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ALFRED HÖLDER
Darstellung der
kantischen Erkenntnistheorie

[mit besonderer Berücksichtigung der verschiedenen Fassungen
der transzendentalen Deduktion der Kategorien]

[2/4]

"Streng genommen kann nur eine Einzelanschauung einen bestimmten Zeitmoment erfüllen; Kant mag an die Tatsache gedacht haben, daß nur ein Punkt es ist, den wir in einem bestimmten Augenblick fixieren, mit dem höchsten Grad an Schärfe und Deutlichkeit zu sehen vermögen. Da es aber doch faktisch ein größerer, kontinuierlicher Bilderkomplex ist, welchen zu gleicher Zeit im äußeren Raum zu sehen wir uns bewußt sind, so muß an eine psychische Tätigkeit gedacht werden, welche jener Unvollkommenheit der bloß sinnlichen Anschauung ergänzend zur Seite tritt, welche die nacheinander das Bewußtsein erfüllenden Einzelanschauungen in der Art festzuhalten, miteinander zu verknüpfen versteht, daß auch die schon vorher zusammengefaßten noch mit der ursprünglichen Frische und plastischen Anschaulichkeit uns gegenüberstehen: Subjekt dieser psychischen Tätigkeit ist die Einbildungskraft. Sie ist also tätig z. B. beim Anschauen jeder bemalten Fläche, jeder Bergkette, die in einem Augenblick vor meinem Auge steht, deren einzelne Teile ich aber nacheinander fixieren muß, um einen wirklichen Gesamteindruck zu gewinnen."


I. Die subjektiven Faktoren der Erkenntnis
[Fortsetzung]
2. Die Formen des Denkens

Doch die Welt unseres Bewußtseins besteht nicht bloß aus Anschauungen, sie besteht auch aus Begriffen. Sind die ersten Produkte der von einwirkenden Realitäten affizierten Sinnlichkeit, so beruhen die letzteren auf dem Verstand. Liegt der Stoff der ersteren in der Empfindung als dem Resultat der Einwirkung realer Dinge auf das anschauende Subjekt, so sind es die zu Anschauungen gestalteten Empfindungen, welche hinwiederum als Stoff der letzteren dienen. Auch dieser Stoff muß geformt und gestaltet werden, damit die abstrakten Vorstellungen des Verstandes, die Begriffe entstehen. Wie es schon im Begriff der Form liegt, wie es bei den Formen der Sinnlichkeit nachgewiesen wurde, so wird es auch bei denen des Verstandes sich zeigen: sie werden subjektiv apriorisch sein.

Die Formen der Sinnlichkeit hatte ein Prozeß der Analyse aus der konkreten Anschauungswelt herausgeschält; sollen die reinen Denkformen gewonnen werden, so wird unsere Gedankenwelt einer ähnlichen Analyse zu unterwerfen sein. Unsere Gedankenwelt ist nicht eine Summe einzelner, isolierter Begriffe; sie besteht aus Begriffsverknüpfungen, aus Urteilen. Überblicke ich die verschiedenartigen Urteile, welche sich in meinem Bewußtsein finden, und sehe ich ab von ihrem Inhalt, so ist es ihre Form, welche mir übrig bleibt; dies wird mich auf die Formen des Verstandes führen, welche als subjektiv apriorische zu denen der Sinnlichkeit die Parallele bilden. Bekannt sind die zwölf Urteilsformen, welche KANT der formalen Logik entnimmt; ihnen entsprechen die zwölf Kategorien. Die letzteren sind die Grundbegriffe, welche bei der Bildung der betreffenden Urteilsformen, wenn auch unbewußt, zur Anwendung gebracht werden (so der Begriff der Einheit bei der Bildung des singulären Urteils und dgl.); als solche sind sie die Grundformen des Denkens.

Doch sehen wir dieser Ableitung der Kategorien näher zu, so ist es ein weiterer, für uns neuer Begriff, welcher hier in die Mitte geschoben wird, der der Einbildungskraft (§ 10). Sie erscheint als ein Bindeglied zwischen Sinnlichkeit und Verstand, von denen als einzigen Erkenntnisvermögen wir bis jetzt gehört haben. Ihr Geschäft (Synthesis genannt) ist, das in Raum und Zeit gegebene Mannigfaltige zu verbinden. Ist das zu verbindende Mannigfaltige in der Erfahrung gegeben, so ist die Synthese empirisch; sie ist rein, wenn das Mannigfaltige a priori gegeben ist (11). Doch - dieser Zwischenfrage kann ich nicht unterdrücken - wie kann Mannigfaltiges a priori gegeben sein?

Darüber zunächst nur so viel: in der Raum- und Zeitanschauung, welche a priori in uns enthalten sind, sind eine Reihe von Formen und Verhältnissen als mögliche, gleichsam als latente, mitenhalten, insofern kann von einem in Raum und Zeit a priori Gegebenen (einem Mannigfaltigen der reinen Anschauung) die Rede sein. Eine vollständige Aufhellung des Sachverhaltes kann allerdings erst die folgende Darstellung geben; erst wenn der Begriff der Einbildungskraft als beherrschender Mittelpunkt der kantischen Erkenntnistheorie sich herausstellt sich herausgestellt haben wird, wird auch die Apriorität von Raum und Zeit in ihrem wahren Licht erscheinen. Ist nun diese doppelte Synthese das Geschäft der Einbildungskraft, so ist von vornherein zu erwarten, daß sie dabei von bestimmten Regeln und Normen sich wird leiten lassen; wird nun diese Synthesis auf Begriffe, werden diese ihre Normen zum Bewußtsein gebracht, so erhält man die Kategorien. Wenn nun aber doch die einzelnen zwölf Kategorien aus den Urteilsformen entwickelt werden, ist dies nicht eine doppelte, in sich widersprechende Ableitung? Es könnte scheinen. Doch wie, wenn die Einbildungskraft nichts wäre als der unbewußt arbeitende Verstand? wenn der Verstand beim Denken der Kategorien nur das Wesen seiner eigenen unbewußt produzierten Gebilde sich zum Bewußtsein brächte? Daß diese Auffassung, wie sie schon bei § 10 sich aufdrängt, der ganzen kantischen Erkenntnistheorie zugrunde liegt, soll die weitere Entwicklung zu zeigen versuchen.

Durch das Bisherige ist die Apriorität der Formen des Denkens, der Kategorien, gesichert. Als diejenigen Formen, deren unser Verstand mit psychologischer Notwendigkeit sich bedient, sind sie vor aller Erfahrung irgendwie in uns vorhanden, d. h. apriorisch.

Doch nun erhebt sich für KANT eine weitere Frage. Nachgewiesen ist die Apriorität von Raum und Zeit, wie der Kategorien; folgt daraus auch unser Recht, die letzteren auf die ersteren anzuwenden, die Anwendbarkeit der Kategorien auf alle räumlich-zeitlichen Anschauungen, die Übereinstimmung unserer Anschauungswelt mit unseren Denkformen ohne weiteres vorauszusetzen? Wäre die Auffassung der Einbildungskraft als des unbewußten Verstandes schon durch das Bisherige gesichert, so müßten wir eine sofortige Bejahung dieser Frage erwarten. Allein auch nach dem, was wir sonst über das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand im Bisherigen gehört haben, könnte uns eine besondere Untersuchung dieser Frage als überflüssig erscheinen. Sinnlichkeit und Verstand sind doch Erkenntnisvermögen ein und desselben Subjekts (daher die Aussicht auf einstigen Nachweis ihrer gemeinsamen Wurzel); so wird doch, was in die Formen der ersteren eingeht, auch den Grundbegriffen des letzteren angemessen sein! Allein die Darstellung geht noch einmal auf den Punkt zurück, da sie noch von keiner inneren Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Verstand etwas weiß; die Anwendbarkeit der Verstandesbegriffe auf die Anschauungen der Sinnlichkeit wird erst bewiesen in der transzendentalen Deduktion der ersteren.

In dreierlei Bearbeitungen führt KANT diese Deduktion aus. Wir beginnen mit der kürzesten und durchsichtigsten in den *Prolegomenen. Bekanntlich verfährt hier KANT analytisch. Von der Tatsache der wissenschaftlichen Erkenntnis wird ausgegangen. Ist diese Tatsache wirklich, so sind es auch die Bedingungen, unter welchen allein dieselbe möglich ist. In einem doppelten Sinn ist die wissenschaftliche Erkenntnis eine wirkliche Tatsache. Die Metaphysik im engsten Verstand, als Wissenschaft des Übersinnlichen, ist nur in dem Sinn Tatsache, daß sie als Wahrheit beanspruchendes Gedankensystem in den verschiedenartigsten Formen existiert; den Charakter der Erkenntnis hat sie zunächst nur in der Intention ihrer Urheber. Dagegen liegt die Tatsache der wissenschaftlichen Erkenntnis im strengen Sinne vor in der reinen Mathematik und Naturwissenschaft; hier haben wir Gedankensysteme von nicht bloß beanspruchter, sondern allgemein anerkannter Wahrheit. Daß die Tatsache der reinen Mathematik Raum und Zeit voraussetzt als apriorische Anschauungsformen, haben wir oben gehört; was die Tatsache der reinen Naturwissenschaft voraussetzt, das sind die Kategorien als apriorische auf sämtliche Anschauungen anwendbare Denkformen. Diesen Nachweis liefert die transzendentale Deduktion der Prolegomenen (P § 14-23). Es gibt eine Anzahl synthetischer Urteile, deren unbedingte Geltung für sämtliche Naturerscheinungen niemand bezweifelt, ohne daß irgendein empirisches, aus der Beobachtung dieser Erscheinungen erst abgeleitetes Element in ihnen sich vorfinden würde (so der Satz von der Beharrlichkeit der Substanz, von der Verursachung allen Geschehens: P § 15); sie bilden die reine Naturwissenschaft im strengsten Sinn. Fragt man nach den Bedingungen, unter welchen die Tatsache der reinen Naturwissenschaft allein möglich ist, so ist im Auge zu behalten, daß die Sätze dieser Disziplin nichts sind als das reine, von aller Zutat gesonderte System der apriorischen Elemente, welche in aller Naturwissenschaft, soll sie Wissenschaft sein, mitenthalten sein müssen; denn jeder Wissenschaft, als allgemein gültig und notwendig, müssen apriorische Elemente zugrunde liegen. Was die Möglichkeit der reinen Naturwissenschaft bedingt, bedingt somit die der Naturwissenschaft überhaupt.

Weiter aber hören wir, Natur sei der Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung (P § 16), somit Naturwissenschaft soviel wie Erfahrungswissenschaft; diese aber ist ohne weiteres der Erfahrung selbst gleichzusetzen, da von letzterer im strengen Sinn (P § 22 Schluß) erst dann die Rede sein kann, wenn mit unseren Anschauungen, diesem Inbegriff aller Gegenstände, aller Objekte, eine streng notwendige, gedankenmäßige Verknüpfung derselben sich verbunden hat. Existiert tatsächlich die reine Naturwissenschaft als ein System von allgemein anerkannter Wahrheit, so existiert ebenso tatsächlich die Naturwissenschaft überhaupt, die Erfahrung; die Bedingungen der reinen Naturwissenschaft sind auch die der Erfahrung. Auch die letztere besteht natürlich aus Urteilen, den sogenannten Erfahrungsurteilen; ihnen kommt - obigem Begriff der Erfahrung zufolge - objektive, für jedes Bewußtsein gültige Bedeutung zu im Unterschied von den nur subjektiv, d. h. individuell gültigen Wahrnehmungsurteilen. Was für jedes Bewußtsein gelten soll, muß in den Gesetzen des Bewußtseins mit Notwendigkeit begründet sein; die Grundgesetze des denkenden, urteilenden Bewußtseins (und um dieses handelt es sich ja hier), die Grundformen, deren es mit innerer Notwendigkeit sich bedienen muß, sind die Kategorien. Gibt es tatsächlich eine Erfahrung als einen die ganze Anschauungswelt umspannenden Komplex von Erkenntnissen, so sind auch die Kategorien auf diese Anschauungswelt anwendbar; nur durch ihre Anwendung erklärt sich ja die objektive Gültigkeit des Erfahrungsurteils, wie wir dann auch nur irgendeines dieser Urteile (z. B. die Sonne erwärmt den Stein) zu analysieren brauchen, um in einer bestimmten Kategorie (hier Kausalität) den Grund seiner objektiven Gültigkeit zu erkennen. Sind so die Kategorien als auf die Anschauung anwendbare Denkformen Bedingungen der Erfahrung, der Naturwissenschaft, so kann auch die Tatsache der reinen Naturwissenschaft nur unter der Voraussetzung dieser ihrer Bedeutung erklärt werden; denn eben in den Grundsätzen, welche aus der Anwendbarkeit der Kategorien auf die Anschauungswelt unmittelbar sich ergeben, besteht die reine Naturwissenschaft (P § 23).

Anders gestaltet sich Ausgangspunkt und Gedankengang der transzendentalen Deduktion in der ersten Auflage der Kr. d. r. V. Nicht wird hier in erster Linie die Tatsache der Naturwissenschaft und speziell der reinen Naturwissenschaft konstatiert, um die Anwendbarkeit der Kategorien auf die Anschauungswelt daraus zu erschließen; geht ja doch die ganze Kritik nicht analytisch, sondern synthetisch zu Werke, läßt, von den obersten Bedingungen ausgehend, die reine Vernunfterkenntnis vor unseren Augen entstehen. Die räumlich-zeitlichen Anschauungen der Sinnlichkeit sind gegeben ganz ohne Zutun des Verstandes und seiner Begriffe: mit welchem Recht werden da die letzteren auf die ersteren angewandt? wie sollen subjektive Bedingungen des Denkens objektive Gültigkeit haben? So formuliert zunächst die Kritik das Problem der Deduktion (§ 13, namentlich Seite 132). Stoßen wir uns nicht an den Ausdrücken "objektiv" und "subjektiv"; sagen wir nicht, es handle sich beidemale um etwas rein Subjektives, um die Anwendbarkeit unserer Denkformen auf unsere Anschauungen. Allerdings handelt es sich nur darum; aber beachten wir den spezifisch kantischen Begriff von objektiv und subjektiv. Wie er unter Objekten die gegenständlich vor uns stehenden Erscheinungen, d. h. unsere Anschauungen versteht, so ist ihm objektiv das auf diese Anschauungen sich Beziehende, für sie Gültige (objektive Gültigkeit des Raumes); deshalb erscheinen die Denkformen, solange ihre Anwendbarkeit auf die Anschauungen noch nicht nachgewiesen ist, aber auch nur so lange, als etwas rein Subjektives, deshalb wird den Vernunftideen, so notwendig sie dem Denken sich aufdrängen, die objektive Bedeutung abgesprochen.

Auf der anderen Seite schließt KANT aber auch dem gewöhnlichen Sprachgebrauch sich an, wonach objektiv das in der Sache selbst Begründete bezeichnet; hält er diesen Sprachgebrauch auch nicht im Sinne der Übereinstimmung mit dem realen Sein fest, so behält er doch die negative Seite desselben bei, indem ihm objektiv das von der Individualität des einzelnen Subjekts Unabhängige, Allgemeingültige ist; daher die Unterscheidung objektiver Erfahrungsurteile von bloß subjektiven Wahrnehmungsurteilen; daher die Bezeichnung der Anschauungen als bloßer Modifikationen des Gemüts (12) und damit als bloß subjektiver, welchen erst allgemeingültige Verknüpfung den Stempel des Objektiven aufdrückt. Beides zusammengenommen, ergibt sich als kantischer Begriff des Objektiven das in allgemeingültiger Weise auf Anschauungen sich Beziehende; objektiv ist das Prädikat jeder Vorstellung und jedes Vorstellens, wodurch in allgemeingültiger Weise Anschauungen verknüpft werden, und da die Deduktion, deren Entwicklung uns beschäftigt, die Brauchbarkeit der Kategorien zu einer solchen Verknüpfung erst beweisen soll, so sind ihr diese Kategorien, ehe der Beweis geliefert ist, nur subjektive Bedingungen des Denkens, allerdings (man erinnere sich ihrer Ableitung) alles Denkens, deren Anwendbarkeit auf die Anschauung, d. h. deren objektive Gültigkeit, erst zu erhärten ist. Es würde also, soll diese erste Formulierung des Problems der Deduktion die endgültige sein, zunächst die Möglichkeit vorausgesetzt, daß unsere Anschauungswelt unserer Denktätigkeit gegenüber als spröde und unzugänglich sich erweisen würde, die Formen der letzteren demnach auf die erstere gar nicht anwendbar wären; erst die Deduktion selbst hätte somit diese Möglichkeit auszuschließen, und wir könnten, wenn wir uns früherer Andeutungen erinnern, den Nachweis erwarten, nur unter unbewußter Mitwirkung der Kategorien sei die Anschauungswelt entstanden, deshalb müsse sie einer bewußt denkenden Verarbeitung durch dieselben Kategorien sich fügen; wir könnten den zweck der Deduktion im Voraus dahin bestimmen, die vorläufig vorausgesetzte Unabhängigkeit der Anschauung vom Denken in eine ursprüngliche Abhängigkeit zu verwandeln.

Doch machen wir einen Schritt weiter von § 13 zu § 14 der Kritik, so ist es eine andere Fassung, in welcher das Problem der Deduktion hier formuliert wird. Die Kategorien sollen als die einzigen Bedingungen nachgewiesen werden, welche es ermöglichen, etwas als Gegenstand zu denken, ohne welche Erfahrung der Form des Denkens nach, d. h. die zum Begriff der Erfahrung gehörige denkende Verknüpfung nicht stattfinden könnte (13). Wenn also eine gedankenmäßige Verknüpfung der Erscheinungen, d. h. Erfahrung, möglich sein soll, so ist sie es nur durch die Kategorien, das soll nach dieser Formulierung die Deduktion erweisen. Allein, daß alle denkende Verknüpfung irgendeines gegebenen Stoffes, wenn sie möglich ist, sich der Kategorien bedienen muß, die ja als Grundformen unseres Denkens bereits nachgewiesen sind, scheint selbstverständlich (14). Daß dagegen die denkende Verknüpfung des betreffenden Stoffes nun auch wirklich möglich ist, was nach der Formulierung des Problems in § 13 die Deduktion erst zu erweisen hat, scheint eines Beweises sehr zu bedürfen, und wir sind deshalb geneigt, die Art, wie § 14 das Problem der transzendentalen Deduktion formuliert, der des § 13 gegenüber für die weniger scharfe, weniger genaue zu halten.

Dennoch ist es bloß das § 14 formulierte Problem, welches die erste Auflage der Kritik nun wirklich zu lösen unternimmt. Setzt § 13 noch die Möglichkeit voraus, die Anschauungswelt könnte der denkenden Verknüpfung widerstreben, Erfahrung könnte somit ganz unmöglich sein, so ist diese Möglichkeit eine ganz abstrakte, die schon ein einfacher Blick auf die tatsächliche Wirklichkeit ausschließt. Erfahrung kann nicht unmöglich sein, denn sie ist wirklich. Niemals sind es bloß Anschauungen, welche wir in unserem Bewußtsein vorfinden, immer sind sie schon mit Gedanken und Urteilen, wenngleich in verschiedenem Grad, verbunden, von solchen gleichsam durchzogen. Sobald ich mir einer Anschauung bewußt werde (d. h. nach kantischem Sprachgebrauch irgendetwas wahrnehme), werde ich sie mit irgendeinem Wort bezeichnen und damit einen Gedanken ausdrücken, welcher sich mit dieser Anschauung mir unmittelbar verbindet. Genau genommen wird es immer ein Komplex von Einzelanschauungen, einen zusammengesetzte Anschauung sein, welche ich derart bezeichne, damit unter einen Begriff subsumiere, als einheitliches Objekt, als einheitlichen Gegenstand vorstelle (Baum, Haus, Mensch und dgl., wobei diese Begriffe zunächst als Prädikate in Urteilen auftreten, in welchen die noch unbestimmte Anschauung das Subjekt bildet: dies ist ein Baum usw.). Damit hängt unmittelbar zusammen, daß eine solche zusammengesetzte Anschauung mit anderen gleichartigen in der Weise zusammengefaßt wird, daß sie alle unter denselben Begriff subsumiert, mit demselben Wort bezeichnet werden. Erinnern wir uns noch der verschiedenartigen sonstigen Urteile, welche wir beim Erwachen wissenschaftlicher Reflexion immer schon in uns vorfinden, als mit unseren Anschauungen unmittelbar sich verbindend, bis hinauf zu den allgemeinsten Sätzen (Allgemeinheit der Kausalität und dgl.), die wir noch vor aller wissenschaftlichen Rechenschaft teils ausdrücklich im Munde führen, teils wenigsten anwenden, so mag es uns klar werden, in welchem Sinne KANT die Erfahrung als etwas tatsächlich Gegebenes bezeichnen kann.

Doch man könnte ihm einwenden: Erfahrung als gedankenmäßige Verknüpfung von Anschauungen sei freilich Tatsache, nicht aber eine Verknüpfung aller Anschauungen zu einem solchen Erfahrungsganzen; die § 13 aufgestellte Möglichkeit verworrener, der denkenden Verknüpfung von Haus aus widerstrebender Anschauungen könnte somit durch einen Hinweis auf die tatsächlich gegebene Erfahrung nicht widerlegt werden. Auch darauf hat KANT eine Antwort. Werden auch nicht alle unsere Anschauungen tatsächlich vom Netz der einen Erfahrungserkenntnis umschlungen (man denke an so viele rasch vorübergehende, kaum beachtete, bald wieder vergessene Erscheinungen), so ist es doch rein unmöglich, daß eine unserer Anschauungen in das Ganze unserer Erfahrung nicht eingehen könnte; mit dem Bewußtwerden einer Anschauung ist ja fast unmittelbar ihre Benennung, ihre Subsumierung unter einen Begriff gegeben: was jeder derartigen denkenden Bearbeitung widerstrebt, könnte gar kein Inhalt meines Bewußtseins, gar nicht meine Anschauung sein (15). In diesem Sinne ist es also die Tatsache der Erfahrung als Verknüpfung all meiner Anschauungen zu einem einheitlichen Ganzen, von welcher die Deduktion der ersten Auflage ausgeht; eine Analyse dieser Tatsache führt zurück zu der allein sie ermöglichenden Bedingung: der Anwendbarkeit unserer Denkformen auf sämtliche unsere Anschauungen.

Doch haben wir mit dem allem nicht unseren obigen Satz wieder zurückgenommen, welcher den Ausgangspunkt unserer Deduktion (in der ersten Auflage der Kritik) von dem der Prolegomenen unterschieden wissen wollte? Schon die bisherige Darstellung hat angedeutet, daß dem nicht der Fall ist. Was die Prolegomenen als Tatsache voraussetzen, um es analytisch zu erklären, ist die Erfahrungswissenschaft, insbesondere das System der apriorischen, ihren wissenschaftlichen Charakter bedingenden Elemente derselben, die reine Naturwissenschaft. Dies geschieht entsprechend den Grundfragen, in welche das Erkenntnisproblem in den Prolegomenen sich spaltet (P § 5 fin.). Die Einleitung der Kritik hat diese Grundfragen erst in der zweiten Auflage formuliert. In der Deduktion der ersten Auflage liegt es entschieden näher, unter Erfahrung nicht die streng wissenschaftliche Erkenntnis der Erscheinungen zu verstehen, sondern den Komplex all der Gedanken und Urteile, welche vom Erwachen des geistigen Lebens an unter den mannigfachen Einflüssen von Erziehung und Unterricht mehr oder weniger instinktiv sich bilden und mit unseren Anschauungen zu einem Ganzen zusammenwachsen, welches die erwachende wissenschaftliche Reflexion als bereits gegeben vorfindet. Ist Erfahrung im kantischen Sinne eine Erkenntnis der Erscheinungen, eine Zusammenfassung derselben zu einem gedankenmäßig verknüpften Ganzen, so wird, wie es Grade und Stufen der Erkenntnis gibt, eine gewisse Weite dieses Begriffs sich nicht leugnen lassen. Den strengsten Begriff der Erfahrung, der ihre höchste Stufe bezeichnet, mag man in der oben angeführten Stelle P § 22. fin. ausgedrückt finden, während der allgemeinste Begriff derselben z. B. Seite 159 der Kritik uns entgegentritt, wo Erfahrung als Erkenntnis der Gegenstände der Sinne durch verbundene Wahrnehmungen bezeichnet wird (16). Jedenfalls mag diese Unterscheidung eines weiteren und engeren Begriffs von Erfahrung als ein Versuch sich rechtfertigen, die, wie mir scheint, noch nicht genügend aufgehellte transzendentale Deduktion von einer neuen Seite zu beleuchten.

Die Tatsache der Erfahrung, einer Verbindung unserer Anschauungswelt mit instinktiv gebildeten Begriffen und Urteilen, ist es also, von welcher die Deduktion der ersten Auflage ausgeht. Hat die Erfahrung zwei innigst verbundene Elemente, Anschauung und Denken, so liegt der Möglichkeitsgrund des letzteren jedenfalls in den Kategorien (17). Auch der der ersteren? Die Beantwortung dieser Frage wird für die Auffassung der Deduktion entscheidend sein. Hier müssen wir es nun im Voraus bemerkenswertg finden, daß § 14 zunächst allerdings die Kategorien als Möglichkeitsgrund des zur Erfahrung gehörigen Denkelements bezeichnet werden, sofort aber (Absatz 2) das "Prinzipium" der transzendentalen Deduktion dahin bestimmt wird, daß die Kategorien erkannt werden müssen als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, es sei der Anschauung, die in ihr angetroffen wird, oder des Denkens. Daß es in der Tat als KANTs wahre Meinung betrachtet werden muß, schon die Anschauungswelt, wie sie faktisch uns gegeben ist, sei nur unter Mitwirkung der Kategorien entstanden, erhellt sich daraus, daß nur unter dieser Voraussetzung die einzelnen Stadien der Deduktion, wie die Schlußformulierung des Resultats, sich verstehen lassen, wie dann auch nur so die psychologischen Grundbegriffe (namentlich der der Einbildungskraft) zu ihrem Recht kommen, welche gerade hier eine Hauptrolle spielen.

Wie sich KANT die Mitwirkung der Kategorien bei der Entstehung der Anschauungswelt näher gedacht hat, wird allerdings noch gefragt werden müssen. Die Welt von Erscheinungen, welche als kontinuierlichen, räumlich-zeitlichen Bilderkomplex jeder Einzelne in sich vorfindet, sobald er wissenschaftlich über sich nachdenkt, sie hat - wie KANT es auffaßt - sich jedenfalls erst Hand in Hand mit der Entwicklung seines denkenden, urteilenden (zunächst freilich noch nicht wissenschaftlichen) Bewußtseins gebildet. Dieses denkende bewußtsein bedient sich natürlich der Kategorien, zunächst allerdings nur instinktiv, ohne vom eigenen Tun und seinen Gesetzen sich Rechenschaft zu geben. Nur, wer begonnen hat, in den Kategorien zu denken, hat auch ein Objekt (18), nur dem gestalten sich seine Einzelanschauungen zu einheitlichen Gesamtbildern, nur den befähigt die Stufe seiner geistigen Entwicklung zum rechten Sehen, zum rechten Anschauen. Diese mittelbare Bedingtheit unserer Anschauungen durch die Kategorien und den ihrer sich bedienenden Verstand werden wir jedenfalls festhalten müssen; ob aber auch eine unmittelbare? Sehen wir ab vom Parallelismus, in welchem den Gesetzen geistiger Entwicklung zufolge die Bildung unserer Anschauungswelt mit der Entwicklung unseres denkenden Bewußtseins steht - sind die Anschauungen selbst, die ja immer als fertige ins Bewußtsein fallen, vielleicht Produkte einer, ebenfalls der Kategorien sich bedienenden, unbewußten Tätigkeit? Ist die Einbildungskraft, welche aufgrund der Empfindungen die Außenwelt konstruiert (19), vielleicht ein der Kategorien sich bedienender unbewußter Verstand? Nähert sich KANT bereits der Theorie der unbewußten Schlüsse bei SCHOPENHAUER und HELMHOLTZ? Wie gesagt, ob die Mitwirkung der Kategorien bei der Bildung unserer Anschauungen eine mittelbare oder unmittelbare ist, dies wird auch dann noch sich fragen, wenn die Grundthese, die wir nachzuweisen gedenken, die Entstehung unserer Anschauungswelt unter Mitwirkung der Kategorien, sollte festgestellt sein.

Doch versuchen wir nun, unter Voraussetzung dieser Grundthese den Gang der Deduktion der ersten Auflage uns vorzuführen und sehen wir zu, ob nicht eben auf dieser Basis ein befriedigendes Verständnis derselben sich uns ergibt. Wenn wir über den weitläufigen Apparat uns wundern, welchen diese Deduktion, im Unterschied von der der Prolegomenen, mit sich schleppt, so mögen wir bedenken, daß KANT hier nicht bloß den Zweck verfolgt, das Daß der objektiven Gültigkeit der Kategorien aus der Tatsache der Erfahrung nachzuweisen, sondern auch die weitere, zur Deduktion nicht mehr notwendig gehörige Frage ihrer Lösung zu nähern: wie denn durch die Kategorien Erfahrung zustande kommt. (20)

Die Tatsache der Erfahrung - einer Verbindung unserer Anschauungswelt mit instinktiv gebildeten Begriffen und Urteilen - soll analysiert, daß und wie sie nur durch die Kategorien möglich ist, soll gezeigt werden. Beginnen wir mit dem ersten Stück der Erfahrung, der Anschauung. Wenn die transzendentale Ästhetik die Sinnlichkeit als dasjenige Vermögen bezeichnet, welches Anschauungen liefert, so ist dies jetzt näher zu bestimmen und zu beschränken. Was die Sinnlichkeit für sich liefert, sind nur isolierte Einzelanschauungen, sinnliche Einzelvorstellungen; jedoch nur vom abstrakten wissenschaftlichen Denken werden diese Produkte der Sinnlichkeit für sich isoliert; was dagegen als gegeben in unserem Bewußtsein sich vorfindet, sind immer schon verbundene Anschauungen, zusammenhängende Anschauungsbilder. Die Anschauungen in dieser ihrer faktischen Gestalt sind somit nicht auf die Sinnlichkeit allein zurückzuführen; Raum und Zeit sind kein Prinzip der Verbindung, sondern der Trennung; die Sinne für sich vermögen nichts zusammenzusetzen (21), vielmehr setzt jede Zusammensetzung ein selbsttätiges Vermögen voraus, als welches zunächst die Einbildungskraft sich uns darbietet. Näher ist es eine Reihe von Verknüpfungen (Synthesen), durch welche die Einzelanschauungen der Sinnlichkeit zu den Anschauungsbildern zusammengesetzt worden sind, wie wir sie faktisch im Bewußtsein vorfinden. Zunächst war dazu nötig die Synthesis der Apprehension, welche die je einen Zeitmoment erfüllenden Einzelanschauungen der Reihe nach durchlaufen hat und zu einem Ganzen zusammenfaßt. Damit mußte sich aber verbinden die Synthesis der Reproduktion; das Durchlaufen der Einzelanschauungen durfte nicht so sein, daß bei jeder späteren die vorhergehenden aus dem Bewußtsein verschwinden; beim Übergang zu jedem folgenden Anschauungselement mußten vielmehr immer die vorhergehenden festgehalten werden, sonst hätten keine zusammenhängenden Bilder entstehen können, wie wir sie doch im Bewußtsein vorfinden.

Was diese zwei Synthesen leisten, das ist somit die Herstellung der kontinuierlichen sinnlich lebhaften, plastisch gestalteten Bilder, welche das Wesen der tatsächlich gegebenen Anschauungswel konstituieren. Streng genommen - davon geht KANT aus - kann nur eine Einzelanschauung einen bestimmten Zeitmoment erfüllen; er mag an die Tatsache gedacht haben, daß nur ein Punkt es ist, den wir in einem bestimmten Augenblick fixieren, mit dem höchsten Grad an Schärfe und Deutlichkeit zu sehen vermögen. Da es aber doch faktisch ein größerer, kontinuierlicher Bilderkomplex ist, welchen zu gleicher Zeit im äußeren Raum zu sehen wir uns bewußt sind, so muß an eine psychische Tätigkeit gedacht werden, welche jener Unvollkommenheit der bloß sinnlichen Anschauung ergänzend zur Seite tritt, welche die nacheinander das Bewußtsein erfüllenden Einzelanschauungen in der Art festzuhalten, miteinander zu verknüpfen versteht, daß auch die schon vorher apprehendierten [zusammengefaßten - wp] noch mit der ursprünglichen Frische und plastischen Anschaulichkeit uns gegenüberstehen: Subjekt dieser psychischen Tätigkeit ist die Einbildungskraft. Sie ist also tätig z. B. beim Anschauen jeder bemalten Fläche, jeder Bergkette, die in einem Augenblick vor meinem Auge steht, deren einzelne Teile ich aber nacheinander fixieren muß, um einen wirklichen Gesamteindruck zu gewinnen. Diese Zusammenfassung der aufeinander folgenden Eindrücke zu einem gleichzeitig dem Bewußtsein sich aufdrängenden sinnlich plastischen Bild ist aber natürlich nur bei solchen Einzelanschauungen möglich, die sowohl in der Richtung von der ersten zur letzten, als von der letzten zur ersten durchlaufen werden können (22). Werden wir so das verdeutlichen müssen, was über die Synthesis der Apprehension zu lesen ist (23), so ist eines allerdings hinzuzufügen. Wenn die Einbildungskraft mit dem Stoff der räumlich-zeitlichen Einzelanschauungen sich zu tun macht, so geht sie nicht bloß darauf aus, ein im äußeren Raum sich darstellendes, farbenfrisches Anschauungsganzes zusammenzusetzen; auch in matteren, farbloseren Erinnerungsvorstellungen bildet sie das früher Angeschaute ab, sie kombiniert diese Erinnerungsvorstellungen sowohl untereinander als mit den später ins Bewußtsein tretenden Anschauungen, so, wenn wie mit dem Gesichtsbild eines roten Körpers von bestimmter Gestalt die Vorstellung der Schwere verbindet, welche an gleichartigen Körpern sich früher gezeigt haben und dessen sich erinnert, daß solchen Körpern der Name Zinnober gebührt (24).

Für beide Tätigkeiten, für die Konstruktion zusammenhängender Anschauungsbilder, wie für die Bildung und Kombinierung von Erinnerungsvorstellungen, hat KANT den einen Namen der reproduktiven Synthesis der Einbildungskraft, ja einmal gibt er eine Definition von Einbildungskraft, welche nur die letztere Seite in Betracht zieht (25). Manche Unklarheit, welche einzelne Sätze der Deduktion drückt, hängt entschieden zusammen mit dem Mangel an scharfem Auseinanderhalten dieser zwei Seiten der Einbildungskraft; wer aber deshalb meinen sollte, die vom Sprachgebrauch abweichende erste Bedeutung von "Einbildungskraft" sei lediglich in KANT hineingetragen, dem muß ich vor allem Seite 675 der Kritik entgegenhalten (26).

Doch die Deduktion ist noch nicht zu Ende. Nicht jede Synthesis der Reproduktion wäre imstande gewesen, zusammenhängende Anschauungsbilder zu liefern; nicht eine solche, die die durchlaufenden Einzelanschauungen ohne alle Regel wiederholt und zusammengefügt hätte. Man denken an ein größeres Gemälde, dessen einzelne Teile ich in beliebiger Ordnung fixieren kann, und die doch nur in ganz bestimmter Zusammensetzung ein einheitliches Gesamtbild geben. Nach einer Regel (von KANT Assoziation der Vorstellungen genannt) mußte somit diese Reproduktion vor sich gehen; aber nicht jede beliebige Regel war dazu tauglich. Nach einer notwendigen Regel mußten die Einzelerscheinungen verknüpft werden, sollten die zusammenhängenden Gesamtbilder unserer gegebenen Anschauungswelt daraus entstehen. Könnte nach seinem Geschmack der Einzelne eine beliebige Regel sich wählen, oder müßte nach seiner Individualität jeder einer besonderen (subjektiven) Regel sich bedienen, wäre diese Regel also objektiv im Wesen der Erscheinungen gar nicht begründet, so ließe sich nicht erklären, daß, wie wir doch annehmen müssen (vgl. oben), alle Erscheinungen in diesen geordneten Anschauungskomplex eingehen können, alle auch, was damit zusammenhängt, zum Ganzen einer Erfahrungserkenntnis sich verbinden lassen. Auch sind wir - dürfen wir in KANTs Sinn wohl beifügen - dessen uns bewußt, daß wir die Anschauungswelt in dieser und keiner anderen Kombination sehen müssen, sowie, daß unsere Nebenmenschen zu derselben Kombination, wie wir, durch innere Notwendigkeit gezwungen sind, daß z. B. dasselbe Gemälde für uns ebenso aussieht, wie für alle andern. Die objektive Regel, nach welcher somit die Verknüpfung der Einzelerscheinungen vor sich gehen mußte, nennt KANT ihre Affinität. Diese selbst ist aber nichts anderes als die notwendige Beziehung, in welcher sie als meine Vorstellungen zu den Gesetzen meines Bewußtseins stehen müssen; diese Regel ist objektiv als im Wesen der Erscheinungen, d. h. in den Gesetzen des Bewußtseins begründet und damit für jedes Bewußtsein gültig. Diese Gesetze des verknüpfenden Bewußtseins sind aber nichts anderes als die Kategorien: das eine Stück der Erfahrung, die Anschauungswelt in ihrer faktischen Gestalt, ist somit nur unter Mitwirkung der Kategorien zustande gekommen, setzt demnach die Anwendbarkeit der Kategorien auf die Anschauungen voraus.

Doch noch von einer anderen Seite her kommt die Deduktion auf dasselbe Resultat. KANT geht nicht bloß von dem einen Stück der tatsächlichen Erfahrung, der Anschauungswelt aus, er reflektiert auch noch besonders auf die damit sich verbindenden instinktiven Begriffe und Urteile, um als deren Voraussetzung die Kategorien nachzuweisen (27). Unsere Einbildungskraft, wie wir hörten, kombiniert die Einzelanschauungen zu Gesamtbildern, die als kontinuierliche Körperwelt im äußeren Raum sich uns darstellen. Jedes derartige Gesamtbild wird benannt und damit unter einen Begriff subsumiert. Wir reden von irgendeinem Körper, welchen wir sehen; wir bezeichnen ihn als den Gegenstand, auf welchen unsere anschauende Tätigkeit gerichtet ist. Nicht als wollten wir mit Gegenstand etwas bezeichnen, was unabhängig von unserem Vorstellen existieren würde; jede notwendige, nicht willkürliche Kombination unserer Anschauungselemente ist es, die wir als Gegenstand bezeichnen. Vermöge innerer Notwendigkeit kombinieren wir einen bestimmten Stamm, bestimmte Äste und bestimmte Blätter zu einem Gesamtbild: dies ist ein Gegenstand, welchen wir Eiche nennen; eine andere Kombination ähnlicher Elemente nennen wir Buche usw. Beachten wir, daß auch in dieser, wie in anderen Beziehungen, der bloß vorläufige Charakter der transzendentalen Ästhetik deutlich zutage tritt. Der dort gebrauchte Ausdruck "mittels der Sinnlichkeit werden uns Gegenstände gegeben" ist als ungenau nun dahin zu restringieren, daß nur die zu Gegenständen zusammenzusetzenden Elemente im strengen Sinn gegeben werden, während die Gegenstände (Objekte) selbst immer schon auf einer durch uns vollzogenen (notwendigen) Verknüpfung dieser Elemente beruhen. Insofern können allerdings auch jetzt noch die Gegenstände als gegeben bezeichnet werden, als sie dem Bewußtsein immer schon als fertige sich aufdrängen, indem durch den Begriff, welchen wir von denselben uns bilden, nur diejenige notwendige Verknüpfung gedacht wird, welche schon vorher durch die Einbildungskraft vollzogen worden war.

Doch nicht bloß eine Mannigfaltigkeit von Einzelanschauungen ist es, welche wir so zu sinnlichen Gesamtbildern kombinieren; viele solcher Gesamtbilder, welche wir früher geschaut und nun in der Erinnerung reproduziert haben, verbinden wir zur Einheit eines Begriffs, indem wir ihnen denselben Namen beilegen. Im Begriff bringe ich mir eben die konstante Regel zu Bewußtsein, nach welcher gleichnamige Anschauungsbilder durch eine Kombination der Einzelelemente konstruiert werden. Soll ich aber die Anschauungsbilder unter den Begriff subsumieren und damit Urteile über sie bilden (das ist ein Körper, das ist ein Dreieck), so muß es mir möglich sein, den Begriff in den einzelnen Bildern wiederzuerkennen, ich muß imstande sein, in einem Körper, welchen ich sehe, die zum Begriff gehörige Kombination von Ausdehnung, Gestalt usw. wiederzufinden. Diese "Synthesis der Rekognition im Begriff", wie KANT sie nennt, ist aber selbst nur möglich, wenn ich, der ich früher den Begriff gebildet habe, und ich, der ich nun die Anschauung darunter subsumiere - wenn diese zwei Iche ein und dasselbe unter allem Wechsel mit sich identische Selbste sind. Wäre ich jetzt ein ganz anderer als früher, wäre gar keine Kontinuität des Bewußtseins zwischen dem gegenwärtigen und vergangenen Zustand, so wäre es mir unmöglich, meine jetzigen Vorstellungen mit meinen früheren zu vergleichen, geschweige denn deren Übereinstimmung zu erkennen. Ist so die Einheit meines Bewußtseins die Bedingung, unter der allein jene Rekognition stattfinden kann, so hängt damit unmittelbar zusammen, daß alle meine Vorstellungen dieser Einheit des Bewußtseins und ihren Gesetzen angemessen sein müssen. Diese sind aber, wie wir schon wissen, eben die Kategorien: Übereinstimmung unserer ganzen Vorstellungswelt mit den Kategorien, Anwendbarkeit der letzteren auf die erstere, dies ist also die Bedingung auch des zweiten Stücks der Erfahrung, der instinktiven Begriffe und Urteile, welche sich mit unseren Anschauungen ´verbinden. Der Kategorien sind viele; in allen Teilen meiner Anschauungswelt muß ich die eine oder andere derselben wiedererkennen; so kann KANT sagen (Seite 678): "Die Kategorien sind die Gründe der Rekognition des Mannigfaltigen."

Zu dieser Darstellung der Deduktion der ersten Auflage sei es gestattet, noch einiges hinzuzufügen. Das Wesentliche derselben dürfte in dem Nachweis liegen, daß schon unsere Anschauungswelt eine von Haus aus nach den Kategorien geordnete ist. Nur bei dieser Auffassung wird sich behaupten lassen, kommt die Art und Weise zu ihrem Recht, wie am Schluß der Deduktion das Ergebnis derselben formuliert wird (Seite 678 unten am Schluß des 3. Abschnittes der Deduktion, vor der "summarischen Vorstellung"). Wenn wir eine Gesetzmäßigkeit in den Erscheinungen erkennen, so ist dies nur dadurch möglich, daß wir selbst ursprünglich diese Gesetzmäßigkeit hineingelegt haben. Die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen aber beruth auf ihrer Zusammenstimmung mit den Kategorien: aus den letzteren werden ja alle apriorischen Naturgesetze abgeleitet (man vergleiche die Grundsätze des reinen Verstandes). Wenn wir also beim Nachdenken über die Anschauungswelt ihre Regelmäßigkeit erkennen, so bringen wir damit nur diejenigen Gesetze uns zu Bewußtsein, nach denen wir selbst diese Anschauungswelt konstruiert haben. Die Anschauungswelt, wie sie als faktisch gegeben sich aufdrängt, sobald wir wissenschaftlich darauf reflektieren, ist durch unsere eigene Tätigkeit nach den Normen der Kategorien so zusammengesetzt worden: deshalb ist es uns möglich, erkennend die Kategorien in ihr wiederzufinden, eine Naturwissenschaft auf dem Grund derselben aufzubauen. Ob jenes Geordnetsein der Anschauungswelt durch die Kategorien als ein mittelbares oder unmittelbares zu fassen ist, ist allerdings hiermit noch nicht entschieden. Doch auch diese Frage dürfte sich erledigen, wenn wir zu einem weiteren Punkt übergehen. Nicht bloß die Schlußformulierung des Resultats der Deduktion kommt nur bei unserer Auffassung zu ihrem Recht; auch auf die psychologischen Grundbegriffe, welche dem Ganzen zugrunde liegen, insbesondere den der Einbildungskraft, fällt nur so das volle Licht.
LITERATUR - Alfred Hölder, Darstellung der kantischen Erkenntnistheorie, Tübingen 1873
    Anmerkungen
    11) Diese reine Synthesis heißt auch die transzendentale; in der ersten Ausgabe der Deduktion 3. Abschnitt, Absatz 5, Seite 674: "eben dieselbe Einheit (der Apperzeption), bzw. auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, (heißt) der reine Verstand"; vgl. auch Seite 677. Manchmal allerdings (z. B. Seite 663, Nr. 2 fin.) beziehen sich diese Ausdrücke auf die nach apriorischen Normen geschehende Verbindung des empirisch Gegebenen.
    12) Seite 681 in der (der ersten Ausgabe angehörigen) "summarischen Vorstellung der Richtigkeit und einzigen Möglichkeit dieser Deduktion".
    13) § 14, Abschnitt 1, außerdem in der ersten Ausgabe "der Deduktion zweiter Abschnitt" Nr. 4 "vorläufige Erklärung usw." Absatz 3 "die ... Kategorien sind nichts anderes, als die Bedingungen des Denkens in einer möglichen Erfahrung".
    14) Nicht so ist es in den Prolegomenen, da dem der transzendentalen Deduktion der Kritik entsprechenden Abschnitt (P § 14-23) die Entwicklung der Kategorien selbst als reiner Denkformen nicht vorangegangen ist.
    15) Seite 669 unten (in der bereits zitierten "vorläufigen Erklärung") "diese (die Wahrnehmungen) würden aber alsdann (wenn keine notwendige Einheit des Bewußtseins in ihnen angetroffen würde) zu keiner Erfahrung gehören, folglich - ohne Objekt und nichts . . . als ein Traum sein"; außerdem siehe Seite 674.
    16) Vgl. auch "über die Forschritte der Metaphysik seit Leibniz und Wolff", R I, Seite 506, wo dieselbe Definition aufgestellt wird.
    17) vgl. die hier in Anmerkung 13 angeführten Stellen.
    18) Man könnte hier an einen Satz denken, der in einem Brief Kants an Marcus Herz sich findet (R XI, Seite 54): "Dagegen ich den Begriff von einem Objekt überhaupt (der im klarsten Bewußtsein unserer Anschauung gar nicht angetroffen wird) dem Verstand . . . zuschreibe".
    19) Daß dies jedenfalls Kants Ansicht ist, darüber mehr weiter unten.
    20) Vgl. besonders in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" die große Anmerkung unter der Vorrede (R V, Seite 313-316).
    21) Vgl. auch "Fortschritte der Metaphysik usw." (R I, Seite 508): "Alle Vorstellungen, die eine Erfahrung ausmachen, können zur Sinnlichkeit gezählt werden, eine einzige ausgenommen, d. h. die des Zusammengesetzten als eines solchen. . . . Da die Zusammensetzung nicht in die Sinne fallen kann, . . . so gehört sie . . . zur Spontaneität des Verstandes.
    22) Vgl. in den Grundsätzen des reinen Verstandes die dritte Analogie der Erfahrung.
    23) Vgl. zur ganzen Erörterung "der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe", 3. Abschnitt, Seite 671-682; außerdem in der "vorläufigen Erinnerung", Nr. 1 und 2, Seite 660-663.
    24) Vgl. in der "vorläufigen Erinnerung", Nr. 2, Seite 662.
    25) Seite 152 (allerdings in der zweiten Auflage): "Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen".
    26) Deduktion der ersten Ausgabe, Abschnitt 3, Absatz 7 und 8, wo gesagt ist, daß durch die Tätigkeit der (ein notwendiges Ingrediens [Zutat - wp] der Wahrnehmung bildenden) Einbildungskraft Bilder entstehen.
    27) "Vorläufige Erinnerung", Nr. 3: "Von der Synthesis der Rekognition im Begriffe", Seite 663f.