p-4G. K. UphuesR. AvenariusA. MeinongH. CorneliusJ. Eisenmeier    
 
WALTHER SCHMIED-KOWARZIK
Umriß einer neuen
analytischen Psychologie

[und ihr Verhältnis zur empirischen Psychologie]
[1/2]

"Zuerst wurde mit Natur die physische Welt, mit Geist die psychische bezeichnet. Indem aber die nachkantische Philosophie das spekulative Interesse auf das höhere Seelenleben richtete und in der reinen Tätigkeit der theoretischen und praktischen Vernunft den innersten Kern der Psyche erkennen wollte, begann man den Begriff des Geistes auf diese höheren seelischen Tätigkeiten einzuschränken: auf das wissenschaftliche Erkennen, das sittliche Tun, das künstlerische Schaffen und das religiöse Leben; dadurch kamen die niederen Seelenvermögen: Sinnlichkeit, Begierde, Trieb immer mehr in den Bereich der Natur."


Vorwort

Was im Innern eines Buches ausführlich auseinandergesetzt ist, das faßt der Titel in ein paar Worten zusammen, in Worten, deren Bedeutungen oft erst in der Untersuchung selbst ihre Bestimmtheit empfangen. Dem Ausdruck "analytisch" im Titel dieses Buches kommt eine solche besondere Verwendungsweise zu, die in den folgenden Seiten ihre erschöpfende Begründung erhalten wird. Doch mögen schon diese Zeilen zu einem kurzen Hinweis benutzt werden.

Das Wörtchen "neu" im Ausdruck "neue analytische Psychologie" soll demnach anzeigen, daß es sich um eine analytische Psychologie in einem neuen Sinn handelt. Es ist keine Ankündigung einer paradoxen Eröffnung, die ohne Zusammenhang mit aller wissenschaftlichen Tradition ist und die das Wort "analytisch" gewaltsam auf einen ganz anderen Begriff umprägt, seine historische Bedeutung verwischend. Vielmehr fußt die hier dargebotene Lehre auf all den vielen Bemühungen um jene Aufgaben der Psychologie, die nicht durch Empirie, Experiment und Induktion, sondern nur durch eine psychologische Analyse gelöst werden können. Ja, die im zweiten Teil des Buches ausgeführte Analyse des Bewußtseins hat sämtliche Errungenschaften der historischen Systeme, insbesondere HUMEs und KANTs, in sich aufgenommen und gründet sich auf das von JODL gezeichnete System der Bewußtseinsinhalte, so daß man, die wenigen vom Verfasser herrührenden Ergänzungen übersehend, fragen könnte, inwiefern denn diese Psychologie "neu" sein soll. Es ist eben kein neuer Stoff, sondern ein neuer Gesichtspunkt der Betrachtung, der sich daraus ergibt, daß die Untersuchung der psychischen Struktur der analytischen Methode dieselben Bestimmungen findet, die seinerzeit KANT der nicht-empirischen, apologetischen [sicheren - wp] Erkenntnisweise zugesprochen hat. So ist der neue Sinn des Wortes "analytisch" im Grunde nichts anderes als dessen alte Bedeutung in ihrer konsequenten Vollendung und eine analytische Psychologie in diesem prägnanten Sinn ist eine Psychologie, in der die psychologische Analyse nicht, wie man bisher definierte, bloß in einem gewissen, kleineren oder größeren Maß vertreten, sondern in der sie das ausschließliche Ziel ist, indem man die empirischen Aufgaben um ihrer logischen Verschiedenheit willen der ausgesprochen empirischen Schwesterdisziplin überläßt.

In der letzten großen Periode der Psychologie, die um die Mitte des vorigen Jahrhunders einsetzte, waren die analytischen Obliegenheiten der psychologischen Gesamtwissenschaft hinter die physiologische und introspektive Empirie zurückgedrängt. Erst in der jüngsten Vergangenheit wandte man sich wieder mehr der psychologischen Analyse zu. Hier sei des Mannes gedacht, der als Erster in der Gegenwart die Notwendigkeit einer "zergliedernden Psychologie" darlegte: WILHELM DILTHEY. Ich will seinen Namen nicht nennen, ohne dem Gedächtnis dieses feinsinnigen Seelenforschers, dem ich - ich war im Jahr 1906/07 sein Schüler - so viel Erkenntnis verdanke, meine Verehrung zu bezeugen.



I. Teil: Das Wesen der Analyse

1. Abschnitt:
Empirische und analytische Erkenntnisse

A. Die Stellung der Psychologie
im System der Wissenschaften

Über die Stellung einer Wissenschaft im Gefüge menschlicher Erkenntnis entscheidet letzten Endes der Grundcharakter ihrer Methode, d. h. die logische Eigentümlichkeit der Urteile, in denen ihr Lehrgehalt ausgesprochen ist. Der Stoff ist kein einwandfreier Maßstab für die Einteilung einer Wissenschaft; denn die innere Struktur einer Wissenschaft ist der Hauptsache nach nicht von ihrem Stoff, sondern von der Art der Behandlung desselben abhängig und die Beschaffenheit des Stoffs hat auf die Struktur nur insofern Einfluß, als sie eben für gewisse Behandlungsweisen förderlich oder hinderlich ist. So kann ein und derselbe Gegenstand von mehreren Wissenschaften betrachtet werden; ja, es können sich verschiedene Arten und Methoden der Erkenntnis zur Gesamtforschung eines Gegebenen vereinigen. Jedoch läßt sich auch in einer solchen Diszplin jederzeit die Verschiedenheit der logischen Struktur nachweisen, so daß man bei einer Einteilung der Wissenschaften sie entweder in entsprechende Teilwissenschaften zerlegen oder ihr außer der Reihe den Platz gemischter Disziplinen anweisen muß. Ein Beispiel hierfür ist die mathematische Physik, die nicht bloß empirische Induktionen, denen zufolge sie mit den Erfahrungswissenschaften zusammenhängt, sondern auch arithmetische und phoronomische [bewegungstechnische - wp] Bestimmungen enthält, die nicht-empirisch sind und den mathematischen Wissenschaften angehören.

Für die Frage nach der Stellung der Psychologie kann also nur durch eine logische Prüfung ihrer Erkenntnisse entschieden werden; und auch hier kann das Ergebnis wie im Fall der Physik dahin lauten, daß die Urteile, die unter dem einen Begriff der "Psychologie" zusammengefaßt sind, verschiedenen Bereichen des Systems der Wissenschaften zugeordnet werden können.

Und in der Tat besteht diese Lösung zurecht und diejenigen, die betreffs der Stellung der Psychologie entgegengesetzter Ansicht sind, meinen eben verschiedene "Psychologien", d. h. logisch-methodologisch verschiedene Disziplinen, die sich auf dieselbe Gegebenheit, die Psyche, beziehen. Das, was man gemeinhin Psychologie nennt, ist demnach nicht eine einheitliche Wissenschaft, sondern umfaßt zwei, ihrem Erkenntniswert nach durchaus verschiedene Wissenschaften, die empirische und die analytische Psychologie.

Mit dieser Erkenntnis ist der Streit über die Stellung der Psychologie in seinem Ursprung aufgeklärt und geschlichtet. Die mannigfachen Lehrmeinungen über den Sinn der Psychologie können nämlich in zwei Parteien gruppiert werden, deren eine die Psychologie lediglich als Erfahrungswissenschaft ausgibt, wogegen die andere in der psychologischen Analyse die Hauptaufgabe dieser Wissenschaft erblickt. Um diesen Gegensatz der Empiristen und Analytiker an charakteristischen Beispielen zu erläutern, sei zweier Reden gedacht, die beide im Jahr 1894 gehalten wurden. Die eine war die Straßburger Rektoratsrede WINDELBANDs und hieß: "Geschichte und Naturwissenschaft", die andere hielt DILTHEY in der Berliner Akademie und war betitelt: "Ideen zu einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie."

WINDELBAND (siehe "Präludien", dritte Auflage) faßt die Psychologie als "Erfahrungswissenschaft" auf; Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft ist es, "eine irgendwie gegebene und der Wahrnehmung zugängliche Wirklichkeit zu erkennen"; die alte Einteilung der Wissenschaften in der Natur- und Geisteswissenschaften ist nicht glücklich, schon deshalb, weil in keine der beiden Gruppen "eine empirische Disziplin von solcher Bedeutung wie die Psychologie unterzubringen ist: ihrem Gegenstand nach ist sie nur als Geisteswissenschaft und in gewissem Sinn als die Grundlage aller übrigen zu charakterisieren; ihr ganzes Verfahren aber, ihr methodisches Gebaren ist von Anfang bis Ende dasjenige der Naturwissenschaften". Verstehe man unter Naturwissenschaften die "nomothetischen" Wissenschaften im Gegensatz zur Geschichte, der "idiographischen" Wissenschaft, so sei die Psychologie "in diesem methodischen Sinn ... durchaus Naturwissenschaft."

DILTHEY (Sitzungsbericht 1894, Seite 1309) dagegen sieht gerade in der Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode den grundsätzlichen Fehler der sogenannten "erklärenden" Psychologie; will die Psychologie die Hilfswissenschaft der Erkenntnistheorie und der Geisteswissenschaften sein ( und diese Disziplinen sind auf die Unterstützung der Psychologie, der elementarsten Geisteswissenschaft, angewiesen), so muß die Psychologie sich auf Beschreibung und Zergliederung beschränken; "in der Selbstbesinnung, welche den ganzen unverstümmelten Befund seelischen Lebens umfaßt", finden Geisteswissenschaften und Erkenntnistheorie "ihre Grundlage".

Von der einen Seite also wird die Psychologie den Naturwissenschaften, von der anderen den Geisteswissenschaften zugezählt; dort gilt als Methode die empirische Induktion, hier die Analyse.

Was die Einteilung in "Natur- und Geisteswissenschaften" anlangt, so hat, wie mir scheint, WINDELBAND recht, wenn er sie als "nicht glücklich" bezeichnet. Fürs Erste ist der Gegensatz der Begriffe "Natur" und "Geist" metaphysischen Spekulationen entsprungen, die weder von den heutigen "Naturwissenschaften", noch von den heutigen "Geisteswissenschaften" anerkannt werden; auch haben die beiden Begriffe etwas Schwankendes, da ihre Bedeutung in der nachkantischen Philosophie eine Veränderung erfahren hat, die freilich während des Verfalls von HEGELs Vorherrschaft wieder zurückgenommen wurde. Zuerst wurde mit "Natur" die physische Welt, mit "Geist" die psychische bezeichnet. Indem aber die nachkantische Philosophie das spekulative Interesse auf das höhere Seelenleben richtete und in der reinen Tätigkeit der theoretischen und praktischen Vernunft den innersten Kern der Psyche erkennen wollte, begann man den Begriff des "Geistes" auf diese höheren seelischen Tätigkeiten einzuschränken: auf das wissenschaftliche Erkennen, das sittliche Tun, das künstlerische Schaffen und das religiöse Leben; dadurch kamen die niederen Seelenvermögen: Sinnlichkeit, Begierde, Trieb immer mehr in den Bereich der "Natur", so daß die Grenzlinie in das Seelenleben selbst verlegt war. Gegenwärtig leben diese Bedeutungen in der Philosophie RUDOLF EUCKENs wieder auf. Inzwischen waren sie völlig aufgegeben, wenngleich die beiden Begriffe aus jenen Zeiten eine eigentümliche Färbung behielten. Dies mag der Grund sein, warum man diese Ausdrücke nicht mehr für den Gegensatz "Materie - Seelenleben" gebraucht, sondern lieber die Bezeichnungen "physische" und "psychische" Welt verwendet. Umso leichter wurde auf den Begriffsgegensatz "Natur" und "Geist" verzichtet, da in beiden seiner Bedeutungen ein metaphysischer Sinn steckt, ein Hinweis auf einen Zwiespalt zwischen letzten Realitäten; die Erweisung eines solchen bis in die Urgründe des Seins hinabreichenden Risses fällt aber der Metaphysik oder der Ontologie zu, und es ist einer der besten Arbeitsgrundsätze der Wissenschaft, metaphysische Spekulationen nicht in positive Wissenschaften hineinzutragen. Demgemäß sind die Begriffe "Natur" und "Geist" nicht mehr im Sinne jener beiden Entgegensetzungen in Gebrauch, sondern werden, wo sie vorkommen, jedes für sich ohne Bezug auf das andere verwendet, und zwar so, daß "Natur" die materielle, physische Welt bedeutet, wogegen "Geist" mehr auf die höheren, zum Teil intellektuellen Leistungen der Seele bezogen wird, also die erste Bedeutung dem alten Begriffsgegensatz, die zweite dem neuen entlehnt wird. In diesem Sinn spricht man auch von "Naturwissenschaften" und "Geisteswissenschaften", indem man die Wissenschaft der anorganischen und organischen Materie als "Naturwissenschaften" zusammenfaßt, hingegen all jene Wissenschaften, die sich mit den Kulturprodukten (Staat, Recht, Sitte, Sprache, Kunst, Religion usw.) nicht so sehr ihrer geschichtlichen Entwicklung, als vor allem ihrer inneren Bedeutung nach befassen, den "Geisteswissenschaften" zuordnet. Eine Gegenüberstellung können diese Bezeichnungen umso weniger bedeuten, als ja die Bedeutungen der beiden Begriffe "Natur" und "Geist" nicht aus ein und demselben logischen Gegensatz, sondern jeweils eine aus verschiedenen Disjunktionen [Unterscheidungen - wp] entnommen sind. Daher hat WINDELBAND vollkommen recht, wenn er behauptet, die Psychologie sei weder auf der einen noch auf der anderen Seite unterzubringen. Ebenso fehlt für die Mathematik ein Platz; ja, auch Geschichte, Soziologie, Logik sind nur mit Gewalt in den Begriff der "Geisteswissenschaften" hineinzupressen. Die Namen "Naturwissenschaft" und "Geisteswissenschaft" sind demnach wohl dazu dienlich, Gruppen verwandter Wissenschaften zusammenfassen, als Zweiteilungsprinzip für sämtliche Wissenschaften sind sie schon deshalb ungeeignet, weil diese sich nicht vollständig unterbringen lassen. Doch steht noch ein zweiter Grund einer Systematik, die sich nach den Begriffen "Natur" und "Geist" orientiert, entgegen, nämlich daß diese beiden Begriffe die zu untersuchenden Gegebenheiten, nicht die Methoden der Untersuchung bedeuten und deshalb überhaupt nicht als Unterlage einer Haupteinteilung geeignet sind, da der wichtigste Unterschied innerhalb der Wissenschaften gar nicht in der Verschiedenheit des behandelten Stoffs, sondern in der Verschiedenheit der Behandlungsweisen gelegen ist.

Den Kern der Frage trifft also die Feststellung der Methode. Denn ob die Psychologie "Natur"- oder "Geisteswissenschaft" ist, kann nur durch die metaphysische Untersuchung, ob die Seele "Natur" oder "Geist" ist, entschieden werden; ein Unternehmen, von dem man schon um der Unsicherheit jener Begriffe willen unmöglich das Schicksal der Psychologie abhängig machen darf. Dagegen liegt die Methode der Psychologie offen zutage. Von hier aus läßt sich der Charakter der Wissenschaft unmittelbar bestimmen. Es ist bezeichnend, daß die Untersuchungsergebnisse trotzdem einander völlig widerstreiten: die einen bezeichnen als die Methode der Psychologie die Empirie, die andern die Analyse. Beide sind im Recht, insofern sowohl Empirie als auch die Analyse psychologische Methoden sind, beide irren aber, insofern sie eine dieser Methoden als ausschließliche anerkannt wissen wollen. Die Psychologie schließt beide Methoden in sich ein, und die eine Partei hat eben vorzugsweise das empirische, die andere das analytische Gebiet im Auge.

Man überschaue einmal das das psychologische Gesamtgebiet und achte dabei vor allem auf den Anteil der Erfahrung: man denken an die Fülle von Induktionen, welche die allgemeine Psychologie des Erwachsenen und des Kindes erfordert; und doch ist dieses Gebiet nur der Umriß des allgemeinsten Typus "Mensch"; wieviel Millionen Beobachtungen setzt erst die besondere Psychologie voraus, die Psychologie der einzelnen Rassen und Völker; dazu kommt die Psychologie der beiden Geschlechter, der einzelnen Stände (des Hirten, des Jägers, des Bauern, des Priesters, des Handwerkers, des Großindustriellen, des Künstlers usw.); und da die Völker in ihrer Standesgliederung, ihrem Wirtschaftsleben und ihrer geistigen Haltung eine vor- bzw. rückschreitende Entwicklung durchmachen, muß eine Psychologie der Entwicklungsstufen des Volkslebens die Wahrnehmungen der Geschichtsschreiber vergangener Zeiten zu einem Bildganzen vereinigen; so gelangt man immer mehr vom Allgemeinen ins Besondere, vom Menschen überhaupt zum geschichtlichen Menschen eines bestimmten Volkes, bis man zuletzt in der Lebensbeschreibung historischer Individuen und Menschengruppen die konkrete Wirklichkeit selbst erreicht. Für alle diese Zweige ist Erfahrung der speisende Quell, die Erfahrung des Menschenkenners, des Weltreisenden, die Erfahrung, die in Geschichtsquellen aufgestapelt liegt, in Erzählungen, Berichten, Tagebüchern. Ohne Erfahrung, ohne Induktion, die aus tausenden und abertausenden von Feststellungen über die Wirklichkeit ein Bild der allgemeinen Gesetzlichkeit gewinnt, könnte die Arbeit all dieser aufgezählten psychologischen Disziplinen niemals geleistet werden. Es ist begreiflich, daß man von solchen Gesichtspunkten aus leicht geneigt ist, in der Psychologie eine rein empirische Wissenschaft zu sehen.

Und doch gibt es wiederum psychologische Fragen, die eine Induktion gar nicht beantworten kann: z. B. die Frage, ob Gefühl und Strebung ein und derselben Erlebnisgattung angehören oder ebenso verschieden sind wie Empfindung und Gefühl. Die Induktion, die Empirie kann hier nichts entscheiden; denn die Tatsache, daß es ein Sich-freuen, ein Lieben, Sehnen, Wünschen, ein Wollen gibt, ist längst festgestellt und festgestellt sind sogar manche Unterschiede in der Art und im Ablauf der Gefühle und Strebungen einzelner Menschen. Was es zu erforschen gilt, ist das Verwandtschaftsverhältnis der Erlebnisse, ist die Frage nach ihrer Gleichheit oder Verschiedenheit. Das ist eine analytische Untersuchung, keine empirische. Derselben Art gehören aber alle Fragen nach der Stellung und dem verwandtschaftlichen Zusammenhang der Bewußtseinsinhalte an, die ganze Systematik der Erlebnisse. Wenn man die Psychologie in diesem Sinne überblickt, scheint sie durch und durch analytisch zu sein. Wir verstehen nur zu gut, daß große Analytiker versucht sind, die Psychologie auf "Selbstbesinnung" und Zergliederung zu beschränken und die empirisch-induktive Erforschung der Gesetzlichkeit des Seelenlebens als etwas Fremdes empfinden.

Auf diese Weise kam man zu jenen völlig entgegengesetzten Definitionen der Psychologie und wurde doch nicht gewahr, daß jede einen anderen Teil der Gesamtwissenschaft meint. Dies konnte nur dadurch geschehen, daß keine der beiden Parteien die beiden Begriffe "Empirie" und "Analyse" scharf auseinandergehalten hat; weder behaupten die einen, ihre empirische Psychologie schließe alle Analysen aus, noch erklären die andern, ihre analytische Psychologie ermangle der Erfahrung; vielmehr sind ihnen Empirie und Analyse nicht konträre Glieder einer zweiteiligen Disjunktion, sondern sie erachten sie als logisch gleichwertig, mag nun der eine die empirische, der andere die analytische Forschungsart als die wesentlich-psychologische ansehen. So kam es, daß der Gegensatz trotz des Widerspruchs der Meinungen nicht klar erfaßt wurde und man nicht zu der Erkenntnis gelangte, daß an der psychologischen Gesamtwissenschaft zwei logisch verschiedene Gattungen von Urteilen, die empirischen und die analytischen, beteiligt sind.

Die Schuld an der Verwirrung trifft aber nicht so sehr die Psychologen als die Logiker. In der Logik der Gegenwart aber werden entweder empirische und analytische Urteile überhaupt nicht auseinandergehalten oder wo ihr Unterschied erkannt ist, ist ihre Darstellung zu einem großen Teil mit Vorstellungen einer erkenntnistheoretisch gefärbten Metaphysik verwoben und historisch befangen, daß es zu einer nutzbringenden Anwendung in den einzelnen Disziplinen noch nicht recht gekommen ist.
LITERATUR Walther Schmied-Kowarzik, Umriß einer neuen analytischen Psychologie, Leipzig 1912