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HANS KLEINPETER
Das Prinzip der Exaktheit
in der Philosophie


"Man darf sich nicht, wie es  Kant getan hat, der Annahme hingeben, daß das allgemeinere Gesetz unter  allen Umständen erhalten bleiben muß. Das ist nicht richtig; auch sind es nur Gründe der Zweckmäßigkeit, der Ökonomie, die uns veranlassen, an demselben nach Tunlichkeit festzuhalten. Von einem allgemeinen und notwendigen Wissen kann weder auf dem Gebiet der mathematischen Physik, noch auf dem der Geometrie die Rede sein."

"Ein Wissen kann niemals allgemein sein - was so selbstverständlich ist, daß es keiner Erörterung bedarf -, es kann auch nicht notwendig sein, denn es gibt keine Instanz, die mich zwingen könnte, etwas anerkennen zu müssen. Es ist wohl psychologisch mit manchen Sätzen ein gewisses Gefühl der Notwendigkeit verknüpft, aber das ist eben nur ein Gefühl und keine wirklich unabweisbare Notwendigkeit."

Eine noch immer ziemlich stark verbreitete Ansicht erklärt das Ansehen, dessen sich die sogenannten exakten Wissenschaften zu erfreuen haben, durch eine besondere Art von Gewißheit, die ihren Ergebnissen zukommen und die sich nicht etwa bloß graduell, sondern wesentlich von der anderer Wissenschaften unterscheiden soll. Insbesondere ist dies von philosophischer Seite - man denke nur an DESCARTES und KANT, die beide die Philosophie nach dem Muster der exakten Wissenschaften zu reformieren versuchten - oft und immer wieder betont worden.

Der Fortschritt in der modernen Erkenntnistheorie der exakten Wissenschaften hat jedoch bereits zur Genüge gelehrt, daß diese Ansicht nicht als eine stichhaltige betrachtet werden kann. Ist sie es aber nicht, dann muß das Wesen der Exaktheit in anderen Momenten gesucht werden und damit müssen folgerichtig auch die Versuche, die Philosophie nach exakt-wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu reformieren, eine andere Richtung nehmen sowie die bereits unternommenen eine andere Beurteilung erfahren. Auf diese Weise wird der Fortschritt in der speziellen Erkenntnistheorie dieser Wissenschaften von einer folgenschweren Bedeutung für das Gesamtgebiet der Philosophie, und es lohnt sich daher wohl, demselben näher zu treten und dessen vielseitigen Beziehungen weiter zu verfolgen.

Die ersten Philosophen, die ihre Ansichten über die Art der Erkenntnis in den exakten Wissenschaften geäußert haben, waren im Gegenstand selbst Laien, und es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß sie geirrt haben. Das gilt z. B. von LOCKE, HUME oder KANT. Seit deren Zeiten haben aber die exakten Wissenschaften gerade in der Richtung ihrer erkenntniskritischen Läuterung und Vertiefung sehr große Fortschritte gemacht. Eine Reihe bedeutender Erkenntnistheoretiker ist aus ihren Reihen erstanden und hat durch sorgsame Untersuchungen Licht über die Verfahrensweisen und damit über das Wesen dieser Wissenschaften und die Art ihrer Erkenntnis gebracht.

Eine Reihe von Ergebnissen dieser Untersuchungen kann heute als völlig gesichert gelten. Dazu gehört auf dem Gebiet der Physik die Erkenntnis, daß sämtliche Sätze derselben empirischen Natur sind, d. h. in Bezug auf die Art der Gewißheit kein prinzipieller Unterschied zwischen den Sätzen allgemeinsten und speziellsten Charakters besteht. Dies erkannt und zur fast allgemeinen Anerkennung im Kreis der Physiker gebracht zu haben, ist vor allem das Verdienst der historisch-kritische Untersuchungen ERNST MACHs über die Prinzipien der Mechanik und der Wärmelehre. Hier ist an jedem einzelnen der in der Geschichte namentlich der mechanischen Wissenschaften zahlreich aufgetretenen Versuche apriorischer Deduktion die Vergeblichkeit eines solchen Beginnens gezeigt worden. Ein allgemeiner physikalischer Satz ist eben nichts anderes als eine Zusammenfassung vieler spezieller Erkenntnisse; der Gewißheitsgrad ist daher bei beiden der gleiche. Der Vorzug, den wir dem allgemeinen Satz zuerkennen, beruth lediglich auf seiner Ökonomie, indem er auf einfachere Weise uns die Kenntnis eines größeren Tatsachengebietes vermittelt. Seine Wiedererkennung in einem speziellen Fall bildet die Quelle des Vergnügens, das wir bei einer sogenannten "Erklärung" einer physikalischen Erscheinung empfinden. Das alles sind Dinge, die sich in den Schriften MACHs und anderer ausführlich auseinandergesetzt finden, worauf hier nur verwiesen werden kann. (1) Wenn es in der Philosophie - namentlich in der deutschen - noch vielfach an Verständnis hierfür fehlt, so ist hieran wohl vornehmlich das in der Philosophie noch immer zahlreich vertretene Laienelement schuld. Auch die Unzulänglichkeit unserer Schuldbildung, in der die Naturwissenschaften noch keinen entsprechenden Platz, vor allem keine  ihnen  entsprechende Methode, gefunden haben, erklärt vieles. Doch geht auch aus ganz allgemeinen Betrachtungen hervor, daß es sich so verhalten muß. Eine Naturerscheinung ist ein Erlebnis (ein physischer Vorgang), dessen Eintritt nicht Sache unseres Beliebens ist, sondern der sich als eine Schranke unserer persönlichen Freiheit darstellt. Daraus folgt, daß wir ihm nichts vorschreiben können und auf die Rolle bloßer Beobachter angewiesen sind. Es manifestiert sich gleichsam in den Naturerscheinungen eine höhere Macht. Damit ist aber die Grundlage der phänomenalistischen Naturanschauung und Erkenntnistheorie gegeben.

Ähnlich wie mit der Physik und sämtlichen Naturwissenschaften überhaupt verhält es sich auch mit der Geometrie. Insofern man unter Geometrie die Lehre von den räumlichen Eigenschaften unserer Sinnenwelt versteht, ist sie eine physikalische Wissenschaft. Werden bei einer Landesaufnahme die Winkel eines Dreiecks gemessen, so ist keine logische Notwendigkeit dafür vorhanden, daß ihre Summe 180° ausmacht. Denkbar, d. h. möglich ist auch ein anderes Resultat. Würde es sich herausstellen, so wäre es unsere Sache, sich mit demselben durch eine passende Abänderung unserer Wissenschaft abzufinden.

Daß damit der geometrische Satz von der Winkelsumme im Dreieck aufgegeben werden müßte, folgt freilich daraus noch nicht. Man kann auch noch auf andere Weise einen Einklang in das System unseres Wissens bringen. In dieser Möglichkeit liegt nun wohl der Grund für die Annahme einer Apriorität geometrischer wie mathematisch-physikalischer Erkenntnisse. In einem gewissen Sinn hat KANT recht, wenn er sagt, daß wir unsere Anschauungsformen der Erfahrung der Sinnenwelt zugrunde legen. Die Sache verhält sich nämlich so: Finden wir in einem speziellen Fall eine Abweichung von dem, was wir zufolge unseres Systems zu erwarten hätten - was  stets  möglich bleibt - so haben wir zwei Methoden, um Abhilfe zu schaffen und einen Einklang herzustellen: entweder ein Fallenlassen des allgemeinen Satzes oder die Einführung neuer Elemente, die zur Erklärung der Abweichung von demselben dienen. Sollte sich z. B. etwa in einem besonderen Fall ein Widerspruch gegen das Trägheitsgesetz ergeben, so stünde es uns frei, dasselbe entweder für ungültig zu erklären oder aber es durch die Einführung neuer Kräfte wieder gültig zu machen. Was vom Trägheitsgesetz gilt, gilt von jedem allgemeineren wie spezielleren Gesetz der Physik oder Geometrie; jedes derselben spielt in diesem Sinn die Rolle der "Anschauungsform", die der Erfahrung unterlegt wird. Nur darf man sich nicht, wie es KANT getan hat, der Annahme hingeben, daß das allgemeinere Gesetz unter  allen  Umständen erhalten bleiben muß. Das ist nicht richtig; auch sind es nur Gründe der Zweckmäßigkeit, der Ökonomie, die uns veranlassen, an demselben nach Tunlichkeit festzuhalten. Wohl treten wir also mit vorgefaßten Ideen, mit Urteilen a priori an die Natur heran und  suchen  sie konform mit diesen zu erklären, indem wir die Form der spezielleren Gesetze ihnen zuliebe so lange abändern, bis eine Übereinstimmung hergestellt ist. Das alles ist aber nur eine Forschungsmaxime, nichts weiter. Von einem allgemeinen und notwendigen Wissen kann weder auf dem Gebiet der mathematischen Physik, noch auf dem der Geometrie die Rede sein. Das ist zumindest richtig, so lange man unter Geometrie die Lehre von gewissen Eigenschaften der Sinneswelt versteht.

Aber auch auf den Gebieten der reinen Mathematik und Logik kann von allgemeinen und notwendigen Wahrheiten nicht die Rede sein. Daß sie nie allgemein sind, nie sein können, ist, denke ich, ohne weiteres klar; gäbe es doch dann keine Meinungsverschiedenheit, keinen wissenschaftlichen Disput, was doch gewiß für keine Wissenschaft zutrifft (2). Notwendig sind sie aber ebensowenig, denn woher sollte der Zwang zu ihrer Anerkennung stammen?

Die alter platonische Definition der Wissenschaft ist also völlig umfangsleer. Es ist aber trotzdem nicht schwer, den Grund anzugeben, wegen dessen wir gewohnt sind, namentlich den beiden letztgenannten Wissenschaften den Charakter der Exaktheit zuzusprechen.

Den Ausgangspunkt der formalen Wissenschaften bilden Definitionen. Anstelle der durch die Erfahrung uns gegebenen Zusammenhänge treten bei ihnen selbst konstruierte auf. Diesen kommt natürlich der Charakter der Willkürlichkeit zu. Der Mathematiker ersinnt nach seinem Belieben Gebilde und untersucht die Konsequenzen seiner eigenen, ansich ganz willkürlichen Annahmen. Irgendeine Rücksicht auf die Erfahrung  braucht  er nicht zu nehmen, wenngleich sich die Mathematik tatsächlich mit Hinblick auf praktische Bedürfnisse, insbesondere der Naturforschung entwickelt hat.

Diesen Tatbestand drückt recht treffend GRASSMANN in seiner Ausdehnungslehre vom Jahr 1844 aus. Er sagt dort:
    "Denken ist nur in Bezug auf ein Sein, was ihm gegenübertritt und durch das Denken abgebildet wird; aber dieses Seine ist bei den realen Wissenschaften ein selbständiges, außerhalb des Denkens für sich bestehendes, bei den formalen hingegen ein durch das Denken selbst gesetztes, was sich nun wieder einem zweiten Denkakt als Sein gegenüberstellt."
Der Unterschied zwischen realer und formaler Wissenschaft wäre danach gar nicht so groß und tatsächlich faßt man ja reale wie formale Wissenschaften unter der gemeinsamen Bezeichnung der "exakten Wissenschaften" zusammen. Ob nun das "Sein", mit dem sich diese Wissenschaften beschäftigen, ein vom Subjekt selbst erzeugtes oder ein von außen gegebenes ist, bedingt für die  Methode  dieser Wissenschaften keinen allzu großen Unterschied. In beiden Fällen formuliert man dasselbe zunächst in einigen möglichst wenigen und einfachen Sätzen zusammen und schreitet von da ohne weitere Berufung auf die Erfahrung weiter. Diese Sätze pflegt man oft als Axiome zu bezeichnen. Dies geschieht namentlich in en Lehrbüchern der Elementargeometrie; aber auch in NEWTONs "Principia" findet sich das Wort in Bezug auf die Grundgesetze der Bewegung ("axiomata sive leges motus" [Axiome oder die Bewegungsgesetze - wp]) verwendet. Im einen Fall sind allerdings die Axiome willkürliche Annahmen, im andern dienen sie zum Ausdruck eines faktischen Tatbestandes. Ihre Wahrheit oder Zweckmäßigkeit geht die eigentliche exakte Wissenschaft im engeren Sinn des Wortes nichts an; sie überläßt diese Prüfung der Experimentalforschung.

Da aber von der Wahrheit der Prämissen die der Schlüsse abhängt, so folgt daraus, daß die exakten Wissenschaften die Wahrheit ihrer Ergebnisse selbst eigentlich gar nicht verbürgen können.  Das Wesen ihrer Exaktheit kann somit in der Erreichung eines besonders hohen Gewißheitsgrades ihrer Ergebnisse nicht gelegen sein.  Ja die sogenannte materiale Wahrheit liegt sogar jenseits ihres eigentlichen Bereiches; d. h., werden die gewonnenen Erkenntnisse in Form von kategorischen Urteilen ausgesprochen, so wird deren Wahrheit durch die Entwicklungen der exakten Wissenschaften allein nicht verbürgt und ist ihre Gewißheit nicht verschieden von der empirischer Erkenntnisse.

Die Stärke der exakten Wissenschaften liegt anderswo, die Frage nach ihrem Wesen muß zunächst so gestellt werden: Was leisten sie uns? Kommt auch den Wahrheiten, deren Erkenntnis sie uns vermitteln, nicht der Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit im strengen Sinn des Wortes zu, so ist ja doch noch nicht ausgeschlossen, daß sie uns anderweitige wichtige Dienste leisten. Achten wir auf die ihnen eigentümliche Leistung, son können wir schon bei EUKLID finden, daß dieselbe in einem eigentümlichen Band besteht, durch das viele spezielle Sätze mit einigen wenigen Grundsätzen verknüpft sind. Das Wort "Axiom" scheint ja, seiner etymologischen Bedeutung nach, nichts anderes als "Forderung" zu bezeichnen. Das heißt: die Richtigkeit der Axiome wird nicht behauptet, sondern gefordert; wird sie zugestanden, so gelten dann auch alle Entwicklungen, die aus ihnen gezogen werden. Ob aber die Axiome zugegeben sind oder nicht, darüber enthält sich die exakte Wissenschaft eines Urteils (3); ihre Sache ist es nur unter Zugrundelegung eines bestimmten Axiomensystems das System ihrer Einzelsätze abzuleiten. Die Frage nach der Gültigkeit der Axiome betrachtet sie dabei als außerhalb ihrer Aufgabe gelegen.

Die Form ihrer Urteile ist somit nicht die kategorische, aber auch keine problematische, sondern die hypothetische. Verfolgen wir die Bestrebungen der modernen exakten Wissenschaft - insbesondere die Reform der Mathematik durch die Schule von WEIERSTRASS - so sehen wir, wie dieselben auf eine Erreichung der Vollzähligkeit  aller  Bedingungen gerichtet sind, von denen die Wahrheit eines Satzes abhängt. Man spricht in der heutigen Mathematik von Exaktheit, wenn diese mit peinlichster Genauigkeit registriert sind, und spricht aus eben demselben Grund diesen Charakter den Arbeiten der großen Mathematiker des 17. und 18. Jahrhunderts, denen die Ausgestaltung des Infinitesimalkalküls zu verdanken ist, ab. Daraus erklärt sich z. B. die feindselige Stellung BERKELEYs, der selbst einer der exaktesten Philosophen war, gegen die zeitgenössische Mathematik.

Nicht also in der Wahrheit jener Sätze, die den Inhalt einer exakten Wissenschaft bilden, erkennt der Forscher ihr eigentliches Wesen, sondern vielmehr in der Ableitung derselben aus einigen wenigen Grundsätzen, die außerhalb seiner eigentlichen Wissenschaft stehen und für diese nur die Rolle von Lehrsätzen spielen.

Exakt genannt zu werden verdient somit ein wissenschaftliches System, wenn es die Bedingungen seiner Gültigkeit vollständig aufzählt. 

Daß es kein Wissen gibt, das unbedingt wäre, d. h. dessen Gültigkeit nicht von der Gültigkeit gewisser Annahmen abhängen würde, läßt sich durch einfache Überlegungen dartun; von allen andern abgesehen, ist jedes wissenschaftliche System die Schöpfung eines individuellen menschlichen Geistes; soll dasselbe für irgendjemand andern noch einen Wert besitzen, so muß doch offenbar zwischen den beiden Individuen ein ziemlich weitreichender Grad an Übereinstimmung vorhanden sein. Wenn ich z. B. einer einfachen Mitteilung über einen Tatbestand, die mir von einer zweiten Person zuteil gegeben wird, Glauben schenke, so habe ich damit bereits eine Reihe von Hypothesen als zutreffend angenommen.

Ein Wissen kann niemals allgemein sein - was so selbstverständlich ist, daß es keiner Erörterung bedarf -, es kann auch nicht notwendig sein, denn es gibt keine Instanz, die mich zwingen könnte, etwas anerkennen zu müssen. Es ist wohl psychologisch mit manchen Sätzen ein gewisses Gefühl der Notwendigkeit verknüpft, aber das ist eben nur ein Gefühl und keine wirklich unabweisbare Notwendigkeit. Wenn ich freilich übereinkomme, eine Annahme  A  festzuhalten, so kann ich nicht zugleich diese Annahme  A  nicht festhalten wollen; diese Art von "logischer" Notwendigkeit ist allerdings vorhanden, aber sie widerspricht nicht dem vorigen. Denn wenn ich aus dem Festhalten an  A  irgendeine Konsequenz  B  erschließe, so hängt das Zutreffen von  B  doch vom Zutreffen des  A  ab, und es liegt somit wieder nur ein hypothetisches Urteil vor.

Diese Erwägungen sind geeignet, die Position der exakten Wissenschaften zu stärken, denn sie zeigen, daß es keine über sie hinausgehenden Grade der Gewißheit gibt.  Eine unbedingte Erkenntnis ist unmöglich.  Was aber nicht nur möglich, sondern auch wirklich ist, das ist das Zusammenbestehen exakter Wissenschaft mit dem Prinzip der Relativität der Erkenntnis.  Die exakte Wissenschaft besteht aus hypothetischen und nicht aus kategorischen Urteilen. 

Man pflegt gewöhnlich die mit der Anwendung der Mathematik verbundenen Naturwissenschaften, wie Physik oder Astronomie, neben den mathematischen Wissenschaften als eigentlich exakte Wissenschaften anzusehen. Die Chemie steht gleichsam an der Grenze derselben und die sogenannten beschreibenden Naturwissenschaften werden meist nicht mehr dazu gezählt. Allein dieser Unterschied beruth seinem Wesen nach nur auf der Zahl und der Art der zu machenden Voraussetzungen. Je geringer diese an Zahl sind und je geläufiger und gleichartiger sie den verschiedenen Menschen erscheinen, aus je weniger Annahmen daher sich die am meisten allgemein gültigen Konsequenzen ziehen lassen, für desto exakter erklären wir die betreffende Wissenschaft. Der Unterschied ist aber nur ein gradueller, kein wesentlicher. Richtig betrieben wird jede Wissenschaft zu einer exakten.

Und damit kommen wir zu den Konsequenzen, die sich hieraus für die Erkenntnistheorie ergeben. Auch diese besitzt ein gutes Recht, eine exakte Wissenschaft zu werden. DESCARTES hat als erster ihr Prinzip - das des Zweifels oder der Voraussetzungslosigkeit - ausgesprochen; LOCKE ihr zuerst einen Inhalt gegeben, der zunächst freilich in eine wenig wissenschaftliche Form eingekleidet erschien. Ähnliches gilt von HUME; und wenn man bedenkt, daß BERKELEYs inhaltsschwere Ausführungen einerseits in einer für das Verständnis seiner Zeitgenossen zu einer aprioristischen Form, andererseits aber auch mit anderen philosophischen Anschauungen verwebt erschienen sind, kann man sagen, daß KANTs "Kritik der reinen Vernunft" den ersten Versuch einer streng wissenschaftlichen Darstellung der Erkenntnislehre darstellt. Daß dieser nicht vollkommen ausfallen konnte, ist nicht mehr als selbstverständlich; namentlich trat KANTs unglückliche Liebe zur Metaphysik, einen vollen Erfolg verhindernd, in den Weg. In dem Alter, in dem Kant seine Kritik geschrieben hat, fällt eine radikale Umwälzung der Denkweise eben etwas schwer, und so hat dann KANT auch nicht dieselbe Tiefe des Eindringens in die Probleme erreicht, wie BERKELEY oder auch nur HUME. Dann war KANT ja auch auf den damaligen Stand des Wissens angewiesen. Was aber hat es damals an Psychologie, Physiologie und Biologie gegeben? Und wenn auch schon eine Mathematik und eine mathematische Naturbetrachtung vorhanden war, so fehlte doch innerhalb derselben noch jedes Interesse für prinzipielle erkenntniskritische Fragen. Dabei war doch KANT in beiden Laie und ist als solcher bei einem noch älteren Standpunkt in beiden exakten Wissenschaften stehengeblieben. Immerhin hat er hier insofern richtig gesehen, als er wohl erkannte, daß der Philosophie (oder vielmehr der Erkenntnistheorie) nur aus der Verbindung mit den exakten Wissenschaften ein Heil erwachsen kann. Betrachten wir die Entwicklung der Erkenntnislehre nach KANT und fragen wir uns nach den wirklichen  positiven  Errungenschaften derselben, so stoßen wir nur auf Namen aus der Reihe exakter Forscher - GRASSMANN, MAXWELL, MACH, HERTZ, CLIFFORD, VOLKMANN, OSTWALD u. a. Es sei mir gestattet, hierbei in aller Kürze auf einige kritische Einwendungen, die gegen deren Leistungen - namentlichen die MACHs - erhoben worden sind, zu entgegnen. Eine Reihe derselben - wie z. B. die von STUMPF, BAUMANN, KÜLPE erhobenen - erklärt sich aus einem Mangel an naturwissenschaftlicher Vorbildung bzw. einer unzureichenden Auffassung der naturwissenschaftlichen Denkweise. Diese Herren sind jenem Studierenden der Naturwissenschaft aus dem ersten Semester zu vergleichen, von dem CLIFFORD spricht (4) und der sich von den mathematischen Hilfsmitteln der Naturforschung verblüffen läßt. Wieso eine einfache Empfindung über die Denkarbeit eines Naturforschers oder Technikers aburteilen kann, ist doch - sollte man meinen - ganz klar. Ein Astronom berechnet z. B. die Bahn eines Gestirns. Aufgrund derselben behauptet er das Eintreffen einer Empfindung unter gewissen Umständen. Es wird nun beobachtet, ob sich diese Prophezeiung erfüllt. Ist dies nicht der Fall, so ist die Theorie falsch. Daß es auf naturwissenschaftlichem Gebiet kein a priori gibt, hat MACH in seinen  physikalischen  Schriften, die wohl von seinen Kritikern überschlagen worden sind,  ausführlich  nachgewiesen. Was die Kritik HÖNIGSWALDs betrifft, von dem MACH selbst rühmt, daß er (HÖNIGSWALD) ihn zumindest gelesen hat, so erinnert sie mich unwillkürlich an den Bericht QUESTENBERGs vor WALLENSTEIN in SCHILLERs Drama. Gerade die Hauptleistungen MACHs auf erkenntnistheoretischem Gebiet werden mit der Bezeichnung lobenswerter "methodologischer Prinzipien" abgefertigt, worauf in eine eingehende Besprechung spezifisch philosophischer Ansichten MACHs eingegangen wird. Im Übrigen möchte ich der Antikritik MACHs nicht vorgreifen. Vergleichen wir nun mit den erkenntniskritischen Leistungen der exakten Forscher die der Philosophen nach KANT, so erscheinen sie uns  relativ  viel weniger bedeutungsvoll. Was aber das Verhängnisvollste ist und am meisten die Bilanz zu Ungunsten der philosophischen Seite verschiebt, ist der Umstand, daß noch heute, fast so wie zu KANTs Zeiten, "noch kein sicheres Maß und Gewicht vorhanden ist, um Gründlichkeit von seichtem Geschwätz zu unterscheiden. Letzteres findet leider noch immer bei günstigen äußeren Umständen Beachtung, was wohl sonst in keiner Wissenschaft mehr vorkommen dürfte. (5)

Aber auch noch in einer zweiten Hinsicht können die exakten Wissenschaften wie zu Zeiten KANTs für die Erkenntnistheorie als Muster wirksam sein, nämlich in methodischer Hinsicht. Das Prinzip der Exaktheit, auf dem die eigentümlichste Natur dieser Wissenschaften beruth, kann ebensogut auf die Erkenntnistheorie angewandt werden. So wäre es z. B. heute noch immer - trotz der umfangreichen Kant-Literatur eine dankenswerte Aufgabe, die Gesamtheit aller Voraussetzungen aufzuzählen, die der kantischen Erkenntnislehre zugrunde liegen und von denen ja KANT selbst die wenigsten (oder eigentlich gar keine) bemerkt hat. Die Mathematik hat in der von ABEL und WEIERSTRASS inaugurierten [eingeleiteten - wp] Epoche über ein halbes Jahrhundert gebraucht, bis sie einigermaßen ihre logische Konsolidierung durchgeführt hat; die Erkenntnistheorie wird gewiß nicht weniger lange dazu brauchen. Aber schon die Erkenntnis, daß es auf diesem Weg vorwärts gehen muß, ist noch lange keine gemeinsame Überzeugung aller Arbeiter auf diesem Gebiet geworden und so scheint es, als ob die Erkenntnislehre das Stadium der Kinderkranheiten noch nicht ganz überwunden hat. Möge es bald besser werden!
LITERATUR - Hans Kleinpeter, Das Prinzip der Exaktheit in der Philosophie, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Neue Folge, Bd. 128, Leipzig 1906
    Anmerkungen
    1) Man vgl. ERNST MACH, Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt, fünfte Auflage, Leipzig 1904. STALLO, Die Begriffe und Theorien der modernen Physik, Leipzig 1901. JEVONs, The principles of science, siebte Ausgabe, London 1900.
    2) In der Tat bereitet die Erklärung der Möglichkeit des Irrtums der kantischen Philosophie die größte Schwierigkeit; man denke nur an die Stelle: "Keine Kraft der Natur kann aber von selbst von ihren eigenen Gesetzen abweichen. Daher würden weder der Verstand für sich allein (ohne Einfluß einer anderen Ursache) noch die Sinne für sich irren". Daß, wie es dann später heißt, "der Irrtum nur durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand bewirkt wird", ist in dieser Allgemeinheit offenbar unrichtig.
    3) Eine Aufgabe der exakten Wissenschaften ist es wohl, die logische Zulässigkeit eines Axiomensystems zu prüfen, d. h. festzustellen, ob die einzelnen Sätze miteinander verträglich sind und ob sie die notwendigen und hinreichenden Bedingungen der zu folgenden Einzelsätze sind; darüber hinaus lehren sie aber nichts, sondern überlassen alles der Experimentalwissenschaft.
    4) WILLIAM KINGDON CLIFFORD, Über die Ziele und Werkzeuge des wissenschaftlichen Denkens, München 1896, Seite 7. Hier finden sich namentlich die Einwände STUMPFs von berufenster Seite (CLIFFORD war von Haus aus Mathematiker) ihre Erledigung.
    5) Man glaube ja nicht, daß auf exaktem Gebiet es an derlei Versuchen mangelt. Die Assistenten an den Sternwarten und anderen Instituten wissen hierüber ein Lied zu singen.