tb-2E. CassirerA. RiehlK. LewinHönigswaldC. PrantlP. Natorp     
 
RICHARD HÖNIGSWALD
Beiträge zur Erkenntnistheorie
und Methodenlehre


"Wenn es richtig ist, was  Gauss  sagt und ein Physiker von der Bedeutung  Machs  billigt, daß wir eigentlich immer mit unseren Gedanken experimentieren und daß es demgemäß eine  rein  experimentelle Forschung überhaupt nicht gibt, um wieviel einleuchtender ist der Gedanke, daß die Instrumente der wissenschaftlichen Forschung im wesentlichen Produkte unserer Methode sind. Nur wenn man mit wissenschaftlicher Klarheit zu bestimmen vermag, was ein Instrument zu leisten haben wird, kann man ein solches planmäßig konstruieren. Wir müssen das Experiment kennen, zu dessen Ausführung das Instrument tauglich sein soll. Und wir  kennen  dieses Experiment, wenn wir die Bedingungen festgelegt haben, die es erfüllen muß, um die sachliche Gültigkeit der hypothetischen Annahme zu bestätigen. Diese Bedingungen aber sind die aus der hypothetischen Annahme abgeleiteten Konsequenzen."

"Descartes  wollte das  Wesen  und die  Natur  der Schwere festgestellt wissen,  Galilei  suchte das Gesetz ihres Wirkens. Ist es die Ansicht von  Descartes,  daß der Physiker vor allem zu ergründen hat,  was die Schwere ist,  so stellt ihm  Galilei  die Aufgabe zu erforschen, in welchen konstanten Formen sie sich äußert. Handelt es sich dort um die Auffindung der Realdefinition des Grundes einer Erscheinung, so sucht man hier die Gleichförmigkeit ihres Verlaufs festzustellen. Fragt man dort:  warum  fallen die Körper, so setzt man sich hier vor zu erforschen,  wie  sie fallen."


I. Abschnitt
Über das wissenschaftliche
Verfahren Galileis

1. Alle erklärenden Naturwissenschaften verfolgen streng genommen ein und dasselbe methodische Ziel: sie suchen die allgemeinen Gesetze der unseren Sinnen sich darbietenden Erscheinungen aufzufinden. Stets handelt es sich dabei um die Entdeckung von Sätzen, mit deren Kenntnis zugleich auch die Kenntnis des entsprechenden Verhaltens aller möglichen Fälle einer Erscheinung gegeben ist.

Man hat in diesem Sinne von einer "ökonomischen" Bedeutung des Naturgesetzes gesprochen. Das "Gesetz" sagt z. B. MACH (1), "hat nicht im mindesten mehr sachlichen Wert als die einzelnen Tatsachen zusammen. Der Wert desselben liegt bloß in der Bequemlichkeit des Gebrauchs. Es hat einen ökonomischen Wert." Das letztere ist zweifellos richtig. Nur ist das Gesetz stets auch mehr als ein "ökonomisches" Prinzip. Es ist die von allen subjektiven Momenten unabhängige "Ordnung des Geschehens" (2). Nur sofern ich das "Gesetz" als solches erkenne und anerkenne, kann ich von ihm einen ökonomischen Gebrauch machen. Nur sofern mir die bekannte quadratische Beziehung zwischen Fallräumen und Zeiten  s = gt2 / 2  als objektive Ordnung des Geschehens gilt, kann sie mir als "Ableitungsregel, nach welcher wir aus einem gegebenen  t  das zugehörige  s  finden" (3), dienen.

Der Begriff des Naturgesetzes ist - wie sich von selbst versteht - eigentlich eine Metapher. Die mit ihm gewöhnlich verknüpfte Vorstellung der realen Unterordnung einer Vielheit von individuellen Vorgängen unter ein allgemeines Gebot ist jedenfalls kurzweg aus dem sozialen und politischen Gebiet entlehnt (4). Gerade deshalb aber ist jene Vorstellung fallen zu lassen, wie überhaupt alles, was auf den genannten Ursprung hindeutet, aus dem Begriff des naturwissenschaftlichen Gesetzes zu eliminieren ist. Ich denke hierbei an die naheliegenden Vorstellungen des Gehorchens, des Zwangs und des Widerstrebens. Keine von diesen bildet ein Merkmal des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffs. Das Naturgesetz ist eben in der Tat nicht mehr als eine den Erscheinungen selbst immanente "Ordnung". Es steht der Einzeltatsache, die von ihm "beherrscht" wird, nicht als ein übermächtiges Wesen gegenüber; es ist vielmehr nur eine konstante, von den subjektiven Zuständen des Beobachters unabhängige Beziehung, welche in jeder Einzeltatsache eines bestimmten Erscheinungsgebietes zum Ausdruck kommt. Das Verhältnis des Naturgesetzes zur Einzelerscheinung ist mit anderen Worten stets nur ein logisches und niemals ein physisches, oder metaphysisches. Sowohl der Naturforscher wie der Logiker werden SIGWART rückhaltlos zustimmen, wenn er ausdrücklich erklärt, es sei "eine leere rhetorische Phrase, von Naturgesetzen so zu sprechen, als ob die bloße Formel eine magische Macht über die Erscheinungen übte, und ihnen etwas zumutete, was nicht aus ihrer Natur von selbst folgte." (5)

Bei allen unseren Aussagen über Naturgesetze nun können wir nicht umhin, uns auch über den Grad der Gewißheit Rechenschaft zu geben, mit welchem es uns gelungen ist, die konstante Ordnung eines Phänoemens zum Ausdruck zu bringen. Jedermann fühlt z. B. wie erheblich die Gewißheit des Satzes: "Chinin setzt die Körpertemperatur herab" von derjenigen abweicht, welche NEWTONs Gesetzen der Planetenbewegung zukommt.

Es ist nun nicht Sache der Naturwissenschaft als solcher auf den Grund dieses Unterschiedes ausdrücklich und systematisch zu reflektieren. Sie muß dies vielmehr denjenigen Disziplinen überlassen, deren Aufgabe es ist, die Art des Zustandekommens und den Grund der Geltung wissenschaftlicher Sätze überhaupt zu untersuchen: der Methodenlehre und der Erkenntnistheorie.

Dabei ist die erkenntnistheoretische Verschiedenheit selbst, welche unsere Aussagen über "Naturgesetze" zukommt, für den Naturforscher von der größten Bedeutung. Denn das Bewußtsein dieser Verschiedenheit enthält ein Prinzip der Kritik seines eigenen Verfahrens und beeinflußt als solches in hohem Maß den Gang der wissenschaftlichen Forschung. Einen greifbaren Ausdruck erhält es in dem immer wiederkehrenden und formal durchaus berechtigten Streben, alles natürliche Geschehen in letzter Linie der mathematisch-mechanischen Gesetzlichkeit unterzuordnen.

2. Niemals kann das Gesetz einer Erscheinung unabhängig von der Erfahrung gefunden werden. Denn wir müssen die Erscheinung selbst kennen, wenn wir die "Ordnung" ihrer Elemente, welche wir Naturgesetze nennen, ermitteln wollen.

Halten wir uns dies gegenwärtig, so werden wir sagen dürfen: Jeder Ergründung von Naturgesetzen muß eine Erfahrung der Zeit nach vorangehen. Nur sofern wir aus der Kenntnis des Gesetzes diejenige von Einzeltatsachen ableiten können, d. h. nur unter  logischen  Gesichtspunkten, dürfen wir erklären, das Gesetz sei "vor" der Erfahrung, oder, wie man es auch metaphorisch auszudrücken pflegt, das Gesetz sei den einzelnen Tatsachen der Erfahrung übergeordnet.

Kein Naturgesetz - so sagte ich eben - kann ohne Erfahrung vermittelt werden. Die Frage ist nun die,  wie  die Erfahrung zur Ermittlung von Naturgesetzen verwendet werden kann, und  wie  die verschiedene Art dieser Verwendung den erkenntnistheoretischen Charakter des "Naturgesetzes" beeinflußt.

Ich will die Antwort auf diese Fragen mit Hilfe der Analyse einer der größten Leistungen der Naturwissenschaft, der Entdeckung des Fallgesetzes durch GALILEI, zu gewinnen suchen.

3. Man könnte die konstante und objektive "Ordnung" der Elemente derjenigen Erscheinung, welche wir den freien Fall der Körper nennen, durch die vergleichende Beobachtung vieler frei herabfallender Körper feststellen. Man würde dann diejenigen Momente, worin alle  beobachteten  Fälle übereinstimmen, generalisierend als das Gesetz  aller  frei herabfallenden Körper bezeichnen. Nichts hindert uns anzunehmen, daß man auch mit Hilfe dieser Methode - sei es durch einfache Beobachtung, sei es unter Heranziehung des Experiments - zur Kenntnis der Sätze hätte gelangen können, daß die Geschwindigkeit frei herabfallender Körper der Zeit proportional wächst, und daß die durchlaufenen Fallräume eine Funktion des Quadrates der Fallzeit bilden.

Allein, dies war  nicht  die Methode GALILEIs. Er vergleich nicht viele Fälle, er analysiert einen  einzigen  Fall (6). Das in diesem Fall waltende Gesetz ist dann natürlich auch das Gesetz aller dem analysierten gleichen Fälle.

Im besonderen gestaltet sich das Verfahren GALILEIs so, daß er gewisse gesetzmäßige Beziehungen zwischen den Elementen der sinnenfälligen Erscheinung, des Herabfallens der ihrer Unterlage beraubter Körper, hypothetisch annimmt, die Konsequenzen dieser Annahme entwickelt, um durch das  Experiment  die Geltung dieser Konsequenzen und mittelbar auch die der Annahme, aus welcher sie erschlossen worden waren, darzutun. Aus seiner Annahme, daß die Geschwindigkeit frei herabfallender Körper der Zeit proportional wächst, leitet er den Satz von der Proportionalität der zurückgelegten Fallräume und des Quadrats der Zeit ab. Die tatsächliche Geltung, die sachliche Richtigkeit des Resultats prüft er dann durch das Experiment. Sofern dieses jene bestätigt, gelten ihm erst seine erste Annahme und deren Konsequenzen als die  Gesetze  der zu untersuchenden Erscheinung. GALILEI entwickelt also hypothetisch den Begriff der gleichförmig beschleunigten Bewegung und beweist dann durch das Experiment die tatsächliche Gültigkeit jenes Begriffs. "Zeigt die Erfahrung", so sagt er selbst "daß solche Eigenschaften, wie wir sie (aus der hypothetischen Annahme) abgeleitet haben, im freien Fall der Naturkörper ihre Bestätigung finden, so können wir ohne Gefahr des Irrtums behaupten, daß die konkrete Fallbewegung mit derjenigen, die wir definiert und vorausgesetzt haben, identisch ist." (7)

4. Überblicken wir kurz GALILEIs Verfahren, so können wir sagen: die Erfahrung steht an seinem Anfang, wie an seinem Ende. Denn sie ist einerseits der Anlaß und der Ausgangspunkt seiner ganzen Untersuchung und sie entscheidet andererseits in letzter Linie über die Wahrheit des Fallgesetzes. Nur ist sie am Ende nicht mehr jene "unmittelbare und unzuerlegte Erfahrung der Sinne", (8) sondern den Bedingungen der hypothetischen Annahme künstlich, d. h. im  Experiment  angepaßt, weil sie die sachliche Geltung jener Annahme kontrollieren muß.

Der Gang von GALILEIs Überlegung war mit anderen Worten dieser: Vorausgesetzt, daß eine bestimmte Beziehung zwischen gewissen Elementen der Erscheinung des freien Falles gilt, so muß auch eine zweite Beziehung, sobald sie aus der ersten folgt, gelten. So weit ist der Gang der Methode GALILEIs von der Erfahrung unabhängig. Erst nach dieser Überlegung beginnt die Rolle des Experiments. Es hat zu zeigen, daß die zweite und mittelbar, daß auch die erste Beziehung  wirklich  gelten. Tut er dies, dann ist das Ziel der Untersuchung erreicht. Wenn also, um auf den hier erörterten Fall zurückzukommen,  v  und  t  einander proportional sind, dann  müssen  auch  s  und  t2  einander proportional sein, weil diese Beziehung aus der ersten folgt. Ob sie es wirklich  sind,  d. h. ob die erste Annahme richtig wr, das eben entscheidet das Experiment. Bestätigt es jene Annahme, bzw. deren Konsequenzen, dann  müssen  in der Tat  s  und  t2  einander proportional sein.

Eine Gewißheit, welche über das eben geschilderte Maß hinausreichte, gibt es in naturwissenschaftlichen Dingen nicht. Dennoch können wir die erkenntnistheoretische Bedeutung von GALILEIs Verfahren für die Naturwissenschaft nicht hoch genug veranschlagen. Denn bedenken wir nur: sobald einmal die planvoll geleitete Erfahrung im verifizierenden Experiment für die sachliche Richtigkeit der hypothetischen Annahme  entschieden  hat, dann steht das Resultat der Untersuchung unabhängig von jeder weiteren Erfahrung fest. Keine  weitere  Erfahrung in der Tat könnte seine Sicherheit erhöhen.

5. Nun könnte man freilich behaupten, daß uns die Erfahrung immer noch eines besseren belehren und unser vermeintlich für alle Fälle gültiges Gesetz widerlegen könnte. Ein solcher Einwand wäre, wie sich von selbst versteht, durchaus nicht widerspruchsvoll und erfordert gewissenhafte Berücksichtigung.

Kein Zweifel, wenn uns durch ein einwandfreies Experiment gezeigt würde, daß die quadratische Beziehung zwischen Fallräumen und Zeiten nicht besteht, dann müßte auch GALILEIs Gesetz ohne weiteres als Irrtum fallen gelassen werden. -

Wäre aber damit die Berechtigung jenes Einwandes zugestanden? Sicherlich nicht. Ich wiederhole: ein GALILEIs Gesetz widersprechender Fall würde uns lediglich eines Irrtums überführen, den wir zu korrigieren häten, sie es durch Modifikation unserer Hypothese, sei es durch eine Richtigstellung der aus dieser Hypothese gezogenen Schlüsse. Wir müßten, mit anderen Worten, tun, was im gleichen Fall GALILEI selbst tat, als er sich nämlich von der Unhaltbarkeit seiner ersten Annahme von der Proportionalität zwischen Beschleunigung und Weg überzeugt hatte. Auch wir müßten die Fehler unseres Verhaltens in einem besonderen Fall der Verwendung von GALILEIs Methode eliminieren. Beeinträchtigt aber diese Erkenntnis auch nur im entferntesten unsere Sicherheit, also den erkenntnistheoretischen Charakter des Ergebnisses der Methode,  wenn die Erfahrung im Experiment die Hypothese bestätigt?  Gewiß nicht. Nur von diesem Fall aber in in meinen Ausführungen die Rede.

Als Naturforscher können wir also durch eine der Theorie widersprechende Tatsache zur Modifikation unserer Voraussetzungen oder zur Revision unseres Verfahrens immerhin gezwungen werden: stets müssen wir mit der Möglichkeit eines Irrtums rechnen, stets müssen wir einzuräumen bereit sein, daß auch an der sachlichen Richtigkeit von GALILEIs Fallgesetz gezweifelt werden könnte. Dies aber berührt auch nicht im entferntesten die Richtigkeit der erkenntnistheoretischen Überlegung, auf welche es uns hier allein ankam. Wir prüften - um es noch einmal zu betonen - den Grad der Gewißheit unserer Aussagen über das Ergebnis von GALILEIs Methode immer unter der  Voraussetzung,  daß kein Irrtum begangen worden ist.' Trifft diese Voraussetzung zu, dann besitzt jenes Ergebnis zweifellos die erkenntnistheoretisch bedeutsame Eigenschaft, nicht unabhängig von der Bestätigung durch jede  weitere  Erfahrung zu gelten.

Damit ist, zumindest grundsätzlich, auch ein weiterer möglicher Einwand beantwortet. Der Satz, welchen das Experiment bestätigt, könnte auch - so wird vielleicht eingewandt werden - durch einen Fehlschluß und zwar aus einer sachlich nicht zutreffenden Voraussetzung gewonnen worden sein, seine Bestätigung durch das Experiment beweist also noch nichts für die sachliche Richtigkeit jener Voraussetzung. Auch würde das Experiment in diesem Fall die Beziehung  s = gt2 / 2  bestätigen, ohne daß  s  und  t2  (im oben dargelegten Sinn) proportional sein  müßten.  Dieser Einwand ist ebenso zutreffend, wie der erste auf das Experiment bezügliche, berührt aber die vorliegenden Erwägungen ebensowenig, wie jener. Denn diese sind angestellt stets unter der Voraussetzung, daß nicht nur kein experimenteller Irrtum, sondern auch kein Fehlschluß begangen worden war. - Gewiß, es ist Sache des Erkenntnistheoretikers auch den Einfluß möglicher Irrtümer und Fehlschlüsse auf den Grad der Sicherheit des Resultates von GALILEIs Untersuchung in Rechnung zu ziehen. Allein, im vorliegenden Zusammenhang handelte es sich nicht um  dieses  erkenntnistheoretische Problem. Hier sollte nur der Grad der Gewißheit der Ergebnisse GALILEIs unter der Voraussetzung der experimentellen und formalen Korrektheit seines Verfahrens geprüft werden.

6. Die Eigenschaft von GALILEIs Ergebnis unabhängig von der Bestätigung durch jede weitere Erfahrung zu gelten, meine ich, wenn ich von der "Notwendigkeit" dieses Ergebnisses spreche (9).  Diese Eigenschaft aber fehlt dem Resultat der verallgemeinerenden Vergleichung.  Seine Geltung kann schlechterdings von der Bestätigung durch  weitere  Beobachtungen nicht unabhängig sein, weil sie hier doch geradezu von der Zahl der beobachteten, bzw. übereinstimmenden Fälle abhängt. Niemals können wir hier sagen  s  werde dem  t2  auch in den noch nicht beobachteten Fällen der Erscheinung proportional sein. Im günstigsten Fall vermögen wir nur die ausnahmslose Geltung dieses Verhältnisses in allen  untersuchten  Fällen zu konstatieren. Was wir darüber hinaus erklären dürfen, ist höchstens dies: es sei einer hinreichend großen Zahl von beobachteten Fällen anzunehmen, daß sich dieses Verhältnis in all den untersuchten gleichen Fällen werde finden lassen. - Die Untersuchung in GALILEIs Verfahren oder wie wir es auch nennen können, im analytischen (10) Verfahren mit der mittelbaren Bestätigung der Hypothese durch das Experiment  prinzipiell  zumindest, als abgeschlossen zu betrachten; im vergleichenden Verfahren ist sie es gerade  grundsätzlich  nie. Denn keine Zahl von Fällen ist groß genug, um eine Bestätigung des Ergebnisses durch eine noch größere Zahl überflüssig zu machen, so gewiß eine solche Bestätigung hier stets auch eine  Erhöhung  des Grades der Gewißheit bedeutet. In ihrer prinzipiellen Abgeschlossenheit liegt der Grund der Sicherheit, mit welcher wir das Ergebnis von GALILEIs Untersuchung als das Gesetz des freien Falles der Körper aussprechen.

Inhaltlich mag also die durch vergleichende Generalisation gewonnene Regel mit dem experimentell bestätigten Ergebnis GALILEIs übereinstimmen; in Bezug auf seinen erkenntnistheoretischen Charakter, d. h. in Bezug auf den Grad der Sicherheit, mit welcher wir ihn auszusprechen berechtigt sind, unterscheidet sich jene von diesem wesentlich (11).

GALILEI selbst war sich dieses Unterschiedes, oder was dasselbe ist, der Originalität seines wissenschaftlichen Verfahrens vollauf bewußt. Er erkannte, um wie vieles seine, durch Hypothese, Schluß und Experiment zur Erkenntnis des Gesetzes einer Erscheinung fortschreitende Forschungsmtehode der einfachen Induktion durch die vergleichende Aufzählung von Einzelfällen überlegen ist. Ja er verwirft ausdrücklich diese letztere in dem bekannten Satz, den er den Einwänden VINCENZIO di GRAZIAs (12) entgegenhält. Das Aufzählen von Einzelfällen zum Zweck der Erforschung ihres Gesetzes ist, so sagt er, entweder unmöglich, wenn die Zahl der besonderen Fälle unendlich ist, unnütz, wenn sie begrenzt wäre. Denn dort könnte das Verfahren niemals abgeschlossen werden, hier wäre das Ergebnis der ganzen Untersuchung schon den Vordersätzen enthalten, im Grund genommen also nichts als eine bloße Tautologie. Die bloße Summierung des Einzelnen könne niemals die Anwendung auf die Allheit der möglichen Fälle begründen und rechtfertigen (13).

"Diese einzige Antwort GALILEIs" - urteilt der berühmte Geschichtsschreiber der Logik CARL PRANTL, etwas hart, wenn auch nicht ohne Berechtigung - "zeigt ein tieferes Verständnis vom Wesen der Induktion, als alle jene phrasenhaften Stellen zusammen, in welchen der oberflächliche und großsprecherische BACO von VERULAM über  inventio, experimentum  und dgl. geplaudert hat". (14)

Fassen wir das Gesagte noch einmal kurz zusammen. Das Ergebnis von GALILEIs Verfahren ist ausgezeichnet durch das Merkmal der Notwendigkeit, im oben erörterten, genau umschriebenen Sinn des Wortes. Dem Resultat der einfachen Induktion durch Vergleichung aber fehlt dieses Merkmal, auch wenn sich im Laufe der Erfahrung kein einziger Fall ereignen sollte, welcher in Bezug auf das fragliche Verhalten von den übrigen beobachteten Fällen abweichen würde. Und eben darum stellen wir die erstere Methode grundsätzlich höher, als die letztere.

7. Das Ganze von GALILEIs Verfahren kennzeichnet sich als eine innige  Verbindung  zwischen Erfahrung und Denken. Diese Verbindung allein führt nach GALILEI - senso accompagnato col discorso - zur wahren Erkenntnis der Gesetze der Natur (15). Naturerkenntnis ist hier eben nicht mehr ein bloßes Spekulieren über die Natur, weil sie an die Bedingung des verifizierenden Experiments geknüpft wurde; und sie erschöpft sich andererseits nicht im bloßen Sammeln von Erfahrungen, weil sie von der Erfahrung nichts verlangt als die Bestätigung oder die Widerlegung der Konsequenzen eines hypothetisch angenommenen Sachverhaltes. Und hierzu genügt auch schon ein einziger einwandfrei festgestellter Fall.

GALILEIs Verfahren ist weder "empiristisch", noch "rationalistisch" (16), denn es beruth, wie gesagt, auf der Einheit zwischen Denken und Erfahrung. Jenes hat durch die "resolutive" Methode dazu geführt, die im Experiment zutage tretenden Tatsachen, "herauszusondern und zu gewinnen" (17), diese (die Erfahrung) hat in ihrer vom Denken bestimmten Gestalt als Experiment über die tatsächliche Geltung eben dieses Denkens entschieden.

Im Rahmen von GALILEIs Verfahren mußte daher auch der Begriff des wissenschaftlichen Experiments naturgemäß einen tiefgehenden Bedeutungswandel erfahren: es hat aufgehört, nichts, als "eine kluge Frage an die Natur" zu sein, es hat sich "in den zielbewußten Eingriff" verwandelt, durch welchen "einfache Formen des Geschehens isoliert werden, um sie der Messung zu unterwerfen." (18)

Die richtige Methode der Forschung ist eben zugleich maßgebend für die Entwicklung der Theorie des wissenschaftlichen Experiments. Ja noch mehr! Sie enthält die logischen Voraussetzungen für die Erfindung der technischen Hilfsmittel der Forschung. Wenn es richtig ist, was GAUSS sagt und ein Physiker von der Bedeutung MACHs billigt, daß wir eigentlich immer mit unseren Gedanken experimentieren (19) und daß es demgemäß eine  rein  experimentelle Forschung überhaupt nicht gibt, um wieviel einleuchtender ist der Gedanke, daß die Instrumente der wissenschaftlichen Forschung im wesentlichen Produkte unserer Methode sind. Nur wenn man mit wissenschaftlicher Klarheit zu bestimmen vermag, was ein Instrument zu leisten haben wird, kann man ein solches planmäßig konstruieren. Wir müssen das Experiment kennen, zu dessen Ausführung das Instrument tauglich sein soll. Und wir  kennen  dieses Experiment, wenn wir die Bedingungen festgelegt haben, die es erfüllen muß, um die sachliche Gültigkeit der hypothetischen Annahme zu bestätigen. Diese Bedingungen aber sind die aus der hypothetischen Annahme abgeleiteten Konsequenzen. Wir werden daher RIEHL zustimmen können, wenn er sagt: "Um auf die Erfindung von Instrumenten zu verfallen, muß der Geist bereits im Besitz der wahren Methode sein. Die Instrumente der Forschung sind Produkte der Methode, der sichtbar oder materiell gewordene Ausdruck des geistigen Verfahrens selbst." (20)


II. Abschnitt
Hypothese und "Modell"

1. Gewiß, GALILEI hatte ja seine Vorgänger. Nicht nur in LEONARDO da VINCI und BENEDETTI, sondern auch in einzelnen großen Naturforschern und Philosophen des hellenischen Altertums. ANAXAGORAS, EMPEDOKLES, HERON haben berühmte und in ihrer Einfachheit klassische Experimente gemacht, ARCHIMEDES sogar unter der Leitung von Voraussetzungen, welche er selbst für axiomatisch hielt (21). Ja auch PLATON darf in gewissem Sinne als methodischer Vorläufer GALILEIs betrachtet werden. Die naturwissenschaftliche Tendenz des großen italienischen Forschers ist PLATON freilich noch vollständig fremd, ebenso der Gedanke des naturwissenschaftlichen  Experiments.  Was bei PLATON an die Methode GALILEIs erinnert, ist lediglich die Verwendung des hypothetischen Verfahrens überhaupt. Denn die vorläufige Annahme der Wahrheit eines Satzes, die Entwicklung seiner Konsequenzen und schließlich der Beweis des Satzes durch die Darlegung der Übereinstimmung seiner Konsequenzen mit bereits feststehenden Wahrheiten sind PLATON schon bekannt. - GALILEI hatte nun, wie RIEHL bemerkt (22), der Methode PLATONs "das Experiment hinzugefügt". Er prüft also im Unterschied zu PLATON, den er einmal neben PYTHAGORAS seinen echten Meister nannte, nicht nur die begriffliche Korrektheit und Widerspruchslosigkeit, sondern vor allem die  sachliche  Gültigkeit seiner Hypothese. Aber klarer als irgendeiner seiner Zeitgenossen und Vorgänger - und natürlich kommen von diesen zunächst die eigentlichen Naturforscher in Betracht - erfaßte er die logische Eigenart seines Verfahrens. Und deshalb durfte man bei einer Erörterung der wissenschaftlichen Methoden vom Standpunkt des Erkenntnistheoretikers, der hier von dem des Historikers vielleicht abweicht, unmittelbar an GALILEI selbst anknüpfen.

2. Allein man erfaßt die Eigenart der Methode GALILEIs nur unvollständig, solange man nicht auch den bemerkenswerten Gegensatz berücksichtigt, der zwischen ihm und DESCARTES in Bezug auf die Auffassung der allgemeinsten Aufgaben der physikalischen Forschung bestand. "Ich finde im allgemeinen" - schreibt DESCARTES einmal über GALILEI an MERSENNE - "daß er besser philosophier als man es gewöhnlich tut, indem er soviel wie möglich die Fehler der Schule meidet und versucht die physikalischen Probleme nach einem mathematischen Gesichtspunkt zu behandeln. Hierin stimme ich ganz mit ihm überein und glaube, daß es kein anderes Mittel gibt, um die Wahrheit zu finden. - Er hat jedoch nicht die ersten Ursachen der Natur bestrachtet, sondern nur die Gründe von einigen besonderen Naturwirkungen gesucht und daher kommt es, daß er ohne wirkliches Fundament gebaut hat". (23)

Demgegenüber bestreitet GALILEI die Fähigkeit des menschlichen Geistes überhaupt, eine solche Aufgabe zu lösen. "Entweder wir suchen" - so sagt er (24) - auf dem Weg der Spekulation in das wahre und innerliche  Wesen  der natürlichen Substanzen einzudringen, oder wir begnügen uns mit der Erkenntnis einiger ihrer  Merkmale  und Eigentümlichkeiten (affezioni). Den ersten Versuch halte ich für ein Bemühen, das "bei den nächsten irdischen wie bei den entferntesten himmlischen Substanzen gleich eitel und vergeblich ist ... Wollen wir jedoch bei der Einsicht in bestimmte Merkmale stehen bleiben, so brauchen wir hieran bei den entlegensten Körpern und Naturerscheinungen ebensowenig zu verzweifeln wie bei denen, die uns direkt vor Augen liegen." (25)

Suchen wir diesen wichtigen Gegensatz auf eine allgemeine Formel zu bringen, so dürfen wir sagen: DESCARTES wollte das "Wesen" und die "Natur" der Schwere festgestellt wissen, GALILEI suchte das Gesetz ihres Wirkens. Ist es die Ansicht von DESCARTES, daß der Physiker vor allem zu ergründen hat, "was die Schwere ist", so stellt ihm GALILEI die Aufgabe zu erforschen, in welchen konstanten Formen sie sich äußert. Handelt es sich dort um die Auffindung der Realdefinition des Grundes einer Erscheinung, so sucht man hier die Gleichförmigkeit ihres Verlaufs festzustellen. Fragt man dort:  warum  fallen die Körper, so setzt man sich hier vor zu erforschen,  wie  sie fallen. (26)

Genau der gleiche Gegensatz wie zwischen DESCARTES und GALILEI, besteht auch zwischen DESCARTES und dem Fortbildner der Resultate GALILEIs, NEWTON. Er äußert sich hier in der Verschiedenheit der Absicht, welche DESCARTES in seiner Wirbeltheorie und NEWTON bei der Erforschung der Gesetze der Bewegung der Himmelskörper verfolgt hatten. Ich will versuchen diese methodologisch bedeutsame Verschiedenheit darzulegen. NEWTON hatte gezeigt, daß GALILEIs Fallgesetz nicht allein für irdische, sondern auch für kosmische Verhältnisse Geltung hat, er hat nachgewiesen, daß "die Beschleunigung, welche die krummlinige Bewegung der Planeten um die Sonne, der Satelliten um die Planeten bedingt ... von der uns bekannten Schwerebeschleunigung nicht wesentlich verschieden ist." (27) Er hat unter der Voraussetzung der Richtigkeit von GALILEIs Satz von der Proportionalität zwischen Zeiten und Beschleunigung KEPLERs empirische Gesetze, wie MACH sagt, "verständlich gemacht": er suchte nach der Methode GALILEIs das  Gesetz  des  Verlaufs  der Planetenbewegung. Die  Ursachen  der Planetenbewegung ließ er bewußt und absichtlich unerörtert. DESCARTES hingegen hatte sich eine weit umfassendere Aufgabe gestellt: "Ich werde die Hypothese darlegen", so äußert er sich, "welche mir die einfachste von allen und sowohl zur Erkenntnis ihrer natürlichen Ursachen die tauglichste zu sein scheint." (28) Und eben weil es sihm auch auf die Erforschung der "natürlichen Ursachen" ankommt, kann er sich nicht mehr, gleich NEWTON und GALILEI auf die hypothetische Annahme gewisser konstanter Relationen beschränken. Eine solche würde nur zur Erforschung der  Wirkungsweisen  jener Ursachen genügen. Er muß vielmehr, um sich von den wirkenden Ursachen selbst eine Vorstellung zu machen,  Bilder  entwerfen, in Gedanken  Modelle  konstruieren. "Wie die Gewässer" - so schildert uns DESCARTES mit anschaulicher Breite die wirklichen Ursachen der planetarischen Bewegungen, oder doch diejenigen, welche er für wirklich hält - "wenn sie zum Rückfluß genötigt werden, Strudel bilden und schwimmende Körper von geringem Gewicht, wie Strohhalme, in ihre Wirbelbewegung hineinreißen und mit sich forttragen, wie dann diese vom Strudel ergriffenen Körper sich oft um ihren eigenen Mittelpunkt drehen und allemal die dem Zentrum des Strudels näheren ihren Umlauf früher als die entfernteren vollenden, wie schließlich diese Wasserstrudel zwar stets eine kreisende Richtung, aber fast nie vollkommene Kreise beschreiben, sondern sich bald mehr in die Länge, bald mehr in die Breite ausdehnen, weshalb ihre peripherischen Teile vom Zentrum nicht gleich weit entfernt sind: so kann man sich leicht vorstellen, daß die Bewegung der Planeten sich ebenso verhält und keine anderen Bedingungen erforderlich sind, um alle ihre Erscheinungen zu erklären." (29)

3. Es genügt die Äußerungen NEWTONs mit denjenigen von DESCARTES zu vergleichen, um aus ihrem Unterschied die Eigenart der methodischen Absichten GALILEIs, welche mit denen Newtons übereinstimmen, noch klarer zu verstehen.

Allein jener Unterschied belehrt uns auch noch eines weiteren. Er verweist uns auf den grundsätzlich verschiedenen Sinn, in welchem das Wort  Hypothese  in der Wissenschaft Verwendung findet. - Bei NEWTON und GALILEI bedeutet es die vorläufige Annahme einer gesetzlichen Beziehung zwischen den Elementen einer Erscheinung, bei DESCARTES das Entwerfen eines Modells zum Verständnis ihrer wirkenden Ursachen. Dort wird die Hypothese, wenn ihre Konsequenzen durch das Experiment verifiziert wurden, im früher erörterten Sinn des Wortes zum  Gesetz  einer Erscheinung; hier bleibt sie eine der möglichen Vorstellungen, welche wir uns über das Wesen der Phänomene bilden können. NEWTON hegte demgemäß auch nicht den leisesten Zweifel bezüglich der Gültigkeit seiner Gesetze, während DESCARTES ausdrücklich erklärt, seine Ansicht - und diese Zurückhaltung ist in der Natur der Sache begründet - keineswegs als "vollkommene Wahrheit", sondern nur als eine Annahme betrachtet wissen zu wollen, "welche möglicherweise irrt." (30)

Immer wieder erscheint der dargelegte Gegensatz in der methodologischen Diskussion der Naturforscher. So z. B. hat JULIUS ROBERT MAYER jeden Versuch, zu erforschen, was die Wärme ihrem Wesen nach eigentlich sein soll, von vornherein abgelehnt. Ihm genügt es durchaus erkannt zu haben, daß Bewegung sich in Wärme verwandelt, gleichwie sich "Fallkraft" (potentielle Energie) in Bewegung verwandelt hatte und er hält die Aufgabe der Wissenschaft für erledigt, wenn es gelungen ist die konstante numerische Beziehung, nach welcher die Verwandlung vor sich geht, aufzufinden. Was Licht, Wärme, "Fallkraft", Bewegung, Elektrizität und chemische Differenz unabhängig davon sein mögen, daß sie sich nach bestimmten konstanten numerischen Beziehungen ineinander verwandeln können, läßt MAYER unberücksichtigt (31). Die Anschauung z. B., daß Wärme ihrem Wesen nach  Bewegung  ist, liegt daher MAYER selbst vollständig fern; er begnügt sich, wie gesagt, damit, das in einer konstanten Zahl zum Ausdruck kommende Gesetz zu suchen, nach welchem die Verwandlung von Bewegung in Wärme vonstatten geht: das Arbeitsäquivalent der Wärme. MACH spricht also ganz im Geiste MAYERs, wenn er erklärt: "Wer die Krücke der mechanischen Naturansicht braucht, um zur Äquvivalenz von Arbeit und Wärme zu gelangen, hat den Fortschritt, der darin liegt, nur halb verstanden." (32)

4. Wir werden über den relativen Wert der beiden Arten von Hypothesen wesentlich anders urteilen, sofern wir nämlich erkennen, daß jede von ihnen der Lösung eines sachlich durchaus berechtigten Problems dient. Gerade weil die Frage,  was  eine Erscheinung ihrem Wesen nach sein soll, mit dem Hinweis auf das Gesetz des Verlaufs der betreffenden Erscheinung noch nicht beantwortet ist, darf die hypothetische Annahme von Modellen, welche uns das Wesen der Erscheinung versinnbildlichen sollen, eine Stelle im methodischen Verfahren der Naturwissenschaft beanspruchen. Die Frage z. B. nach der Natur der Wärme bleibt auch  nach  der Feststellung des Gesetzes der Verwandlung von Arbeit in Wärme logisch widerspruchslos und sachlich berechtigt. Und genauso dürfen wir fragen,  was  die Erscheinung des freien Falls der Körper im Grund genommen ist, auch wenn wir wissen,  wie,  d. h. nach welchem Gesetz die Körper fallen.

GALILEI und MAYER mochten solche Fragen unter dem besonderen Gesichtspunkt der Aufgabe, welche sie sich gestellt hatten, von vornherein ablehnen, vielleicht für unbeantwortbar erklären: allein ihre methodische Berechtigung überhaupt ist schlechterdings nicht zu bezweifeln. Unter  methodischen  Gesichtspunkten muß man deshalb auch Theorie der Wirbelströmungen des DESCARTES, ganz abgesehen von ihrem  sachlichen  Wert, neben der kosmischen Mechanik NEWTONs gelten lassen. Man kann eben, wenn man auch NEWTONs Gesetze der kosmischen Gravitation bereits kennt, mit DESCARTES fragen, ob das Wesen des Phänomens der Planetenbewegung nicht mit Hilfe eines anderen Tatsachengebietes, hier der Hydrodynamik versinnbildlicht werden könnte (33).

5. Das moderne Ideal einer "hypothesenfreien Naturwissenschaft" widerspricht daher den natürlichen Bedürfnissen der Forschung und kein geringerer als HEINRICH HERTZ sah bekanntlich im Schluß von den "denknotwendigen Folgen der Bilder" auf die "naturnotwendigen Folgen der Gegenstände", welche uns durch jene versinnbildlicht werden sollen, eine Bedingung der wesentlichen Erweiterung unserer Kenntnisse. Man verzichtet auf diese, wenn man mit OSTWALD die physikalische Hypothese im Sinn der gedanklichen Konstruktion von Modellen "nur insofern für ein berechtigtes Verfahren" hält, "als die Krücke ein berechtigtes Bewegungsmittel ist: für den, der nicht anders zu gehen versteht". (34) Auch das Entwerfen von "Bildern" der Erscheinungen dient - weit mehr dem Bergstock als der Krücke vergleichbar - der Bewältigung einer in der Natur der Dinge begründeten Aufgabe.

Gewiß, Hypothesen im Sinne von gedanklichen Modellen haben, verglichen mit dem Leben der Wissenschaft, nur ein ephemeres [kurzfristiges - wp] Dasein. Wir kennen ja die Kurzlebigkeit so vieler Hypothesen, welche der fortschreitenden Erkenntnis geopfert werden mußten. Die Emissionshypothese des Lichts fiel durch die experimentelle Feststellung, daß die Geschwindigkeit des Lichts in stärker brechenden Medien nicht größer ist, als es die Emissionshypothese verlangt hatte, sondern kleiner als in schwächer brechenden; in  unseren  Tagen sahen wir sodann die Schwingungshypothese, welche an die Stelle der Emissionshypothese trat, durch die elektromagnetische Theorie des Lichts verdrängt werden (35). Und OSTWALD mag ja recht haben, wenn er von jeder dieser Hypothesen sagt sie lebten fort, "wie ein entwichener Sträfling. Es mag ihr wohl gelingen, der Gefangennahme durch diese oder jene glückliche Wendung zu entgehen. Das Geschick der vorausgegangenen Brüder und Vettern zeigt aber, daß es immer nur eine Sicherheit auf Zeit ist, und daß früher oder später auch ihre Stunde schlägt, wo sie nicht mehr entweichen kann und das unvermeidliche Schicksal aller abgetanen Hypothesen teilt." (36)

Allein, nicht nach der Lebensdauer einer  bestimmten  Annahme bemessen wir den  methodologischen  Wert der Hypothesen (im Sinne von Bildern oder Modellen) überhaupt. Über diesen Wert müssen wir nach  allgemeineren  Gesichtspunkten entscheiden. Wir müssen fragen, ob uns die gedankliche Konstruktion von Modellen eine berechtigte Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung überhaupt lösen hilft. Unsere Ausführungen zeigten, wie ich glaube, daß wir diese Frage zu bejahen haben.

6. Ich kehre nun zu GALILEI zurück. Sein Verdienst bleibt es jedenfalls, am freien Fall der Körper gezeigt zu haben, daß die Frage nach den Gesetzen der Erscheinungen mit aller wissenschaftlichen Strenge auch unabhängig von derjenigen nach dem  "Wesen"  dieser Erscheinungen beantwortet werden kann. Wir vermögen dieses Verdienst anzuerkennen, ohne daß wir die Voraussetzungen, auf welche es sich bei GALILEI gründet, in allen Stücken billigen müßten. Denn es ist sicherlich zuviel gesagt, wenn man die bloße Frage nach den  Ursachen  einer Erscheinung - darauf läuft ja doch die Frage nach ihrer Natur und ihrem Wesen im Grunde genommen hinaus - mit GALILEI kurzweg als eine solche bezeichnet, deren Beantwortung die Fähigkeiten des menschlichen Geistes schlechthin übersteigt (37). Wir werden im letzten Abschnitt dieser Schrift zu zeigen haben, innerhalb welcher Grenzen sich die Frage nach dem "warum" der Erscheinungen halten muß und die Motive dartun können, aus welchen GALILEI diese Frage für unberechtigt gehalten haben mochte. Hier genügt es auf die methodologische Bedeutung seiner ablehnenden Haltung hinzuweisen. Was GALILEI erkannt und in einer, wie wir sehen werden, erkenntnistheoretisch nicht ganz zutreffenden, in erster Linie vielleicht von polemischen Gesichtspunkten beeinflußten Weise zum Ausdruck gebracht hatte, war jene Verschiedenheit der Fragestellung, deren Bedeutung ich in diesem Abschnitt dazulegen versuchte. Er war sicherlich einer der ersten, die sich unbekümmert um das  Wesen  der Naturerscheinungen die Ergründung der konstanten  Ordnung  und Gesetzmäßigkeit ihres  Verlaufs  zur Aufgabe machte.

Ja die Vorstellung eines gesetzlichen Zusammenhangs der Sinnenwelt beherrscht fortan sein ganzes Denken. Die Natur als Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung ist für ihn eine strenge und unabänderliche Ordnung der Phänomene, die Kenntnis dieser Ordnung selbst das Mittel, die Natur von einer erdichteten Fabelwelt zu unterscheiden.
LITERATUR - Richard Hönigswald, Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre, Leipzig 1906
    Anmerkungen
    1) ERNST MACH, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit, Prag 1872, Seite 31.
    2) Vgl. RUDOLF EUCKEN, Geistige Strömungen der Gegenwart, Leipzig 1904, Seite 153
    3) MACH, a. a. O.
    4) Vgl. LIEBMANN, Gedanken und Tatsachen, Bd. 1, Straßburg 1899, Seite 176
    5) SIGWART, Logik, Bd. II, dritte Auflage, Tübingen 1904, Seite 520
    6) Das heißt natürlich nicht, GALILEI habe sich auf die Untersuchung eines einzigen Falles beschränkt oder hätte das Fallgesetz mit einem Schlag entdeckt. Das wäre eine rein historische Feststellung, welche mit einer erkenntnistheoretischen Untersuchung, wie die vorliegende, nichts zu tun hat. Aber so viele Fälle GALILEI auch untersucht haben mag, niemals geht er darauf aus, die Zahl der in Bezug auf ein bestimmtes Verhältnis ihrer Elemente übereinstimmenden Fälle zur Grundlage einer Aussage über ihr Gesetz zu machen. Stets leitet ihn vielmehr dabei die Absicht, die Voraussetzungen für eine erschöpfende Analyse des  Einzelfalles  zu gewinnen. Vgl. hierzu RIEHL, Über den Begriff der Wissenschaft bei Galilei, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1893, Seite 4
    7) Opere VII, ed. ALBERI, Seite 156f; ferner: CASSIRER, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 1, Berlin 1906, Seite 296. - ERNST MACH, Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt, vierte Auflage, Leipzig 1991, Seite 129f; RIEHL, a. a. O. - Über das Verfahren GALILEIs überhaupt auch NATORP, Galilei als Philosoph, Philosophische Monatshefte, 1882.
    8) RIEHL, a. a. O., Seite 8
    9) Weder glaube ich also, wenn ich mich in Beziehung auf das Ergebnis von GALILEIs Untersuchung dieser Bezeichnung bediene, es sei  denknotwendig,  daß die Körper, ihrer Unterlage beraubt, überhaupt zu Boden fallen; denn es wäre doch, wie sich von selbst versteht, von vornherein ebensogut denkbar, daß sie sich in die Höhe bewegen. Noch will ich damit gesagt haben, daß es unmöglich ist, eine andere als GALILEIs Beziehung zwischen den Elementen der Erscheinung des freien Falls der Körper anzunehmen. Liegt doch durchaus kein Denkwiderspruch in der Annahme, daß ihre Geschwindigkeit nicht der Zeit, sondern dem zurückgelegten Weg proportional wächst, so wenig, daß GALILEI selbst zuerst  diese  Annahme machen konnte. (Vgl. MACH, a. a. O., Seite 129)
    10) Da es sich, wie oben ausgeführt, um die Analyse eines einzelnen Falls der Erscheinung handelt.
    11) Man wird einwenden, daß der bindende Schluß vom Verhalten des Einzelfalls auf das Verhalten  aller  möglichen Fälle eines Phänomens durchaus nicht GALILEIs Verfahren  allein  kennzeichnet. Ein einziger einwandfrei festgestellter Fall genügt, z. B. dem Chemiker schon, um das spezifische Gewicht einer Substanz oder die Reaktion eines Körpers für alle Zeiten festzustellen. Allein, genau besehen handelt es sich hier, mag der untersuchte Einzelfall noch so viele ihm gleiche Fälle repräsentieren, immer nur um die Konstatierung eines  individuellen  Verhaltens und nie um den Einblick in eine gesetzliche Beziehung von Erscheinungen. Wäre als GALILEI in analoger Weise verfahren, so hätte er an ein Experiment anknüpfend z. B. sagen müssen: Eine hölzerne Kugel von ganz bestimmtem Durchmesser fällt von einer ganz bestimmten Höhe mit einer experimentell festgestellten ganz bestimmten Beschleunigung zu Boden. Daher werden alle hölzernen Kugeln von gleichem Durchmesser von der gleichen Höhe mit der gleichen Beschleunigung zu Boden fallen. - Das aber ist von GALILEIs Gesetz weit entfernt. Von einer solchen Schilderung individueller Verhältnisse gelangt man zur Formulierung eines für alle Kugeln, ja Körper überhaupt, sowie Höhen gültigen Fallgesetzes nur mit Hilfe der beiden oben einander gegenübergestellten Methoden: der analytischen Methode GALILEIs und dem Verfahren der Generalisation durch eine Vergleichung vieler Fälle.
    12) Vgl. auch ERNST FRIEDRICH APELT, Die Theorie der Induktion, Leipzig 1854, Seite 142
    13) GALILEI, Op. XII, Seite 513, ed. ALBERI; Vgl. auch CASSIRER, a. a. O., Seite 312 und RIEHL, a. a. O., Seite 4
    14) CARL PRANTL, Galilei und Kepler als Logiker, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-philologische Klasse, 1875, Seite 399.
    15) Vgl. RIEHL, a. a. O., Seite 3
    16) Höchstens wäre es, sofern man ein Schlagwort gebrauchen wollte, als "methodischer Kritizismus" zu bezeichnen.
    17) Vgl. CASSIRER, a. a. O., Seite 306
    18) WINDELBAND, Geschichte der Philosophie, 1900, Seite 316.
    19) ERNST MACH, Über das Prinzip der Vergleichung in der Physik, Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 1897, Seite 297
    20) ALOIS RIEHL, Der philosophische Kritizismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, Bd. 2, 2. Teil, Leipzig 1887, Seite 4.
    21) Vgl. hierzu MACH, Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt, Leipzig 1901, Seite 11, 108 und 128. - RIEHL pflegte in seinen Vorlesungen gelegentlich darauf hinzuweisen, daß man in der angeblichen Bemerkung des SOKRATES, die Naturphilosophen könnten ihre Lehrsätze durch nichts bestätigen, vielleicht einen Keim des Gedankes vom Experiment erblicken könnte. Nicht in dem Sinne freilich, als hätte SOKRATES selbst ausdrücklich an das Experiment gedacht; davon kann natürlich nicht im entferntesten die Rede sein. Allein, es ist nicht ausgeschlossen, daß die Nachricht von jenem angeblichen Vorwurf des SOKRATES gegen die Naturphilosophen auf manche später Experimentatoren anregend gewirkt haben mochte. Vgl. auch RIEHL, Über Begriff und Form der Philosophie, Berlin 1872, Seite 8.
    22) RIEHL, Plato - ein populärwissenschaftlicher Vortrag, Halle/Saale, 1905, Seite 34.
    23) Descartes' Briefe (Akademie-Ausgabe), Bd. 2, Seite 380.
    24) GALILEI, Op. III, Seite 463
    25) GALILEI, Op. III, Seite 463
    26) Vgl. MACH, Die Mechanik etc., a. a. O., Seite 129; ferner RIEHL, Die Philosophie der neueren Zeit, in der "Einführung in die Philosophie der Gegenwart", Leipzig 1903, Seite 34 und 35.
    27) MACH, a. a. O., Seite 194
    28) DESCARTES, Princ. III. § 14-19. Vgl. auch KUNO FISCHER, Descartes Leben, Werke und Lehre, 1897, Seite 354.
    29) DESCARTES, Princ. III, § 30. Vgl. auch KUNO FISCHER, a. a. O., Seite 356.
    30) vgl. DESCARTES, Princ. III, § 15-19, Anm. Seite 34
    31) vgl. J. R. MAYER, Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur, Annalen der Chemie und Pharmacie, hg. von WÖHLER und LIEBIG, Bd. 52, 1842, zweites Heft. WILHELM PREYER, Robert von Mayer über die Erhaltung der Energie; Briefe MAYERs an WILHELM GRIESINGER aus den Jahren 1842-1845, Berlin 1889; weiterhin: RIEHL, Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1903, Seite 140f und RIEHL, Robert Mayers Entdeckung und Beweise des Energieprinzips, Sigwart-Festschrift 1900, Seite 181.
    32) MACH, Die Mechanik etc., a. a. O., Seite 534
    33) Nun ist es ja gewiß, daß die Hypothese, welche zur Versinnbildlichung des "Wesens" einer Erscheinung dienen soll, ihre Aufgabe umso vollkommener erfüllen wird, je weiter die Kenntnis der Gesetze dieser Erscheinung gediehen ist. Man wird, genauer gesprochen, eine richtige Hypothese zur Versinnbildlichung des "Wesens" einer Naturerscheinung nur dann ersinnen können, wenn man die in den Gesetzen der betreffenden Erscheinung sich ausprägende Eigenart jenes "Wesens" bereits kennt. Mit je größerer Sicherheit die konstante Ordnung des Ablaufs einer Erscheinung festgestellt ist, umso schärfer sind auch die Grenzen umschrieben, innerhalb welcher sich die Versinnbildlichung ihrer Ursachen wird bewegen müssen. Wenn man weiß, daß sich die Himmelskörper mit einer dem Quadrat ihrer Entfernungen umgekehrt proportionalen Intensität anziehen, dann wird das Modell, welches uns das "Wesen" oder die realen Ursachen dieser Erscheinung versinnbildlichen soll, notwendig so konstruiert sein müssen, daß sich aus ihm jenes Gesetz anschaulich begreifen läßt. Die Kenntnis des Gesetzes ist also eine der wesentlichen Vorausetzungen der Konstruktion einer Hypothese in dem hier erörterten Sinn des Wortes. Im Hinblick darauf wird man das Aufsuchen des Gesetzes einer Erscheinung jedenfalls als das methodisch wichtigere Verfahren bezeichnen müssen. Das kann aber schlechterdings nicht hindern, die volle wissenschaftliche Berechtigung auch der Frage nach der "Natur" einer Erscheinung anzuerkennen.
    34) WILHELM OSTWALD, Vorlesungen über Naturphilosophie, Leipzig 1902, Seite 215.
    35) Vgl. OSTWALD, a. a. O., Seite 259
    36) OSTWALD, a. a. O., Seite 211
    37) vgl. CASSIRER, a. a. O., Seite 310