p-4G. K. UphuesR. AvenariusA. MeinongH. CorneliusJ. Eisenmeier    
 
WALTHER SCHMIED-KOWARZIK
Umriß einer neuen
analytischen Psychologie

[und ihr Verhältnis zur empirischen Psychologie]
[2/2]

"Im Wort analytisch oder zergliedernd ist das Wesen des nicht-empirischen Urteils ausgesprochen: durch Analyse, durch Zergliede- rung" können nur die inneren Beziehungen von Bestimmtheiten erkannt werden; die Beziehung zur Wirklichkeit, die dem Inhalt der Bestimmtheiten gegenüber eine äußere ist, kann durch keine Analyse erfaßt werden, sondern bedarf der Erfahrung. Wie aber die Zergliederung die Erfahrung nicht ersetzen kann, so ist die Erkenntnis notwendiger Beziehungen nur durch Zergliederung der inneren Bestimmung und Bedeutung, niemals durch ein Wirklich-vorfinden, d. h. durch Erfahrung zu erzielen. Analysieren oder Zergliedern ist ein Vergleichen und Unterscheiden von Bestimmungen, deren Existenz für diesen Erkenntniszweck gleichgültig ist; es ist ein Aneinanderhalten, sei es im Gleichfinden oder Verschiedenheitserkennen, ein Auseinanderhalten, sei es im Verbinden oder Trennen."


B. Die Unterscheidung des Empirischen
und des Analytischen in den Hauptzügen
ihrer geschichtlichen Entwicklung.

Es fällt mir somit die Aufgabe zu, vorerst den Nachweis der logischen Verschiedenheit von Empirie und Analyse zu erbringen, bevor die Unterscheidung der beiden psychologischen Disziplinen Anerkennung beanspruchen darf.

Was die Gegenüberstellung "empirischer" und "analytischer" Urteile betrifft, so muß zunächst festgestellt werden, daß in der vorliegenden Untersuchung zwar der Ausdruck "empirisch" = "der Erfahrung entsprungen" durchaus mit dem allgemeinen Sprachgebrauch übereinstimmend verwendet wird, jedoch die Bezeichung "analytisch" eine andere (weitere) Bedeutung besitzt als die in der Logik und Erkenntnistheorie bisher üblichen gleichlautenden Namen ("analytische - synthetische Urteile", "analytische - synthetische Methode"). Es ist demnach erforderlich, daß die hiermit neueingeführte Wortverwendung in zufriedenstellender Weise gerechtfertigt wird.

Was zunächst den sachlichen Gegensatz von "Empirie" und "Analyse" betrifft, so hat am Klarsten zuerst DAVID HUME diese beiden Zweige unserer Erkenntnis geschieden.
    "Alles Wissen ist entweder ein Wissen um Verhältnisse von Vorstellungen ansich (intuitive oder demonstrative Erkenntnis) oder um Tatsachen (empirische Erkenntnis)." - Jodl, Leben und Philosophie David Humes, Seite 41; vgl. auch Hume, Untersuchung über den menschlichen Verstand, zweite Auflage, Seite 33f.
Jenes Wissen, zu welchem er die mathematischen Sätze rechnet, ist ihm die "vollkommenste Art der Erkenntnis", allein einer vollen Gewißheit fähig, unabhängig von aller Existenz. "Hier allein findet ... eine Denktätigkeit im wahrsten Sinne des Wortes statt." (Jodl, a. a. O., Seite 40)

Vgl. HUME, a. a. O.:
    "Derartige Sätze sind durch die bloße Denktätigkeit zu entdecken, ohne daß sie von etwas irgendwo im Weltall Existierendem abhängen. Hätte es auch niemals in der Natur einen Kreis oder ein Dreieck gegeben, so würden doch die von Euklid abgeleiteten Wahrheiten immerfort ihre Gewißheit und Evidenz behalten. - Tatsachen, also die anderen Gegenstände der menschlichen Vernunft, sind weder in derselben Weise gesichert noch auch ist unsere Evidenz ihrer Wahrheit, wie groß auch immer, von gleicher Beschaffenheit wie die der vorhergehenden. Von jeder Tatsache ist stets ihr Gegenteil möglich, weil es niemals einen Widerspruch enthalten kann ..."
Was HUME unterscheidet, ist dasselbe, was wir unter dem Namen "analytisches" und "empirisches" Urteil auseinandergehalten haben. "Empirisch" ist das Wissen um Tatsachen, "analytisch" das, was HUME Wissen um Beziehungen nennt. Der von HUME für das analytische Urteil gebrauchte Ausdruck "Erkenntnis von Beziehungen", der übrigens in der Gegenwart von HÖFLER in der gleichsinnigen Gegenüberstellung von "Daseins- und Beziehungsurteilen" gebraucht wird, ist deshalb für den allgemeinen Gebrauch ungeeignet, weil damit eine bestimmte psychologische Anschauung, die nämlich, daß das Tatsachen-Urteil keine Beziehung im weitesten Sinne, keine beziehende Urteils-Synthese involviert, in diese logischen Unterscheidungen einbezogen ist. Die Beziehungen jener Urteile, die man den Daseinsurteilen gegenüberstellt, sind die inneren Beziehungen einer Gegebenheit, die man unter Abstraktion von aller Existenz vorfindet; ihnen gegenüber ist die Beziehung zur Wirklichkeit eine äußerliche. Das Erkennen der inneren, notwendigen Beziehungen wird treffender und unvorgreiflich "Analyse", "Zergliederung" genannt, während das Erkennen der Tatsächlichkeit allgemein "Erfahrung" heißt. Diesen vorläufigen Terminologischen Angaben werden nach einer Besprechung des sachlichen Gegensatzes ausführlichere Erläuterungen folgen.

Was die Begriffe "Tatsachenerkenntnis" und "Zergliederungserkenntnis" ihrer Bedeutung nach anlangt, so war HUME der erste, der diesen Gegensatz deutlich ausgesprochen hat. Doch schon bei seinen unmittelbaren Vorgängern finden sich Ansätze zu dieser Erkenntnis: so hat schon LOCKE von seinen drei Erkenntnisarten die intuitive und die demonstrative zusammen als die Klasse der Gewißheitsurteile der sensitiven Erkenntnis, gegenübergestellt, der er bloß Wahrscheinlichkeit zuschreibt (Über den menschlichen Verstand, 4. Buch, 2. Kapitel); in ähnlichem Sinn unterschied LEIBNIZ "ewige" und "faktische" Wahrheiten. Jenen ist absolute Notwendigkeit eigen, diese sind logisch "zufällig" und nur kausal bedingt; die Sätze der Mathematik rechnete er insgesamt den ewigen Wahrheiten zu (Monadologie, Seite 33).

Leider hat weder HUME noch seine Vorgänger eine feste, treffende Bezeichnung für unsere beiden Begriffe geschaffen. So fehlte dieser Unterscheidung die Prägnanz, die logische Bestimmtheit. Überhaupt hatte HUME diese Einteilung der Urteile mehr mit genialem Scharfblick erfaßt als systematisch untersucht. Das analytische Erkennen nannte er kurzweg ein "Wissen um die Beziehungen der Ideen", ohne festzustellen, was unter "Ideen" zu verstehen ist: nach seinem Sprachgebrauch bedeuten "Ideen" die Reproduktion im Gegensatz zu den "Impressionen" (den Empfindungen, Gefühlen, Strebungen). Gibt es also kein Wissen umd die Beziehungen der Impressionen?! Und weiter: Ideen-Reproduktionen umfassen sowohl die anschaulich-lebhaften Erinnerungen und Einbildungen als auch die unausgeführten, blassen Begriffsvorstellungen; betrifft das Beziehungswissen die Beziehungen aller Reproduktionen oder bloß die Beziehungen der Begriffe? Das Problem der Mathematik lag mitten in diese Fragen verknäuelt. Sind die geometrischen Erkenntnisse aus der Untersuchung des (sei es sinnlich wahrgenommenen oder vorgestellten) anschaulichen Raumbildes oder aus der Beziehung abstrakter Begriffe gewonnen? Auf all dies gab HUME keine Antwort.

So lagen diese Probleme, als KANT sich ihrer Erforschung zuwandte. Ihm gebührt das unsterbliche Verdient, die Erkenntnisweise der Mathematik bestimmt zu haben und neben ihr noch eine Reihe anderer Disziplinen, die HUME gar nicht berührte, in den Kreis analytischer, d. h. nicht-empirischer Wissenschaften aufgenommen zu haben, als da sind: Kategorienlehre, Ethik, Ästhetik, Rechts- und Religionsphilosophie. Es war die größte Tat in der Selbsterkenntnis der Philosophie: die grundlegende Feststellung der philosophischen Aufgaben. Der Erfolg seiner unvergleichlich bedeutsamen Arbeit wurde aber durch zwei Fehler fast gänzlich in Frage gestellt: durch die Färbung seiner Begriffe im Geiste einer halb skeptischen, halb metaphysischen Grundüberzeugung und (damit im Zusammenhang) durch die gänzliche Verunglückung seiner Bezeichnungen.

Am weitesten aber griff KANT bei der Benennung des Gegensatzes der von uns "empirisch" und "analytisch" genannten Urteile fehl. Er nannte nämlich, sich an eine scholastische Tradition anschließend, die empirischen Urteile: "Urteile a posteriori", die nicht-empirischen: "Urteile a priori". Es gibt in der ganzen Geschichte der Philosophie keinen einzigen Begriff, der ungeschickter bezeichnet wurde als das "analytische" (nicht-empirische) Urteil. Man denke: die empirische Erkenntnis, das Tatsachenwissen wird "Urteil vom Späteren" genannt, die Analyse: "Urteil vom Früheren!" Diese Bezeichnungen müssen jedem Unbefangenen solange völlig sinnlos erscheinen, bis er sie nicht mit dem Geist aristotelischer Metaphysik erfüllt, aus der diese beiden Namen stammen; dadurch wird er aber in eine Richtung getrieben, die der unmittelbaren logisch-psychologischen Unterscheidung von Erfahrungs- und Zergliederungsurteilen durchaus fremd ist. Dem ARISTOTELES galt "das Allgemeine" als "das ansich Frühere", als ewige Form, die aus eigener Kraft "das Besondere, Spätere" hervorbringt. ALBERT der Große, der scholastische Aristoteliker, belegte in diesem Sinn die Schlußweise "ex causis ad effectum" [die Ursache aus der Wirkung - wp] mit dem Namen "a priori"; denn causae sind = formae = universalia = prius; umgekehrt nannte er die Schlußweise "ex effectibus ad causas" [aus der Wirkung die Ursache - wp]: "a posteriori". Es ist ein Irrtum, zu glauben, das Urteilsverfahren, das ALBERT "a priori" nennt, decke sich mit dem kantischen gleichnamigen Begriff; vielmehr ist ALBERTs "a priori" bloß die Umkehrung des "a posteriori", d. h. des induktiven Verfahrens, folglich nichts anderes als eine "Deduktion". Es ist aber gerade das Verdienst der neueren Philosophie, insbesondere HUMEs und KANTs, im Begriff des "Nicht-empirischen" nicht bloß eine Umkehrung der empirischen Induktion zu sehen, sondern eine logisch verschiedene Urteilsgattung, die zwar auch die Deduktion umfaßt, daneben aber noch viele andere apodiktische Erkenntnisse. Es war also ein verhängnisvoller Mißgriff KANTs in seinen grundlegenden Untersuchungen der beiden Erkenntnisarten den modernen Begriffen die alten scholastischen Namen anzuhängen, umso mehr als seine Vorgänger die veralteten Worte (zumindest als Hauptbezeichnungen) nicht mehr gebrauchten.

So war in den beiden Begriffen insgeheim ein metaphysischer Hintergedanke eingewoben, und man verfiel leicht in den Wahn, die nicht-empirischen Urteile einer geheimnisvollen Wundergabe unseres unbekannten Wesens zuzuschreiben, wobei ohne diese unvergleichliche Fähigkeit ein solches Wissen unmöglich wäre. Dadurch wurde diese rein logische Frage untrennbar mit gewissen ontologischen Überzeugungen verquickt, so zwar, daß man in die Notwendigkeit versetzt schien, entweder beides anzunehmen oder beides zu verwerfen. So kam es, daß von den Nachfolgern KANTs nur die Metaphysiker für die Urteile "a priori" eintraten, die Gegner der Metaphysik aber das Vorhandensein solcher Urteile leugneten. Die Geschichte des Begriffs der nicht-empirischen Erkenntnis nach KANT zerfällt in drei Perioden:
    1. seine unmittelbaren Nachfolger waren Romantiker, voll des kühnen Drangs, ein Weltbild zu gestalten; sie erblickten in der Fähigkeit "apriorischen" Erkennens ein allmächtiges Vermögen, mit welchem sie die Welt der Tatsachen ohne die Hilfe der Erfahrung erfassen zu können glaubten. Wurde auf diese Weise die Erfahrung neben einem so umfassenden Erkenntnisvermögen überflüssig, so erfolgte bald

    2. eine Gegenbewegung, die neben der Erfahrung keine andere Erkenntnisart anerkennen wollte. Es waren dies jene bedachtsamen Denker, die das gänzliche Mißglücken der großzügigen Versuche der metaphysischen Romantik miterlebten und unter diesem Eindruck den Vorsatz faßten, das offenliegende Gebiet äußerer und innerer Erfahrung sorgsam zu erforschen und jedes Überschreiten dieser Grenzen gewissenhaft zu vermeiden. Alles Wissen galt diesen Empiristen als der Erfahrung entsprungen und in den Urteilen a priori erblickten sie ein unsinniges, metaphysische Fabulieren.

    3. Das letzte Drittel des Jahrhunderts war eine rückwärts-schauende Philosophie: das Losungswort Zurück zu Kant! rief viele zur Bearbeitung nach Kant orientierter, erkenntnistheoretischer Fragen. Indem diese Forscher, sie mögen sich Kantianer nennen oder nicht, insgesamt mit zäher Beharrlichkeit am alten metaphysischen Ausdruck a priori festhielten, so widersetzte sich der Realismus diesen Untersuchungen in der Meinung, die Anerkennung nicht-empirischer Urteile sei zugleich ein Bekenntnis zu weiß Gott welchen metaphysischen Theorien.
Die Anhänger "der Erkenntnisse a priori" fühlten und fühlen selbst, welches Hindernis zur Verständigung dieser Name bildet. MEINONG z. B. bekennt offen:
    "Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich vermute, daß an dem heute ohne Zweifel verbreiteten Vorurteil gegen das Apriori der Name nicht geringe Schuld trägt, und zwar nicht etwa wegen seiner historisch gegebenen Bedeutung, die gerade den lautesten Eiferern gegen das Apriori am wenigsten bekannt sein wird, wohl aber wegen der aus einer solchen Unbekanntschaft hervorgehenden, mehr oder weniger primitiven Etymologien, bzw. Übersetzungsversuche." (Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, Seite 12)
Es ist bedauerlich, daß man trotz dieser Einsicht den mißratenen Namen doch immer noch gebraucht, ja daß man sogar den Grundsatz aufstellt,, die Sprache habe sich nach willkürlichen Definitionen der Gelehrten zu richten, nicht etwa der Gelehrte sich nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zu orientieren. So soll also eine Analyse für ewige Zeiten "Erkenntnis vom Früheren" heißen und jeder Mensch hat, wenn er diesen Ausdruck lernt, hinzuzulernen, daß dieser Begriff mit "Früher" und "Später" gar nichts zu tun hat. Es liegt in solchen Anschauungen ein völliges Verkennen der für das Sprechen und Denken geltenden psychischen Gesetze: denn es ist einfach unmöglich, den Begriff des "Früheren", der mit dem Wort "prius" für jeden des Lateinischen kundigen Menschen assoziiert ist, justament beim "Urteil a priori" gänzlich aus dem Bewußtsein auszuschalten. Und das gilt nicht nur für die Leser, sondern auch für die Schriftsteller, die das Wort gebrauchen. Wer die Geschichte dieses Begriffs kennt, muß aufrichtigerweise zugeben, daß der etymologische Wortsinn auch dort bestimmen auf die Begriffsbildung gewirkt hat, wo man ehrlich versicherte, unter "a priori" nichts anderes als "nicht-empirisch" verstehen zu wollen. Wer geneigt ist, im Kampf gegen diese Bezeichnung einen leeren "Wortstreit" zu sehen, dem sei ein Ausspruch des Dichters und Philosophen HAMERLING entgegengehalten: "In der Philosophie ist gerade das rechte Wort das, worauf es ankommt." (Atomistik des Willens I, Seite 220)

Nachdem ich hiermit das Bekenntnis abgelegt habe, daß ich es für meine Gewissenspflicht halte, das Wort "a priori" nicht zu gebrauchen, will ich in der sachlichen Behandlung des Gegensatzes von Empirie und Analyse fortfahren. Zu diesem Zweck sei noch einmal auf KANT zurückgegangen. Ich erwähnte schon vorhin, daß HUME es im Dunklen ließ, was er denn eigentlich mit dem Ausdruck "Beziehung der Ideen" (die den Inhalt der nicht-empirischen Urteile bilden sollen) meint? "Idee" kann sowohl abstrakte als auch konkrete Vorstellung (bei LOCKE auch Wahrnehmung und Erlebnis überhaupt) bedeuten. Was meinte nun HUME? Vielleicht alles zusammen. Für ihn unterschieden sich ja die Allgemeinbegriffe überhaupt in nichts von den Vorstellungen des Konkreten. KANT aber unterschied hier schärfer: Urteile, die nichts als die Beziehung eines Begriffs zu einem anderen (in jenem als Teilinhalt enthaltenen) Begriff ausdrücken, haben eine eigene, besondere Gruppe zu bilden; sie sagen eigentlich nichts Neues aus, sie "erweitern" unsere Erkenntnis nicht, sondern sie verdeutlichen nur unsere Begriffe, sie "erläutern". Sie zergliedern einen Begriff, den Subjektbegriff, und was sie aussagen, liegt "in versteckter Weise" in diesem schon drinnen. Diese Urteile sind nichts anderes als "Analysen" schon vorhandener Begriffe. KANT nannte sie aus diesem Grund "analytische Urteile". Hier sollen sie genauer "begriffsanalytische Urteile" genannt werden. Ihnen stehen die "begriffs-synthetischen" (bei KANT schlechthin die "synthetischen") Urteile gegenüber; diese sind "Erweiterungsurteile", d. h. solche Urteile, die "zum Begriff des Subjekts ein Prädikat hinzufügen, welches in jenem gar nicht gedacht war und durch keine Zergliederung desselben hätte können herausgezogen werden." (Kant, Kr. d. r. V., Ausgabe Kirchmann, siebte Auflage, Seite 54)

Das Verhältnis der beiden Gruppierungen, derjenigen nach dem Gesichtspunkt der Erfahrung und derjenigen nach dem Gesichtspunkt der Begriffsanalyse, ist folgendes: Die empirischen Urteile, die stets begriffssynthetisch sind, und die begriffsanalytischen, die stets nicht-empirisch sind, bilden die beiden Flügel; in der Mitte liegen die nicht-empirischen und nicht-begriffsanalytischen Urteile, die KANT "synthetische Urteile a priori" nannte.

Was die nicht auf Erfahrung beruhenden Erkenntnisse anlangt, so liegt das Prinzip der Erläuterungsurteile offen zutage: die Begriffsanalyse. Wie aber sind die sogenannten "synthetischen Urteile a priori" möglich? KANT legt besonderen Nachdruck auf die Loslösung dieser Urteile von allen übrigen und bringt sie dadurch in eine einzigartige Ausnahmestellung. Es ist nicht meine Aufgabe, an dieser Stelle die Ergebnisse der kantischen Untersuchung zu überprüfen; immerhin wird die folgende Überlegung, die Berechtigung einer so tiefgehenden Zerklüftung der nicht-empirischen Urteile in Zweifel ziehen.

Man erwäge: ein Teil der nicht-empirischen Urteile kann auf das Prinzip der Analyse (im besonderen der Begriffsanalyse) zurückgeführt werden. Warum sollten nicht auch die übrigen nicht-empirischen Urteile, die ja die gleichen logischen Eigentümlichkeiten aufweisen, demselben Prinzip entstammen? Gewiß, die Analyse eines Begriffes können diese Urteile sicherlich nicht darstellen; denn es sind Erweiterungsurteile, nicht bloße Begriffsverdeutlichungen. Doch wer wollte behaupten: eine Analyse kann nur Begriffe betreffen!

Nehmen wir die geometrischen Sätze, die KANT besonders gern als Beispiele nicht-empirischer, begriffs-synthetischer Urteile bezeichnete. DILTHEY sagt über sie:
    "Die Geometrie ist die Analysis ... (des) vom Bestand der einzelnen Objekte ganz unabhängigen Raumbildes: hierin liegt der Charakter ihrer Apodiktizität." (Ideen etc, Seite 1311).
Im gleichen Sinn erklärt der Mathematiker HILBERT, die Feststellung der Axiome beruhe auf einer "Analyse der Raumanschauung" (Grundlagen der Geometrie, zweite Auflage, Seite 1). Und in der Tat: woraus flösse ein geometisches Axiom als aus der Besinnung auf die inneren Beziehungen in einem Raumbild, d. h. aus einer Analyse? Man denke z. B. an den Satz: "Zu einer Geraden kann in einem Punkt, der nicht auf ihr selbst gelegen ist, immer eine und nur eine Parallele gezogen werden." Einsicht in dieses Urteil kann man nur durch die Analyse des inneren Beziehungszusammenhangs dieser räumlichen Gebilde gewinnen, so wie er in einer Anschauung vorliegt. Man erkennt vor allem, daß alle Geraden, die nicht auf der Ebene liegen, die die gegebene Gerade und en Punkt enthält, zur gegebenen Geraden windschief sein müssen; sämtliche Geraden innerhalb der Ebene, die durch den angenommenen Punkt gehen, können durch die Drehung einer Gerade veranschaulicht werden: in der Kreuzstellung schneiden sich die beiden Gerade rechtwinklig, jede Veränderung dieser Lage verringert den inneren Schnittwinkel und vergrößert den äußeren, so daß ihre Summe jedesmal gleich 180° ist; in dem Augenblick, als der Schnittwinkel gleich Null ist oder mit anderen Worten: sich die beiden Geraden nicht schneiden, ist das Verhältnis ihrer Richtungen gleich 180°, d. h. ist eine zur anderen parallel. Eine solche Lage kann es für die gedrehte Gerade und den gegebenen Punkt nur eine geben, da es nur einen Winkel 0° = 180° gibt. - Was ist ein solches Begreifen anderes als eine Analyse? Es ist ein Sich-besinnen auf die notwendigen Beziehungen von Raumgestalten, auf die Beziehungen der Gleichheit oder Verschiedenheit der Größen, auf die Beziehung der Richtungen usw. Es ist eine Analyse des Raums und der Gebilde in ihm. Geometrie ist nicht etwa eine Analyse des Raumbegriffs, vielmehr ist der Raumbegriff selbst erst der Niederschlag geometrischer Urteile. Vielmehr ist der Gegenstand geometrischer Analysen der anschauliche Raum, sei es innerhalb einer sinnlichen Wahrnehmung oder einer ausgeführten Vorstellung. Auf ihn richtet sich das Urteil und sucht seine Bestimmungen zu zergliedern. Geometrie ist demnach Analyse, ihre Urteile sind analytisch, freilich nicht begriffsanalytisch, sondern einer Analyse der Raumanschauung entsprungen. Diese Auffassung der Geometrie ist trotz der Verschiedenheit in der sprachlichen Ausdrucksform durchaus mit dem Kern der kantischen Lehre identisch: KANT lehrt, die geometrischen Sätze entspringen aus einer urteilenden Synthese, die sich auf die Raumanschauung richtet, die ein Grundinhalt des Bewußtseins ist. (Die Meinung einiger Kant-Forscher, die "Anschauung a priori" sei selbst schon Erkenntnis bzw. logische Kategorie, ist irrtümlich; man vergleiche hierzu: Kr. d. r. V., Elementarlehre § 17, wo es heißt: "So ist die bloße Form der äußeren sinnlichen Anschauung, der Raum, noch gar keine Erkenntnis; er gibt nur das Mannigfaltige der Anschauung a priori zu einer möglichen Erkenntnis.")

So wie die geometrischen Urteile auf einer Analyse der Raumanschauung beruhen, so gründen sich die Sätze der Phoronomie auf die Analyse der Bewegung, nicht des Bewegungsbegriffs, sondern der angeschauten Bewegung. In gleicher Weise ist die Arithmetik eine Analyse; natürlich wieder keine Analyse eines Begriffs. Zum Beispiel ist der Satz: 7 + 5 = 12, wie KANT hervorhob, kein begriffsanalytischer Satz. Denn
    "der Begriff der Summe von 7 und 5 ... enthält ... nichts weiter, als die Vereinigung beider Zahlen in eine einzige, wodurch ganz und gar nicht gedacht wird, welches diese einzige Zahl ist, die beide zusammenfaßt." (Kr. d. r. V., Einleitung, V, 1)
Vielmehr ist die Arithmetik eine Analyse der Gesetzlichkeit der Zahlenreihe überhaupt, deren Einheiten man sich in Wahrnehmung oder Vorstellung, sei es durch Zeitpunkte (Ordnungszahlen), sei es durch Raumpunkte (Grundzahlen) anschaulich machen muß, um Sinn und Zusammenhang ihrer inneren Beziehungen zu erkennen.

Ebenso ist die Logik eine analytische Wissenschaft, ihre Erkenntnisse sind nach SIGWART (Logik I, 18)
    "nur durch eine Analyse unseres wirklichen Urteilens, durch Besinnung auf das zu gewinnen, was wir tun, wenn wir urteilen, welche anderen Funktionen etwa dem Urteilen vorausgesetzt sind, auf welche Weise sich aus ihnen das Urteilen bildet, und welche allgemeinen Prinzipien diesen Bildungsprozeß von Natur aus beherrschen."
Auch alle übrigen von KANT als nicht-empirisch bezeichneten Wissenschaften entspringen dem Prinzip der Analyse. So die Anfangsgründe der Mechanik, die in den Sätzen der Bewegung, Geschwindigkeit, Masse usw. niedergelegt sind; vielleicht auch gewisse Sätze der Ontologie (Endlichkeit und Unendlichkeit, Atom und Kontinuum usw.). Jedenfalls sind aber Ethik, Ästhetik, Rechts- und Religionsphilosophie nicht-empirische Wissenschaften. Es gibt zwar zweifellos eine Geschichte ethischer, ästhetischer, rechtlicher und religiöser Tatsachen, die wie jede Geschichte auf Erfahrung beruth; aber jene genannten Disziplinen, deren Aufgabe es ist, das, was gelten soll, nicht das, was tatsächlich gilt, zu untersuchen, sind ihrem Wesen nach erfahrungsfrei und gründen sich auf eine Analyse. Das Prinzip dieser Wissenschaften ist aber ebensowenig eine Analyse abstrakter Begriffe als eine auf Erfahrung beruhende Induktion, sondern eine Analyse der den konkreten Gegebenheiten innewohnenden Gesetzlichkeit, Besinnung auf die Notwendigkeiten ihrer inneren Bestimmung.

Nach all dem ist die Einschränkung des Ausdrucks "Analyse" und "analytisch" auf die Begriffsanalyse eine Gewaltsamkeit. Als solche wurde sie auch in der Logik selbst empfunden. SIGWART sagt hierüber (Logik I, § 18, 135):
    "Kants Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile betrifft nur das Verhältnis des Prädikats zu dem durch das Subjektwort bezeichneten, als gegeben angenommenen Begriffe. Sie wird von KANT nicht angewendet auf diejenigen Urteile, in denen das Subjekt eine einzelne anschauliche Vorstellung ist. Alle Relationsurteile müssen ferner vom kantischen Gesichtspunkt als synthetische betrachtet werden, auch wenn sie auf einer Analyse einer gegebenen Gesamtvorstellung beruhen."
Ferner Seite 147 nach der Besprechung arithmetischer und geometrischer Beispiele:
    "Somit sind auch diese synthetischen Urteile a priori, sofern sie unmittelbar sind, in Wahrheit analytisch, weil es sich darin gar nicht um eine Explikation des Begriffs handelt, der durch das Subjektwort für sich ausgedrückt ist, sondern um ein komplexes Objekt, das durch das Subjektwort zwar zu einem Teil bezeichnet wird, außer dem Subjekt des Urteils aber noch anderes enthält. In demjenigen, was nicht durch das Subjektwort bezeichnet ist" ... "in der Gesamtanschauung, die im Urteil analysiert wird" - "liegt der Grund des Urteils."
Wir haben also ein gutes Recht, den Ausdruck "analytisch" für alle nicht-empirishen Erkenntnisse und Wissenschaften zu verwenden. Bezeichnenderweise hat sich ja auch die kantische Terminologie weder im allgemeinen Sprachgebrauch noch in irgendeiner Wissenschaft, mit Ausnahme der von KANT beeinflußten Erkenntnistheorie, heimisch machen können. So ist z. B. das, was die Arithmetik "analytisch" nennt, nämlich die Rechnung mit allgemeinen Größen (Algebra, Reihen-, Kombinationen-, Logarithmen-, Kurvenlehre, Differential-, Integral- Variationsrechnung) keine bloße Begriffsanalyse; ebensowenig die von der Geometrie "analytisch" genannte Umsetzung von Raumgrößen in algebraische Formeln. Und schließlich hat die Psychologie den Begriff "Analyse" jederzeit verwendet, ohne damit jemals eine "Begriffsanalyse" zu meinen.

So wurde vor und nach KANT der Begriff der "Analyse" in so mannigfachen Zweigen der Wissenschaft in seinem uneingeschränkten Sinn gebraucht. Es ist also dem deutschen Sprachgefühl durchaus entsprechend, das Wort "analytisch" im Gegensatz zu KANTs Einengung auf den Sinn "Begriffsanalyse" in seinem vollen Bedeutungswert zu gebrauchen, und zwar zur Bezeichnung sowohl von Wissenschaften oder Teilen einer Wissenschaft als auch von Urteilen. "Analytisch" werden wir alle diejenigen Erkenntnisse und Erkenntniszusammenhänge nennen, in denen das Erfassen einer inneren Beziehungsgesetzlichkeit Erkenntniszweck ist. Im Wort "analytisch" oder "zergliedernd" ist das Wesen des nicht-empirischen Urteils ausgesprochen: durch "Analyse", durch "Zergliederung" können nur die inneren Beziehungen von Bestimmtheiten erkannt werden; die Beziehung zur Wirklichkeit, die dem Inhalt der Bestimmtheiten gegenüber eine äußere ist, kann durch keine Analyse erfaßt werden, sondern bedarf der "Erfahrung". Wie aber die Zergliederung die Erfahrung nicht ersetzen kann, so ist die Erkenntnis notwendiger Beziehungen nur durch Zergliederung der inneren Bestimmung und Bedeutung, niemals durch ein Wirklich-vorfinden, d. h. durch Erfahrung zu erzielen. "Analysieren" oder "Zergliedern" ist ein Vergleichen und Unterscheiden von Bestimmungen, deren Existenz für diesen Erkenntniszweck gleichgültig ist; es ist ein Aneinanderhalten, sei es im Gleichfinden oder Verschiedenheitserkennen, ein Auseinanderhalten, sei es im Verbinden oder Trennen.

"Analytisch" bedeutet also keineswegs einen Gegensatz zu "synthetisch"; vielmehr fällt der Gegensatz des Trennens und Verbindens, Vergleichens und Unterscheidens ganz in das Gesamtgebiet des Analytischen hinein. Vgl. übrigens L. RABUS, Methode und Methoden, Philosophische Monatshefte, Bd. 21, 1885), der die "übliche Unterscheidung von Analyse und Synthese als unzureichend und unrichtig" verwirft und alles Erkennen als Analysis erklärt, die "sich zwischen Thesis und Synthesis hin und her bewegt". Vgl. ferner ANSCHÜTZ, "Über die Methoden der Psychologie" (Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. XX, 1911, Seite 443). "Synthese und Analyse verbinden sich beide zu einer Tätigkeit, der wir dann freilich den Namen Analyse zu geben gewohnt sind."

In der Logik wurde seit den Zeiten der Scholastik die Methode der Untersuchung die "analytische" genannt, die Methode des Lehrvortrags, die das in der Untersuchung gefundene Einzelne zusammenfaßt, die "synthetische". Dieser Gegensatz betrifft nicht den logischen Gehalt der zugrundeliegenden Erkenntnisse, sondern die Art ihrer Darstellung: die sogenannte "analytische" Methode ist die Verfahrensweise bei der Gewinnung dieser Urteile, die sogenannte "synthetische" ist nichts anderes als eine zweckmäßige Umformung zum Zweck der Mitteilung. Unsere Entgegensetzung von analytischer und empirischer Erkenntnisweise deckt sich also keineswegs mit dem alten Begriffspaar "analytische und synthetische Methode". Vielmehr kann sowohl die Analyse als auch die Erfahrung in jenem historischen Sinn "analytisch" oder "synthetisch" betrieben werden: der Gang der Aufsuchung, sei es nun analytischer oder empirischer Bestimmungen heißt nach der alten Logik "analytisch", der Gang des Vortrags "synthetisch". Es handelt sich also bei jener traditionellen Unterscheidung um die Anordnung ein und desselben Erkenntniszusammenhangs. Man würde demnach das Wort "analytisch" im alten Begriffspaar besser durch ein anderes ersetzen, etwa durch "thetisch" oder "henothetisch"; besonders der letztere Ausdruck wäre bezeichnend, indem er den auf die Einzelbestimmung gerichteten Gang der aufsuchenden Forschung charakterisiert und so in dieser seiner Eigenart der Methode zusammenfassender Darstellung gegenüberstellt. Im Übrigen hat ja diese Unterscheidung auf der Stufe der modernen Logik und Erkenntnistheorie nicht den Wert, den man ihr einstmals beimaß, und ist in ihrer geschichtlichen Form vielfach überhaupt schon vergessen.

So ist die hier vertretene Neufassung des Begriffs "analytisch" mit keinem der im lebendigen Sprachgebrauch befindlichen Homonymen [dasselbe Wort für verschiedene Bedeutungen - wp] in Widerspruch, sondern befaßt alle besonderen Anwendungen als Arten unter sich. Dieselbe logische Zergliederungstätigkeit, die im Erläuterungsurteil einen Begriff zerlegt, ist auch in der Analyse mathematischer, logischer, psychologischer und anderer Gegebenheiten lebendig.
LITERATUR Walther Schmied-Kowarzik, Umriß einer neuen analytischen Psychologie, Leipzig 1912