SchmeidlerErnst WachlerTroeltschE. BernheimGeorg von Belowvon Sybel | |||
Die Wertschätzung in der Geschichte [ 3 / 3 ]
Erster Abschnitt Allgemeine Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaft 2. Soziologische und "gesetzeswissenschaftliche" Elemente in der Geschichte Wenn wir auch die absichtliche und methodische Erforschung von Regelmäßigkeiten im historisch-sozialen Leben als eine gesonderte Disziplin, als "Soziologie", von der Geschichte trennen, müssen wir doch betonen, daß die Geschichte in lebendiger Fühlung mit dieser Disziplin bleiben soll. Die Geschichte muß, um ihrer eigensten Aufgabe immer vollkommener zu genügen, in weitem Umfang auf kausale Zusammenhänge allgemeiner und gesetzmäßiger Natur, auf psychologische Gesetzmäßigkeiten und soziologische Verhältnisse Rücksicht nehmen; sie hat daher vieles von den "Gesetzeswissenschaften", vor allem von der Soziologie, zu lernen, während andererseits diese ihr eine schlechthin unentbehrliche Grundlage für weitergehende Forschungen entlehnt. Der allgemeine Charakter des methodischen Verfahrens der Geschichtsforschung läßt sich kurz folgendermaßen angeben: die Geschichte hat aus aufbewahrten Nachrichten und aus noch vorhandenen äußeren Produkten menschlicher Tätigkeit auf die menschlichen Handlungen und vor allem auf die psychischen Vorgänge zurückzuschließen, welche sie veranlaßt oder hervorgebracht haben und diese psychischen Vorgänge wieder aus vorangehenden Bedingungen, teils inneren, teils äußeren, zu erklären. (1) Die Geschichte ist infolgedessen eine induktive Forschung, die zwar nicht auf die Ermittlung allgemeingültiger Gesetze ausgeht, wie es die naturwissenschaftliche Induktion im allgemeinen tut, wohl aber auf die Feststellung von Einzeltatsachen, die in gesetzmäßigem Zusammenhang miteinander stehen. (2) Schon hieraus erhellt sich im allgemeinen, daß der Historiker veranlaßt wird, die die Entwicklung beherrschenden Gesetze zu berücksichtigen. Zur näheren Begründung und Erläuterung dieser Seite der Methode der Geschichte knüpfe ich an Ausführungen hervorragenden Historiker an: Nachdem BERNHEIM die Geschichte als "die Wissenschaft von der Entwicklung der Menschen in ihrer Betätigung als soziale Wesen" bestimmt hat, hebt er unter anderem, im Anschluß an Äußerungen RANKEs, hervor, daß "das Amt der Historie nicht soweit auf die tote Sammlung der Tatsachen und ihre Aneinanderfügung als auf deren lebendiges Verständnis gerichtet ist. ... Das Einzelne Besondere selbst ist unser wissenschaftliches Objekt, nur nicht in zusammenhangloser Isoliertheit, sondern im Zusammenhang der Entwicklung, innerhalb deren es steht und soweit es für diese in Betracht kommt." (3) Mit anderen Worten: der allerwesentlichste Punkt ist für den Geschichtsforscher die Aufdeckung des einheitlichen Zusammenhangs des Entwicklungsprozesses, die Erklärung des einen durch das andere, die Erkenntnis der mannigfache inneren Verknüpfungen, wodurch die Tatsachen voneinander abhängen. Daß die Aufgabe der Geschichte in diesem Sinne zu fassen ist, dürfte unter praktischen Historikern gegenwärtig so gut wie einstimmig anerkannt werden. Es ist die "genetische" Auffassung von der Aufgabe der Geschichte, die allgemein als für die neueste Periode der Geschichtsforschung charakteristisch anerkannt wird. (4) Wir brauchen nur diesen Punkt scharf ins Auge zu fassen, und einzusehen, daß die Erforschung des einmaligen Entwicklungsganges nicht möglich ist, ohne sowohl auf allgemeine, kollektive tatsächliche Verhältnisse als auch auf kausale, gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen den Tatsachen fortwährend Rücksicht zu nehmen. Die Ermittlung und Darstellung des Singulären muß sich daher verbinden, oft aufs innigste durchdringen mit der Erforschung allgemeiner Verhältnisse und der Erwägung der gesetzmäßigen Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen individuellen und kollektiven Kräften. Hierdurch gewinnen "gesetzeswissenschaftliche" Momente wesentliche Bedeutung beim Studium der Geschichte. Verallgemeinernde, systematische Wissenschaft und historische Erkenntnis des sich entwickelnden Einzelgeschehens können tatsächlich nicht voneinander getrennt werden; die eine besteht nirgends ohne die andere. (5) Es findet somit eine wesentliche Annäherung zwischen dem Verfahren der Geschichte und demjenigen der Soziologie statt. Diese Annäherung ist umso stärker, da sie gegenseitig ist. Auch die Soziologie wurde ihrerseits bei kritischer Selbstbestimmung dazu veranlaßt, ihre ursprünglichen kühnen Anläufe zum unmittelbaren, schnellen Aufbau einer rein systematischen Wissenschaft aufzugeben und ihre Forschungsmethode der vorsichtigeren, bescheideneren Arbeitsweise der Geschichte anzunähern. Auch der Soziologe wird zunächst meistens sein Augenmerk in erster Linie darauf richten müssen, die einmalige Entwicklung eines sozialen Ganzen im Einzelnen, nach einer Methode, die der historischen sehr ähnlich ist, zu untersuchen, die langsame Ausbildung der sozialen Verhältnisse und der Institutionen in einem einzelnen Land zu verfolgen und an jedem einzelnen Punkt den mannigfach verschlungenen Ursachen des Prozesses nachzuspüren, ohne viel von "Gesetzen" zu reden, ohne umfassende Verallgemeinerungen aufstellen zu können. Nichtsdestoweniger bleibt es dabei, daß Geschichte und Soziologie nicht zu einer Disziplin verschmolzen werden dürfen. Der Unterschied liegt in der Tendenz der Forschung, im Endzweck, den der einsichtsvolle Forscher immer als Leitstern im Auge behält. Die Soziologie strebt doch im Grunde immer danach, aus einer bloß historisch untersuchenden und darstellenden zu einer bloß historisch untersuchenden und darstellenden zu eriner systematischen Wissenschaft zu werden, während wir der eigentümlichen Natur der Geschichte nur dann gerecht werden, wenn wir anerkennen, daß sie die volle Erfassung der einmaligen Entwicklung als ihren wissenschaftlichen Endzweck zu betrachten hat. Gegen diese Auffassung von der Natur der Geschichte erhebt sich aber eine Reihe von Einwürfen. Erstens gibt es eine Theorie, wonach die Geschichte gar nicht die Aufgabe habe, kausale Erklärungen zu liefern. Zweitens macht man geltend, daß die Geschichte, auch wenn sie Tatsachen, die gesetzmäßig, kausal miteinander verknüpft seien, festzustellen und ihren inneren Zusammenhang aufzudecken habe, dabei doch nicht die betreffenden Gesetze als solche in Erwägung zu ziehen brauche, sondern ausschließlich durch eine Art instinktiver Intuition, auf unreflektiertem Weg, den Zusammenhang der einzelnen Vorgänge erfasse. Besonders hat man dies im Hinblick auf die vom Historiker auszuführende psychologische Deutung der seelischen Regungen und Kräfte betont, welche bei den historischen Persönlichkeiten und Völkern sich abspielen. Drittens ist anzuerkennen und hervorzuheben, daß der Historiker, auch wenn er soziale, allgemeine, kollektive Verhältnisse und gesetzmäßige Zusammenhänge berücksichtigen muß, sich damit noch keineswegs auf den Standpunkt einer im Prinzip oder überwiegend verallgemeinernden Wissenschaft stellt. Solange wir an unserer am Anfang unserer Darstellung aufgestellten Begriffsbestimmung der Geschichte festhalten, ist die Erwägung gewisser Gesetze für sie im Grund Mittel, nicht Endzweck. Die kollektiven Verhältnisse verfolgt sie im wesentlichen nur in ihrer einmaligen Entwicklung, nicht zum Zweck der Aufstellung einer systematischen Disziplin. Die "Allgemeinbegriffe," die der Historiker zur Charakterisierung der kollektiven Erscheinungen bildet, die Regelmäßigkeiten, die er zu diesem Zweck erforscht und feststellt, sind nur "relativ allgemein"; er betrachtet jede kollektive Erscheinung als ein einmaliges Ganzes, das in seiner nur einmal dagewesenen, in relativem Sinn immer noch "individullen" Eigenart zu erfassen ist. - Wir haben diese verschiedenen Ansichten der Reihe nach ins Auge zu fassen und in Erwägung zu ziehen, welche Wahrheiten sie enthalten und in welchem Sinne wir denselben gegenüber den Satz, daß die Geschichte sich den soziologischen Methoden annähern solle, aufrecht erhalten können. Es gibt, wie gesagt, eine Theorie, wonach es gar nicht Aufgabe der Geschichte sei, kausal zu erklären. Sie solle nur ein "Verständnis" der geschichtlichen Taten und Erlebnisse vermitteln, was etwas ganz anderes sei als eine kausale Erklärung derselben. Diese Theorie steht allerdings meiner Ansicht nach in einem so scharfen Widerspruch mit aller Praxis der Geschichtsforschung, daß sie sich schon dadurch als irrig erweist. Nichtsdestoweniger müssen wir sie kurz in Betracht ziehen, da sie immerhin von einigen scharfsinnigen Männern der Wissenschaft vertreten wird; auch läßt sich der Satz verteidigen, daß in ihren paradoxen und schiefen Behauptungen doch ein gewisses Wahrheitsmoment verborgen liegt. Kein geringeren als J. G. DROYSEN behauptet, nur die Aufgabe der "mathematisch-physikalischen" wissenschaftlichen Methode sei es, zu "erklären"; dagegen sei es diejenige der Geschichte, zu "verstehen". Das Verstehen sei ein lebendiges Erfassen und Nachempfinden innerer, geistiger Vorgänge, die in anderen, uns ähnlichen Wesen stattfinden. "Die Möglichkeit des Verstehens besteht in der uns kongenialen Art der Äußerungen, die als historisches Material vorliegen. Sie ist dadurch bedingt, daß die sinnlich-geistige Natur des Menschen jeden inneren Vorgang zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit äußert, in jeder Äußerung innere Vorgänge spiegelt. Wahrgenommen erregt die Äußerung, sich in das Innere des Wahrnehmenden projizierend, den gleichen inneren Vorgang. Den Schrei der Angst vernehmend empfinden wir die Angst des Schreienden usw." Der Akt des Verständnisses "erfolgt unter den dargelegten Bedingungen als unmittelbare Intuition, als tauche sich Seele in Seele, schöpferisch ..." - Das Gebiet der Geschichte entspreche demjenigen der Ethik im alten, klassischen "Kanon" der Wissenschaften: Logik, Physik, Ethik. "Die sittliche Welt, rastlos von vielen Zwecken und schließlich, so ahnen und glauben wir, vom Zweck der Zwecke bewegt, ist eine rastlos werdende und sich in sich steigernde ... Im Nacheinander dieser ihrer Bewegungen betrachtet, ist sie uns die Geschichte." - "Die historische Forschung will nicht erklären, d. h. aus dem Früheren das Spätere wie nach logischer Notwendigkeit ableiten, sondern verstehen. Läge die logische Notwendigkeit des Späteren im Früheren, so wäre statt der sittlichen Welt ein Analogon der ewigen Materie und des Stoffwechsels. Wäre das geschichtliche Leben nur Wiedererzeugung des immer Gleichen, so wäre es ohne Freiheit und Verantwortlichkeit, ohne sittlichen Inhalt, nur organischer Natur." (6) - Immer wieder kommt DROYSEN darauf zurück, unter anderem auch in seinem Aufsatz über BUCKLE, die Geschichte habe es mit der "sittlichen Welt" zu tun, die Hauptsache sei für sie das "sittliche Verständnis" des geistigen Lebens der Vergangenheit. Diesen Ausführungen DROYSENs, - so zutreffend und tief gedacht sie auch zum Teil sein mögen, - kann der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß sie zum Teil irreleitend und unklar sind. Mit Recht haben OTTOKAR LORENZ und PAUL HINNEBERG darauf hingewiesen, daß jenes "sittliche Verständnis", welches DROYSEN fordert, ein unbestimmter und unklarer Begriff bleibt. (7) Auch den Unterschied zwischen "Verstehen" und "Erklären" stellt DROYSEN wenigstens in übertriebener und irreleitender Fassung dar. Freilich besteht ja ein großer Unterschied zwischen der mechanischen Erklärung materieller Vorgänge, die die Naturwissenschaft anstrebt und dem Erfassen des seelischen Lebens in den historischen Persönlichkeiten und Völkern. Wir erfassen selbstverständlich die psychischen Vorgänge bei anderen Menschen eben als psychische Vorgänge, nach der Analogie mit unseren eigenen inneren Erlebnissen; äußere Anzeichen geben uns die Möglichkeit zu einem inneren, lebendigen Nachempfinden und Nacherleben der Erlebnisse anderer. Es ist berechtigt, dieses geistige Erfassen als "Verstehen", "Verständnis" in einem spezifischen Sinn zu bezeichnen. Nachdrücklich muß aber betont werden, daß bei eingehender Erforschung der geschichtlichen seelischen Vorgänge die kausale Erklärung eine höchst bedeutende Rolle spielt; ja, der Nachweis des kausalen Zusammenhangs des Verlaufs ist dabei geradezu der Nerv und Schwerpunkt der Untersuchung. Alle praktische Geschichtsarbeit zeigt an jedem Punkt - ich zögere in der Tat, einem Mann wie DROYSEN gegenüber so Selbstverständliches hervorzuheben, - daß ein "Verständnis", ein Nachfühlen, auch eine "sittliche Würdigung" der Erlebnisse vergangener Zeiten nur möglich ist im unauflöslichen Zusammenhang mit einer eindringenden Untersuchung über ihre Ursachen, vor allem über die handelnden Personen wirkenden Einflüsse und Motive verschiedener Art, darunter auch über die äußeren Umstände und Bedingungen. Ich muß daher DROYSENs Ausführungen, in gewissem Maße trotz ihres Wortlauts, so auffassen, daß er es der Geschichtsforschung nicht verwehren will, sondern im Gegenteil als einen selbstverständlichen Teil ihrer Aufgabe anerkennt, den geschichtlichen Verlauf soweit als möglich zu erklären, d. h. den kausalen Zusammenhang desselben klarzulegen. (8) Nun ist DROYSEN allerdings der Ansicht, daß die kausale Erklärung auf dem Gebiet der Geschichte nicht restlos durchgeführt werden könne und daß hier das Spätere sich nicht aus dem Früheren "wie nach logischer Notwendigkeit ableiten" lasse. Die geschichtliche Welt ist ihm die Welt der Freiheit. Ihr hauptsächlicher Inhalt sind die Willensakte der Menschen, für welche diese verantwortlich sind und welche eben darum die sittliche Welt bilden. Ebenso erheben auch viele andere praktische Historiker im Namen der menschlichen Freiheit Einspruch gegen die Auffassung, daß die geschichtlichen Ereignisse aus gesetzmäßig wirkenden Ursachen vollständig erklärt werden könnten. (9) Den zuletzt angeführten Anschauungen DROYSENs und anderer Historiker schließe ich mich in der Hauptsache aus voller Überzeugung an. Gewiß, der Historiker kann keineswegs alle geschichtliche Taten vollständig aus nachweisbaren Ursachen ableiten. er begnügt sich mit Recht damit, die handelnden geschichtlichen Persönlichkeiten als frei zu betrachten und demgemäß die geschichtlichen Ereignisse so anzusehen, als ob aus gewissen vorligenden Ursachen verschiedene Wirkungen folgen könnten, je nachdem die frei handelnden Individuen sich entschließen. Trotz alledem aber, wenn wir auch der menschlichen Freiheit eine noch so große Bedeutung für unsere allgemeine Weltanschauung beimessen und wenn wir auch jene Freiheit in einem indeterministischem Sinn verstehen mögen, bleibt es doch dabei, daß der Historiker, soweit irgendwie möglich, nach den tatsächlichen, erkennbaren Kausalzusammenhängen der historischen Vorgänge, Bestrebungen und Motive zu forschen hat; in keiner anderen Weise kann er überhaupt eine faßbare Vorstellung von den inneren Erlebnissen und Willensakten der Menschen der Vergangenheit erlangen. In der Psychologie sucht auch der Indeterminist allgemeine Wahrheiten, Regelmäßigkeiten, kausale Erklärungen, soweit es eben geht. Kein verständiger Sachkenner beschuldigt ihn deswegen der Inkonsequenz. Denn es ist, angesichts handgreiflicher psychologischer Tatsachen, sonnenklar: auch auf dem Gebiet des geistigen Daseins besteht ein gesetzmäßiger Zusammenhang in sehr weitem Umfang; keine andere Art von Indeterminismus kann auch nur in Betracht kommen, als ein relativer, welcher einerseits unbedingt zugibt, daß dem Willen durch kausal hervorgerufene Motive sein Inhalt gegeben wird und daß diese Motive eine stärkere oder schwächere Anziehungskraft auf das wollende Wesen ausüben, der aber andererseits immerhin annehmen mag, daß nichtsdestoweniger, bei als frei empfundener Wahl zwischen verschiedenen Willensmöglichkeiten, absolute Wahlfreiheit die Entscheidung herbeiführen kann. Ebenso steht es unanfechtbar fest, daß die Geschichte an jedem Punkt nach den Ursachen des Geschehens zu forschen hat. Wir kommen hier auf einen Gesichtspunkt zurück, den wir schon einmal, bei der Erörterung des Eingreifens des individuellen Faktors in die Geschichte, hervorgehoben haben (Seite 22). Die Art und das Wirken des individuellen geistigen Faktors kann nicht vollständig aus vorausgehenden, nachweisbaren Ursachen kann nicht vollständig aus vorausgehenden, nachweisbaren Ursachen hergeleitet werden. Nichtsdestoweniger steht das Eingreifen der geistigen Faktoren in den Geschichtsverlauf in kausalen Beziehungen zu vorhergehenden Bedingungen, die es veranlassen und möglich machen und wirkt nachher beim weiteren Verlauf mit. Es ist eine charakteristische Eigentümlichkeit der Geschichtswissenschaft, daß sie solche nicht nach kausaler Notwendigkeit ableitbare Faktoren in den darzustellenden Werdegang einzuführen und ihre weiteren Wirkungen zu verfolgen hat. Übrigens hat es der praktische Historiker; sogar wenn er zu den umfassenden Fragen von der geschichtlichen Würdigung großer geschichtlicher Leistungen und Kulturschöpfungen übergeht, nicht nötig, zu dem schwierigen Problem der Willensfreiheit Stellung zu nehmen. Im wesentlichen mit Recht sagt LORENZ, aus Anlaß von DROYSENs Ausführungen: "Im übrigen bemerke ich noch, daß die Willensfrage, welche bekanntlich eine alte ist, mit der Frage der Beurteilung gar nicht im notwendigen Zusammenhang steht, sondern für die Geschichte gewiß erst in zweiter und dritter Linie in Betracht kommt. Denn es kann jemand in einer geschichtlichen Handlung großen Wert finden, wenn er die Freiheit des Willens leugnet, ebensogut wie der, welcher vollständiger Indeterminist ist. - Auf dieses interne Gebiet der Philosophie überzugehen ... ist für den Historiker jedenfalls vollkommen überflüssig und es ist bedenklich, wenn er diese Frage auf vier Seiten erledigen will". (10) Meinerseits bin ich allerdings der Ansicht, daß unsere ethischen Anschauungen und unsere allgemeine philosophische Weltansicht einen verschiedenen Charakter erhalten, je nachdem wir das Wesen der menschlichen Freiheit auffassen, und daß daher auch der ethisch-philosophische Hintergrund unserer Geschichtsauffassung dadurch beeinflußt wird; meiner Meinung nach kommt bei der Erwägung solcher letzter Fragen auch die, ob der Determinismus oder der Indeterminismus berechtigt ist, ernstlich in Betracht. (11) Die historische Forschung wird aber dadurch nicht beeinflußt, auch nicht die spezifisch historische Würdigung der Erscheinungen. Der historische Wert gegebener Leistungen bleibt derselbe, gleichviel ob eine absolute individuelle Willensfreiheit bei deren Hervorbringung beteiligt war oder nicht. Nur die ethische Würdigung fällt vielleicht verschieden aus. Daher kann dieses in die letzten Tiefen philosophischer Spekulation reichende Problem kaum mehr zu den Fragen über verschiedene geschichtliche Auffassungen gerechnet werden. Neuerdings hat HUGO MÜNSTERBERG die Ansicht, die Geschichte habe gar nicht kausal zu erklären, in besonders schroffer Fassung vertreten (12). Seine Ausführungen sind lehrreich; sie zeigen schlagend, mit welchen absonderlichen Konsequenzen dieser Standpunkt, voll und rücksichtslos durchgeführt, endet. Auf MÜNSTERBERGs originelle allgemein-philosophische Ansichten kann hier nicht eingegangen werden; sie sind schon von verschiedenen Seiten diskutiert und in manchen Punkten triftig widerlegt worden. (13) Aus ihnen ergibt sich ihm die Folgerung, daß die Geschichte einen ausgeprägt subjektvierenden Standpunkt einzunehmen habe. Nur die psychologischen und die physikalischen Wissenschaften objektivieren das Erlebte und erklären es kausal. Ganz anders verfahren die historischen, wie auch die normativen Wissenschaften, welche Münsterberg unter dem Namen "Geisteswissenschaften" zusammenfaßt; sie stellen sich durchgängig auf einen subjektivierenden Standpunkt. Wir erleben eine unendliche Mannigfaltigeit von "Willensakten und Zumutungen zu Willensakten". Die allgemeine Aufgabe der Geisteswissenschaften und zunächst der Geschichte sei es, diese erlebten Willensakte und Zumutungen zu solchen "so umzuformen, daß sie sich in ein System von zusammenhängenden Wollungen einordnen, so wie sich die erfahrenen Objekte in die erfahrbare Natur einordnen." Das wesentliche in aller Geschichte sei das Nachfühlen und die Würdigung der im geschichtlichen Leben hervortretenden "Wollungen", die Herausarbeitung derjenigen Wollungen, die für das eigene Wollen des Betrachters bestimmend sind. Die Welt der Geschichte sei die Welt der unmittelbar erlebten, wertenden Subjektakte, - die nach MÜNSTERBERG im Grunde zeitlos sind. Nur die durch künstliche Objektivierung entstandene, sekundäre Welt der wertfreien Objekte sei zeitlich, räumlich und kausal erklärbar. MÜNSTERBERG betont daher nachdrücklich, daß "der Historiker nirgends einen Kausalzusammenhang aufzusuchen hat." "Nicht nur die praktische Geschichtsschreibung, sondern auch die logische Theorie der Geschichtsmethoden ist hier zu Kompromissen geneigt und bereit, ein Schaukelsystem gutzuheißen, das beide Teile schädigt. Wir müssen mit ausnahmsloser Strenge daran festhalten, daß die historischen Ereignisse als solche in Keiner Weise durch Kausalzusammenhänge verstanden werden können, sondern nur durch teleologische Beziehungen". Solange wir die Vorgänge der Vergangenheit kausal erklären, treiben wir, nach MÜNSTERBERG, Naturwissenschaft oder Psychologie. Die Aufgabe der Geschichte sei folglich lediglich erstens Interpretaion, Verstehen, Nachfühlen im angegebenen Sinn, zweitens Würdigung. Diese überraschenden Behauptungen werden uns erst durch näheres Eingehen auf die Erklärungen begreiflich, wodurch der Verfasser den Sinn derselben der sinnlichen Wirklichkeit oder unserer an das Sinnliche gebundenen Auffassung näher bringt. Er gibt zu, daß die Willensakte überall mit Hilfe von Räumlich-Zeitlichem beschrieben werden müssen und daß der Geschichtsschreiber, wenn er historische Persönlichkeiten darstelle, sie immer so schildern müsse, als ob sie in Zeit und Raum wahrnehmbare "psychophysische Individuen" seien. Aber "erst dann, wenn das so Beschriebene in seiner nicht wahrnehmbaren, sondern nur nachfühlbaren Willenseigenart verstanden und somit als Zeitloses aufgefaßt wird, erst dann bricht aus dem Psychophysischen das Historische hervor." Die geschilderten psychophysischen, in Zeit und Raum wahrnehmbaren und kausal erklärbaren Personen seien nicht "die eigentlichen historischen Persönlichkeiten", so notwendig auch die Unterschiebung des Psychophysischen für die Beschreibung des Materials sein mag. Wenn nur das Psychophysische da wäre, so "würde sich die Geschichte in eine Abteilung der Naturgeschichte und Psychologie umwandeln". - "Die Geschichte hat eine wichtige Vorarbeit zu bewältigen in der Herbeischaffung und Beschreibung des in Betracht kommenden Materials, das sich aus psychischen und physischen Vorgängen zusammensetzt, aber das historische Verstehen setzt erst ein, wenn diese Vorarbeit beendet ist." (14) Obgleich MÜNSTERBERGs Theorie gewisse interessante und zum Teil berechtigte Gesichtspunkte enthält, stellt sie doch im Ganzen ein Gewebe wunderlicher Paradoxe dar. Was er als ein bloßes untergeordnetes Mittel bezeichnet, ist in der wirklichen Geschichte eine durchaus wesentliche Hauptsache. Im Grund müssen wir konstatieren, daß MÜNSTERBERG, wenn er von Geschichte redet, prinzipiell gar nicht die bisherige Geschichtsforschung und -darstellung meint; vielmehr will auch er seinerseits eine ganz neue Geschichtsbehandlung einführen, - insofern sind seine Forderungen das Gegenstück zu BUCKLEs Bestrebungen. Er äußert auch selbst, daß die Geschichte, wie sie gegenwärtig tatsächlich getrieben werde, eine Vermischung von Geschichte in seinem Sinne mit Psychologie und Naturwissenschaft sei. Und zwar je strenger wissenschaftlich, - in dem auch in der Geschichte schließlich zu Anerkennung gelangten Sinn dieses Begriffs, - ein Historiker arbeitet, je näher er dem Ideal der Objektivität kommt, je mehr er sich, unter Zurückstellung seiner subjektiven Wertungen, der genauen Erforschung des genetisch-kausalen, streng einheitlichen Zusammenhangs der Dinge befleißigt, destoweniger ist seine Arbeit "Geschichte" im Sinne MÜNSTERBERGs! Ich glaube übrigens nicht, daß eine Geschichtsbetrachtung, wie MÜNSTERBERG sie wünscht, - d. h. eine solche, die ihrem Wesen nach nichts anderes ist als eine Herausarbeitung derjenigen Wertungen, die für das Wollen des Betrachters oder eines Kreises von Betrachtern bestimmend sind, - sich irgendwie konsequent und in wissenschaftlichem Geist durchführen läßt. Ich wiederhole: die gewaltige Forschungs- und Denkarbeit, die Jahrtausende hindurch auf die Geschichte verwendet worden ist, zeigt zweifellos den Weg, den diese Forschung zu gehen hat. In der vorliegenden Geschichtswissenschaft liegt eine umfassende Leistung vor uns. Wenn ich das Wesen der Geschichte erwäge, so will ich diese Leistung begreifen, nicht neue Forderungen und Erkenntniszwecke ganz anderer Art mir ausdenken. Die Forschungs- und Denkarbeit der Jahrtausende auf diesem Gebiet zeigt uns aber zweierlei: erstens, daß wir zu einem immer vollständigeren Verständnis - auch in teleologischem Sinn - des Entwicklungsganges der Menschheit nur auf dem Weg vordringen, daß wir den vielverschlungenen, darin liegenden Ursachsverknüpfungen aufs eindringendste nachgehen, - was sich zur Not vielleicht auch von MÜNSTERBERGs Standpunkt aus zugeben und erklären ließe -; zweitens aber auch, daß diese Klarlegung der kausalen Zusammenhänge geradezu die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Geschichtsforschung ist. Nach insofern liegt in den Paradoxen MÜNSTERBERGs ein gewisses Wahrheitsmoment, als allerdings, wie im zweiten Abschnitt ausführlich dargelegt werden soll, bei aller zusammenfassenden Geschichtsbetrachtung eine Auswahl des Bedeutungsvollen und damit eine gewisse Würdigung der Tatsachen stattfindet. Wie ernstlich auch der Historiker sich um Objektivität in dieser seiner Würdigung bemühen mag und bemühen soll, so liegt doch derselben unvermeidlich eine gewisse wertschätzende Weltanschauung zugrunde, die zum Teil in der praktischen, wollenden Seite unseres Wesens wurzelt. Insofern kommt immerhin in der Geschichtsauffassung eine gewisse wertende Gesamtanschauung der Welt, "ein System von zusammenhängenden Wollungen", zum Ausdruck. In keiner Weise läßt sich aber die Behauptung aufrecht erhalten, die Aufgabe der Geschichte bestehe nur darin, diese Wollungen systematisch darzustellen oder das eigentlich Geschichtliche liege eben in dem Moment der "teleologischen Interpration", der Wertung. Die Aufgabe der geschichtlichn Betrachtung bleibt das Verstehen der Vergangenheit in ihrem Leben, in ihren kausalen verknüpfungen. Die Wertung soll im wesentlichen nur die Auswahl der zu behandelnden Tatsachen und Kausalreihen beeinflussen und bestimmen. Für jede ernste wissenschaftliche Forschungsarbeit ergibt sich aus der Natur der Sache die Regel, daß die als bedeutsam erkannten und ausgewählten Tatsachen nachher möglichst objektiv behandelt werden sollen und daß jeder weitere Einfluß der subjektiven und wollenden Wertschätzung auf die Darstellung soweit als tunlich eliminiert werden muß.
1) Ähnlich SIGWART, Logik II, Seite 587f 2) Vgl. WUNDT, Logik II, 2. Abt., Seite 345 3) BERNHEIM. Lehrbuch etc. Seite 7; vgl. RANKE, Sämtliche Werke, Bd. 24, 1872, Seite 284 (in der Abhandlung "über die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik"). 4) Über die genetische Geschichtsauffassung siehe BERNHEIM, Lehrbuch etc., Seite 26f, 205f; vgl. HEINRICH von SYBEL, Über die Gesetze des historischen Wissens, 1864, Seite 16f (Vorträge und Aufsätze, 3. Auflage, 1885, Seite 11f), GEORG von BELOW in der Historischen Zeitschrift, Bd. 81, Seite 199f, sowie auch KARL LAMPRECHTs Dringen auf "entwickelnde" Geschichtsschreibung (Deutsche Geschichte I, 1894, Vorwort Seite VI, u. a.) 5) Ähnlich äußert sich MAX DESSOIR im Archiv für systematische Philosopie V, Seite 458 6) J. G. DROYSEN, Grundriß der Historik, 1882, bes. §§ 9, 11, 14f, 37 7) OTTOKAR LORENZ, Die Geschichtswissenschaft, 1886, Seite 71f, Anm.; HINNEBERG in der Historischen Zeitschrift, Bd. 63, Seite 34 8) Auch BERNHEIM rechnet ohne weiteres DROYSEN zu den Vertretern derselben "genetischen" Auffassung von der Aufgabe der Geschichte, der er selbst huldigt. (Lehrbuch usw., Seite 26, Anm.) 9) So z. B. GEORG von BELOW: "Wer überhaupt einem Ideal huldigt, der protestiert gegen den lähmenden Gedanken einer rein gesetzmäßigen Entwicklung" (Historische Zeitschrift, Bd. 81, Seite 245) 10) LORENZ, Die Geschichtswissenschaft, 1886, Seite 72 Anm. 11) Ich habe Gelegenheit gehabt, meine persönliche Auffassung über die ethischen Konsequenzen des Determinisums und des Indeterminismus in der "Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik", Bd. 108, Seite 202f darzulegen (in einem Aufsatz "Warum vertrauen wir den grundlegenden Hypothesen unseres Denkens?") 12) HUGO MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie I, 1900, Seite 109 - 137 13) OTTO RITSCHL, Die Kausalbetrachtung in den Geisteswissenschaften, 1901; JONAS COHN in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie uns Soziologie, 26. Jhg., Seite 1f. Auch A. E. TAYLOR in Mind, 1902 (New Series, Vol. XI), Seite 227f, bekämpft eingehend MÜNSTERBERGs "grundlegende Lehren von der Unvereinbarkeit der kausalen und der teleologischen Betrachtung und dem zeitlosen Charakter des Psychischen. 14) HUGO MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie I, bes. Seite 115, 125, 128f, auch Seite 18 |