O. CaspariL.SteinE. BullatyH. RickertG. NeudeckerL. Nelson | ||||
Das Wesen und die Arten der Erkenntnis
Was heißt Erkennen? Wir können auf diese Frage nicht anders eine Antwort gewinnen, als daß wir zurückgreifen auf Erkenntnisakte, die wir zweifelsfrei als solche gelten lassen. Wir nennen sie evidente Erkenntnisse. Eine solche evidente Erkenntnis etwa liegt vor, wenn wir beim Anblick des hellen Tageslichts sagen: ich sehe Helligkeit, oder beim Hören des Donnerrollens: es donnert, und damit eben dieses akustische Erlebnis unter Absehen von allen Lehren der Naturwissenschaft über Gewitter meinen. Aber auch wenn wir erklären: Kreis und Dreieck sind verschiedene Figuren. Oder wenn wir feststellen: 1 + 1 = 2. Was haben nun diese Erkenntnisakte miteinander gemeinsam, was bedingt es, daß wir sie als Erkenntnisse vollkommenster Art ansehen? Die Antwort kann nur lauten: wir erfassen in diesen Akten einen Sachverhalt so, wie er wirklich ist, und zwar mit absoluter Klarheit. Wenn wir dem Tageslicht mit offenem Auge und mit Aufmerksamkeit zugewandt sind, so glauben wir nicht bloß, wir vermuten nicht nur, sondern wir wissen, daß wir helles Licht sehen. Und ebenso sind wir beim Hören kräftigen Donners seines faktischen Daseins ganz gewiß. Desgleichen sind wir aber auch aufs bestimmteste überzeugt, daß ein eckiger Kreis ein widerspruchsvoller Begriff, und daß 1 + 1 wirklich = 2. Wir wissen es. Alle diese Einsichten haben den Charakter absoluter Klarheit und Zweifelsfreiheit an sich, sie sind wahre, nicht bloß vermeintliche Einsichten. Sucht man noch weitere Momente an ihnen auzudecken, so fällt zum mindesten in den ersten beiden Fällen auf, daß der Tatbestand, der erkannt wird, gleichzeitig im Bewußtsein gegenwärtig ist. Wenn ich sage: "Ich sehe Helligkeit" oder "Es donnert", so handelt es sich nicht um eine Behauptung, die sich auf etwas bezieht, das außerhalb meines Bewußtseins läge, sondern sie bezieht sich auf einen augenblicklich stattfindenden psychischen Wahrnehmungsakt meiner selbst oder einen momentanen Gehörsinhalt meines Bewußtseins. Man bezeichnet solcher Erkenntnisse darum auch als Wahrnehmungen. Analog aber ist mir der widerspruchsvolle Begriff des eckigen Kreises und der Zahlensachverhalt, den die Gleichung 1 + 1 = 2 bezeichnet, bei aufmerksamer Fällung dieser Urteile dabei wirklich gegenwärtig. Es ist anders, als wenn ich etwa sage: 1000 + 745 + 13 = 1758 oder 12 x 12 = 144. In diesen Fällen übersehe ich die Zahlenverhältnisse nicht wirklich, sondern ich operiere in Wahrheit mit stellvertretenden Zeichen (graphischen Zeichen oder Lauten). Ich habe auswendig gelernt, daß 12 x 12 = 144 ist, und wie ich verschiedene Zahlen addieren muß. Hätten wir uns beides nicht mechanisch eingeprägt, so ständen wir den Aufgaben völlig hilflos gegenüber. Ja, es kann gesagt werden, daß wir nicht einmal die Zahl 12, geschweige denn 745 und 1000 klar als solche im Bewußtsein haben. Bei den ersten Ziffern der Zahlenreihe ist es dagegen anders. Auch der erste Zählunterricht des Kindes läßt es dem Beobachter am Gesichtsausdruck deutlich werden, daß die Operationen mit den ersten Zahlen der Zahlenreihe anders vorgenommen werden als schon bei den nächst höheren Ziffern. Das Resultat wird einfach vom begrifflichen Sachverhalt im Bewußtsein abgelesen. Aus solchen Erkenntnissen evidenter Art kommt man zu dem Ergebnis, daß alles Erkennen eine Art von intellektueller Erfassung von Sachverhalten darstellt, die nicht mit dem Erkennen identisch sind, sondern auf die dasselbe gerichtet ist; denn daß ich Helligkeit sehe oder daß es donnert usw., ist nicht identisch damit, daß ich das alles erkenne und darum weiß. Dieses Erkennen ist ein Akt, in dem ich mich des Sachverhaltes gleichsam erst intellektuell bemächtige. Noch näher freilich läßt sich das Wesen des Erkennens nicht bestimmen. Alles, was wir können, ist auf Beispiele davon hinzuweisen, an denen die Eigenart des Erkennens möglichst einfach hervortritt; denn es handelt sich um ein spezifisches Erlebnis, auf das nur aufmerksam gemacht, das aber nicht eigentlich beschrieben werden kann. Es ist wie mit Freude und Schmerz. Einem Wesen, das nie solche empfunden hätte, könnte man ihre Qualität nicht klar machen. Man hat das Erkennen auch ein Abbilden der Dinge genannt. Diese Bezeichnung ist mißverständlich; denn wirklich abgebildet wird nichts. Sie stammt aus einer Zeit, als man das Denken als ein Vorstellen ansah. Damals hatte sie Sinn; wenn das Denken ein Vorstellen wäre, dann würde das Erkennen in der Tat ein Abbilden sein, denn das Vorstellen hat mit dem Wirklichen eine solche Ähnlichkeit, daß die Vorstellungen mit Recht als Abbilder der Dinge bezeichnet werden können. Aber das Denken ist eben nicht ein Vorstellen. Der Gedankeninhalt ist unanschaulich und hat darum keine eigentliche Ähnlichkeit mit den Dingen. Im Erkennen werden nur Sachverhalte gewußt, erfaßt. Die Beziehung zum Gegenstand, die darin gelegen ist, kann mit dem Wort "abbilden" nur sehr ungefähr bezeichnet werden. Immerhin liegt etwas Richtiges darin. Es tritt deutlich hervor, wenn wir uns von den einfachsten, in sich evidenten Akten des Erkennens, wie sie in den obigen Beispielen vorlagen, mindern vollkommenen Stufen der Erkenntnis zuwenden. Sagen wir: "ALEXANDER der Große lebte im Altertum", so entspricht auch jetzt dem angegebenen Tatbestand irgendetwas in uns. Wir denken ihn ja. (Real gegenwärtig ist er freilich nicht in uns, wie es etwa der Donner war.) Aber dieses Denken hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem gedachten Tatbestand, so daß der Ausdruck Abbilden wenig glücklich erscheint. Es ist durchaus kein Vorstellen und somit nicht etwa eine schwache abgeblaßte Reproduktion der Wirklichkeit. Bei weitem nicht alle, die jenen Satz anerkennen, wissen, wie ALEXANDER ausgesehen hat, oder was er innerlich für ein Mensch gewesen ist, können also auch eine eigentliche Vorstellung von ihm haben. Fragen wir nun, welche Wissenschaften aus evidenten Wahrnehmungsurteilen bestehen, so muß die Antwort lauten: keine. Das mag überraschen, aber es ist so. Der Umkreis von Erkenntnissen, der aus innerer oder äußerer Wahrnehmung hervorgeht, ist ein sehr großer. Unsere eigenen seelischen Zustände können mindestens zu einem Teil ein unmittelbares Objekt unserer inneren Wahrnehmung werden. Daß wir erfreut oder deprimiert, voll Hoffnung oder in Besorgnis sind, wissen wir mit voller Sicherheit. Wir sprechen in dieser Hinsicht von innerer Selbstwahrnehmung. Auch die "äußere" Wahrnehmung kann evident sein. Alles das, was wir Sinnesinhalte nennen: die Farben, Töne, Gerüche, Geschmacks-, Tast, Temperatur- und andere sensuelle Inhalte können von uns wirklich wahrgenommen werden als etwas unmittelbar in unserem Bewußtsein Vorhandenes. Dennoch besteht keine Wissenschaft auch nur im wesentlichen aus evidenten Wahrnehmungsurteilen. Man könnte meinen, als erste Wissenschaft, die ganz auf Wahrnehmung beruth, die Psychologie anführen zu dürfen. Aber in Wahrheit ist für sie das hic et nun [hier und jetzt -wp] der einzelnen Beobachtung nur der Weg, um teils zu Generalisationen, teils gar zu einer "Wesenslehre" vom Psychischen fortzuschreiten. In psychologischen Lehrbüchern ist immer nur von Gefühlen, Willensvorgängen, Vorstellungen im allgemeinen die Rede, aber niemals von einem bestimmten Gefühl oder einer bestimmten Person in einem bestimmten Augenblick. Nur ein solches aber kann wahrgenommen werden. Etwas anders, aber nicht besser, steht es mit der Naturwissenschaft; denn es wird kein Naturgegenstand von uns so vollständig wahrgenommen wie eine Farbe oder ein Ton. Alle körperlichen Objekte sind räumlicher Art. Wir sehen von ihnen aber nur die Vorderseite, während uns die Rückseite und das Innere verschlossen bleibt. Ferner ändert jeder Körper sein Aussehen mit der Beleuchtung, während der Naturforscher von seiner Identität überzeugt ist. Alles, was wir als Natur bezeichnen, ist durchaus eine Konstruktion unseres Geistes. Wir knüpfen an die Sinneseindrücke an, aber wir bleiben nicht bei ihnen stehen. Kein Physiker, der ein Experiment anstellt, beobachtet und analysiert dabei die Sinnesinhalte als solche, sondern er sieht in ihnen Eigenschaften von physischen Objekten, nur als solche interessieren sie ihn. Und da hält er sich nicht völlig an den sinnlichen Tatbestand. Er nennt ein Stück Kreide auch dann weiß, wenn es in einer dunklen Ecke liegt und deshalb durchaus nicht weiß aussieht. Die Feststellungen des Physikers sind von der sinnlichen Wahrnehmung oft verschieden. Ob uns Wasser, in das wir die Hand hineinstrecken, als warm oder kalt erscheint, hängt davon ab, ob wir sie vorher in kälteres oder wärmeres getaucht hatten. Kommen wir aus strahlendem Sonnenlicht in einen sehr schlecht belichteten Keller, so erscheint er uns als völlig finster, während wir nach einigen Minuten des Verweilens in ihm Gegenstände recht wohl erkennen. Dem Farbenblinden erscheinen alle Objekte als mehr oder weniger grau. Die Erkenntnis von der Subjektivität der Sinnesqualitäten - vor allem der optischen -, die bis in die griechische Sophistik zurückreicht, hat in der Neuzeit durch GALILEI und LOCKE ihren endgültigen Sieg erlangt. Auf ihren Anschauungen baut sich das durchschnittliche naturwissenschaftliche Weltbild auf, nach welchem die Natur eine räumlich ausgedehnte, aber farb- und klanglose Welt von Körpern darstellt, deren letzte Teile undurchdringlich sind. Nur die Größe und Gestalt ist danach objektiver Art, nicht die Farbe. Sicher geht dieser Schluß zu weit. Was wir sagen können ist nur, daß wir kein Kriterium besitzen, um scheinbare und - wenn es solche gibt - objektive Farben zu unterscheiden. Es liegt auf der Hand, daß ein strenger Beweis auch für die Objektivität der räumlichen Beschaffenheit der Natur nicht erbracht werden kann. Sind die Farben der Körper nur phänomenaler Natur, so muß diese Möglichkeit auch für die räumlichen Eigenschaften der Körperwelt offen gelassen werden. Man ist deshalb neuerdings mehrfach dazu übergegangen, auch nach dieser Richtung keine bestimmten Aussagen mehr über die Natur zu machen und auch ihre geometrisch-räumliche Struktur als rein phänomenaler Art zu behandeln. Als objektiv sind danach nur die Existenz von Dingen und bestimmter zwischen ihnen bestehender Zahlenverhältnisse aufzufassen, die in den mathematischen Formeln der exakten Wissenschaften ausgesprochen sind. Über die qualitativen Eigenschaften der Dinge, die in diesen Verhältnissen zueinander stehen, läßt sich nichts sagen. Die Objektivität räumlicher Anordnung und Gestalt bleibt möglich, kann aber nicht erwiesen werden. Diese Auffassung bricht sich in der Gegenwart mehr und mehr Bahn. Es muß aber bemerkt werden, daß sich die Zurückhaltung noch weiter treiben läßt. Es läßt sich nämlich auch nicht erweisen, daß die Dinge, von denen die Wissenschaft handelt, objektiv existieren. Die Wahrnehmung zeigt nur Sinnesinhalte - für den Naturforscher kommen fast nur die optischen Inhalte in Betracht -, nicht wirklich Körper. Man kann deshalb die gesamte Natur lediglich als eine auf die Sinnesinhalte basierte Konstruktion ansehen, welche es ermöglicht, Sinnesinhalte und von ihnen aus konstruierte Naturerscheinungen vorauszusehen. Eine derartige Auffassung ist die kritischste, welche jetzt möglich ist. Sie würde jedoch aufhören kritisch zu sein, wenn man in sie auch sogleich die Behauptung hineinlegen wollte, daß es keine Gegenstände gibt, die unseren gedanklichen Konstruktionen entsprechen. Das wäre mehr behauptet, als sich beweisen läßt. Es ist sicher, daß die Natur von uns nicht evident wahrgenommen, sondern konstruiert wird, und es ist ebenso sicher, daß diese Konstruktion geeignet ist, künftige Erlebenisse voraussehen zu lassen. Ob sie im einzelnen aber Wahrheit besitzt, steht nicht fest. Erfahrbare Realität besitzen allein die Sinnesinhalte, freilich auch sie nur für die Zeit, solange sie wahrgenommen werden. Aus dieser Erkenntnis heraus ist eine auf MACH zurückgehende, namentlich in naturwissenschaftlichen Kreisen zeitweise weitverbreitete Theorie zu der Lehre fortgeschritten, daß die Natur auch im Sinne der Physik lediglich aus Sinnesqualitäten besteht und auch diese es deshalb nur mit solchen zu tun hat. Das ist sicherlich unrichtig. Für den Physiker hat jeder Körper eine bestimmte Größe, während sie für die Wahrnehmung bei jeder Entfernung sich verkleinert. Wären Natur und Sinneswahrnehmung völlig identisch, so müßte auch die Physik die Größe der Körper als in solcher Weise wandelbar ansehen. Wenn nun aber auch die Natur erst vom Geist konstruiert wird, so bilden den Anknüpfungspunkt dabei doch stets wahrgenommene Empfindungen. Diese Anschauung ist nicht unbestritten. In den letzten Jahrzehnten hat eine Richtung im modernen Neukantianismus, die Marburger Schule COHENs und NATORPs, die Anerkennung der Wahrnehmung als eines legitimen Grundfaktors der Wissenschaft auf das lebhafteste bekämpft, indem sie zugleich die gewöhnliche Inbeziehungsetzung der Erkenntnis zu einem Objekt verwirft. Während der Realismus im Erkennen einen Vorgang sieht, durch den ein dem Erkennen gegenüberstehendes Objekt erfaßt wird (im Grenzfall kann es das Erkennen selbst sein), leugnet die antirealistische Auffassung diesen Tatbestand. Der Gegenstand steht nach ihr dem Erkennen nicht gegenüber, sondern sie hält den erkannten Gegenstand für das Erkennen immanent, für erst in und durch den Erkenntnisakt geschaffen. Seit mehr als hundert Jahren liegen die beiden Standpunkte im Kampf miteinander. Die heute vom Antirealismus zumeist auf KANT erfolgende Berufung ist nicht durchschlagend. Der Kampf der beiden Richtungen reicht bis in die Werke KANTs hinein, der vergeblich nach einem Ausgleich gesucht hat. Die Entscheidung zwischen beiden Standpunkten kann nur aufgrund einer Analyse des Erkennens getroffen werden. Der Antirealismus geht über die Wahrnehmungsakte hinweg. Er erkennt, daß die Sätze der exakten Naturwissenschaft in dieser Weise nicht gewonnen werden. Kein Satz der Physik kann von unseren Bewußtseinsinhalten einfach abgelesen werden. Auf der anderen Seite wird die exakte Naturwissenschaft zu den sichersten Erkenntnissen gerechnet, welche überhaupt existieren. Deshalb darf, meint der Antirealismus, der Begriff des Erkennens nicht aus den Wahrnehmungserlebnissen gewonnen werden, sondern es müsse dazu die exakte Physik als eine unbezweifelte Erkenntnis analysiert werden. Dann aber ergebe sich, daß das Erkennen kein Erfassen eines außer ihm befindlichen Gegenstandes darstellt, sondern daß der Gegenstand dem Erkennen immanent ist. Er ensteht überhaupt erst innerhalb der Erkenntnis. Aber damit nicht genug, geht der Antirealismus noch weiter. Er abstrahiert von den erkennenden Individuen und betrachtet die exakte Physik lediglich als ein logisches Gebilde, dessen Struktur zu analysieren er aus Aufgabe der Erkenntnistheorie hinstellt. Der Charakter der Objektivität, der Wahrheit eines Urteils, bedeutet jetzt nicht mehr, daß es einen unabhängig von ihm bestehenden Tatbestand ausspricht, sondern lediglich, daß es irgendwelchen "Regeln", Normen entspricht. Auch die Worte wirklich und real erhalten einen völlig neuen Sinn. Das Prädikat wirklich bedeutet nicht mehr Existenz im gewöhnlichen Sinn des Wortes, sondern lediglich, daß der betreffende Gedankeninhalt eine gewisse Stellung innerhalb der menschlichen Gedankenzusammenhänge besitzt, oder besser, daß er ein Glied des Begriffsgebildes ist, das wir Natur nennen. Trotz allen Scharfsinns, der in ihnen enthalten ist und trotz des Ansehens, das diese Theorien zur Zeit noch bei nicht wenigen genießen, widersprechen sie doch den elementarsten Erfahrungstatsachen. Sie lassen sich auf keinen Fall in Einklang bringen mit dem psychologischen Tatbestand, der bei den einfachsten Wahrnehmungskaten vorliegt, wenn wir etwas mit nicht zu überbietender Evidenz als wirklich erfahren, wie es z. B. der Fall ist, wenn wir die Existenz eines Lichteindrucks oder eines Müdigkeitserlebnisses wahrnehmen. Unter "wirklich", "real" verstehen wir dann etwas durchaus anderes, als daß der Gesichtsinhalt oder die Müdigkeits sich in irgendeine gedankliche Regel einfügen. Wir würden den Lichteindruck und die erfahrende Müdigkeit auch dann noch als real ansehen, wenn sie in schroffstem Gegensatz zu aller Naturgesetzlichkeit ständen. Es ist nicht so, wie der Neukantianismus meint, daß etwas erst dann und weil es sich als Glied in das gesetzmäßige Bild der Natur einfügt, von uns als wirklich angesehen wird, alles dem Widersprechende aber dem schlechthinnigen Verdikt der Irrealität verfällt. Vielmehr bleibt die Autorität der Wahrnehmung die letzte Instanz für die Urteile über wirklich und nichtwirklich. Die Naturgesetzlichkeit ist eine Hypothese, die im Anschluß an Erfahrungsurteile aufgestellt worden ist, sie bildet aber selbst kein letztes Kriterium für das Wirkliche. - Ebenso ungüngstig wie die Naturwissenschaften stehen in Bezug auf die Zusammensetzung aus evidenten Wahrnehmungsurteilen die Geisteswissenschaften da. Das ist selbstverständlich insoweit, als auch sie es mit Körpern zu tun haben. Aber man könnte sogar meinen, daß ihre Lage noch schlechter sei, indem der Naturforscher wenigstens eine partielle Wahrnehmung seiner Objekte hat, während dem Geisteswissenschaftlicher die fremden Seelen überhaupt für das Wahrnehmen entzogen sind und er von ihnen überhaupt keine Wahrnehmung, nicht einmal eine entstellte, besitzt. Diese Auffassung ginge zu weit. Denn in Wahrheit hat ja auch der Naturforscher keine eigentliche Wahrnehmung der Körper. Was er sieht, sind doch nur Sinnesinhalte. Diese mögen im günstigsten Fall mit den Objekten ähnlich sein, sind aber nicht sie selbst. Eine derartige Pseudowahrnehmung hat auch der Historiker von den fremden Seelen. Nur daß es sich hier nicht um Sinnesinhalte, sondern um die im inneren Nachfühlen entstehenden psychischen Gebilde handelt. Hier ist die Ähnlichkeit mit dem Original sogar eine aller Wahrscheinlichkeit nach gesicherte. Wir haben allen Grund anzunehmen, daß die Verwandtschaft unserer Nachfühlungsvorstellungen mit den fremden Seelen ebenso groß ist wie ihre Verwandtschaft mit unseren eigenen psychischen Originalerlebnissen. In Bezug auf die Natur fehlt uns dagegen jede Möglichkeit zur Feststellung, wie groß die Ähnlichkeit unserer Körperwahrnehmungen, die ja übrigens auch nur zum Teil wirkliche Wahrnehmungen sind, mit der wirklichen Natur ist. Die Geisteswissenschaften sind demnach vor den Naturwissenschaften im Vorzug. Die fremden Seelen bleiben uns nicht fremd. Wir fühlen uns in sie ein. Wir empfinden ihnen mehr oder minder vollkommen nach, wenn wir sie auch nicht wahrnehmen. Dieses Nachempfinden ist ein in der Anlage durchaus instinktive. Es kann durch die Erfahrung und persönliches Bemühen geschärft werden, ist aber von jedem Erschließen völlig verschieden. Der zu einem solchen Nachempfinden nicht Veranlagte ist für eine tiefere geisteswissenschaftliche Forschung nicht geeignet. Alle äußeren Daten, seien es nun Urkunden, historische Werke, Denkmäler oder andere Niederschläge menschlichen Lebens erlangen ihren eigentlichen Wert erst durch die nachfühlende Interpretation. Der historische Forscher muß außerdem die Fähigkeit besitzen, sein inneres Eindringen in vergangene Menschen und Zeiten in einer Weise literarisch zum Ausdruck zu bringen, daß auch im Leser entsprechende Nacherlebnise zur Auslösung kommen. Aus all dem ergibt sich, daß die historische Forschung noch mit anderen Kräften der Seele arbeitet als mit dem reinen Verstand und der Wahrnehmung. Die seelische Phantasie ist für sie von entscheidender Bedeutung. Dadurch nähert sich der geisteswissenschaftliche Forscher dem Dichter, der ebenfalls fremdes seelisches Leben in seiner Phantasie erzeugt und mit Worten zur Darstellung bringt. Doch besteht insofern ein wesentlicher Unterschied, als der Dichter in seiner Phantasie frei schafft oder es wenigstens kann, während der Forscher ein Nacherleben der geschichtlichen Realität erstrebt; er ist gebunden. Sein Ziel bleibt zu erfahren, "wie es wirklich gewesen ist"; so hat es RANKE mit schlichten Worten bezeichnet. Um ein volles Nacherleben der Vergangenheit kann es sich freilich nicht handeln. Würde das volle Nacherleben auch nur eines einzigen Menschenlebens, selbst wenn es im übrigen möglich waäre, doch genauso lange dauern, als dieses Leben selbst gedauert hat. Und ganze Epochen bestehen ja auch nur aus einer Mehrzahl von Individuen. Es bedarf also einer summarischen Zusammendrängung der geschichtlichen Vorgänge. Dieses Zusammendrängen ist freilich bisher noch nicht näher studiert worden, - es ist das eine wichtige Aufgabe weiterer erkenntnistheoretischer Forschung. Die völlige Verschiedenheit der naturwissenschaftlichen von einer geisteswissenschaftlichen Forschungsweise steht aber unbezweifelbar fest. - Mit der historischen Methode ist die psychologische, und zwar auch die tierpsychologische, ja sie sogar ganz besonders, durchaus verwandt, soweit es sich um die Erforschung von Seelenvorgängen in anderen Individuen handelt. Zwar hat es die Psychologie im allgemeinen nicht mit den psychischen Erlebnissen einzelner bestimmter Personen zu tun, aber man gelangt auch zu generalisierenden Auffassungen, etwa zur Aufstellung bestimmter psychologischer Typen, nur durch eine Kenntnis einzelner Individuen. Zu dieser gibt es aber keinen anderen Weg als den der Nachfühlung aufgrund der objektiven Äußerungen des Seelenlebens, die auch dem Historiker obliegt. Doch wäre es eine grobe Übertreibung zu sagen, die Geisteswissenschaften hätten es nur oder überwiegend mit menschlichen Seelen zu tun. Von ebenso großer Bedeutung sind für nicht wenige Geisteswissenschaften die Produkte der Seelen. Auch Kunstwerke, Kompositionen, Dichtungen sind Gegenstand der Wissenschaft, ebenso die Wirtschaft, der Staat, das Recht, alles das sind Schöpfungen des Menschen, nichts Seelisches. Es liegen hier noch eigenartige Probleme verborgen. Denn welcher Art ist eigentlich die Existenz des Rechts, und was ist der Staat, wenn "eigentliche" Wirklichkeit nur den Einzelindividuen zukommt? Diese Frage ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Frage nach der Erkenntnisstellung der Rechts- und der Staatswissenschaft, von denen die bisherige Erkenntnistheorie freilich noch weniger gesprochen hat als von anderen, wenig beachteten Disziplinen. Auch die Sprache gehört hierher. Denn offenbar hat es die Sprachwissenschaft nicht mit dem Sprechen des einzelnen Individuums zu tun. Überall haben wir hier Gebilde vor uns, die zwar nur durch eine Vermittlung von Individuen existieren, die aber dennoch der Willkür des Einzelindividuums, ja zum Teil, wie die Sprache, aller Individuen völlig entzogen sind. Deshalb werden sie auch von der Wissenschaft wie selbständige Lebewesen behandelt, so besonders der Staat. Zu diesen eigentümlichen Gebilden gehört auch die Wissenschaft selbst. Wissenschaft ist nicht nur der jeweilige Bewußtseinsinhalt von Forschern, sondern Wissenschaft sind auch die gedruckten Bücher oder doch der in ihnen niedergelegte geistige Gehalt. Vielleicht ist im Augenblick, wo ich diese Zeilen schreibe, irgendein mathematischer Satz und seine Beweis in keines Menschen Bewußtsein, sondern nur in einem mathematischen Buch vorhanden. Dennoch rechnen wir ihn mit den zu den wissenschaftlichen Erkenntnisse unserer Zeit. Also Wissenschaft ist etwas anderes, als gegenwärtiger Bewußtseinsinhalt. Nur kann allerdings nichts Wissenschaft sein, was nicht zuvor als Erkenntnisakt in einem Bewußtsein gegenwärtig war. Und wenn wir davon sprechen, daß irgendeine Wissenschaft empirischer Natur sei, so bezieht sich das auf eben diese primären Erkenntnisakte, in denen sie entsteht. Alles weitere ist dann aber etwas ganz anderes. Wissenschaft hat als dieses weitere Gebilde eine Artähnlichkeit mit der Dichtung. Obwohl auch sie nur durch Individuen entsteht, ist sie trotzdem, wenn einmal entstanden, in ihrem bereits entwickelten Bestand unabhängig von Individuen. Wissenschaft und Dichtung haben ihre Fortexistenz in den Zeichen, mit denen sie sinnlich ausgedrückt sind (in Schrift und Druck). - Die badische KANT-Schule hat den Versuch gemacht, die Unterscheidung der Natur- und der Geisteswissenschaften zu ersetzen durch die Unterscheidung von auf die Erkenntnis von Gesetzen bzw. von Einzelnen gerichteten Wissenschaften, an der einiges Richtige ist, die aber nicht überspannt werden darf. Sie ist gewonnen aus der Betrachtung der Physik und der eigentlichen Geschichtswissenschaft und mit Vorsicht zu behandeln, sobald man es mit anderen Disziplinen zu tun hat. Sie gilt weder für die meisten Naturwissenschaften, noch für die Geisteswissenschaften. Weder die Geographie noch die Geologie ist eine reine Gesetzeswissenschaft. Beide stellen eine gewisse Regelhaftigkeit in der Natur fest, beschäftigen sich aber ebensosehr auch mit dem Studium des ganz Individuellen. Beide bloß deshalb, weil sie sich keinem Schema fügen wollen, bloß als vorwissenschaftliche Materialsammlungen anzusehen, ist eine Vergewaltigung des wissenschaftlichen Tatbestandes. Die Erkenntnistheorie folgt der Entwicklung der positiven Wissenschaften. Wenn sie Disziplinen, in denen zweifellos reale Tatsachen festgestellt werden, nicht als Wissenschaften gelten lassen will, so ist das nicht statthaft. Verwerfungsurteile der Erkenntniskritik sind nur dann gegen vorgebliche Wissenschaften berechtigt, wenn diese sich anmaßen, Erkenntnis zu gewähren, wo sie in Wahrheit nichts auszusagen imstande sind. Von dieser Art wollte KANTs Erkenntnistheorie sein, wenn er die rationalistische Metaphysik angriff. Wie manche Naturwissenschaften auf Individuelles, so sind umgekehrt auch manche Geisteswissenschaften auf die Feststellung von Regelmäßigkeiten in der historischen Welt und nicht nur auf Individuelles gerichtet, so die Nationalökonomie und die Sprachwissenschaft. Beide sind bestrebt, gewisse "Gesetze" zu ermitteln. Sie haben es durchaus nicht nur mit einzelnen Vorkommnissen oder einzelnen Personen zu tun. Diese "Gesetze" sind freilich nichts mehr als bloße empirische Regeln, d. h. Feststellungen gewisser faktischer beobachteter Regelmäßigkeiten in höchst komplexen Geschehnissen. Aber der Charakter, daß die Phänomene von ihnen gewissermaßen zu einem bestimmten Verlauf gezwungen würden, kommt ihnen nicht zu. Allerdings ist zu sagen, daß auch viele Naturgesetze, ja vielleicht sogar die meisten der uns bekannten von dieser Art sind. So z. B. sicher das GAY-LUSSAC'sche Gesetz, das eine oberflächliche Regelmäßigkeit im Naturgeschehen zwar zutreffend bezeichnet, aber augenscheinlich kein letztes Naturfaktum ist, da es selbst wieder aus den kinetischen Gasgesetzen hergeleitet werden kann, die eine primäre Tatsache darstellen. Nur die letzten elementarsten Naturgesetze würden die gesuchten wirklichen Gesetze der Natur sein. Es ist also jeder gewaltsame erkenntnistheoretische Schematismus zu vermeiden. Letzten Endes gehört sowohl die Feststellung alles Individuellen wie aller Regelmäßigkeiten zur Aufgabe der Wissenschaft. Beides sind eben Tatsachen. Und die ideale Aufgabe der Wissenschaft wäre die Totalerkenntnis der Welt. In idealer Vollendung würde sie auch das Unwichtigste und Bedeutungsloseste feststellen müssen, so wie wir uns auch Gott allwissend denken und die Kenntnis selbst des Bedeutungslosen seiner nicht als unwürdig erachten. Wenn wir gemeinhin eine Auswahl unter den Gegenständen treffen und das Unwichtige beiseite lassen, so geschieht das nur wegen der Begrenztheit unseres Intellekts und der Kürze unseres Lebens. Aber wenn wir die Welt wirklich in ihrer Individualität kennen wollen, so müßten wir im Grunde auch die unwichtigste Einzelheit in ihr kennen, denn, was und wie sie ist, ist sie nur durch die Totalität ihres Wesens. - Anders als mit den Wahrnehmungsevidenzen steht es mit den evidenten Erkenntnissen, die sich nicht auf konkrete Bewußtseinsinhalte der bisher genannten Art, sondern auf Abstraktes beziehen. Aus derartigen evidenten Urteilen sind ganze Wissenschaften konstituiert. Die entwickelte von ihnen ist die Mathematik. Ausgehend von Definitionen und Axiomen entwickelt sie ihr Lehrgebäude in einem lückenlosen Beweiszusammenhang. Aber in den Axiomen liegen schwere Probleme. Was sind sie, woher stammen sie? Die neueste Entwicklung der Mathematik behandelt die Axiome als willkürlicher Natur, als willentlich angenommene Regelgrundlagen, auf denen das weitere Lehrgebäude ruht, die aber selbst keines Beweises fähig sind, und die man deshalb auch durch andere ersetzen kann, wodurch man ganz neuartige Lehrsysteme erhält. Diese Behandlung der Axiome ist ansich möglich. Nichts hindert uns, gewisse Sätze und Definitionen festzusetzen und dann zu ermitteln, welche Folgerungen sich daraus ableiten lassen. Es ist das eine rein logische Untersuchung objektiver Begriffszusammenhänge. Die Evidenz würde sich auf die Beweisketten beschränken, aber die Axiome nicht mit betreffen. Indessen geht diese Auffassung der Mathematik mehr um die eigentlichen Probleme, die sich an die Axiome knüpfen, herum, als daß sie sie löst. Es unterliegt nun einmal keinem Zweifel, daß die gewöhnlichen Axiome mindestens zum Teil eine tiefere Grundlage haben müssen als unsere bloße Willkür. Weshalb wählte die Geometrie denn zunächst gerade die euklidischen und nicht andere Axiome? Die Antwort hat doch wohl zu lauten: weil sie das Wesen unseres anschaulichen Raums aussprechen wollen. Mindestens einige Axiome entstehen aufgrund phänomenologischer Besinnung über das Wesen des Raumes. Von dieser Art sind die Sätze, daß derselben drei gleichartige Dimensionen besitzt, und daß es zwischen zwei Punkten nur eine Gerade gibt. Daß dagegen die Summe der Winkel eines Dreiecks zwei Rechte beträgt, kann von uns nicht in einfacher Wesensschau erfaßt werden. Jene ersten Axiome aber sind von schlechthinniger Evidenz. Sie sind keine Hypothesen, und auch der Ausdruck Axiom ist eigentlich durchaus ungeeignet. Denn gemeinhin versteht man darunter etwas, was man nicht beweisen kann und was man deshalb als nicht völlig gesichert ansieht. Von dieser Art ist wohl der Satz von der Winkelsumme im Dreieck. Jene erstgenannten Axiome aber sind durchaus von jeder Unsicherheit völlig frei. Von einfacher Empirie kann deshalb nicht gesprochen werden, weil die Axiome nicht nur etwas über eine einzige Figur aussagen, sondern etwas über den Raum überhaupt. Die Geometrie ist also keine einfache empirische Wissenschaft, sondern ein Gemenge als phänomenologischen und eigentlich axiomatischen Bestandteilen, samt dem Gebäude der aus dieser zweifachen Grundlage sich ergebenden Konsequenzen. Der logische Aufbau der Geometrie ist jedoch erst zu einem gewissen Grad klar. Sie ist eine der ältesten Wissenschaften überhaupt. Aber trotz aller hohen Entwicklung ist ihr Wesen und vor allem - so seltsam es klingt - ihr Verhältnis zum Raum durchaus nicht in einem solchen Maße geklärt, daß von einer Einstimmigkeit der Ansichten gesprochen werden könnte. Und so haben wir das seltsame Schauspiel, daß eine der entwickeltsten Wissenschaften nicht recht weiß, wie sie sich eigentlich zu ihrem Gegenstand verhält, ja nicht einmal, welches eigentlich derselbe ist. Auch die algebraischen Disziplinen der Mathematik sind wie die Geometrie aufgebaut. Sie beginnen mit Definitionen und Axiomen. Aus ihnen werden sodann in strenger Beweisführun weitere Sätze abgeleitet. Jeder einzelne Schritt ist dabei von Evidenz begleitet. Es ist ein hohes Verdienst der neueren Mathematik, besonders die Axiome herausgearbeitet und zu vollem Bewußtsein erhoben zu haben. Die Definitionen sind allerdings nicht selten etwas fragwürdiger Natur. Es drängt sich angesichts ihrer einem immer wieder die Überzeugung auf, daß es an der Zeit ist, einmal die nicht weiter definierbaren, sondern nur bezeichenbaren Grundbegriffe des Denkens in ihrer Undefinierbarkeit festzustellen. Das gegenwärtige Verfahren läuft doch immer wieder darauf hinaus, mit Hilfe definierbarer anderer Begriffe die mathematischen Grundbegriffe näher zu bestimmen, was natürlich eine völlige Selbsttäuschung ist, wenn man dadurch glaubt, alle undefiierten Begriffe vermieden zu haben. Im übrigen ist die erkenntnistheoretische Lage der Arithmetik und Algebra eine einfachere als die der Geometrie, denn sie haben es von vornherein nicht mit einem bestimmten konkreten Objekt wie (zunächst) die Geometrie mit dem Raum zu tun. In ihnen ist der Versuch, die Axiome zu willkürlichen selbstgesetzten Regeln herabzudeuten, noch weniger möglich als in der Geometrie. Die Richtigkeit der grundlegenden Axiome in ihnen wird ohne weiteres evident erschaut. Wir haben es deshalb hier nicht nur wie in der Geometrie mit einer Disziplin zu tun, bei der die Evidenz teilweise erst hinter den Axiomen mit den ersten Schlüssen beginnt, sondern bei ihr sind auch schon die Ausgangspunkte, die Axiome, evident. Eben deshalb ist dieser Teil der Mathematik eine ideal vollendete abstrakte Wissenschaft. Auch von der Logik gilt, daß sie sich aus lauter evidenten Erkenntnissen zusammensetzt, sofern sie nur echte Logik bleibt und nicht in Psychologie übergeht. Ihr Gebiet ist teils die allgemeine Struktur alles Wirklichen, teils der Bereich des rein Logischen, der reinen Bedeutungen und der Begriffe: sie heißt dann Phänomenologie (HUSSERL). Beide werden in ihrer wesenheitlichen Beschaffenheit und Struktur in einem übersinnlichen Apperzeptionsakt erfaßt. Die Logik ist der Mathematik noch vorgeordnet. Ihre Erkenntnisse sind noch allgemeiner. Mit den genannten Disziplinen erschöpft sich der Umkreis der aus evidenten Sätzen aufgebauten Disziplinen. Alle übrigen sind weit hypothetischerer Art. - Mit dem Problem des Wesens der Erkenntnis steht die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis in einem engen Zusammenhang. KANT glaubte dieselbe mit großer Bestimmtheit dahin lösen zu können, daß sie mit dem Umkreis der Wahrnehmung zusammenfallen. Die gesamte empirische Welt ist danach unserer Erkenntnis ansich zugänglich, - Einschränkungen liegen für sie nur insoweit vor, als wir nicht an jede Stelle des Universums hingelangen können und auch das Mikroskop seine Sichtbarkeitsgrenzen hat. Die transzendente Welt fällt dagegen überhaupt prinzipiell außerhalb des Bereichs unseres Erkennens, da weder unsere Verstandesbegriffe noch unsere Sinne für sie Geltung besitzen. Diese Lösung der Frage nach den Grenzen der Erkenntnis kann nicht mehr als befriedigend angesehen werden. In Wahrheit ist auch das Transzendente nicht völlig unserem Erkennen entzogen. Allerdings sind uns dafür nur Hypothesen möglich. Aber nicht-hypothetischer Natur ist überhaupt nur, wie wir sahen, ganz außerordentlich wenig im Bereich des Erkennens, so wenig, daß es gerade innerhalb der Wirklichkeitswissenschaften nur einen fast verschwindenden Faktor ausmacht. Alles, was nicht unmittelbar gegenwärtiger Bewußtseinsinhalt in uns ist, ist für jedes Individuum hypothetischer Natur. Hypothesen sind aber auch über Objekte möglich, die außerhalb des Bereichs allen Wahrnehmens fallen. So bildet die Biologie Hypothesen über vitalistische Kräfte. Die Psychologie sucht aus der Beschaffenheit unseres Seelenlebens und seines Zusammenhangs mit dem Körper Gründe für oder gegen die Fortexistenz des Menschen nach dem Tod zu gewinnen. Auch die Prüfung der mediumistischen Phänomene zu diesem Zweck ist ein wissenschaftlich durchaus zulässiges, ja notwendiges Unternehmen (worin kein Vorurteil zugunsten des Spiritismus liegt). Kurz, die Grenzen unseres Erkennens sind keine scharfen, sondern sie verlaufen in Wahrheit ins Unbestimmte. Die Erkenntnis wird, je weiter wir uns von der unmittelbaren Wahrnehmung und den apriorisch sicheren Erkenntnissen entfernen, immer unsicherer, aber eine scharfe Grenze, an der sie plötzlich aufhört, existiert nicht. Für die Hypothesen selbst ist der einzige scharfe Wertmesser die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Aber leider ist sie nicht nur voller Fallstricke und vielfach sehr schwer oder gar nicht anwendbar, sondern es besteht auch nicht einmal eine Bürgschaft dafür, daß die wahrscheinlichste Hypothese stets auch die richtige ist. So wird man dann, je höher man die Ansprüche an unsere Erkenntnis stellt, umso mehr einer Art Skeptizismus in die Arme getrieben. Insbesondere haben die gewaltigen Umwälzungen, die das scheinbar so feststehende naturwissenschaftliche Weltbild des 19. Jahrhunderts in den letzten zwei Jahrzehnten erlitten hat, in uns das Bewußtsein für den hypothetischen Charakter der meisten Erkenntnisse gewaltig geschärft. Immerhin wäre nichts unrichtiger, als zu verzweifeln. Daß unser Erkennen im Ganzen auf dem richtigen Weg ist, wird bewiesen durch seine Anwendbarkeit in der Technik sowie im ganzen übrigen Leben, als auch durch die zahllosen rein theoretischen Fälle, in denen aufgrund der bisherigen Erkenntnisse Voraussagen über das künftige Weltgeschehen möglich sind. Neue richtigere Einsichten pflegen dann auch, genau besehen, meist die älteren nicht für völlig nichtig zu erklären, sondern lediglich in ihrer Tragweite einzuschränken oder sonstwie zu korrigieren. Die Erkenntnis wird durch weitere Fortschritte nur genauer, aber meist nicht auf eine völlig andere Basis gestellt. Noch gar nicht behandelt ist bis heute die Frage nach den Grenzen der phänomenologischen Erkenntnis, der "Wesensschau". Hier scheint zu gelten, daß jeder logische Inhalt, der zu unserem Bewußtsein kommt, auch Gegenstand des Erkennens werden kann. Die Hemmungen sind lediglich individuell-psychologischer Natur, d. h. in Mängeln dessen, was wir Begabung nennen, gelegen. Sonst sind keine erkennbar, denn auch die Schwierigkeiten, die wir etwa in den Begriffen des unendlich Kleinen und des unendlich Großen finden, können doch nicht anders charakterisiert werden, als daß wir ihrer intellektuell nicht völlig Herr werden. Mindestens sind etwaige mit der Unerkennbarkeit der unserer Wahrnehmung entzogenen metaphysischen konkreten Welt vergleichbare Erkenntnisgrenzen bisher nicht bekannt. |