie man zunächst, zumal infolge des gereizten Tons der meisten Streitschriften, vermuten könnte. Auf beiden Seiten erkennt man schließlich an, daß individuelle und kollektive Kräfte im geschichtlichen Leben zusammenwirken. Man sucht beiderseits vor allem nur nachzuweisen, daß die gegnerische Partei einseitig verfahre und einen Teil der Faktoren der Entwicklung arg vernachlässige. So hält LAMPRECHT seinen Gegner vor, daß ihnen die Geschichte eine "Sammlung dramatischer Katastrophen" sei, ohne inneren Zusammenhang, ohne "Gesetze". Gleichzeitig freut er sich aber darüber, daß im Grunde seine Prinzipien schon siegreich durchdringen, daß "die Vertreter der älteren deskriptiven Auffassungsweise ... sich entweder dem neuen Gedanken, freilich meist nur mechanisch, akkomodieren oder aber die Behauptung aufstellen, zwischen Alt und Neu bestehe im Grunde kein Unterschied." (8) Seinerseits erkennt er "die Methode der individualistischen, auf das Singuläre, den Menschen als eminente Persönlichkeit gerichteten älteren Geschichtsforschung" als "gleich berechtigt" an neben der "Methode der kollektivistischen ... jüngeren Geschichtsforschung"; "sie ergänzen sich gegenseitig und keine von beiden kann entbehrt werden." (9) Er versichert wiederholt, daß er keineswegs die Bedeutung der Persönlichkeit unterschätze und selbst einer seiner schärfsten Gegner, von BELOW, findet sich gelegentlich zu der Äußerung veranlaßt, daß ihm (LAMPRECHT) "tatsächlich ein lebhaftes Bewußtsein von der Bedeutung der Persönlichkeit innewohnt." (10) LAMPRECHTs Gegner wiederum erkennen selbstverständlich ohne Vorbehalt an, daß kollektive Faktoren im geschichtlichen Leben mächtig mitwirken. In der Tat, wer könnte sich in unserer Zeit dieser Einsicht verschließen? Sie behaupten nur, daß schon lange alle großen Historiker dieser Wahrheit Rechnung getragen haben und daß LAMPRECHT sich in einem kolossalen Irrtum befinde. wenn er in dieser Hinsicht eine neue Betrachtungsweise in die Geschichtswissenschaft eingeführt zu haben glaube. Sie suchen nachzuweisen, daß LAMPRECHT die zusammengehörigen Momente der Entwicklung, die kollektiven und die individuellen Faktoren, auseinanderreiße. (11) Andere Historiker, die außerhalb des Kampfes stehen, nehmen, wie nicht anders zu erwarten ist, meistens eine weniger parteiische Haltung ein und erkennen unumwunden die Wichtigkeit der Faktoren beider Art, sowohl der individuellen wie der kollektiven, an. Wir können uns hier mit diesem Maß an sachlicher Übereinstimmung begnügen . Schon daraus folgt, daß der Geschichtsverlauf nur vollständig begriffen werden kann, wenn sowohl die singulären Erscheinungen und die führenden Persönlichkeiten, als auch die allgemeinen kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zustände und deren Entwicklung in ihrem allseitigen Zusammenhang ins Auge gefaßt werden. Es ist wahr, daß hierbei bedeutende Meinungsverschiedenheiten über das Maß des Einflusses der Individuen bestehen bleiben. Die beachtenswerte Differenz der Ansichten läßt sich vielleicht am besten so aussprechen: Auf der einen Seite ist man der Ansicht, daß die großen Züge der Entwicklung immerhin durch die allgemeinen, kollektiven Verhältnisse vollständig bestimmt werden. Die führenden Individuen, die in die Entwicklung entscheidend einzugreifen scheinen, seien doch im Grunde Produkte der Zeitumstände. In ihren Fähigkeiten, ihren Bestrebungen, ihren Ideen unterscheiden sie sich, sagt man, von ihren Zeitgenossen nur graduell, nicht der Art nach. Sie brächten daher allerdings die Tendenzen der Zeit zu klarerem Bewußtsein, zu kräftigerem Ausdruck; es seien aber doch im wesentlichen nur "beschleunigende Faktoren"; sie seien "die Blüten, nicht die Wurzeln der geschichtlichen Entwicklung". (12) Auf der anderen Seite ist man, meines Erachtens mit mehr Recht, der Ansicht, daß die führenden Persönlichkeiten doch unter Umständen den Verlauf der Entwicklung zum Teil wirklich bestimmen. Der aufmerksame Betrachter der Geschichte kann allerdings darüber nicht im Zweifel sein, daß die kollektiven Verhältnisse, die allgemeine Lage der Dinge, zu jeder gegebenen Zeit die Bedingungen allen geschichtlichen Wirkens abgeben, daß sie durchgängig den Kreis der jeweiligen Entwicklungsmöglichkeiten umschreiben und zwar mit Grenzen, die im Vergleich mit dem Flug des die Welt beliebig umgestaltenden Gedankens sehr eng sind. Ohne die Gunst der kollektiven Verhältnisse und Kräfte, ohne Empfänglichkeit der Zeit für seine Bestrebungen, vermag auch der gewaltigste Mann geschichtlich schlechterdings nichts. So hat z. B. BISMARCK bezeugt, daß der Politiker den günstigen Moment, ruhig abwarten müsse; er soll die Dinge sich selbst entwickeln lassen, bis der Augenblick kommt, wo er eingreifen kann: "unda fert nec regitur" [Die Welle trägt, aber sie wird nicht regieren. - wp]. Es kommen aber dann die entscheidenden, kritischen Momente der Entwicklung; da greift oft eine große Persönlichkeit handelnd ein, reißt die Führung an sich und scheint für kürzere oder längere Zeit die Entwicklung zu lenken. Es fragt sich: lenkt er sie wirklich oder wird er nur getragen, geführt von den kollektiven Kräften? Eine unbefangene Betrachtung solcher Abschnitte der Geschichte zeigt, so viel ich sehen kann, daß in der Tat oft, - auf einem weiteren oder engeren Gebiet des Schauplatzes der Geschichte, - die Wirksamkeit führender Männer darüber entscheidet, welche der vorliegenden Entwicklungsmöglichkeiten verwirklicht oder in welcher näheren Form das durch die Zeitverhältnisse geforderte Neue durchgeführt wird. Dadurch drücken die großen Männer für kürzere oder längere Zeit das Gepräge ihrer Individualität der Entwicklung auf; so wie z. B. der Protestantismus in manchen Beziehungen die Spuren der gewaltigen, markigen Persönlichkeit MARTIN LUTHERs noch heute trägt und jedenfalls für lange Zeit noch tragen wird; so wie die Individualität BISMARCKs einen unverkennbaren, mächtigen Einfluß auf den Geist des neuen Deutschlands ausgeübt hat usw. So wirkt die individuelle Art der führenden Geister mächtig fort, auf innigste verflochten mit Kulturgestalten, Ideen, geschichtlichen Realitäten, die aus kollektiven Ursachen, aus gemeinsamen tiefen Bedürfnissen der Menschheit oder eines Volkes mit geschichtlicher Notwendigkeit entsprangen. Ein ausführlicheres Eingehen auf die Frage, wie viel den großen Persöntlichkeiten beizumessen ist, würde zu weit führen. Übrigens läßt sich darüber fast nichts Näheres mit wissenschaftlicher Gewißheit behaupten und beweisen. Eine zuverlässige Entscheidung des allgemeinen Problems kann selbstverständlich überhaupt nicht durch methodologische Erwägungen erreicht werden, sondern nur als Gesamtergebnis aus einer Menge sachlicher historischer Einzeluntersuchungen hervorgehen. In jedem einzelnen Fall muß durchaus auf empirischem Grund untersucht werden, welche Momente des tatsächlichen geschichtlichen Verlaufs aus dem Wirken der Individuen und der singulären Tatsachenverknüpfungen entsprungen sind und welche aus den kollektiven Faktoren stammen. Jede derartige Untersuchung ist aber eine sehr schwierige Aufgabe; sie erfordert eine umfassende, besonnene und scharfsinnige Prüfung der vorligenden geschichtlichen Möglichkeiten und schwere Irrtümer schleichen sich bei derartigen Erwägungen leicht ein. Ob wir nun aber die Macht der individuellen Kräfte größer oder geringer schätzen, fest steht, daß solche Kräfte in der Geschichte mitwirken und daß demgemäß nur eine Forschung und Darstellung, die auch dem Individuellen liebevoll nachgeht, das volle, allseitige Verständnis für das geschichtliche Leben vermitteln kann. Nach der Ansicht der gemäßigten kollektivistischen Anschauungsweise ist die führende, einzelne Persönlichkeit wenigstens ein besonders typischer Ausdruck der Tendenzen der Zeit, bringt dieselben zu klarem Bewußtsein und ist ein "beschleunigender Faktor" in der Entwicklung; das Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung "mußte", meint man auf dieser Seite, allerdings nahezu so kommen, wie es gekommen ist, man gibt aber zu, daß es ohne den großen Mann vielleicht viel später gekommen wäre. Sogar wenn diese Anschauungsweise sich aufrecht erhalten ließe, wäre eine eindringliche Untersuchung des Individuellen in manchen Fällen wichtig genug. Vom Standpunkt der anderen Ansicht aus, die uns besser begründet erscheint, ist die lebensvolle Erfassung der individuellen Persönlichkeiten und einmaligen Gestaltungen in ihrer konkreten Lebendigkeit noch viel wesentlicher. Viele Forscher glauben alle Forderungen auf Beachtung der Individuen damit widerlegen zu können, daß das Individuelle überhaupt nicht Gegenstand der Wissenschaft sein könne, - ja, nach manchen Ausführungen, wenn wir sie streng nehmen wollten, nicht einmal Gegenstand des Wissens, des Denkens. Dieses öfters auftauchende Argument ist selbstverständlich entschieden zurückzuweisen. Man sagt, das Denken operiere mit Begriffen allgemeiner Bedeutung und könne daher nie das Singuläre in seiner konkreten Lebendigkeit darstellen. Alle Wissenschaft, ja alles Denken geht auf das Gemeinsame, Allgemeine; das Individuelle sei unfaßbar, ein "ineffabile" [unfaßbar - wp]. Man fügt oft hinzu, die Erfassung und Darstellung des Individuellen sei nur Aufgabe der Kunst. (13) Hierauf ist zu antworten, daß allerdings, falls etwas absolut Einzigartiges in unserer Erfahrungswelt vorkäme, die Wissenschaft damit nichts anfangen könnte, - ebensowenig übrigens auch die künsterlische Betrachtung. Etwas derartiges gibt es aber in unserer Erfahrungswelt nicht, - oder wenigstens ist es zweifelhaft, ob wir an den uns vorliegenden Einzelwesen auch nur ein derartiges Moment, eine absolut eigenartige, daher völlig unerklärbare Seite ihres Wesens anzunehmen haben. Da ja unsere Welt tatsächlich so beschaffen ist, daß jedes Ding Vergleichspunkte, Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten mit anderen Dingen aufweist, ist es ein uns durchaus geläufiges Verfahren, die Einzeldinge bis in ihre individuellen Eigentümlichkeiten zum Gegenstand unseres Denkens zu machen. Dabei müssen wir freilich das Individuelle begriffich fixieren durch Zusammenstellung von Vorstellungen, die jede für sich etwas Allgemeines bedeuten. Wir haben überhaupt, um unsere Erlebnisse auszudrücken und anderen mitzuteilen, zu unserer Verfügung nur Vorstellungen und Worte, deren Bedeutung immer mehr oder weniger allgemein ist. Eine im strengsten Sinn individuelle Tatsache kann nur durchlebt, nicht aber als solche durch ein Wort oder einen Begriff ausgedrückt und mitgeteilt werden. Die Geschichte hat es mit der Poesie gemein, daß sie durch eine zweckmäßige Zusammenstellung von Zeichen mit mehr oder weniger allgemeiner Bedeutung dem Leser Vorstellungen von individuellen Dingen in ihrer konkreten Lebendigkeit beibringt. (14) Es liegt offenbar ein Widerspruch weder darin, daß die Geschichte dieses uns so geläufige Verfahren zu einem wissenschaftlichen Zweck benutzt, um einmalige Dinge und Vorgänge wissenschaftlich festzustellen und zu erklären, noch darin, daß das Verweilen beim Individuellen in ihrer Arbeitsmethode einen hervorragenderen Platz behauptet hat als in der Naturwissenschaft. PAUL LACOMBE (De l'histoire considérée comme science, 1894) behauptet kurzweg, daß das Individuelle nicht "Ursache im wissenschaftlichen Sinn" sein kann. "Ursache" bedeutet ihm ein Antezedens [Vorhergehendes - wp] , dem immer unmittelbar eine gewisse zweite Tatsache, die Wirkung, folgt. Das Individuelle sei aber seinem Begriff nach eben ein Einmaliges; nun, von einem Antezedens, das nur einmal erscheint, kann nicht gewußt werden, daß ihm immer dasselbe zweite Phänomen folgt, mithin nicht, daß es Ursache sei (Seite 11f). Die Folgerung wäre gültig, wenn der Verfasser mit dem "Individuellen", wovon er spricht, konsequent nur das absolut Singuläre bezeichnete, d. h. das einzigartige, unvergleichbare, daher unerklärbare und unfaßbare Moment, das man etwa bei den Individuen annehmen mag. Sie wird aber völlig gehaltlos und sophistisch, sobald sie dazu benutzt wird, alle einmaligen Handlungen menschlicher Individuen und ihre individuellen Charaktere sowie alle besonderen, nur einmal dagewesenen Tatsachenverknüpfungen aus dem Bereich der historischen Ursachen auszuschließen und die eingehende Untersuchung und Charakteristik solcher historischer Faktoren beiseite zu schieben. Jede tüchtige historische Darstellung der alten Schule legt doch Zeugnis dafür ab, daß einmalige Tatsachen als die Ursachen späterer Erscheinungen erkannt und erwiesen werden können. In der Tat bestimm LACOMBE im Prinzip den Begriff des Individuellen richtig und hat auch sonst in mancher Beziehung eine sehr richtige Auffassung von den hier in Betracht kommenden Sachverhältnissen. Er betont, daß das Individuum neben der individuellen Seite seines Wesens, die nicht Objekt der Wissenschaft sein könne, ein allgemein-menschliches Element seiner Natur (den "l'homme général") und einen temporär und örtlich bestimmten, mithin relativ allgemeinen menschlichen Typus ("l'homme temporaire") in sich trage. Besonders sei es die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, den "l'homme temporaire" zu erforschen, - die eigentümlichen Modifikationen der menschlichen Natur, die in jeder Epoche und an jedem bestimmten Ort durch das Zusammenwirken mannigfaltiger Ursachen sich bilden. Seine Darstellung wird aber irreleitend, sobald er uns glauben machen will, daß die individuellen Charakterzüge und Erlebnisse der führenden Männer und die eigentümlichen, einmaligen Kombinationen der Verhältnisse an einzelnen Punkten des Geschichtsverlaufs für die Wissenschaft nicht als Ursachen in Betracht kommen könnten. Bisweilen gibt er zu, daß neben der "Geschichts wissenschaft" eine "erzählende Geschichte" bestehen kann, die die Einzelereignisse behandelt. Was aber jene "erzählende Geschichte" eigentlich enthalten sollte, wenn im Ernst daran festzuhalten wäre, daß keine kausalen Zusammenhänge zwischen einmaligen Ereignissen nachgewiesen werden können, das scheint mir nicht ganz leicht einzusehen. Sie müßte denn eine bloße Zusammenstellung der rohen Tatsachenmaterialien sein. Im Grunde meint LACOMBE aber natürlich gar nicht, daß der kausale Zusammenhang einmaliger Ereignisse nicht sicher erwiesen werden könne. Auch ihm schwebt nur die Auffassung vor, "Wissenschaft" müsse eben systematische Darstellung allgemeiner Wahrheiten sein und daher will er die Erforschung einmaligen geschichtlichen Verlaufs nicht eine "wissenschaftliche" Erkenntnis von ursächlichen Zusammenhängen nennen (Vgl. LACOMBEs gemäßigte Ausführungen aus Anlaß von RICKERTs Theorien, Revue de synthése historique III, 1901, Seite 1f). LACOMBE betont gelegentlich sogar sehr stark, daß einzelne Ereignisse und bedeutende Personen tatsächlich in den Verlauf der geschichtlichen Dinge wirkungsvoll eingegriffen haben. Er bekämpft, meines Erachtens ganz richtig, jene Behauptungen, daß alles Geschehene aufgrund nachweisbarer allgemeiner Ursachen notwendig so kommen mußte, wie es gekommen ist. Er hat meiner Ansicht nach auch darin recht, wenn er ausführt, daß in der Geschichte oft große Wirkungen aus ganz besonderen Verknüpfungen der Umstände, die wir als "zufällig" bezeichnen müssen, entspringen. Ursachreihen, die sozusagen aus verschiedenen Himmelsgegenden herkommen, stoßen zufälligerweise im gegebenen Augenblick aufeinander und diese Verknüpfung bewirkt eigentümliche Folgen, die von den Handelnden nicht beabsichtigt waren und nicht vorausgesehen werden konnten. Manchmal kann dann in gewissem Sinne mit vollem Recht gesagt werden, daß gewaltige Wirkungen aus lächerlich kleinen Ursachen entspringen. An diesen Punkten wird es ganz offenbar, wie unzutreffend die Ausdrucksweise ist, die LACOMBE im allgemeinen anwendet, wenn er solche besonderen, singulären Faktoren und Sachverhältnisse, deren Wirken wir in der Geschichte konstatieren, doch nicht "Ursachen im wissenschaftlichen Sinn" nennen will. (LACOMBE, De l'histoire etc., Seite 18f, 248f) Es ist wahr, daß der individuelle Faktor, die Beschaffenheit und das Eingreifen des Individuums, meistens nicht vollständig aus vorausgehenden, nachweisbaren Ursachen hergeleitet werden kann. Ganz verkehrt ist es aber, nicht als Ursache in Betracht ziehen. Das Individuelle tritt, woher es nun auch entsprungen sein mag, in den geschichtlichen Verlauf hinein und betätigt sich nachher als ein kräftig mitwirkender Faktor. Es wird eben eine charakteristische Eigentümlichkeit der Geschichte, daß sie solche nicht vollständig analysierbaren Faktoren in den von ihr dargestellten Entwicklungsgang einzuführen und ihre weiteren Wirkungen zu verfolgen hat. In gewissem Maß muß ja selbstverständlich auch LACOMBE dies zugeben; seine allgemeine Tendenz ist aber, solche Faktoren als wissenschaftlich unfaßbar möglichst auszuschließen. Man hat alle Anerkennung der Rolle des Zufalls in der Geschichte als eminent "unwissenschaftlich" bekämpft und darin einen "entschiedenen Rückschritt" gegen die Ansichten auch schon älterer Historiker und Geschichtsphilosophen gefunden. Ich meine nicht, daß eine solche geringschätzige Zurückweisung jeder Annahme von Zufälligkeiten im Geschichtsverlauf sich auf dem Boden sachlicher, wahrheitsgetreuer Betrachtung der Tatsachen hält. Eine unbefangene Betrachtung der historischen Wirklichkeit beweist im Gegenteil, daß, so weit wir in die Zusammenhänge des geschichtlichen Geschehens eindringen können, die entscheidenden, wirkungsvollen Ereignisse nicht immer aus "adäquaten", allgemeinen Gründen mit Notwendigkeit entsprangen; unbedingter Glaube daran ist eine unbeweisbare und willkürliche Voraussetzung, ein Aberglaube. In den Ausführungen LACOMBEs, wie auch in denjenigen mancher anderer Vertreter derseben Richtung, haben wir im Grunde zwei verschiedene Gedankengänge scharf auseinander zu halten. Wir begegnen in ihren Argumentationen Behauptungen, die streng genommen besagen, daß das Individuelle gar nicht Gegenstand des Wissens, des Denkens sein könne. Es könne nicht eigentlich gewußt werden, daß eine gewisse individuelle, einmalige Tatsache Ursache gewisser anderer Tatsachen sei usw. Solche Behauptungen sind offenbar durchaus verfehlt und können im Grunde von niemandem folgerichtig aufrechterhalten werden. Sie sind übrigens Ergebnisse einer rein theoretischen Erwägung, die von abstrakten, begrifflichen, dabei im Grund mißverstandenen Gründen ausgeht; auf die praktische Geschichtsbehandlung können sie kaum Einfluß gewinnen. Der unbefangene praktische Geschichtsforscher kann nicht darüber im Zweifel sein, daß die einmaligen Tatsachen höchst reale Ursachen sind und er wird auch künftig seine Forschung danach ausrichten. Der andere, gemäßigtere Grundgedanke der betreffenden Richtung läßt sich so aussprechen, als Wissenschaft in eigentlichem Sinne sei nur die systematische Erkenntnis, die nach Verallgemeinerungen und Gesetzen strebende Forschung, zu bezeichnen. Solange die Geschichte in der Erforschung, Erzählung und Darstellung einzelner historischer Tatsachen bestehe, sei sie daher, obgleich sie ein gesichertes Wissen darstelle, doch nicht "Wissenschaft" zu nennen; sie sei für die Wissenschaft eine bloße Materialiensammlung. Höchstens könne die Geschichte im alten Sinne zu den "angewandten oder konkreten Wissenschaften" gerechnet werden, - jedoch auch das eigentlich nur sofern sie nicht beim rein Einmaligen stehen bleibe, sondern die historischen Tatsachen und Vorgänge klassifiziere und vergleiche, somit Ansätze zu einer verallgemeinernden Behandlung derselben enthalte. (15) Wie wir die Wissenschaft definieren und verschiedene Forschungszweige benennen wollen, das ist im Grunde ein Streit um Worte, der keine sachliche Meinungsverschiedenheit bedeutet. Es ist aber doch ein unnatürlicher und gezwungener Sprachgebrauch, wenn man die Arbeiten der großen Geschichtsforscher im alten Sinne, die Werke NIEBUHRs, RANKEs usw., aus dem Gebiet der "Wissenschaft" ausschließt, weil sie kein systematisches Wissen geben noch geben wollen. Wir haben doch hier vor uns einen Zweig menschlicher Erkenntnis, wo intensive Forschung im weitesten Umfang betrieben worden ist und betrieben wird, eine Forschung, die im einzelnen ihre streng wissenschaftlichen Untersuchungsmethode und -Kriterien befolgt und dadurch ein umfassendes, gesichertes, zusammenhängendes Wissen vermittelt. Daher ist es durchaus sachgemäß, daß neben die Naturwissenschaften und andere auf Verallgemeinerungen, auf Gesetze abzielende Disziplinen die "geschichtlichen Wissenschaften" in ihrer methodischen Eigentümlichkeit als eine gleichberechtigte Gruppe gestellt werden. (16) Übrigens kommt es selbstverständlich auch in den Naturwissenschaften auf Schritt und Tritt vor, daß singuläre Tatsachen und einmalige Vorgänge in derselben Weise wissenschaftlich aufs genaueste, sogar in ihren individuellen Zügen, festgestellt, beschrieben, untersucht werden. Dort geschieht es meistens als Ausgangspukt für weitergehende, auf Allgemeineres hinzielende Erwägungen. Jedoch gibt es Gebiete der Naturwissenschaft, die beim Einmaligen als solchem in derselben Weise verweilen, wie die Geschichte es tut; so z. B. die Kosmographie, die Geologie, die Geographie. Wenn die Naturforschung beispielsweise die tatsächliche Beschaffenheit und die Entwicklung unseres Sonnensystems, der Erde der organischen Welt, des Menschengeschlechts aus naturwissenschaftlichem Gesichtspunkt darstellt, so geht sie keineswegs auf das Gebiet der Geschichte über, sondern behandelt im Grunde ihre eigene Aufgabe. (7) Es wäre eine durchaus sonderbare und unzweckmäßige Einteilung der Wissensgebiete, es würde die natürlichen und notwendigen Zusammenhänge der Forschungsarbeit zerreissen, wenn man solche Untersuchungen nicht mehr als Naturwissenschaft, sondern als geschichtliche Wissenschaftszweige bezeichnen wollte. Dies wäre aber die Folge, wenn wir RICKERTs Begriffsbestimmungen annehmen würden. Er drängt fortwährend darauf, man solle die Begriff der Geschichte und der Naturwissenschaft logisch fassen. KANT habe "endgültig festgestellt", daß "Natur" "das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist", bedeute. Naturwissenschaft sei daher die Untersuchung der Objekte "mit Rücksicht auf das Gemeinsame und Allgemeine", die Unterordnung des Seienden unter systematische Begriffe und allgemeine Gesetze; Geschichte sei die Betrachtung der Wirklichkeit "mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle". Hier liegt für RICKERT die Definition des Geschichtlichen; die Wirklichkeit wird für ihn "Geschichte", insofern das Besondere durch seine Einzigartigkeit Bedeutung für wollende und handelnde Wesen besitzt und daher mit Rücksicht darauf betrachtet wird. Daher setzt er das "historische Interesse" mit dem Interesse am Individuellen völlig gleich; "historisches Gesetz" ist ihm ohne weiteres eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp] usw. Die ganze Aufgabe seiner Untersuchung über die historische Methode faßt er in dem Sinne, daß er aus diesen Voraussetzungen heraus den rein logischen Begriff einer historischen Methode" formal, deduktiv konstruiert und ihn erst nachher auf die empirische Wissenschaft anwendet. (18) RICKERT hat sich durch seine Entwicklung der logischen Eigentümlichkeiten eines auf das Individuelle abzielenden Verfahrens ohne Zweifel ein großes Verdienst um die Methodologie erworben. Das Paradoxe, das mancher Leser wohl in seinen Ausführungen zunächst zu finden meint, ist zum großen Teil im Grunde nur scheinbar und äußerlich. Er hat nämlich - vielleicht notgedrungen - in einem großen Teil seiner Arbeit, wie er selbst ausdrücklich zugibt, "den logischen Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte in gewisser Hinsicht übertrieben"; er hat sein Aufmerksamkeit nur auf das gerichtet, was er das "absolut Historische" nennt und infolgedessen ein "logisches Ideal" geschildert, "dessen Verwirklichung die Geschichtswissenschaft zum Teil nicht einmal anstreben kann". (19) In der Tat gibt RICKERT zu, daß die Geschichte soziologische Elemente aufnehmen muß, daß sie, wegen der durchgängigen Wechselwirkung individueller und kollektiver Faktoren im geschichtlichen Leben, mit den "Durchschnittstypen" gewisser Gruppen von Menschen viel zu tun hat und daß auch die am stärksten indivdualisierende historische Darstellung, die rein biographische, "mit allgemeinen Begriffen durchsetzt" ist. (20) Nichtsdestoweniger will er aufgrund dieser Gesichtspunkge eine rein logische Einteilung der Wissenschaften durchführen, "die von den üblichen sachlichen Einteilungen stark abweicht"; vor allem will er in diesem Sinne zwischen naturwissenschaftlichen und historischen Disziplinen unterscheiden. (21) In diesem Punkt kann ich RICKERT nicht beistimmen. Unter voller Anerkennung der logischen Bedeutung des erörterten Unterschiedes kann ich ihn doch nicht als passendes höchstes Einteilungsprinzip der Wissenschaften anerkennen. Ich sehe die oben hervorgehobenen Gesichtspunkte als einen entscheidenden Beweis dafür an, daß "Naturwissenschaft" künftig wie bisher alle Untersuchungen über Naturobjekte bedeuten muß, auch diejenigen, die beim Individuellen verweilen. Aus genau analogen Gründen kann ich RICKERTs formell logische Definition des Begriffs des Geschichtlichen nicht für zweckmäßig halten. Allerdings ist es auch meiner Ansicht nach eine charakteristische und beachtenswerte Eigentümlichkeit der eigentlichen Geschichtswissenschaft, daß sie überwiegend auf eine individualisierende Erkenntnis ausgeht. Wir werden aber, wenn wir eine ungekünstelte Sprache reden wollen, doch auch sagen müssen, daß die Soziologie "geschichtliche Erscheinungen" behandelt; sie ist eben die verallgemeinernde Untersuchung der geschichtlichen Tatsachen. Hier wird offenbar das "Geschichtliche" in anderer Bedeutung benutzt; es bezeichnet ein sachlich verschiedenes Gebiet von Untersuchungsobjekten. Auch RICKERT hebt übrigens ausdrücklich hervor, daß die Teilung der wissenschaftlichen Arbeit "zuerst" nicht an logische Unterschiede der Behandlungsweise, sondern an Unterschiede des Materials anknüpft; er gibt daher zu, daß seine Einteilung "den Denkgewohnheiten widerspricht", meint aber, daß sie für die tiefer dringende wissenschaftliche Methodenlehre notwendig sei. (22) In der Tat enthält aber, wie im folgenden näher ausgeführt werden soll, die Geschichte so starke soziologische Elemente und die besonnene soziologische Forschung muß ihrerseits soviel von der rein "historischen", einmalige Vorgänge und Verhältnisse untersuchenden und darstellenden Methode in sich aufnehmen, daß die Scheidung dieser Disziplinen in entgegengesetzte Hauptgruppen der Wissenschaften nicht nur traditionellen Gewohnheiten, sondern auch den wesentlichen inneren Zusammenhängen der wissenschaftlichen Arbeit widerstreitet. Schon in den Naturwissenschaften, noch mehr aber beim gegenseitigen Verhältnis der Geschichte und der Soziologie, zeigt es sich, daß die beiden logisch entgegengesetzten Richtungen der Forschung und Begriffsbildung, - die auf das Allgemeine und die auf das Individuelle abzielende, - in den meisten Wissenschaftszweigen zusammenwirken, sich aufs innigste durchdringen müssen. Daher muß ich es als das zweckmäßigste betrachten, an den "üblichen sachlichen Einteilungen" der Wissenschaften festzuhalten und ziehe die auf solchen Gesichtspunkten beruhende BERNHEIMsche Definition der Geschichte, wovon ich ausgegangen bin (siehe oben), der RICKERTschen vor. Es ist übrigens richtig, daß das methodische Verfahren der Geschichte sich dem derjenigen Zweige der Naturwissenschaften, die sich überwiegend mit dem Besonderen befassen, wie der Untersuchung der tatsächlichen Beschaffenheit und der einmaligen Entwicklung einzelner Sterne, unserer Erde oder der organischen Lebensformen, in manchen Beziehungen nähert. Sie sind sämtlich erklärende Untersuchungen einer vorgefundenen, tatsächlichen, einmaligen Realität, - nicht systematische Disziplinen im eigentlichen Sinn; sie zielen nicht unmittelbar auf Verallgemeinerungen ab. Sie beschreiben Einzeltatsachen, die nur einmal vorhanden sind, erforschen Entwicklungsvorgänge, die sich einmal ereignet haben und erklären alle diese Dinge durch Herstellung ihres inneren, kausalen Zusammenhangs und die Erforschung ihrer nicht direkt wahrnehmbaren Ursachen. (23) Außer den hervorgehobenen inneren, sachlichen und prinzipiellen Gründen, welche die Umbildung der Geschichtswissenschaft in dem von BUCKLE und anderen gewünschten Sinn, d. h. zu einer Gesetzeswissenschaft, verbieten, sind noch einige mehr äußereliche Umstände hervorzuheben, die in dieser Beziehung nicht ohne Bedeutung sind. In der Tat machen es auch praktische Gründe unmöglich, die geschichtliche Forschungsarbeit mit der Erforschung soziologischer Regelmäßigkeiten zusammenfließen zu lassen - so mannigfaltig und eng auch die Beziehungen zwischen beiden Untersuchungsgebieten sind. Wenn wir von einem hohen sachlichen Interesse der singulären geschichtlichen Tatsachen als solchen für einen Augenblick absehen, wenn wir die Erforschung historisch-soziologischer Regelmäßigkeiten als eine mögliche und höchst schätzenswerte wissenschaftliche Aufgabe anerkennen und zunächst nur diese Aufgabe ins Auge fasesn, dann erscheint es uns als selbstverständlich als eine sehr wertvolle Leistung der geschichtlichen Detailforschung, daß sie Material für die Inangriffnahme solcher Probleme zusammenträgt. Auch dann zeigt aber eine besonnene Überlegung, daß es völlig untunlich ist, die Geschichtsforschung durchgängig oder auch nur überwiegend mit direkter Rücksicht auf solche Zwecke zu betreiben. Die erste, unumgängliche Aufgabe der Untersuchung bleibt jedenfalls die Ermittlung der einzelnen geschichtlichen Tatsachen und ihres Zusammenhangs. Erst nachher kann man, auf der Grundlage jener Arbeit, zu allgemeineren Sätzen fortschreiten. Jene erste Aufgabe ist aber schon mit großen, eigenartigen Schwierigkeiten verbunden, die eine energische Konzentrierung der Forschungsarbeit erfordern. In der Naturwissenschaft wird die Richtigkeit jedes einzelnen Satzes fortwährend durch neue Beobachtungen oder Experimente geprüft, - bestätigt oder berichtigt. Wenn dagegen die geschehenen Vorgänge und deren Zusammenhang ermittelt werden sollen, so ist das eigentliche Untersuchungsobjekt unwiederbringlich dahin und nur durch Prüfung der oft spärlichen, meist ganz zufällig aufbewahrten Zeugnisse kann festgestellt werden, wie die Ereignisse verliefen. Jene Ereignisse spiegelten sich oft schon in der Auffassung der unmittelbaren Augenzeugen sehr verschieden wieder; schon diese verkannten oft die Motive der handelnden Personen und die sonstigen Ursachenverknüpfungen, welche im Getriebe der geschichtlichen Vorgänge wirksam waren. Aus dieser Sachlage entspringen offenbar große, eigenartige Schwierigkeiten und Gefahren. Die speziellen Methoden der Geschichtsforschung müssen zunächst vor allem darauf gerichtet sein, durch eine wohl überlegte Kritik, die scharf auf die zuverlässige Konstatierung der einzelnen Tatsachen als solcher abzielt, diesen Gefahren zu entgehen. Die geschärfte wissenschaftliche Kritik besonders der neuesten Zeit hat im einzelnen, an zahlreichen Beispielen, dargetan, wie viele und schwer auffindbare Fehlerquellen dem der Forschung vorliegenden Material von Nachrichten und Überresten anhaften. Sehr viele Angaben und Darstellungen der Zeitgenossen eines Eignisses, ja selbst der Augenzeugen, sind, auch wo keine fälschende Absicht von seiten des Erzählers vorlieg, in einem fast unglaublichen Maße entstellt: z. B. durch einseitige Beobachtung, durch parteiische Voreingenommenheit, durch Unachtsamkeit in der Hinzufügung ergänzender Züge zum direkt Wahrgenommenen, durch Leichtgläubigkeit in der Annahme irriger Vermutungen und Gerüchte. Sogar die Augenzeugen eines verwickelten Vorganges nehmen fast immer nur einen kleinen teil davon direkt wahr. Sie ergänzen nachträglich, oft fast oder ganz unbewußt, ihre Auffassung vom Gesamtverlauf der Begebenheit und legen sich dieselbe zurecht, entweder nur mittels ihrer eigenen Phantasie oder auch mit Hilfe von mehr oder weniger zuverlässigen Mitteilungen anderer; und so kann es dahin kommen, daß sie, zuweilen ganz bona fide [in gutem Glauben - wp], nur eben das gesehen zu haben glauben, was ihren Wünschen und Voraussetzungen entspricht. Urkunden und geschäftliche Akten, die gar nicht in historischer Absicht, sondern zu praktischen Zwecken niedergeschrieben sind und wo man daher meinen sollte, untrügliche Zeugnisse über die wirklichen Vorgänge vor sich zu haben, stellen doch oft aus irgendwelcher Ursache die Dinge anders dar, als sie tatsächlich verliefen. Auch die absichtlichen Fälschungen erweisen sich unter allen Arten von geschichtlichen Quellen als erschreckend zahlreich. (24) Können wir da den übrigbleibenden Nachrichten, deren Unuverlässigkeit sich vielleicht zufälligerweise nur nicht nachweisen läßt, trauen? Wenn wir uns alle diese Fehlerquellen unumwunden eingestehen und vergegenwärtigen, so erkennen wir, daß die Gründe für eine weitgehende, nahezu absolute Skepsis in historischen Dingen in der Tat fast erschreckend stark sind und daß fürwahr nicht ohne Grund in Frage gestellt wurde, ob überhaupt auf diesem Gebiet Gewißheit erreicht werden kann. Mehrere große Historiker haben demgemäß zwar die skeptischen Resultate abgelehnt, zugleich aber anerkannt und kräftig hervorgehoben, wie wir zu diesem schwierigen Problem der Möglichkeit geschichtlicher Erkenntnis zwingend hingedrängt werden und mit vollem Ernst in Erwägung ziehen müssen, ob alle Geschichte schließlich etwas anderes sei, als eine "fable convenue" [ohne weitere Prüfung für wahr angenommen - wp], ob alle Quellenkritik zu anderen Ergebnissen als zu einer "Herstellung einstmaliger Auffassungen" führen könne. (25) Bei gründlicher Prüfung des ganzen Problems brauchen wir allerdings nicht die allgemeine Möglichkeit geschichtlichen Wissens zu verneinen; es ergibt sich aber die dringende Forderung, daß die Forschung mit größter kritischer Umsicht vorgehe, um wirklich zuverlässige Ergebnisse zu liefern. Nun sind aber, obgleich die Gründe des historischen Zweifels schon früh hervorgehoben wurde, doch in der Praxis der Geschichtsbehandlung die vollen kritischer Konsequenzen nur sehr allmählich gezogen und durchgeführt worden. Die Kritik hat sich aber endlich Bahn gebrochen. Fast alle bedeutenden Historiker des 19. Jahrhunderts in den verschiedenen Kulturländern haben sich in dieser Richtung besondere Verdienste erworben, indem sie zweifelhafte Traditionen, die Jahrhundert oder Jahrtausende lang nacherzählt worden waren, aufs strengste prüften: so z. B. NIEBUHR, RANKE, DROYSEN, G. GROTE, FUSTEL, de COULANGES, u. a. Immer noch ist aber in dieser Beziehung vieles zu tun; noch kommt es zuweilen vor, daß Historiker gelegentlich, obwohl in einigermaßen verhüllter und gemilderter Form, nach der alten bequemen Praxis handeln, daß jede vorliegende Erzählung für vollwertig genommen wird, sofern nicht ihre Falschheit erwiesen ist oder erwiesen werden kann. Die Forschung wird daher sicher noch weitere Fortschritte in derselben Richtung machen, zu präziserer Unterscheidung zwischen feststehenden Tatsachen, Wahrscheinlichkeiten und unverbürgten Vermutungen gelangen. (26) Zur vollständigen Durchführung einer strengen, gründlichen Kritik ist es aber notwendig, daß die Forschung sich zunächst scharf auf ihr nächstes Objekt konzentriert, auf die exakte, sichere Erkenntnis der einzelnen Tatsachen und deren Verknüpfungen. Nur so kann sie zu ihrer schwierigen Aufgabe die nötige Voraussetzungslosigkeit und Sorgfalt mitbringen; nur so kann sie ein Gebäude aufführen, welches nachher auch als Grundlage für weitergehende Untersuchungen anderer Natur, für verallgemeinernde Folgerungen, benutzt werden kann. Dies ist die einzig richtige Folgerung und Lehre, die wir für die Methode der Geschichte aus unseren Erwägungen über die Unsicherheit geschichtlicher Nachrichten und über die vielen Fehlerquellen ziehen sollen. Es ist allerdings vorgekommen, daß man beinahe umgekehrt geschlossen hat: eben weil die Einzeltatsachen unsicher seien, sei eine aus solchen bestehende Wissenschaft müßig und illusorisch; die Geschichte solle allgemeinen Sätzen nachstreben. (27) Nichts ist verkehrter als ein solcher Gedankengang! Wenn keine geschichtlichen Einzeltatsachen sicher festgestellt werden können, so wird man ewig vergebens nach allgemeinen Sätzen über das geschichtliche Leben suchen. Zuerst "Treue im Kleinen", Ermittlung des Einzelnen, der Materialien in langsamer Forschungsarbeit! In allen Wissenschaften hat es sich bewahrheitet, daß der forschende Geist, erst nachdem er kühnerer Spekulation entsagte und sich darauf beschränkte, auf treuer, mühsamer Erforschung der Einzelerscheinungen den Spuren der Erfahrung nachzugehen, allmählich zu gesicherter Erkenntnis großer Gesetze vorgedrungen ist. Wiederholt wurden in neuester Zeit Versuche gemacht, aus der Betrachtung der geschichtlichen Tatsachen kurzer Hand, im ersten Anlauf zu allgemeinen geschichtlichen Gesetzen zu gelangen. Diese Versuche erwiesen sich aber als voreilig. Hervorragnede Forscher, die ihnen sehr umfassende Studien widmeten und mit großem Scharfsinn zu Werke gingen, wie COMTE, BUCKLE und mehrere ihrer Nachfolger, ließen sich dabei zu zahlreichen sehr bedenklichen und verfrühten Verallgemeinerungen verleiten. Alle, die mit Vorsicht auf die Begründung einer wissenschaftlichen Soziologie hinarbeiten, haben jetzt, durch das Fehlschlagen so mancher kühner, genialischer Versuch, gelernt, daß auch ihre Wissenschaft ein langsameres, vorsichtigeres Verfahren einzuschlagen hat, daß auch sie zunächst die Entwicklung jeder einzelnen Gesellschaft im einzelnen, in manchen Beziehungen nach rein historischer Methode, erforschen muß und erst danach zu umfassenderen Verallgemeinerungen vorzudringen. Noch offenbarer ist es, daß in der eigentlichen Geschichtsforschung das ungeduldige Streben, unmittelbar zum Allgemeinen zu gelangen, unvermeidlich die Aufmerksamkeit allzu sehr von den nächsten Forschungsaufgaben ablenkt. Wir fassen die Ergebnisse unserer Erörterungen kurz zusammen: Wir haben den Begriff der Geschichte im wesentlichen im Sinn der "alten Schule" bestimmt, als Erkenntnis des einmaligen großen Entwicklungsganges der Menschheit in all ihren sozialen Lebensbestätigungen. Die Erforschung soziologischer Gesetze oder Regelmäßigkeiten rechnen wir dagegen nicht zu ihrer eigentlichen Aufgabe. Die Geschichte wird bei der Verfolgung ihrer Aufgabe oft zur eingehenden Untersuchung und Darstellung des Besonderen und Individuellen veranlaßt. Wir haben nachzuweisen versucht, daß solche Untersuchung individueller Tatsachen und Vorgänge eine ausführbare und vollwürdige Aufgabe wissenschaftlicher Forschung ist, sowie auch daß das Eingehen darauf zur vollständigen Lösung der allgemeinen Aufgabe der Geschichte unerläßlich ist. (28)
1) DROYSEN, Historische Zeitschrift, Bd. 9, 1863, Seite 13f. - J. G. DROYSEN Grundriß der Historik, 1882, Seite 60 2) HINNEBERG, Historische Zeitschrift, Bd. 63, 1889, Seite 32f, vgl. besonders Seite 38 3) HINNEBERG, Historische Zeitschrift, Bd. 63, Seite 36, Anmerkung 4) LEOPOLD von RANKE, Weltgeschichte IX, II. Abt., Vorwort, Seite IXf. Näheres über RANKE im II. Abschnitt, 3. Kap. 5) Vgl. darüber BERNHEIM, Lehrbuch der historischen Methode, Seite 18f 6) BUCKLE spricht wiederholt eine große, ja offenbar übermäßige Bewunderung für ADAM SMITH aus; er bezeichnet ihn als "den weitaus größten schottischen Denker", als "den größten Mann, den dieses Land jemals hervorgebracht hat" (History of Civilisation in England II, 1861, Seite 432, 464 Anm.) Selbstverständlich konnte aber auch SMITHs Ideen nur deshalb siegreich durchdringen, weil die Zeit zur Aufnahme derselben reif war. 7) PAUL MOUGEOLLE, Les Problemes de l'Histoire, 1886, besonders Seite 135f; LOUIS BOURDEAU, L'Histoire et les Historiens, 1888, Seite 13f. Vgl. PAUL BARTHs Darstellung der Ansichten BOURDEAUs und ODINs, die er als die extremsten Vertreter der kollektivistischen Richtung anführt, in BARTHs Philosophie der Geschichte als Soziologie, Seite 205f, sowie auch BERNHEIMs Bemerkungen über BOURDEAU und MOUGEOLLE im Lehrbuch, Seite 122f, 622 8) LAMPRECHT, Zwei Streitschriften, 1897, Seite 39, 43 9) Deutsche Zeitschrifft für Geschichtswissenschaft, Neue Folge I, Vierteljahrshefte, 1896-97 ("Was ist Kulturgeschichte?"), Seite 86 10) Historische Zeitschrift, Bd. 81, 1898, Seite 228. - Es ist genügend nachgewiesen worden und wir brauchen uns hier nicht dabei aufzuhalten, daß LAMPRECHT zuweilen, besonders in seinen älteren Aufsätzen, sehr schiefe Urteile über ältere Geschichtsschreiber fällt, z. B. wenn er RANKEs Geschichtsbehandlung als "bloß deskriptiv" bezeichnet im Gegensatz zum kausal erklärenden Verfahren, das erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zu seinem Recht gekommen sei. (Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 64, 1895, Seite 294) - In direkten Widerspruch gegen sein eigenes oben zitiertes Zugeständnis, daß die auf das Singuläre gerichtete Geschichtsforschung als "gleich berechtigt" neben der kollektivistischen steht, setzt sich LAMPRECHT, wenn er gelegentlich, in seinem Kampfeseifer gegen die individualistische Geschichtsbehandlung, ausführt, daß das Individuelle, Singuläre gar nicht Gegenstand der Wissenschaft sein könne (LAMPRECHT, Die historische Methode des Herrn von Below, 1899, Seite 13f). Über diese Ansicht näheres weiter unten. 11) So z. B. FRIEDRICH MEINECKE, Historische Zeitschrift, Bd. 77, 1896, Seite 262f; O. HINTZE, Historische Zeitschrift, Bd. 78, 1897, Seite 60f; GEORG von BELOW, Historische Zeitschrift, Bd. 81, Seite 193f; F. RACHFAHL, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 68, 1897, Seite 659f (besonders Seite 665f) 12) So z. B. PAUL BARTH in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 25, 1901, Seite 75, im Anschluß an H. CHAMBERLAIN. 13) Ansichten in dieser Richtung werden in schrofferer oder gemäßigterer Form vertreten z. B. von folgenden Verfassern: PAUL LACOMBE in seinen gleich unten näher berührten Ausführungen; PAUL BARTH, Philosophie der Geschichte als Soziologie I, 1897, Seite 6f und in verschiedenen Aufsätzen der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 23 - 25, besonders "Darstellende und begriffliche Geschichte", Bd. 23, Seite 322f.; MAX DESSOIR im Archiv für systematische Philosophie V, 1899, Seite 466 und auch schon in seiner Geschichte der neueren deutschen Psychologie I, Vorrede (1. Auflage 1894, 2. Auflage 1902; KURT BREYSIG, Kulturgeschichte der Neuzeit I, 1900, Vorwort Seite XI u. a.; FERDINAND TÖNNIES, Archiv für systematische Philosophie VIII, 1902, besonders Seite 6f, 22 - 27. Über HINNEBERG siehe obe und über LAMPRECHT dto. In neuester Zeit unterscheidet JOHANN GOLDFRIEDRICH in ähnlichem Sinn zwischen "Komplexanschauung" und "relationssystematischem Wissen". Er erkennt beide als in gewisser Hinsicht "gleichberechtigte" Stufen des Erkennens an. "Beide sind wissenschaftlich, denn auch die Methoden der Feststellung der Richtigkeit des Einzelnen sind wissenschaftlich." Jedoch erklärt er nur die "relationssystematische" Form der Erkenntnis, die "auf die Gesetzmäßigkeit der Relationen" ausgeht, für "Wissen in eminentem Sinne." Wo die beiden Richtungen in Kampf miteinander geraten, wie dies im LAMPRECHTschen geschichtswissenschaftlichen Streit geschehen sei, da gehörte immer, "der Natur des Wissens nach", der relationssystematischen Anschauungsweise der Sieg (GOLDFRIEDRICH, Die historische Ideenlehre in Deutschland, 1902, Vorwort Seite III, Seite 431f; vgl. weiter z. B. Seite 263, 287) Unter älteren Verfassern vgl. MORITZ LAZARUS, Über die Ideen in der Geschichte, Rede, gehalten im Jahr 1863, Seite 20 . Die unbefangene Art, wie sich LAZARUS den Satz, nur die systematische, auf allgemeine Wahrheiten abzielende Erkenntnis dürfe "Wissenschaft" genannt werden usw., zu eigen macht, ist ein Zeugnis dafür, wie stark die COMTE-BUCKLEsche Gedankenrichtung damals einsichtsvolle und philosophisch denkende Männer der Wissenschaft beeinflußte. Übrigens hält sich LAZARUS, wie auch manche spätere Vertreter dieser Ansicht, dabei im wesentlichen frei von Geringschätzung gegenüber der Geschichte im alten Sinne. 14) Vgl. HEINRICH RICKERT, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1902, Seite 337f. 15) Siehe TÖNNIES, a. a. O., Seite 20 16) Vgl. RICKERT, Archiv für systematische Philosophie VIII, Seite 147f 17) Vgl. HUGO MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie I, 1900, besonders Seite 113, ebenso OTTO RITSCHL, MAX DESSOIR. 18) RICKERT, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, bes. Seite 249f, 329f, 355; Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Seite 10, Archiv für systematische Philosophie VIII, 1902, Seite 139f 19) RICKERT, Grenzen usw. Seite 306 - 308, 480 20) Siehe besonders RICKERT, Grenzen, Seite 362, 489, 529f 21) RICKERT, Archiv für systematische Philosophie VIII, Seite 150f 22) RICKERT, Grenzen usw. Seite 333; Archiv für systematische Philosophie VIII, Seite 151 23) Vgl. CH.-V. LANGLOIS und CH. SEIGNOBOS, Introduction aux études historiques, 1899, Seite 212f 24) Vgl. überhaupt BERNHEIM, Lehrbuch der historischen Methode, Seite 168f, LANGLOIS und SEIGNOBOS, a. a. O. Seite 130f, 166f 25) DROYSEN, Grundriß der Historik, 1882, Seite 5 - HEINRICH von SYBEL macht einmal, mit Rücksicht auf ein besonderes Gebiet, das frühere Mittelalter, bemerkenswerte Zugeständnisse, die mit der Erklärung schließen: "So bleibt uns, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nur ein hypothetisches Verfahren. ... Da aber fast immer mehrere Kombinationen solcher Art sich möglich zeigen, so ist das schließliche Ergebnis, daß es für ein Gebiet mit so dürftigem Quellenstoff überhaupt keine im wissenschaftlichen Sinn bewiesene Geschichte gibt; genau genommen sollte man nie von einer Geschichte der Karolinger oder der Hohenstaufen, sondern nur von Ansichten darüber reden." (SYBELs Rede über "Giesebrecht und Döllinger", in H. v. SYBELs Vorträgen und Abhandlungen, hg. von VARRENTRAPP, 1897, Seite 327) 26) Es ist ein anerkennenswertes Verdienst einiger der neuesten französischen Verfasser über Historik, daß sie sehr energisch und konsequent den durchgängig kritischen Standpunkt betonen, den der Historiker einzunehmen habe. Mit Recht fordern sie, daß er den Quellen mit methodischem Mißtrauen gegenüberstehe, daß er die natürliche Leichtgläubigkeit und Ungenauigkeit des menschlichen Gemüts bekämpfe und im Ernst jede Angabe als bloß mehr oder weniger wahrscheinlich behandle, bis sie erwiesen sei, und daß er diese Prinzipien der strengen Kritik durchführe, auch in den nicht seltenen Fällen, wo ihre Befolgung von ihm eine schmerzlich empfundene Entsagung fordere. 27) So z. B. LOUIS BOURDEAU, der unter anderem auch mit Gründen der historischen Skepsis nachweisen will, daß die bisherige Geschichtsmethode nichts leisten könne; nach 20 Jahrhunderten unendlich mühsamer Bestrebungen stehe ihre vollständige Erfolglosigkeit fest. Daraus schließt BOURDEAU, daß die Geschichtswissenschaft mittels der Statistik völlig neugeschaffen werden muß; die Statistik könne nämlich über Massenvorgänge sichere Wahrheiten feststellen. 28) Näheres über Natur und Methode der Soziologie in den beiden folgenden Kapiteln. |