p-4p-4p-3S. I. HayakawaH. GrosseStirnerFerrerMauthnerM. D. Vernon     
 
KARL GEORG BÖSE
Über Sinneswahrnehmung
und Intelligenz

[ein psychologisch-pädagogischer Versuch]
[1/2]

"Der Geist ist die Sprache, die er zu sprechen fähig ist; in seiner Sprache ist er der Schöpfer seiner Wahrnehmungen, seiner Begriffe, seiner Abstraktionen, d. h. sowohl der Außenwelt, die er in sich aufnimmt, als auch der Ideenwelt, die in ihm und aus ihm entsteht. Ein bloßer Grammatikunterricht genügt nicht, der menschlichen Sprache in diesem Sinn gerecht zu werden."

"Die Sinnesempfindungen sind keineswegs an und für sich Wahrnehmungen der äußeren Dinge selbst, auch wenn die Mehrzahl der Menschen wahrscheinlich fest überzeugt ist, sie sähe die Dinge selbst, sie hörte die schallende Glocke selbst etc. Im Gegenteil, was wir sehen, ist nicht die Blume, sondern das Netzhautbild derselben im Auge; was wir hören, ist nicht die tönende Glocke, sondern nur der mit derselben übereinstimmend vibrierende Gehörnerv."

"Man sitzt neben der Wanduhr und überhört den Stundenschlag; man richtet die Augen auf einen Gegenstand ohne denselben zu sehen etc.; die betreffenden Sinneseindrücke sind zustande gekommen, aber spurlos verloren gegangen. Der Grund dafür ist, wie man sich auszudrücken pflegt,  Geistesabwesenheit,  und die Beachtung von Fällen wie die angeführten drängt nur umso mehr zu der Überzeugung, daß eine rein sinnliche Erkenntnis unmöglich ist."

"Wir finden, daß der Sinneseindruck unmittelbar nichts ist als ein Zeichen, welches der Deutung bedarf und sich derselben darbietet. Wir finden, daß der Geist diese Deutung vornimmmt, durch alle ihm möglichen Mittel kontrolliert, in der Anwendung und Auffindung solcher wächst, in der Deutung dadurch immer sicherer wird - und so die Sinneswahrnehmung schafft."


Einleitung

Betrachtet der praktische Pädagoge die Literatur des Anschauungsunterrichts wie diejenige des Sprachunterrichts, oder beobachtet er die Kollegen in ihrem täglichen Werk an beiden Disziplinen, so findet er einesteils einen Kultus der Sinneswahrnehmung, zwar von fast entgegengesetzter Richtung, immer aber von einer Intensität und Qualität, als wäre er an seiner Stelle allein berechtigt; so findet er andernteils fast ausschließlich Grammatik, als wäre in den momentan geltenden Regeln der äußeren Sprachforschung die Sprache selbst gegeben. Es dürfte der Mühe wert sein zu untersuchen, ob beiderlei Unterricht in der bezeichneten Weise berechtigt ist, ob nicht vielmehr die Ziele, welche der Unterricht erreichen will, eine andere Richtung neben den angegebenen Tendenzen anzuerkennen fordern.

Es wird verlangt, daß im Anschauungsunterricht die Übung der Sinne vorherrschen soll, in der Weise, daß z. B. in Bezug auf den Gesichtssinn die Schärfe und Genauigkeit der Gesichtswahrnehmungen, Farbenunterscheidung, Abschätzung der räumlichen Dimensionen, Beurteilung der Perspektive usw. zu üben wäre. Die Lehrer der naturhistorischen Disziplinen fordern vom Anschauungsunterricht ein möglichst großes Quantum an naturhistorischem Einzelwissen als Grundlage für ihren darauf zu bauenden wissenschaftlichen Unterricht, und nötigen ihm dadurch die Ansammlung einer Masse von Sinneswahrnehmungen auf, gekleidet in Formen wie: Ich sehe Stamm, Zweige, Blätter, Blüte etc. - Der Stamm ist stielrund, zweizeilig behaart usw. - Ich sehe Kopf, Rumpf, Beine usw. - Der Kopf ist länglich, kurz behaart etc. Unbestreitbar haben beiderlei Gestaltungen des Anschauungsunterrichts ihren spezifischen Wert ansich. Aber die Entwicklung des Menschengeistes, welche sich die moderne Schule zur Aufgabe stellt, ist weder ausschließlich in der größtmöglichen Vervollkommnung des Funktionierens der Sinneswerkzeuge, noch ausschließlich in der größtmöglichen Ansammlung von Einzelwissen über die Außenwelt zu suchen, sondern mindestens ebenso wichtig muß es angesehen werden, den Menschengeist selbst in seiner Entwicklung zum Stoff des Unterrichts zu machen. Zwar behaupten die Vertreter jener Richtungen, die Entwicklung des Geistes gerade vorzüglich zu fördern, und das leisten sie auch, wenn auch ansich nur, insofern sie Material dazu herbeischaffen. Aber  der Geist ist die Sprache, die er zu sprechen fähig ist;  in seiner Sprache ist er der Schöpfer seiner Wahrnehmungen, seiner Begriffe, seiner Abstraktionen, d. h. sowohl der Außenwelt, die er in sich aufnimmt, als auch der Ideenwelt, die in ihm und aus ihm entsteht. Ein bloßer Grammatikunterricht genügt nicht, der menschlichen Sprache in diesem Sinn gerecht zu werden. Dieser ist zwar ansich nicht zu entbehren, aber er beschäftigt sich nicht mit der Sprache in ihrem Begriffs- und Abstraktionsleben, in ihrem geistschöpferischen Wesen.

Darauf aber müßten sowohl der Anschauungsunterricht als auch der Sprachunterricht mit Bewußtsein gerichtet sein, ebensowohl wie auf die heute gewöhnlich verfolgten Ziele, wenn beide der Tendenz einer modernen Schule gerecht werden wollen.

Das zu erweisen, scheint eine Untersuchung der Frage nach der Entstehung der Sinneswahrnehmung und ihrer Entwicklung zur Abstraktion notwendig. Denn wie der wunderbare Bau der Sprache nachzuweisendermaßen die freie Schöpfung des Menschengeistes ist, so erklärt sich diese Schöpfung in ihrem Ursprung und Verlauf einzig aus den geistigen Prozessen, deren Resultate die Sinneswahrnehmung und die Abstraktion sind, so zeigt sich erst aus diesen Untersuchungen, daß in der Sprache der intelligente Geist selber zu erfassen und zur wahrhaften Anschauung zu bringen ist.



Wie entsteht die Sinneswahrnehmung?

Die Grundbedingung der Sinneswahrnehmung ist das Gegenüber von Welt und Geist, insofern sich die Welt, zu der auch der Menschenleib gehört, dem Menschengeist als ein Etwas, das zu erkennen ist, aufdrängt. Daß der Geist dieses Etwas erkennen kann, verdankt er denjenigen Organen des Leibes, welche so eingerichtet sind, daß sie in gewisse bestimmte Zustände versetzt werden durch gewisse bestimmte Einwirkungen dieses Etwas auf dieselben. Somit sind die  Sinneseindrücke  der erste Faktor der Wahrnehmung. Da sich aber einerseits nachweisen läßt, daß der Sinneseindruck, obgleich völlig gesetzmäßig zustande gekommen, verloren gehen kann, ohne ein Residuum zu hinterlassen; da andererseits nachweislich die Übereinstimmung des Sinneseindrucks mit dem denselben hervorbringenden Substrat keineswegs mit dem Eindruck selbst gegeben ist: so drängt sich die Überzeugung auf, daß die angewirkten Zustände der Sinnesorgane erst durch die Mitwirkung eines zweiten Faktors, des  Geistes zur Wahrnehmung werden.

Die fünf Sinne des Menschen stimmen in mehrerlei Beziehung überein (1). Erstens sind sie jeder für Eindrücke ganz bestimmter Art geschaffen, so daß jeder Sinnesnerv durchaus nur Empfindungen seiner scharf begrenzten Spezialität haben kann, mag er erregt werden wie er will. Aber diese Empfindungen entbehren des realen Substrats, wenn sie nicht durch die sinngemäßen Prozesse der Natur hervorgerufen werden; der durch Druck hervorgebrachten Empfindung des Lichtblitzes im Auge entspricht keineswegs eine wirkliche Beleuchtung der Netzhaut, wie bei einer sinngemäßen Lichtempfindung. Kein Sinn kann den andern vertreten, insofern die Empfindungen der verschiedenen Sinne unteinander durchaus unvergleichbar sind. Zweitens bewegt sich für alle Sinne die Intensität der Eindrücke innerhalb gewisser Grenzen, unter welche hinab und über welche hinaus entweder gar keie oder doch keine deutlich bestimmte Wahrnehmung enstehen kann; das Sonnenlicht kann blenden, daß man eine Zeit lang nicht imstande ist, etwas bestimmtes zu sehen. Ebenso bewegen sich die Sinneszustände innerhalb bestimmter Grenzen in Bezug auf das Wohlbefinden der Sinnesorgane und des gesamten Körpers; ist ein Sinnesorgan seiner selbst wie seiner Tätigkeit gemäß affiziert, so verbindet sich mit der Affektion Wohlgefühl, Lust, andernfalls, sowohl bei Hemmung wie bei Übermaß, Übelgefühl, Schmerz. Schließlich rufen drittens alle Sinnesempfindungen organische Reaktionen hervor, zunächst im betreffenden Organ, z. B. im Ohr das Gellen bei allzu heftiger Schallempfindung, sodann aber im übrigen Körper namentlich gewisse Bewegungen.

Die Sinne sind uns also nicht allein Werkzeuge, uns das Äußere kund zu tun, sondern auch uns zu unterrichten über die Beziehung des Äußeren zum Wohlbefinden unseres Körpers. Vergleichen wir die Sinne aus diesen beiden Gesichtspunkten untereinander, so zeigen sich große Unterschiede. Den reichsten Stoff für das Erkennen bietet uns das Auge dar; dagegen ist es als Sehorgan verhältnismäßig arm an auffallendem Schmerz- oder Lustgefühl. Auf den Gesichtssinn folgen Gehör, Geruch, Geschmack, Tastsinn in absteigender Intellektualität, in wachsendem Umfang von Lust- und Schmerzgefühlen.

Die feinen Verästelungen oder Endgestaltungen spezifischer Nervenstränge sind es in den Sinneswerkzeugen, welche die Affektionen erfahren. Kunde geben diese Affektionen jedoch an und für sich nichts als sich selber.

Das geht schon daraus hervor, daß man eine Lichtempfindung haben kann durch die Verletzung des Sehnerven ohne Lichteinwirkung von außen, daß wir einen Schall zu hören glauben, wenn durch irgendeinen Vorgang im Ohr, der völlig schalllos sein kann, der Gehörnerv in Vibration gerät usw. Ich habe selber vor einiger Zeit einen Zustand der Tastnerven in den Fingerspitzen erlebt, wobei ich die Empfindung hatte, es nur mit einem besonderen Zustand des Tastnerven in scharf lokaler Begrenzung zu tun zu haben. Aber auch diejenigen Sinnesempfindungen, welche sinngemäß entstehen, sind keineswegs an und für sich Wahrnehmungen der äußeren Dinge selbst, welche sie in Verbindung mit der Organisation des Sinneswerkzeuges hervorrufen, auch wenn die Mehrzahl der Menschen wahrscheinlich fest überzeugt ist, sie sähe die Dinge selbst, sie hörte die schallende Glocke selbst etc. Im Gegenteil, was wir sehen, ist nicht die Blume, sondern das Netzhautbild derselben im Auge; was wir hören, ist nicht die tönende Glocke, sondern nur der mit derselben übereinstimmend vibrierende Gehörnerv. Das Bedarf des Beweises, welcher sich allerdings nur durch die unbefangendste Prüfung der Sinnesempfindung gewinnen läßt.

Prüfen wir eine Tastempfindung, z. B. einen Druck, so muß sofort zugestanden werden, daß nichts damit gegeben ist, als eine Empfindung von der bewirkten Veränderung des inneren Zusammenhangs des Tastnerven. Die Behauptung demnach, daß man einen Körper "fühlt", d. h. den Körper ansich durch den Tastsinn wahrnimmt, ist unhaltbar, weil die reine Tastempfindung keine einzige Qualität des Körpers, weder Raum- noch Zeitverhältnisse, weder ein Urteil über Kohäsion [Zusammenhalt - wp] noch über die Materie desselben etc. enthält. Diese Ideen werden erst zur reinen Gefühlsempfindung hinzugetan. Nicht einmal das ist in der Empfindung unmittelbar gegeben, daß sie ein Zustand eines Gliedes unseres Leibes ist. Der Amputierte fühlt noch lange nach der Amputation die gewohnten Hühneraugenschmerzen bei beginnendem Wetterwechsel, fühlt sie unbestreitbar, und hat doch den Fuß nicht mehr, der das empfindende Glied war. Schmerzen im Inneren der Bauchhöhle werden empfunden, aber dem Laien ist es unmöglich, das leidende Organ zu bezeichnen, und selbst der unterrichtete Arzt täuscht sich gewiß oft genug an seinem Patienten wie an sich selber.

Die Geschmacks- und Geruchsempfindung ist der bestimmte Zustand der betreffenden Nerven, welcher durch die chemischen Beschaffenheiten der entweder in alkalischem Wasser (Speichel) löslichen oder der luftförmigen Stoffe hervorgerufen wird. Wir schmecken und riechen nicht die Stoffe, enn wir erfahren in der Geschmacks- oder Geruchsempfindung ansich nichts von denselben. Da die Nerven den Zustand, in den sie versetzt sind, eine Zeit lang festhalten, dauern die Geschmäcke und Gerüche oft fort, wenn auch die verursachenden Stoffe längst entfernt sind. Andererseits schmecken und riechen - wie man sich auszudrücken pflegt - dieselben Stoffe oft sehr verschieen, weil besondere allgemeine Körperzustände die Empfindungsweise der Nerven modifizieren können. Wir haben es also auch hier mit nichts zu tun, als mit dem Bewußtwerden der Empfindung von der vorgegangenen chemischen Veränderung des Geschmacks- und Geruchsnerven.

Wenn man sagt, man höre die Glocke, so spricht man nur in dem Sinn richtig, wenn man damit sagen will, man vernehme die Glocke mittels des Gehörsinnes. Die Glocke wahrzunehmen ist aber mehr nötig als die reine Gehörsempfindung. Wenn die Glocke schallt, so erregt sie durch ihre innere Substanzvibration die Fähigkeit zu vibrieren in allen benachbarten Substanzen, und zwar nach allen Seiten, so daß diese Erregung sich nach allen Seiten hin fortpflanzt. So wird schließlich auch der Gehörnerv in seinen dafür empfänglichen Endungen erregt. Das empfinden wir und sagen, daß wir hören. Stürbe der Gehörnerv ab, so würde die Erregung nicht mehr auf ihn übertragen; wir würden nicht mehr hören, obgleich die Glocke tönt. Schließt man das Ohr künstlich, so hört man dennoch, wenn auch schwächer, weil das den Gehörnerv umschließende Geknoch die Vibration auf ihn überträgt. Die Gehörepmfindung unterscheidet wohl Klangfarbe, Höhe und Tiefe, Stärke und Schwäche der erregten Nervenvibration; aber auch ohne äußere Erregng kann der Nerv vibrieren, und ebenso kann er auch neben, von außen erregter Vibration selbständig vibrieren in Neben- und Nachtönen. Von der Wesenheit der Glocke ist aber in der Gehörempfindung nichts mitgegeben; sie ist nichts als die Empfindung von der Vibration des Gehörnerven.

Das Auge endlich nimmt ebenfalls nicht die Dinge wahr, sondern es werden nur die Zustände des Sehnerven empfunden, welche auf eine regelmäßige Weise durch Lichteindrücke, sonst aber durch Druck, durch den elektrischen Strom etc. hervorgebracht werden. Der Gesichtssinn ist allerdings der am weitesten und tiefsten in die Außenwelt eindringende Sinn des Menschen, der intellektuellste der fünf Sinne, aber dennoch steht er unter demselben Gesetz wie die übrigen, daß er unmittelbar nur sich selbst empfindet. Sein Organ, das Auge, hat nach HELMHOLTZ wohl so ziemlich alle Fehler, die an optischen Instrumenten vorkommen können, und noch andere, z. B. Farbenzerstreuung, Astigmatismus, Fluoreszenz, Lücken im Gesichtsfeld, unvollkommene Durchsichtigkeit der Augenflüssigkeiten, der Linse, unregelmäßige Gestalt der Linse, "fliegende Mücken" etc.; dagegen ist durch seine Leichtbeweglichkeit, durch die Ausdehnung seines Gesichtsfeldes usw. dafür gesorgt, daß diese Fehler ausgeglichen werden. Das Licht nun, welches von den verschiedenen Punkten des Gesichtsfeldes vermischt ins Auge dringt, wird gesondert, so daß, was von  eine  Punkt ausgegangen ist,  ein  Nervenzäpfchen erregt und so zur Empfindung kommt. Die Gesamtheit der erregten Nervenzäpfchen entspricht in bestimmter Ordnung, den Gesetzen der Lichtbrechung durch Hornhaut und Linse gemäß, den lichtgebenden Punkten des Objekts und stellt das Netzhautbild dar. Dieses Netzhautbild, wirklich in mehr als einer Beziehung unvollkommener als das Bild einer guten  camera obscura,  ist es ausschließlich, was im Auge empfunden wird, und wiederum besitzt diese Empfindung nichts von den Qualitäten der Gegenstände, welche dieselbe hervorrufen.

Diese Prüfung der Sinneseindrücke beweist, daß dieselben ansich nichts sind als spezifische Zustände der Sinnesnerven, welche empfunden werden; daß sie  ansich  uns in nichts belehren über die Welt um uns, weil die Überzeugung, es gebe Dinge um uns, deren Eigenschaften und Tätigkeiten mit dem übereinstimmen, was unsere Sinnesempfindung enthält, nicht im entferntesten durch die reine Sinnesempfindung gegeben ist.

Aber die reine Sinnesempfindung ansich existiert sogar ganz und gar nicht für uns, denn sie geht, obgleich unbestreitbar zustande gekommen, oft genug gänzlich spurlos für uns verloren. Da sucht Einer den Hut, den er doch schon auf dem Kopf hat; die Tastempfindung ist vorhanden, nur existiert sie im Augenblick nicht für den Suchenden. Man sitzt neben der Wanduhr und überhört den Stundenschlag; man richtet die Augen auf einen Gegenstand ohne denselben zu sehen etc.; die betreffenden Sinneseindrücke sind zustande gekommen, aber spurlos verloren gegangen. Der Grund dafür ist, wie man sich auszudrücken pflegt, Geistesabwesenheit, und die Beachtung von Fällen wie die angeführten drängt nur umso mehr zu der Überzeugung, daß eine rein sinnliche Erkenntnis unmöglich ist.

Zue  Wahrnehmung  wird der Sinneseindruck erst durch den zweiten Faktor, durch den seiner selbst bewußten Geist.

Das neugeborene Kind lassen alle diese rein physikalischen oder chemischen Einwirkungen auf seine Sinnesnerven scheinbar völlig gleichgültig; es scheint sie hinzunehmen, ohne sich auch nur dessen bewußt zu werden, daß es sich ums eine eigenen Zustände handelt. Für den oberflächlichen Beobachter dauert dieses neutrale Verhalten des Kindes ziemlich lange; nach der Volksansicht beginnt das Kind erst nach Ablauf des "dummen Vierteljahres" Verstand zu entwickeln. Was sich aber entwickeln soll, muß nun einmal bereits vorhanden sein. Den Sinneseindrücken ist das Kind von Geburt an offen; so muß auch dasjenige von Geburt an gegeben sein, was den Sinneseindruck in Erkenntnis umsetzt, zur Wahrnehmung macht:  der beschaffene Geist.  Und eine wahrhafte Schöpfung ist es, wenn der Geist aus der Summa der rein subjektiven Sinneseindrücke sich die unzweifelhafte Gewißheit von der objektiven Realität eines für wahr genommenen Dinges verschafft, von dem doch als von einem solchen nichts unmittelbar in den Geist übergeht.

Die Sinneserregungen bleiben nicht haften an der Erregungsstelle im Sinnesorgan; die Nerven pflanzen sie bis ins Gehirn fort, und nun gelangen sie zum  Bewußtsein Bewußtsein ist das unentbehrliche Attribut des Geistes. Schläft der Geist oder ist er gänzlich vom Interesse für einen bestimmten Stoff absorbiert, so gehört schon ein hoher Grad von Mächtigkeit der Sinneserregung dazu, um zum Bewußtwerden durchzudringen. Geschieht dies nicht, so verrauscht die Erregung ohne Spur: der Geist ist ihr nicht gegenübergetreten. Geschieht es, so stellt der Geist sich ihr gegenüber und gestaltet aus ihr, was ihm für den Augenblick gesetzmäßig erscheint, z. B. aus dem Schlaf aufschreckend oft genug ganz unmotivierte Gebilde. Der Geist ist ein Anderes als die Sinneserregung und ist davon von vornherein überzeugt. Ohne diese Überzeugung, ohne das Selbstbewußtsein würden Objekt, Sinneserregung und Subjekt als ein und dasselbe gelten müssen, d. h. der Geist würde niemals imstande sein, aus sich heraus zur Vorstellung der Realität der den Sinn erregenden Objekte, zur Vorstellung des Etwas außerhalb von ihm zu gelangen.

Entstehen kann das Selbstbewußtsein im Geist nicht, es muß gleich mit demselben gegeben sein. Die Volksredeweise vom Erwachen desselben statuiert nichts als die oberflächliche Beobachtung des sich entwickelnden Kindes, welche sich die leiseren Spuren des Selbstbewußtseins in den frühesten Stadien des Lebens entgehen läßt. Aber schon der Umstand, daß sich der plötzliche Übergang von einem Zustand völligen Aufgehens in die Gesamtwelt zur Geltendmachung des Ich der Außenwelt gegenüber in keiner Analogie findet, drängt zu der Überzeugung, daß ein solcher Übergang nicht statthaben kann. Zudem wäre derselbe eine totale Umwälzung des Geisteslebens, - so weit unter Voraussetzung des Mangels des Selbstbewußtseins von solchem gesprochen werden kann - daß er, wenn er erst an irgendeinem Zeitpunkt nach dem Eintritt des Kindes in Lebens vor sich ginge, sich durch völlig unzweifelhafte Kennzeichen ankündigen müßte, während das doch keineswegs der Fall ist. Muß denn aber wirklich der erste Schrei des neugeborenen Kindes, der sogenannte Geburtsschrei, nichts sein als eine mechanische Reaktion gegen as erste Eindringen der Luft in die Lungen? Kann er nicht ebensowohl eine Reaktion des Bewußtseins gegen das Eindringen der Außenwelt sein, welche für den Fötus in der jetzt dem Geborenen entgegentretenden Form bis dahin nicht vorhanden war? Und ein Leben, welches frei von Empfindungen geblieben wäre, hat der Fötus bis zur Geburt nicht geführt, nur ein Leben unter anderen Bedingungen als nach der Geburt. Ein Zeitpunkt während des Lebens des Menschen, wo das Bewußtsein plötzlich erwachen könnte, läßt sich nicht finden. Aber gewiß ist, daß es selbst entwicklungsfähig ist und in Quantität und Intensität wachsen kann, so daß dasjenige, was Einer im gegebenen Fall das Erwachen des Bewußtseins nennt, nichts bezeichnet als eine Entwicklungsstufe desselben, auf welcher es sich schließlich auch einem blöden Auge greifbar darstellt.

Auch von anderer Seite her stellt sich das Bewußtsein als unerläßliches Attribut des Geistes dar. Löst man von einem Produkt des Geistes aus der Sphäre des sinnlichen Vorstellens eine Qualität nach der anderen ab, so bleibt zuletzt nach allen, nachdem auch die Qualität des Stofflichen abgeworfen ist, die Qualität des Raumes übrig, die an nicht mehr weglassen kann. Aber einen Schritt weiter, so findet man vor der, nach KANT, "Kritik der reinen Vernunft", unabkömmlichen Idee des Raumes den analysierenden Geist, welcher in der Frage nach der Abkömmlichkeit der Raumidee seine eigene Unabhängigkeit vom Raum beweist; er selbst würde bleiben, wenn es ihm auch gelänge, die Idee des Raumes abzutun, er selbst seiner bewußt. Also muß der Geist vorstellbar sein auch ohne die ursprüngliche Idee des Raumes, und muß auch der weitestgehenden Analyse seiner Produkte gegenüber als letzter Urgrund derselben in seinem Bewußtsein stehen bleiben: dies auch noch abgestreift, versänke alles in ein nicht vorstellbares Nichts.

Der selbstbewußte Geist kann nun den ihm zugeführten Sinnesempfindungen gegenüber nicht tatenlos bleiben. Schon die mit denselben verknüpften Lust- und Schmerzgefühle reizen ihn, die Zufuhr zu suchen, zu verstärken, auszuwählen, oder abzuwehren, zu verringern. Die dadurch angeregte Beobachtung und Prüfung der Empfindungen hat für ihn die allgemeinere Bedeutung, sich zum Herrn desjenigen zu machen, was ihm zugeführt wird, d. h. damit nach  seinem  Gesetz zu verfahren. Diese Prüfung steigert sich schnell durch das Experiment, durch eine Beobachtung des durch den eigenen Willensakt hergestellten Beobachtungsobjektes. Die Erfahrung stellt sich nämlich schnell ein, daß durch einen einfachen Willensakt eine Sinnesaffektion wiederholt werden kann, und nur wird es dem Geist zum erfreuenden Spiel, dieselben Sinneseindrücke sich immer wieder zu verschaffen. Sofort lehrt aber auch die Erfahrung, daß diese erstrebte Wiederholung doch nicht immer allein vom eigenen Willen abhängig. Das ergibt den ersten Schritt zu der Überzeugung von dem  Etwas,  welches neben und außer dem sich selbst bestimmenden Geist sein muß, um das Experiment zu ermöglichen, da derselbe die Erfahrung macht, daß er nicht selbst die Ursache der empfundenen Sinneszustände ist. Der eigene Körper bietet ihm unstreitig den ersten Stoff zu diesem Experimenten, und die Erfahrung, daß die Sinnesempfindung unbedingt auf eine spezifische Sinnestätigkeit an dem jeden Augenblick dem Kind zu Gebote stehenden Substrat folgt, begründet die  Idee von Ursache und Wirkung,  welche die Idee des Etwas außerhalb des Geistes erst recht befestigt, als den Komplex der Ursachen, welche die Sinnesempfindungen als Wirkung hervorbringen. Die tastende Rechte bringt dem Geist die Empfindung der betasteten Linken; letztere aber produziert gleichtzeitig die Empfindung von der tastenden Rechten, und das Zusammentreffen der Gesichtsempfindung mit beiderlei Tastempfindung lehrt nach und nach das Kind den eigenen Körper kennen und sich desselben bewußt werden; in demselben Maß wird das Experimentieren mit demselben lebhafter. Eine Art von Sinnesempfindung bestätigt die andere, ist die Probe auf die andere. Eine Art von Sinnesempfindung betätigt die andere, ist die Probe auf die andere. Der Wechsel dieser Experimente beruth nun zunächst wesentlich auf Bewegungen der Objekte, also auf Raumveränderungen derselben: das ergibt die Idee des  Raumes , und sodann, durch die beobachtete Folge von Wirkung und Ursache, von Sinnesemmpfindung auf Bewegung, von Sinnesempfindung auf Sinnesempfindung, weil Bewegung auf Bewegung folgt, die Idee der  Zeit Die Ideen von Raum und Zeit  müssen  aber als Frucht der Erfahrung angesehen werden, weil einerseits das Urteil der Erwachsenen über beide ebenfalls durch Erfahrung, durch Experimentieren geschärft und verfeinert wird, und weil andererseits die Ideen des begrenzten Raumes und der begrenzten Zeit, welche sinnlich vorstellbar sind, sich nach und nach steigern lassen zu den, zwar nicht mehr sinnlich vorstellbaren, doch aber mit Notwendigkeit zuzugestehenden Ideen der Unendlichkeit und der Ewigkeit. Diese Steigerung besteht nämlich darin, daß sich die endliche, sinnlich vorstellbare Idee nach und nach durch die Erfahrung weitet und zu der außerhalb der Erfahrung liegenden Begrenzung im Unendlichen fortschreitet.

Grundideen darf man die des Etwas, der Ursache und Wirkung des Raumes, der Zeit nennen, da sie sich dem beobachtenden bewußten Geist als die allgemeinsten Attribute der Beobachtungsobjekte vor allem aufdrängen. Ihre Gewinnung muß aber durchaus der Erfahrung zugeschrieben werden, da der Geist ansich keine Begrenzung von Raum und Zeit, keinen Gegensatz zu einem Etwas außer ihm, kein Ursächliches und Gewirktes kennt, vielmehr all das sich erst selber schaffen muß aus den seinem Bewußtsein sich darbietenden, durch das Etwas außer ihm angewirkten Zuständen der Sinnesorgane.

Langsam geschehen anfangs die Fortschritte des Kindes, denn fortwährend türen sich vor seinem Geist im engsten Stoff des eigenen Leibes neue Zweifel auf. Plötzlich entdeckt es z. B. sein Händchen in einem Netzhautbild von bisher nicht beobachteter Verschränkung, und erst die Kontrolle der Gesichtsempfindung durch den Tastsinn läßt es allählich erkennen, daß es immer noch dieselbe Hand ist, welche es schon oft getastet hat. Im höheren Lebensalter operierten Blinden ergeht es mit ihren neuen Gesichtsemmpfindungen nicht anders. Immer neues Experiment mit den Händchen gibt Wiederholung der Tast- wie der Gesichtsempfindung und prägt sie in ihrer Übereinstimmung nach und nach immer fester dem Bewußtsein ein, so daß sie in demselben eine selbständige Existenz gewinnen auch ohne eine unmittelbar gleichzeitige Wiederholung des Experiments. Diese Festigung der Empfindung im Bewußtsein, als durch die Idee der Kausalität mit dem Objekt verknüpft, ergibt die  Idee der Eigenschaft  am Etwas außer dem bewußt experimentierenden und dadurch erfahrenden Geist.

Diese Ideen und andere, nämlich die vom Ganzen und vom Teil, vom Stoff im Raum, von der Beziehung, vom Verhältnis etc., bringt der Geist nach und nach, wie er sie sich durch das Experiment schafft, zur Sinnesempfindung hinzu. Zunächst zu der vom eigenen Körper, dann weitergehend von all seinen Umgebungen. Durch diese in Erfahrung gebrachten Ideen lernt nun der Geist die Sinnesempfindungen deuten, lernt sie übertragen auf das Etwas im Raum außerhalb von ihm, welches die Ursache seines Sinneszustandes ist, der Zeit nach fortwirkt und gewisse Eigenschaften hat, die eben die verschiedenen Sinneszustände bewirken. Das ist eine Aufgabe, die dem Erwachsenen oft genug zu schaffen macht, deren Lösung zu beginnen dem Kind alle Kraft, Zeit und Gelegenheit in Anspruch nimmt.

Man sehe das Kind, wie es die ersten Wochen seines Lebens hindurch arbeitet, um sich nur einigermaßen im Chaos der auf seine Sinne eindringenden Anwirkungen zurechtzufinden. Die Sinneseindrücke ansich sind es wahrlich nicht, was wir die Sinneswahrnehmung nennen dürfen; diese muß erst durch geistige Arbeit aus jenen geschaffen werden. Sonst müßte nicht der Blick des eben Geborenen uns Erwachsenen so stumpf erscheinen, uns, die wir uns jener Geistesarbeit bei  unserem  Blick aus Gewöhnung nicht mehr bewußt werden und deshalb beim Kind an die Notwendigkeit derselben nicht denken. Sonst müßte das Kind niemals irren, wenn es z. B. die Mutterbrust sucht, denn der erste Sinneseindruck müßte sofort volles Verständnis in sich tragen, da er ansich ebenso vollkomen sein kann wie jeder in der Wiederholung folgende. Die Deutung der Sinneseindrücke aber und ihre Sonderung aus dem Chaos muß in den ersten Lebenswochen notwendigerweise umso langsamer fortschreiten, weil die Sinnesorgane ansich noch besondere Schwierigkeiten machen. Als ein Beispiel möge der Gesichtssinn noch einer kurzen Betrachtung unterzogen werden (2).

Vom ersten Öffnen des Auges an arbeitet der bewußte Geist an der Deutung der Gesichtsempfindungen, an der Schöpfung der Gesichtswahrnehmungen. Dabei gilt es eine Reihe von Schwierigkeiten zu überwinden, welche durch den Bau und die Einrichtung des Sehorganes der richtigen Deutung der speziellen Gesichtsempfindungen in den Weg gelegt werden.

1. Das  zweifache Sehen  ein und desselben Gegenstandes muß anfangs verwirren. Nachgewiesenermaßen werden die zwei Netzhautbilder von demselben Gegenstand selbständig von einanander ins geistige Bewußtsein übergeführt. Beide stimmen keineswegs durchaus überein, schon des verschiedenen Augenwinkels wegen, und auch, weil die beiden Augen keineswegs zuverlässig übereinstimmen. Das Zusammenwirken des Tastsinns mit dem Gesicht muß erst am Substrat des eigenen Körpers dem Kind die Erfahrung geben, daß die zwei Bilder nur zwei Zeichen sind für einen einfachen Gegenstand, und diese Erfahrung muß dann auf die Gegenstände außerhalb des Körpers übertragen werden, daß sie zur Wahrnehmung führt auch ohne die jedesmalige unmittelbare Kontrolle des Tastsinnes. So  lernt  das Kind allmählich die zwei Netzhautbilder vom selben Gegenstand zu einem einheitlichen Bewußtsein zu bringen.

2. Nach optischem Gesetz kehren die Netzhautbilder das Oben und Unten, das Rechts und Links um, und in dieser Verkehrung kommen sie, als Zustände der Netzhaut, unbestreitbar dem Kind zu Bewußtsein. Das muß notwendig demselben große Schwierigkeiten mmachen, und wir sehen dies an der Unzweckmäßigkeit der Bewegungen des Kindes, bis dieselbe überwunden ist; oft genug geraten sogar Erwachsene in Verwirrung bei der Bestimmung von Rechts und Links an Gegenständen, die sie in einer Stirnansicht sich zugewendet vorstellen sollen. Wir versetzen den Punkt des Netzhautbildes aus dem Auge hinaus in der letzten Richtung des einfallenden Strahls,, und so stellen sich in der Vorstellung außerhalb des Auges die Verhältnisse wieder her. Aber so weit wird man nicht ohne weiteres Geistesoperation und physikalisches Gesetz der Lupe vermischen dürfen, namentlich wo es sich darum handelt, das Sehen lernen  des Kindes zu erklären; zum unmittelbaren Geistesbewußtsein gelangen nur die Lichtempfindungen der speziell lichterregten Nervenzäpfchen der Netzhaut, nicht aber die lichterregenden Strahlen in ihrer Richtungsverschiedenheit, und die Herstellung des Oben und Unten etc. im Erkennen des Geistes würde die entweder erworbene oder angeborene Bekanntschaft desselben mit den optischen Gesetzen zur Voraussetzung haben müssen. Andernfalls müßte der wegen der Ablenkung durch die Linse schief einfallende Strahl eine spezifisch andere Lichtempfindung hervorbringen als der ungebrochen und deshalb senkrecht einfallend Achsenstrahl, nämlich eine Lichtempfindung, welcher unmittelbar die Qualität der Richtung des erregenden Strahles innewohnt. Das würde dann wieder für das Kind die Schwierigkeit bedeuten, die verschiedenen Lichtempfindungen richtig beurteilen zu lernen. Jedenfalls korrigiert wiederum der Tastsinn an den eigenen Händchen des Kindes diese Verkehrung des Oben und Unten etc. Die so gewonnene Erfahrung wird auf alles übrige Gesehene übertragen und das Kind  lernt  aufrecht sehen, lernt das Rechts und Links richtig bestimmen. Dieselbe Erscheinung bieten erwachsene Blindgeborene, wenn ihnen die Operation des Arztes das Augenlicht endlich gegeben hat: auch sie müssen  lernen  aufrecht zu sehen.

3. Daß im Gesichtsfeld nur eine verhältnismäßig kleine Region ein scharf gezeichnetes Bild gibt, diejenige nämlich, deren Lichteindrücke von dem, aus feineren Nervenzäpfchen gebildeten sogenannten  gelben Fleck  in der Netzhaut aufgefaßt werden, während das gesamte übrige Gesichtsfeld in einer nach der Peripherie hin zunehmenden Unbestimmtheit verbleibt, bedarf für den Kindesgeist ebenfalls der vorgängigen Deutung durch unablässig wiederholtes Experiment. Der Tastsinn kommt zu Hilfe, und so  lernt  das Kind seine Augen auf den Gegenstand richten, der ihn zu diesem Willensakt anregt. Das Netzhautbild ansich kann das nicht bewirken, weil es ansich keinen Maßstab für die Beurteilung einer größeren oder geringeren Deutlichkeit des Bildes enthält.

4. Der bekannte  dunkle, sogenannte Mariottsche Fleck  der Netzhaut, die Mündungsstelle des Sehnerven in dieselbe, ist durch Lichteindrücke nicht erregbar, weil in demselben die Zäpfchen fehlen. Sicher kommt dem Kind dieser blinde Fleck in jeder Lichterregung der Netzhäute zum Bewußtsein, also daß es einen Gegenstand halb ganz, halb ohne irgend einen seiner Teile sieht, weil letzterer daann gerade in der Achse des blinden Flecks liegt. Durch die geistige Arbeit des Kindes muß das Bewußtwerden diesen blinden Flecks als Lücke im Netzhautbild erst eliminiert werden, ehe dieses letztere zur richtigen Deutung gelangen kann. Bis das geschieht - die außerordentliche Beweglichkeit des Auges befördert und erleichter es - muß notwendig diese Lücke das Kind immer von Neuem verwirren. Dem erwachsenen Sehenden kommt der blinde Fleck so wenig mehr zum Bewußtsein, daß von demselben niemand weiß, als wer auf seine Existenz besonders aufmerksam gemacht worden ist. Um diese Lücke im Gesichtsfeld zu erkennen, läßt HELMHOLTZ auf weißes Papier horizontal nebeneinander links ein kleines Kreuzchen, rechts etwa drei Zoll entfernt einen kreisförmigen schwarzen Fleck von einem halben Zoll zeichnen. Das linke Auge geschlossen, fixiere man mit dem rechten das Kreuzchen und nähere das Papier aus größerer Entfernung langsam dem Auge: in etwa 11 Zoll Entfernung sieht man dann den schwarzen Kreis verschwinden, und er wird wieder sichtbar, wenn man das Papier weiter nähert. Der dunkle Fleck ist eine Unvollkommenheit des Auges, sofern man es als ein optisches Werkzeug ansieht; diese Unvollkommenheit auszugleichen ist schaffende Arbeit des Geistes.

5. Die  Farben  machen unstreitig dem Kind eine weitere große Schwierigkeit. Sie sind einfach qualitativ verschiedene Lichteindrücke; gleiches Licht aber erregt unter gleichen Umständen die gleiche Farbempfindung. Da nun die Umstände unaufhörlich wechseln, so kann das Licht sehr verschiedenartige Farbempfindungen bewirken. Beleuchtet man leuchtend roten Zinnober mit Licht, welchem das Rot felt, so erscheint er fast schwarz. Ich bewies einstmals einem Spiegelhändler, daß sein angepriesenes Spiegelglas grünlich ist, indem das Spiegelbild von einem rein rot kolorierten sogenannten Pariser Bild braun erschien. Wie den Erwachsenen diese Unterscheidung oft genug gänzlich verloren geht, weil der bewußte Geist sich über den Wechsel der Erscheinung erhoben hat, und nur auf noch höherer Stufe der Herrschaft über die wechselnden Umstände sich jenes Wechsels der Erscheinung wieder bewußt wird, so hat der Kindesgeist die schwierige Arbeit zu absolvieren, aus dem ewigen Wechsel der Farbenempfindung, hervorgebracht durch den Wechsel der Umstände, das Dauernde durch die Erfahrung festzustellen.

6. Ebenso müssen die  Nachbilder,  welche in die folgenden positien Netzhautbilder einfallen, dem Kindesgeist Arbeit machen. Ist das Auge durch die Fixierung eines hellen Gegenstandes auf dunklem Hintergrund in einem genügend scharf begrenzten Teil der Netzhaut ermüdet, so entsteht, wenn man es danach auf einen dunkelgrauen Grund richtet, auf demselben ein Nachbild von jenem Gegenstand, welches in der Beleuchtung entgegengesetzt erscheint, nämlich das Dunkle hell, das Helle dunkel zeigt. Ein zufälliges Blicken in die Sonne bewirkt meist mehrere kreisrunde dunkle Nachbilder; bei der überwältigenden Lichtmasse, welche dabei ins Auge fällt, ist die Ermüdung der Netzhaut fast augenblicklich da, und obgleich das Auge sofort ausweicht, ermüden während des Ausweichens, so schnell es auch geschieht, dennoch mehr als eine kreisrunde Stelle der Netzhaut. Daß nun diese Nachbilder, deren Hin- und Hertanzen die Leichtbeweglichkeit des Auges zeigt, nicht zum Bild der nachher gesehenen Gegenstände gehören, in welches sie doch überzugehen scheinen, muß wieder auf dem Weg der Erfahrung erst  gelernt  werden.

7. Schließlich ist noch einmal zurückzukommen auf das  zweifache Sehen unter zweierlei Augenwinkeln.  Dasselbe verursacht nicht bloß die Geistesarbeit, zu lernen, daß die zwei Bilder nur zwei Zeichen für ein und denselben Gegenstand sind, sondern es bringt dem Kind oder dem erwachsenen Anfänger im Sehen unter unablässigem Experiment die erfahrungsmäßige Grundlage der Raumidee, nämlich das  Tiefensehen (das körperliche oder perspektivische Sehen). Jedes Netzhautbild ist ein Flächenbild mit nur zwei Ausdehnungen. Die zwei Netzhautbilder vom selben Gegenstand gelangen im Akt des Bewußtwerdens keineswegs zur Deckung, kommen vielmehr gleichzeitig als durchaus unterscheidbare Empfindungen unverschmolzen zu Bewußtsein, was durch stereoskopische Versuche klar erwiesen ist. Daß aus ihnen ein einfaches Anschauungsbild von einem körperlichen Gegenstand entsteht, beruth also nicht auf dem Mechanismus der Empfindung, sondern auf der Geistestätigkeit an den jedesmaligen zweifachen Empfindungen, welche, bei Kind an seinem nächsten Beobachtungsobjekt vielleicht obendrein kontrolliert durch die Tastempfindung, in den Zustand eines einheitlichen Bewußtseins übergeführt werden, aber als zwei Bilder aus verschiedenen Augenwinkeln bewußt bleiben. Welche Geistesarbeit diese Operationen dem Kind machen müssen, beweisen die Erwachsenen. Jeder Erwachsene sieht in dem vor ihm stehenden Ofen nicht allein die Flächenausdehnung der Breite und Höhe, sondern ebenso unmittelbar die dritte Ausdehnung der Tiefe, und ist sich unmittelbar bewußt, daß er einen raumerfüllenden Körper vor sich hat. Soll nun aber das Gesehene durch eine Zeichnung dargestellt werden, so wird ein sehr großer Teil der Erwachsenen, wenn auch im geometrischen Zeichnen geübt, völlig ratlos der Aufgabe gegenüberstehen, die zwei verschiedenen Netzhautbilder in ein einziges Flächenbild zu vereinigen, welches einem fremden Beschauer denselben Eindruck macht wie der raumerfüllende Gegenstand selber. Von dem was der Erwachsene mehr oder weniger mühsam lernen muß, nämlich die zwei Netzhautbilder zu sondern, daß er sie richtig perspektivisch darstellt, hat der Anfänger im Sehen das Entgegengesetzte zu tun, nämlich dieselben zu einem Anschauungsbild des raumerfüllenden Körperlichen zu vereinigen.

Es ergibt sich also, daß die Sinneseindrücke nichts sind als Zeichen, welche, empfunden als Zustände unserer Sinnesnerven, Dasein und Qualität einer Außenwelt ankündigen, daß aber eine Darstellung dieser Außenwelt im Bewußtsein, eine Sinneswahrnehmung, erst durch den seiner selbst bewußten Geist geschaffen wird, indem er die Sinneseindrücke die einen durch die andern kontrolliert, sie deutet, sondert, vergleicht und vereinigt. Diese Geistesschöpfung, die Wahrnehmung, ist nicht die Außenweltf, denn sie hat nichts mit derselben gemein. Aber sie hat volle Realität im Bewußtsein des Geistes, der sie aus sich hinausstellt, wie er sie sich geschaffen hat, um sich ihr gegenüber der unumschränkten Herrschaft bewußt zu sein, um ihre Kongruenz mit der als materiell vorhanden gesetzten Außenwelt mehr und mehr zu steigern, und um endlich eine eigene Welt neben, aus und über der realen äußeren in ihm selber zu schaffen.

Eine rein sinnliche Erkenntnis ist einmal nicht möglich, und das, was unsere Sinne zur Gewinnung der Erkenntnis darbieten, wird erst durch die schöpferische Tätigkeit des Geistes in dieselbe umgesetzt. Wer will nun sagen, mittels welcher Werkzeuge der Geist diesen Umsetzungsprozeß beginnt? KRAUSE sagt: und er versteht unter letzteren die Ideen vom Etwas, von Raum, Zeit, Kausalität, Eigenschaft, Bewegung etc., welche vor aller Möglichkeit der Erfahrung dem Geist als nichtsinnliche Voraussetzungen attributiert sind. Wie aber diese Ideen einen Inhalt, d. h. eine Realität in unserem Geist nun und nimmer auf einem anderen Weg gewinnen als durch die sinnliche Erfahrung, deren der Geist in seinem Bewußtsein sich bemächtigt, so können sie selbst unmöglich von vornherein gegebene Attribute des Geistes sein, vielehr muß er sie selbst sich erst schaffen als die allgemeinsten aller Erkenntnisse aus dem, was ihm die Sinne in ihren angewirkten Zuständen als zu deutenden Stoff entgegenbringen. Dies wird sich als berechtigter Rückschluß auch aus den folgenden Untersuchungen über das Wachstum der Intelligenz ergeben, insofern wir, sobald wir in der Sprache den sicher deutenen Maßstab für die menschliche Begriffswelt finden, erkennen werden, daß sie zuerst das Allgemeine erfaßt, dann zum Besondersten vorschreitet, und danach allerdings wiederum zusammenfassend sich die Gesamtwelt geistig neuschafft. Ich kann nun einmal keinen Grund finden, mehr im Geist als vorauszusetzen anzunehmen, als unbedingt notwendig, namentlich etwas als nichtsinnlich vorauszusetzen, was seinen Wert für den Geist erst durch seine eigene schöpferische Tätigkeit gewinnen kann, und diese in ihrer göttlichen Unbeschränktheit und Steigerungsfähigkeit, weil es davon Wesentliches vorwegnimmt, schmälert. Wir haben die Überzeugung, daß unser Geist  ist.  Wir forschen nach ihm, indem wir seine Tätigkeit untersuchen. Wir finden, daß der Sinneseindruck unmittelbar nichts ist als ein Zeichen, welches der Deutung bedarf und sich derselben darbietet. Wir finden, daß der Geist diese Deutung vornimmmt, durch alle ihm möglichen Mittel kontrolliert, in der Anwendung und Auffindung solcher wächst, in der Deutung dadurch immer sicherer wird - und so die Sinneswahrnehmung schafft.

Das Diktum LOCKEs:  nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu [Nichts ist im Geist, was nicht vorher in den Sinnen war. - wp], ist also freilich richtig; aber ebenso richtig ist als Umkehrung desselben der Satz:  nihil in sensu sine intellectu [Nichts ist in den Sinnen ohne Geist. - wp]. LEIBNIZ korrigierte LOCKE schon:  Nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu, nisi intellectus ipse. [Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war, außer dem Verstand selbst. - wp]. LOCKEs Satz faßt den  intellectus  als die Nachschöpfung der Außenwelt, die Wahrnehmung; die Umkehrung dagegen nennt den schaffenden Geist  intellectus.  Da nun der Satz LOCKEs der Prototyp des Anschauungsprinzis im Unterricht geworden ist, muß er wohl seinen Teil beigetragen haben, daß man vielfach über dem Produkt der Anschauung, dem  intellectus  LOCKEs, den anschauenden Menschengeist, den Schöpfer des Anschauungsprodukts versäumt hat. Dies geschieht jedoch nicht allein im Bereich der künstlichen Veranstaltung, welche man Schule nennt, sondern ebensowohl außerhalb derselben, wo man das neugeborene Kind als einen bloß vegetierenden Organismus ohne Geist betrachtet - und behandelt. Betrachtungen, wie sie die vorhergegangenen Untersuchungen bieten, sollten schon imstande sein, den notwendigen Respekt vor dem Kindesgeist einzuflößen, wenn sie nachweisen, welche außerordentliche geistige Arbeit schöpferischer Art er zu absolvieren hat während des von der stumpfen *Beobachtung sogenannten "dummen Vierteljahres", um endlich auch dem blödesten Auge sein sogenanntes "Erwachen" zu beweisen. Wehe muß es einem ums Herz werden, wenn an sieht, wie oftmals so ein Kind während seiner wachen Stunden als ein bloßes Spielzeug mißhandelt wird, wie man es in seiner Geistesarbeit stört, weil man dergleichen nicht in ihm vermutet, wie man ihm darin einen irreparablen Schaden zufügt, indem das ruhige - wenn auch eifrigste, lebhafteste, doch von Natur folgerichtige - Schaffen verkehrt wird in hin- und herspringende Zerfahrenhat. Die Betrachtung der weiteren Entwicklung der Sinneswahrnehmung zur Intelligenz sollte jenen Respekt nicht erst zu schaffen brauchen, sondern denselben nur steigern müssen. Seine schöpferische Würde beweist der Menschengeist aber weiterhin in einem freien spielerischen Umspringen mit seinen Wahrnehmungsprodukten, welches in der Schöpfung und Entwicklung der Sprache als selbst wieder sinnlich wahrnehmbare Darstellung seiner Weltschöpfung, sich, dem Geist, gegenüber gipfelt.

Nachdem die Faktoren und der Entstehungsgang der Sinneswahrnehmung, sowie die Entstehung der Ideen des  Etwas,  des Raumes, der Zeit, der Kausalität, der Eigenschaft, des Ganzen, des Teils etc. aus der geistigen Arbeit an den Sinneseindrücken erörtert sind, steht jetzt die Frage vor uns, was aus der Sineswahrnehmung wird.
LITERATUR - Karl Georg Böse, Über Sinneswahrnehmung und deren Entwicklung zur Intelligenz, Braunschweig 1872
    Anmerkungen
    1) Ich folge hier im Wesentlichen KARL CHRISTIAN KRAUSE, Lehre vom Erkennen und der Erkenntnis, Göttingen 1836, Seite 262f.
    2) HERMANN von HELMHOLTZ, Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens, Preußische Jahrbücher, Bd. 21.