p-4K. MarbeF. HillebrandW. WundtO. KülpeJ. Eisenmeier    
 
KARL LAMPRECHT
Eine Gefahr für die
Geisteswissenschaften


"Die deutsche Philosophie hat sich in den Zeiten der Romantik von Fichte über Schelling bis auf Hegel eine Begriffsdichtung größten Stils mit dem Anspruch auf Gemeingültigkeit entwickelt."

"Noch vor einem Menschenalter galt als Geschichte nur, was in schriftlicher Überlieferung vorlag; Prähistorie war verpönt. Spatenforschung war höchst verdächtig; junge Leute, die anderer Ansicht waren, gerieten in den Verdacht mangelnder Akribie."

Vor einiger Zeit wurde in wissenschaftlichen Kreisen die folgende Erklärung versandt:

"Die unterzeichneten Dozenten der Philosophie an den Hochschulen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sehen sich zu einer Erklärung veranlaßt, die sich gegen die Besetzung philosophischer Lehrstühle mit Vertretern der experimentellen Psychologie wendet.

Das Arbeitsgebiet der experimentellen Psychologie hat sich mit dem höchst erfreulichen Aufschwung dieser Wissenschaft so erweitert, daß sie längst als eine selbständige Disziplin anerkannt wird, deren Betrieb die volle Kraft eines Gelehrten erfordert. Trotzdem sind nicht eigene Lehrstühle für sie geschaffen, sondern man hat wiederholt Professuren der Philosophie mit Männern besetzt, deren Tätigkeit zum größten Teil oder ausschließlich der experimentellen Erforschung des Seelenlebens gewidmet ist. Das wird zwar verständlich, wenn man auf die Anfänge dieser Wissenschaft zurückblickt, und es war früher wohl auch nicht zu vermeiden, daß beide Disziplinen von einem Gelehrten zugleich vertreten wurden. Mit der fortschreitenden Entwicklung der experimentellen Psychologie ergeben sich jedoch daraus Übelstände für alle Beteiligten. Vor allem wird der Philosophie, für welche die Teilnahme der akademischen Jugend beständig wächst, durch die Entziehung von ihr allein gewidmeten Lehrstühlen eine empfindliche Schädigung zugefügt. Das ist umso bedenklicher, als das philosophische Arbeitsgebiet sich andauernd vergrößert und als man gerade in unseren philosophisch bewegten Zeiten den Studenten keine Gelegenheit nehmen darf, si bei ihren akademischen Lehrern auch über die allgemeinen Fragen der Weltanschauung und Lebensauffassung wissenschaftlich zu orientieren.

Nach all dem halten es die Unterzeichneten für ihre Pflicht, die Philosophischen Fakultäten sowie die Unterrichtsverwaltungen auf die hieraus erwachsenden Nachteile für das Studium der Philosophie und Psychologie hinzuweisen. Es muß im gemeinsamen Interesse der beiden Wissenschaften sorgfältig darauf Bedacht genommen werden,, daß der Philosophie ihre Stellung im Leben der Hochschulen gewahrt bleibt. Daher sollte die experimentelle Psychologie in Zukunft nur durch die Errichtung eigener Lehrstühle gepflegt werden und überall, wo die alten philosophischen Professuren durch Vertreter der experimentellen Psychologie besetzt sind, ist für die Schaffung von neuen philosophischen Lehrstühlen zu sorgen."


Dringt man in dieser sehr geschickten Erklärung durch Fell und Fleisch bis zum Skelett vor, so ergibt sich, daß von der sogenannten reinen Philosophie gegen die selbständige Entwicklung der Psychologie innerhalb des Rahmens der philosophischen Wissenschaften Front gemacht wird. Die Situation wird noch klarer, wenn man die inzwischen erschienene Schrift "Die Psychologie im Kampf ums Dasein" von WILHELM WUNDT, dem Altmeister der deutschen Psychologie, heranzieht. In ihr zeigt WUNDT mit unwiderleglichen Gründen, daß die Folge des in der "Erklärung" vorgeschlagenen Verfahrens die Abschiebung der experimentellen Psychologie in den Betrieb der Naturwissenschaften, speziell in den Tätigkeitsbereich der medizinischen Psychologie sein würde. Der in dieser Richtung gelieferte Beweis darf umso sicherer gelten, als in den Kreisen der reinen Philosophie vielfach dieselbe Meinung vorherrscht und auch aus ihr keinerlei Hehl gemacht wird. Darüber freilich, daß unter den mehr als hundert Unterzeichnern, welche die Erklärung gefunden hat, Viele sind, die die soeben vorgetragenen Folgen keineswegs wünschen, besteht wohl auch schwerlich ein Zweifel. Doch nicht darum handelt es sich, ob jeder Unterzeichner die Konsequenzen seiner Handlung richtig ermessen hat, sondern ganz allein darum, welche Folgen unter allseitiger Erwägung der Umstände dadurch zu erwarten sind: wenn nicht etwa eben die Aufdeckung dieser Folgen die Bewegung hemmen und bewirken sollte, daß man sich wenigstens der engen Zusammengehörigkeit von Philosophie und Geisteswissenschaften auf der einen und Psychologie auf der anderen Seite bis zu dem Grad wieder bewußt wird, daß man ganz allgemein die Ausgestaltung einer der Philosophie und den Geisteswissenschaften unbedingt zugerechnten Psychologie und zwar der Experimental- wie auch der Völkerpsychologie, ins Auge faßt.

Den Laien wird im Übrigen bei der ganzen Angelegenheit wohl zunächst interessieren, daß hier der Versuch gemacht wird, eine nach der Auffassung der "Erklärung", wie auch gewiß nach der allgemeinen Meinung aller Sachverständigen, aufkommende geistige Bewegung, die der reinen Philosophie dadurch zu fördern, daß man eine Anzahl von Lehrstühlen an den deutschen Universitäten für sie reklamiert und zu reservieren sucht. Man darf ruhig sagen, daß dies ein nie gesehener Vorgang ist. Gewiß hat es in Deutschland geistige Bewegungen von der Stärke und Größe gegeben, daß sie, zumal auf dem Gebiet der Besetzung der philosophischen Lehrstühle der Universitäten, alsbald darin zum Ausdruck gelangten, daß diese hauptsächlich Vertretern der neuen Bewegung zufielen. In dieser Weise hat eine Weile WOLFFs Philosophie über die philosophischen Katheder Deutschlands geherrscht; dann wurden, seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, fast alle diese Lehrstühle unter dem Einfluß nicht der Person, wohl aber des Systems KANTs, des "Alleszermalmers", kantisch; später, in den zwanziger und dreißiger jahren, in den Zeiten der ausgehen Romantik und des spekulativen Idealismus, sind sie bekanntlich hegelianisch geworden. Dabei hat HEGEL persönlich sehr viel dafür getan,, das Geschlecht der Hegelianer und Hegelingen auf deutschen Kathedern unterzubringen. Das ist ihm aber mit Recht im hohen Grad verdacht worden; und auch spätere Versuche hervorragender deutscher Universitätslehrer, sei es auf dem Gebiet der Philosophie, sei es auf dem Gebiet anderer Wissenschaften, ihre Meinung und ihren Anschauungskreis auf dem Weg der Okkupation der Lehrstühle durch Schüler über die Zeit ihres eigenen Lebens hinaus zu fristen, wie man sie bis in die jüngste Zeit wahrnehmen kann, sind immer dem Verdikt der Fachgenossen und erst recht der Laienwelt verfallen. Dennoch gilt in wissenschaftlichen Kreisen das alte idealistische Wort des Protestantismus: "Das Wort sie sollen lassen stahn"; und noch ist die Meinung nicht verschwunden, daß geistige Bewegungen allein aus sich heraus Kraft und Geschmeidigkeit ihrer Fortpflanzung erhalten müssen, nicht durch äußere Mittel.

In dem in der "Erklärung" empfohlenen Vorgehen ist charakteristisch, einerlei, wie man sich im Übrigen die Besetzung der philosophischen Lehrstühle denkt, daß überhaupt die Besetzung dieser Lehrstühle in die Frage nach der Fortentwicklung einer geistigen Bewegung in irgendeinem Sinn hineingezogen werden kann. Das ist in dieser offenen Aussprache neu; und gänzlich unerhört ist, daß eine Erklärung dieses Inhaltes die Unterschriften nicht weniger größerer und kleinerer Gelehrten im Bereich der philosophischen Berufstätigkeit finden konnte. Es läßt sich nicht umgehen, offen auszusprechen, daß hier ein Überschlagen der Idee der Machtpolitik in das, was man Universitätspolitik nennen könnte, hinein von einer bisher nicht gekannten Offenheit vorliegt. Zur Entschuldigung oder vielmehr zur Erklärung läßt sich anführen, daß in einer Zeit ganz überwiegender Förderung materieller Interessen die Willensäußerungen der Nation so sehr auf grobe Mittel und eine rücksichtslose Geltendmachung dieser Mittel geschult worden sind, daß sich selbst die höchsten geistigen Interessen diesem Einfluß nicht mehr ganz entziehen können. Zu welcher Veräußerlichung das Eindringen einer solchen Denkweise namentlich deshalb, weil es unbewußt erfolgt und daher zunächst fast nur dem sondierenden Historiker klarer entgegentritt, führen muß, kann man daran sehen, daß auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften seit der inneren geistigen und seelischen Entwicklung der jüngsten Vergangenheit immer mehr die Neigung auftritt, überhaupt nur das Gehäuse großer seelischer Erscheinungen noch zu untersuchen: auf dem Gebiet der Religionsgeschichte wertet man nach den Ergenissen der Kirchengeschichte, in der Entwicklung der großen materiellen Faktoren des Lebens nach der Verfassungsgeschichte; und nun soll uns wohl gar noch eine Wertung der allgemeinen Kulturentwicklung nach den Deduktionen irgendeiner reinen Philosophie aufgezwungen werden.

Mit den letzten Bemerkungen treten wir dem eigentlichen Sinn näher, der in der Forderung der "Erklärung" enthalten ist.

Man weiß, daß die Psychologie früher ein Teilgebiet der sogenannten Metaphysik bildete. Diese entstand, indem aus irgendwelchen Voraussetzungen erkenntnistheoretischer oder sonstiger kulturgeschichtlicher Natur, wie sie einem bestimmten Zeitalter eigen waren und günstigenfalls dessen innerste Meinung in glücklich zusammenfassender Weise wiedergaben, eine Begriffsdichtung gebildet wurde, deren Ganzes die großen Probleme der Weltanschauung, des Verhältnisses der Einzelperson zu den Gesamterscheinungen, des Charakters der Strebungen und Willensäußerungen, der Vorstellungen von einer letzten schöpferischen Ursache der Welt und Ähnliches mehr lösen sollte. So sind in den Zeiten nach der großen geistigen Befreiung der Persönlichkeit, die mit der Reformation eingeleitet wurde, die metaphysischen Systeme von den Pantheisten des 16. Jahrhunderts über DESCARTES hinab bis auf LEIBNIZ einander gefolgt; und noch einmal hat die deutsche Philosophie in den Zeiten der Romantik von FICHTE über SCHELLING bis auf HEGEL eine Begriffsdichtung größten Stils mit dem Anspruch auf Gemeingültigkeit entwickelt.

Der damit gegebenen Notwendigkeit, die Lehre von der menschlichen Seele als einen Unterteil einer allgemeinen Begriffsdichtung zu entwickeln, stellten sich nun aber seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in steigendem Maß Widerstände entgegen. Hier kann nicht ausgeführt werden, aus welchen vollkommen einleuchtenden kulturgeschichtlichen Ursachen seit dieser Zeit unausrottbar und in immer höherem Grad bis zur Gegenwart, ja, eben diese Gegenwart völlig beherrschend, sich das Bedürfnis geltend machte, das menschliche Seelenleben empirisch für sich allein aus den induktiv erkennbaren Gegebenheiten seines Daseins heraus zu untersuchen und zu entwickeln. Genug, daß seit etwa CREUTZENs "Versuch über die Seele" (1754) eine Bewegung begann, welche auf die immer stärkere Verselbständigung der Psychologie als einer besonderen Wissenschaft hinauslief. In eben der Zeit nun, in denen die letzten großen Systeme der Begriffsdichtung entstanden sind, gelangte diese psychologische Bewegung zum ersten Mal zu einem bestimmten Abschluß. Die Untersuchungen von BENEKE und HERBART kamen und versuchten, obgleich noch vielfach metaphysisch durchtränkt, dennoch eine mit den Tatsachen der Erfahrung übereinstimmende Lehre von den Grunderscheinungen des Seelenlebens zu geben. Von da aus ist dann eine unendlich reiche Entwicklung bis zur Gegenwart erfolgt. Grundlegend für diese Entwicklung wurde schließlich die experimentelle Psychologie; aus der Physiologie her entwickelt, aber längst vornehmlich durch die Forschungen von WUNDT selbständig geworden, untersucht sie diejenigen Vorgänge unseres Seelenlebens, welche sich mit voller Sicherheit einer experimentellen Behandlung unterziehen lassen. Daneben aber meldeten sich auch schon früh andere Zweige einer rein empirischen Psychologie, so die Völkerpsychologie, welche vornehmlich den sozialpsychischen Erscheinungen menschlicher Gemeinschaften nachgeht und neuerdings vor allem die Kinderpsychologie, welche in die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Seelenlebens einführt.

Nun versteht sich von selbst, daß die Geisteswissenschaften, die der Erkenntnis des Wesens und des Verlaufes der großen seelischen Vorgänge innerhalb der menschlichen Entwicklung gewidmet sind, zu diesen Versuchen, eine selbständige Psychologie zu begründen, die engsten Beziehungen haben. Trat das in den Anfängen der experimentellen Psychologie und selbst der Völkerpsychologie nicht so vollkommen, augenscheinlich und besonders im praktischen Betrieb der Geisteswissenschaften nicht völlig evident hervor, so lag der Grund darin, daß die neue Wissenschaft vornehmlich auf einem experimentellen, aber selbst noch auf völkerpsychologischem Gebiet zunächst so elementare Prozesse des Seelenlebens der Erkenntnis näher zu führen hatte, wie sie für die Untersuchungen auf geisteswissenschaftlichem, philologischem, historischem, juristischem, theologischem Gebiet zunächst kaum zur Beobachtung gelangten. Zwischen dem Betrieb der Geisteswissenschaften und dem der aufkommenden Psychologie war also die Kluft oder Distanz noch so groß, daß auf beiden Seiten voneinander nicht Notiz genommen zu werden brauchte und daß von Kurzsichtigen sogar die Meinung ausgesprochen werden konnte, beide Entwicklungslinien würden einander niemals berühren. Dieser Zeitpunkt ist aber inzwischen längst überwunden. Vor allem gilt das für die Völkerpsychologie, deren Einfluß auf die Völkerkunde als die Geschichtswissenschaft der primitiven Kulturen, wie selbst schon auf das Gebiet der eigentlichen, älteren Geschichtswissenschaft, die man jetzt als die Geschichtswissenschaft der höheren Kulturen bezeichnen muß, schon vollkommen evident ist: nein, selbst schon die Ergebnisse oder zumindest die Methoden der experimentellen Psychologie kommen für die methodische Durchbildung der Geisteswissenschaft in hohem Grad in Betracht. Ein Historiker, zum Beispiel, in dessen Schülerkreis sich Personen befinden, die sich eingehend mit experimenteller Psychologie beschäftigt haben, wird bald bemerken, um wie ein Außerordentliches rascher und tiefer das geschichtliche Verständnis dieser Personen sich entwickelt als das derjenigen, die, neben ihnen stehend, dieselbe historisch-methodische Ausbildung genießen, aber nicht psychologisch vorgebildet sind. Überall diese Dinge und Zusammenhänge besteht nicht der geringste Zweifel. Von Tag zu Tag deutlicher erscheint die Psychologie als eine propädeutische [vorwissenschaftliche - wp] Wissenschaft für den tieferen Betrieb der Geisteswissenschaften.

Nun kommt die zuvor abgedruckte Erklärung daher und lßt, wenn nach ihr verfahren würde, am wissenschaftlichen Horizont Konsequenzen erscheinen, die nach dem Urteil der Sachverständigen ein Abdorren der selbständigen Entwicklung der Psychologie und ganz besonders ihres Einflusses auf die Fortentwicklung der Geisteswissenschaften bedeuten würden; und sie sucht den sicheren Eintritt dieser Folgen dadurch zu erreichen, daß sie den Fakultäten und Ministerien ein bestimmtes Verfahren in der Besetzung gewisser Lehrstühle der Universitäten empfiehlt.

An dieser Stelle wird vielleicht mancher Leser lächeln und an die bekannten Vergleiche und Redensarten über Versuche mit untauglichen Mitteln erinnert werden. Gemach! Es wird sich darum handeln, was denn die reine Philosophie, deren Verbreitung man wünscht, an die Stelle setzen könnte und was der heutige Betrieb der Geisteswissenschaften etwa fähig wäre, von diesem Ersatz aufzunehmen.

Wir wissen alle (und der Schreiber dieser Zeilen ist so glücklich, es mit am Frühesten verkündet zu haben), daß wir seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts steigend einer Zeit des Idealismus entgegengehen, deren volle Entwicklung nur durch immer wieder aufsteigende Naturalismen, die aus der ständigen Fortentwicklung unseres Wirtschaftslebens herkommen, gestört wird. Daß mit diesem wieder aufsteigenden Idealismus, der sich zuerst auf dem Gebiet der Phantasietätigkeit geltend machte, auch die hohe Zeit einer neuen reinen Philosophie kommen müßte und muß, war selbstverständlich. Ja, noch mehr; wir alle, die wir seit Jahren sehnsüchtig nach der vollen Entwicklung dieses Idealismus ausschauen, wie sie heute auch durch den politischen Ernst der Zeiten nahegelegt wird, wir sehnen uns nach einem System neuer Weltanschauung, das da die neugebildeten sittlichen Werte unserer Zeit zu einem Ganzen entwickelt und hinaus über alle Alltäglichkeiten des Daseins den Dom einer gesamten Anschauung von Gott und Welt wölbt und wir begrüßen mit heller Freude jeden Versuch in dieser Richtung. Hier liegen die starken Verdienste NIETZSCHEs, der nur der Johannes dieser Bewegung war; und dankbar verneigen wir uns und ehrfurchtsvoll vor den ersten vollkommeneren Systemen, mögen sie, wie das EUCKENs auch noch, wie entwicklungsgeschichtlich durchaus notwendig, einen mehr populär-philosophischen Anstrich zeigen: und wir harren des Mannes, dem es gelingen soll, das Chaos der heutigen Bewegung auf allen Gebieten der Strebungen und der Willensäußerungen unter einige sichere Formeln zu bannen und uns die Sicherheit der Persönlichkeit und des Gewissens in so manchen Konflikten des heutigen Daseins zu verbürgen.

Aber was hat die reine Philosophie, über die bisher soeben geschilderten Versuche hinaus, die notwendigerweise, weil der Masse zugewandt, Versuche des Predigers und des Propheten sein müssen, für die verlangte Fortentwicklung geleistet? Für weitere Kreise der wissenschaftlichen, insbesondere der geisteswissenschaftlichen Forschung maßgeben ist nur RICKERTs System der Werturteile entwickelt worden. Aber freilich: ist es wirklich entwickelt worden? RICKERT glaubt daran, daß in der Sittengeschichte der Menschheit Werte nachzuweisen sind, die einen absoluten Charakter besitzen und sich deshalb zur Aufstellung von Wertmaßstäben, die zur Beurteilung aller Zeiten gleichmäßig brauchbar sind, eignen. Er glaubt daran; aber er hat weder eine Tafel solcher Werte aufgestellt und eingehend begründet noch hat er auch nur für einen einzigen der ihm unklar vorschwebenden Wert den Beweis geliefert, daß er zu allen Zeiten derselbe gewesen ist. Allerdings finden sich bei ihm Versuche, einen solchen Beweis zumindest für einen der fraglichen Werte zu liefern, nämlich für den der Wahrhaftigkeit, aber sie sind nur erkenntnistheoretischer Natur und also selbstverständlich in die Voraussetzungen der heute gerade praktizierten Erkenntnistheorie eingeschlossen. Der Historiker aber kann, was RICKERT auf diesem Gebiet gesagt hat, durch einen völlig empirischen Nachweis aus dem Quellenbestand ausgehender Urzeiten der Völker wie ein Kartenhaus umblasen; und schon die Einsicht, zum Beispiel, in die sittliche Begriffswelt der angelsächsischen Quellen genügt, um den strikten Nachweis zu liefern, daß Wahrhaftigkeit zu verschiedenen Zeiten etwas sehr Verschiedenes gewesen ist. Man muß schon ein so unhistorischer Kopf wie RICKERT sein, um überhaupt gegenüber den zahlreichen Gegenbeweisen, die die Geschichte liefert, den Gedanken absoluter Werte als einer dem Menschenleben aller Zeiten inhärenten Kraft fassen zu können.

Ich höre hier (in Parenthese [Klammern - wp] sei dies gesagt) den Vorwurf einer Lehre des sittlichen Relativismus ertönen. Man wird mir sagen, wenn es keine absoluten Werte gibt, so hört am Ende jede Sittlichkeit auf und ich sei mit dem Vortrag meiner Anschauungen zumindest ein Verführer der Jugend. Diesen seit zwanzig Jahren öfter als einmal gehörten Einwurf lasse ich mit stillem Lächeln an mir abgleiten. Gewiß gibt es keine jedem Zeitalter menschlicher Entwicklung in gleicher Weise eigene absolute Werte, wohl aber gibt es für jedes einzelne Zeitalter solcher absoluten Werte genug und die Söhne eines solchen Zeitalters müssen sich in ihrem Handeln diesen Werten beugen, wollen sie nicht in Sittenkonflikte geraten, die in den meisten Fällen zum Verbrechertum und nur in Ausnahmemomenten zum Heldentum führen werden. Freilich: wer die großen sozialpsychologischen Einflüsse menschlichen Gemeinschaftslebens nicht kennt und in jenem wunderlichen Individualismus dahinlebt, der sich heute in der alleinigen Anerkennung des Singulären und in einer philiströsen Heldenverehrung äußert, der wird nicht in der Lage sein, sich die absolute Gewalt kurzzeitlich gebundener Sittenbegriff auch nur vorstellen zu können, wie es denn für ihn auch aussichtslos sein wird, solche Vorgänge wie die heutige militärische Begeisterung in Frankreich und zu gleicher Zeit den in einem Milliardenopfer hervortretenden zähen Widerstandssinn Deutschlands zu begreifen.

Kehren wir aber zu der Frage nach den absoluten Werten RICKERTs zurück und nehmen wir jetzt einmal an, daß diese Lehre von den absoluten Werten über die bisher gezeigte Impotenz hinaus zur Fortbildung eines Gesamtsystems dann selbstverständlich metaphysischen Charakters, gelangte; stellen wir einmal den Gedanken auf, daß es aus der reinen Philosophie heraus zu einer neuen großen metaphysischen Begriffsdichtung käme: was würde dann wohl, unter der Voraussetzung, daß gleichzeitig die Psychologie in die Rolle einer Spezialwissenschaft der Naturwissenschaften oder gar bloß der Medizin abgeschoben wäre, die weitere Entwicklung der Geisteswissenschaften sein? Es ist gar keine Frage: sie würden dieser neuen Begriffsdichtung mit Haut und Haar verfallen.

Demjenigen, der zweifelt, mag entgegengehalten werden, daß jetzt schon die Anfänge einer solchen Entwicklung deutlich erkennbar sind; und derjenige, der da meint, der einzelne geisteswissenschaftliche Forscher werde doch niemals so töricht sein, auf ein vom Standpunkt der empirischen Forschung her so abstruses Gebilde wie das einer Wertmetaphysik sich auch nur einzulassen, mag auf die Ausführungen NIETZSCHEs über das Verhältnis der Einzelwissenschaften zur Philosophie verwiesen werden. Der einzelne empirische Forscher, der sich nicht um Philosophie kümmert, glaubt zwar, von deren Einwirkungen frei zu sein, daß in Wahrheit das Gegenteil der Fall ist und daß er vielmehr Einflüsse, die er nicht sieht, selbstverständlich auch nicht abzuwehren in der Lage ist, fällt ihm dabei in seiner Gottähnlichkeit nicht ein. Siegt die reine Philosophie, so gehen wir einer erneuten Beherrschung der Geisteswissenschaften durch ein metaphysisches System entgegen und die Zeiten HEGELs werden sich erneuern. Darüber kann kein Zweifel sein. Zwar werden sich einige klarer sehende Köpfe dieser Herrschaft entziehen, wie sich RANKE in seiner Zeit der Herrschaft HEGELs entzogen hat und von diesem Punkt selbst im hohen Alter nicht ohne noch sehr lebhafte Affektäußerung sprach, im Ganzen aber wird man ohne Schwierigkeiten, weil vielfach gänzlich unbewußt, unter das Kaudinische Joch [schmachvolle Erniedrigung - wp] der neuen Metaphysik gehen. Für die Zuversicht, mit der man diese Entwicklung auf der Seite der reinen Philosophie erwartet, ist eben das machtpolitische Dokument der "Erklärung" ein lehrreiches Zeugnis.

Du siehst nun, verehrter Leser, daß es sich bei den besprochenen Dingen, die auf den ersten Augenblick so harmlos erscheinen können, nicht eben um Kleinigkeiten handelt. Die Naturwissenschaften haben in Deutschland in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts unter der Beeinflussung vornehmlich durch SCHELLINGs Philosophie ein sogenanntes Zeitalter der Naturphilosophie erlebt. Gewiß blieb auch diese Zeit nicht ohne Früchte. Im Ganzen aber muß von ihr gesagt werden, daß sie noch heute bei den Sachverständigen in übelstem Andenken steht, da sie den freien Wettbewerb der deutschen empirischen Naturwissenschaft im Bereich des Denkens der europäischen Nationen für Deutschland um mindestens zwei Jahrzehnte unterbunden hat. Unter dem Joch eines deduktiven Systems der reinen Philosophie würden die Geisteswissenschaften in Deutschland einer ähnlichen Entwicklung verfallen. Dies umso mehr, als sie ansich noch längst nich in dem Grad wie die Naturwissenschaften gefestigt sind, um den Einflüssen einer außerhalb von ihnen stehenden Gedankenwelt widerstehen zu können.


GEORG SIMMEL
An Herrn Professor Karl Lamprecht

Sehr verehrter Herr Geheimrat!

Die interessanten Gedanken, mit denen Sie im Heft 27 der "Zukunft" der Erklärung der Philosophie dozenten über die psychologischen Professuren entgegengetreten sind, fordern zu einer Verteidigung unserer Absichten auf (1), der Sie nicht nur um Ihres oft bewährten Gerechtigkeitssinnes willen Gehör schenken werden, sondern vor allem, weil Ihnen die Beseitigung des Mißverständnisse, das Sie in unserer Erklärung eine "Gefahr für die Geisteswissenschaften" sehen ließ, im Interesse eben dieser Wissenschaften nur willkommen sein kann. Jene Gefahr scehin Ihnen darin zu liegen, daß, wenn die Philosophie ihre bisher bestehenden Professuren weiter behielte (denn darum handelt es sich ja nur), uns die Herrschaft eines metaphysischen Systems drohte, das, wie einst der Hegelianismus, die empirischen Geisteswissenschaften wieder auf die Irrwege unfruchtbarer Spekulatioin locken würde. Ich lasse nun dahingestellt, ob, wenn die seitdem unermeßlich bereicherten und fundierten Wissenschaften von der Geschichte und der Sprache, dem gesellschaftlichen Daseins und der Kunst sich heute noch von einer Philosophie dominieren ließen, diese nicht von einer so unerhörten, eigentlich unvorstellbaren Kraft und Bedeutung wäre, daß wir vor allen Dingen einmal froh sein mßten, dieses weltgeschichtliche Wunder zu erleben. Doch darber mag man streiten. Worüber aber für den Sachkenner nicht zu streiten ist, das ist: daß die philosophische Entwicklung in Deutschland, die Sie um dieser Besorgnis willen abschneiden wollen, tatsächlich den gerade entgegengesetzten Weg geht. Sie gravitiert durchaus nicht auf die Herrschaft eines einzigen Systems hin, sondern auf die Ausbildung einer immer wachsenden Anzahl durchaus divergenter philosophischer Gesamtanschauungen. Ich wüßte nicht, was (in den diese Frage allein entscheidenden Grundmotiven) RICKERTs Richtung mit den um BERGSONs Einfluß aufwachsenden Gestaltungen zu tun hätte, was HUSSERL mit den Neufriesianern, was die katholisierenden Philosophen mit EUCKEN oder LIPPS, was die neuhegelianischen mit den positivistischen, was COHENs Schule mit den bescheidenen Versuchen des Schreibers dieser Zeilen: und jede dieser Richtungen wirkt doch wohl jährlich auf viele Hunderte von Studenten ein. Gerade ein ungeheurer Differenzierungsprozeß herrscht in der deutschen Philosophie der Gegenwart, der seine "Einheit" nur in einem Spiel fortwährender Wirkungen und Gegenwirkungen, Abspaltungen und Mischungen, Befruchtungen und Kontroversen zeigt, während von einer inhaltlichen Gleichheit oder Verschmelzbarkeit, die zu jener gefürchteten Autokratie eines Systems führen könnte, keine Spur, keinerlei Intention zu entdecken ist. Drohte eine solche Gefahr aber von irgendwoher, so würde die von Ihnen befürchtete Minderung der philosophischen Lehrstühle ihr ja gerade Vorschub leisten, weil diese Akkumulation des philosophischen Kapitals sehr viel leichter zu einseitig gewalttätiger Beeinflussung der akademischen Jugend führen würde, als wenn eine Vielheit von Lehrstühlen die Entwicklung unserer philosophischen Mannigfaltigkeit begünstigt.

Ist nun insofern Ihre Besorgnis, obgleich durch die Tatsachen in keiner Weise indiziert, immerhin eine spekulative Möglichkeit, so bleibt mir doch völlig unbegreiflich,, daß der Verbleibt der Experimentalpsychologie im akademischen Bezirk der eigentlichen Philosophie die gefürchtete Entwicklung hinanhalten soll. Für diesen Kausalnexus, an dem die Triftigkeit Ihrer Deduktionen hängt, finde ich keine Spur eines Beweises: denn gerade Sie deduzieren ja, daß das Band zwischen Philosophie und Psychologie immer schwächer geworden und daß die "Verselbständigung der Psychologie als einer besonderen Wissenschaft" erfolgt ist Ich verfolge diese Dinge nun seit einem Vierteljahrhundert; abgesehen aber von FECHNERs Gesetz und seinen Entwicklungen und jenen gelegentlichen Berührungen und Anregungen, wie sie überhaupt zwischen allen Wissenschaften vorkommen, wüßte ich keinerlei positive oder negative Bedeutung der psychologischen Experimente für die spezifisch philosophischen Bestrebungen zu nennen. Ja, vielleicht hat keine einzige der Naturwissenschaften in ihrem jetzigen Stand so wenig Bedeutung für diese Bestrebungen wie die Experimentalpsychologie. Ich würde es für durchaus diskutabel halten, gewisse Professuren solchen Philosophen vorzubehalten, die von der Naturwissenschaft herkommen Von den Forschungen von HEINRICH HERTZ und MENDELEJEW, NERNST und EINSTEIN, UEXKÜLL und EHRLICH aus führen tatsächlich Wege zu Gesamtanschauungen, hier sind Weiten und Tiefen, die auf philosophische Deutungen des Daseins vorbereiten. Aber in unseren experimentalpsychologischen Arbeiten habe ich wenig Ähnliches bemerkt und nur die Personalunion, die in einigen hervorragenden Persönlichkeiten zwischen diesem Gebiet und dem ihm ganz heterogenen philosophischen besteht, kann darüber täuschen.

Nein, diese Psychologie, deren autonomen Wert niemand von uns in Abrede gestellt hat, hat für die Philosophie keinerlei innerfachliche Bedeutung; und es entspricht deshalb nur der Sachlage, wenn Sie für die regulierende Funktion, die Sie ihr für diese zuschreiben, keinerlei Beweis anführen. Die dennoch unzweifelhafte Bedeutung ist vielmehr eine andere: durch die wachsende Besetzung der philosophischen Lehrstühle durch Gelehrte, die ganz oder wesentlich experimentalpsychologisch gebildet sind und arbeiten, wird die Philosophie nicht inhaltlich beeinflußt, nicht in ihrer eigenen Entwicklung gegen die gefürchtete Tyrannis einer Metaphysik geschützt, sondern sie wird einfach substantiell ausgeschaltet, wird akademisch ausgehungert. Sie wehrt sich dagegen. Und daß sie diese Notwehr für eine unsittliche "Machtpolitik" halten, als eine "rücksichtslose Geltendmachung grober Mittel zur Förderung materieller Interessen" denunzieren: Das ist eine Mißleitung des Urteils, die zu "werten" ich mich nicht legitimiert glaube, da mit der psychologische Schlüssel dazu fehlt. Wohl aber möchte ich wissen, was Sie selbst dazu sagen würden, wenn innerhalb der Geschichtswissenschaft ein Seitenzweig, zum Beispiel: Geschichtsphilosophie oder systematische Soziologie, zu einer selbständigen Bedeutung aufwüchse und nun beansprucht, die Hälfte aller Lehrstühle der Historiker zu besetzen. Wenn Sie sich gegen eine solche Zumutung nicht genauso wehrten, wie wir es in unserem Fall jetzt tun, so würde ich sagen: Sie haben den Glauben an Ihre Sache verloren. Uns gegenüber aber haben Sie das erste Ethos des Gelehrten: eben diesen Glauben an das eigene, unersetzbare Ziel, die Verpflichtung, die Fahne hoch zu halten - dieses Ethos haben Sie uns als sittlichen Makel angeheftet!

Dies also ist der Kern der Frage: die Philosophie hat von der Psychologie nichts zu gewinnen; oder, genauer ausgedrückt: nicht mehr als von jeder anderen Natur- oder Geisteswissenschaft auch. Der Ersatz der philosophischen Professuren durch psychologische ist also nichts anderes, als ein rein äußerliches Mittel, die Philosophie von ihrem Einfluß auf die Jugend abzudrängen. Lassen wir doch die verbindlichen Redensarten: in dieser ganze Bewegung lebt die verächtliche Gleichgültigkeit, ja, die Abneigung, die manche entscheidenden, individuellen und überindividuellen Instanzen bei uns gegen die Philosophie empfinden. Ich weiß, verehrter Herr Kollege, daß Sie nicht zu diesen gehören; umso entschiedener muß erklärt werden, daß der Effekt Ihres Angriffs gegen uns in eben dieser, von Ihnen sicher mißbilligten Richtung läuft. Gestatten Sie mir, hier einige Zeilen aus einer früheren Ausführung über dasselbe Problem zu zitieren:
    "Mit all ihrer Unzulänglichkeit, mit aller Vergänglichkeit ihrer die Ewigkeit postulierenden Lehren bietet die Philosophie der geistigen Entwicklung einen noch durch nichts anderes ersetzten Wert. Was man, vielleicht etwas anmaßend, als philosophische Weltanschauung bezeichnet, hat eine innere Bedeutung für uns, die in die sonst geltende Alternative exakter Wissenschaftlichkeit und subjektiver Willkür nicht einzusperren ist und nach der seit geraumer Zeit wieder eine starke Sehnsucht der Jugend erwacht ist. Wer Jahrzehnte lang in der akademischen Sphäre wirkt und das Vertrauen der Jugend genießt, weiß, wie oft gerade die innerlich lebendigsten und idealistischsten jungen Männer sich nach wenigen Semestern enttäuscht von dem abwenden, was die Universität ihnen an allgemeiner Kultur, an Befriedigung ihrer innersten Bedürfnisse bietet. Denn sie wollen, außer all den vortrefflichen Belehrungen spezialistischer und exakter Art, noch etwas Allgemeineres oder wenn man so will Persönlicheres, das freilich auch die Behandlung der Geschichte, der Kunst, der Philologie geben kann, das aber die Philosophie am Reinsten und Vollsten, trotz ihrer sachlichen Fragwürdigkeiten, zu bieten vermag. Nenne man dies ein bloßes Nebenprodukt der Wissenschaft oder auch der Philosophie als Wissenschaft; aber wo es der Jugend nicht mehr geboten wird, wenden sich gerade ihre besten Elemente anderen Quellen zu, die jene tiefsten Bedürfnisse zu speisen versprechen: der Mystik oder dem, was sie das Leben nennen, der Sozialdemokratie oder der Literatur im Allgemeinen, einem falsch verstandenen Nietzsche oder einem skeptisch gefärbten Materialismus. Täuschen wir uns nicht darüber: die deutschen Universitäten haben die innerliche Führung der Jugend in weitem Umfang an Mächte dieser Art abgegeben. Gewiß ist das Hinüberwachsen der Philosophie im älteren Sinn in die Experimentalpsychologie nicht der einzige Grund dieser Wendung, die vielmehr aus einer großen Anzahl von Quellen resultiert. Allein jener Ersatz der eigentlich philosophischen Lehrstühle durch experimentalpsychologische gibt ihr eine steigende Unterstützung und ein bleibendes Siegel."
Ich glaube also, verehrter Herr Kollege, aufgrund einer immerhin ziemlich ausgedehnten Erfahrung in der akademischen Philosophie, Ihre Besorgnis über die möglichen Folgen unserer Erklärung beruhigen zu können: weder geht die tatsächliche Entwicklung den gefürchteten Weg; noch, wenn sie ihn ginge, könnte die Psychologie dem anders wehren als durch das brutale Mittel, uns einfach die Lehrstühle wegzunehmen; noch endlich, selbst wenn dies geschähe, würden die geistigen Wege unserer akademischen Jugend die Ihnen selbst erwünschte Richtung nehmen, sondern nur immer mehr die entgegengesetzte, dem inneren Einfluß der Universitäten sich entfremdende. Der Schwarzseher (wenn in einer so ernsten Angelegenheit ein Tröpfchen Humor einfließen darf) ist in einer günstigen Lage: verlaufen die Dinge unglücklich, so mag er das sehr bedauern, aber immerhin, er hat zumindest Recht behalten; verlaufen sie aber seinen Prophezeiungen zuwider, so hat er zwar Unrecht gehabt, aber wenigstens sind nun die Dinge gut verlaufen. Ich müßte mich über Ihr tiefes und selbstloses Interesse an der deutschen Kultur sehr täuschen, wenn Sie in Bezug auf Ihre düsteren, an unsere Erklärung geknüpften Prophezeiungen ncht der zweiten Seite der Alternative freudig den Vorzug geben würden.

In Hochschätzung und Ergebnheit bleibe ich der Ihrige
 
  Berlin-Westend Professor Dr. Georg Simmel


Antwort an
Herrn Professor Dr. Georg Simmel

Hochverehrter Herr Kollege, mit bestem Dank bestätige ich Ihnen den Empfang des Offenen Briefes, den Sie in der "Zukunft" (1913, Heft 33) meinen Ausführungen über "Eine Gefahr für die Geisteswissenschaften" (Zukunft 1913, Heft 28) gegenübergestellt haben. Ich erinnere mich, daß wir vor Jahren einmal eine Stunde der Diskussion über Philosophie und Psychologie in einem Eisenbahnwagen miteinander verbracht haben; seitdem haben wir uns kaum gesehen; aber der Gesamteindruck ritterlicher Waffenführung auf Ihrer Seite, der mir aus dieser Stunde blieb, hat sich mir bei der Lektüre Ihrer Entgegnung lebendig erneuert. Trete ich dieser nochmals mit einigen Worten gegenüber, so wird deren Inhalt dies hoffentlich rechtfertigen.

In der Frage des Schicksals der akademischen Lehrstühle für die empirische Psychologie, in er es sich an erster Stelle umd die experimentelle Psychologie handelt, geben Sie als Philosoph naturgemäß vom Verhältnis dieser Psychologie zur Philosophie aus; ebenso naturgemäß betrachte ich das Verhältnis dieser Psychologie zu den geisteswissenschaftlichen Einzeldisziplinen, denen ich nach meinem Beruf angehöre, als fundamental; außerdem kann ich noch versuchen, gegenüber der Entwicklung der modernen Psychologie einen möglichst allseitigen und damit objektiven Standpunkt als Kulturhistoriker zu gewinnen. Je nach dieser verschiedenen Stellungnahme werden wir natürlich auch in der Auffassung dessen, was empirische Psychologie von heute ist und was ihr nottut, zu verschiedenen Anschauungen zu gelangen. Eine volle Einigung wird sich da schwerlich erreichen lassen, ist ja auch nicht nötig. Ich will aber Ihrem Standpunkt entgegenkommen, indem ich, abweichend von meiner früheren Darstellung, meinen Ausgangspunkt mit Ihnen von der Philosophie nehme.

Hier treffen wir uns in der Wertschätzung auch der reinen Philosophie; ich stimme völlig zu, wenn Sie von sich selbst den Satz zitieren, daß die Philosophie mit all ihrer Unzulänglichkeit, mit aller Vergänglichkeit ihrer die Ewigkeit postulierenden Lehren der geistigen Entwicklung einen noch durch nichts anderes ersetzten Wert bietet. Aber auf dem gemeinsamen Grund einer solchen Gesamtanschauung (vielleicht besser: gemeinsamer Erfahrungen und Stimmungen in dieser Hinsicht) gehen wir in unseren Meinungen über die Bedeutung, die eine reine Philosophie in der Gegenwart haben und gewinnen kann, völlig auseinander.

Sie glauben nicht an die Möglichkeit, geschweige denn Wahrscheinlichkeit einer neuen und beherrschenden Metaphysik in absehbarer Zukunft. Sie meinen, die Philosophie gravitiert durchaus nicht auf die Herrschaft eines einzigen Systems hin, sondern auf die Ausbildung einer immer wachsenden Anzahl durchaus divergenter philosophischer Gesamtanschauungen. Und Sie führen Ihre Erfahrung und die Gunst Ihres Berufes für die Meinung ins Feld, daß die deutsche Philosophie der Gegenwart durch einen "ungeheuren Differenzierungsprozeß" beherrscht ist.

Für mich, als Laien, ist es schwer, gegen die so entschieden ausgesprochene Meinung eines Meisters der Philosophie anzugehen. Ich habe aber in diesem Augenblick ein Buch unter der Hand, in dem sich Fachgenossen der Philosophie zu der strittigen Frage äußern; es ist der erste Jahrgang der bei MITTLER in Berlin erscheinenden "Jahrbücher der Philosophie", Und aus dessen Spalten ertönt ein ganz anderes Lied. Da meint FRISCHEISEN-KÖHLER von der Philosophie der Gegenwart:
    "Es will scheinen, als ob die Fortbildung der Grundgedanken des 18. Jahrhunderts in einer eigentümlichen Weise die Entwicklung der nachkantischen Zeit, der großen deutschen Spekulation, unter allerdings veränderten Bedingungen des Wissens und, sozusagen, auf einer höheren Stufe zu wiederholen sich anschickt; wie wenn auch verschiedentlich schon ein bewußter Anschluß an jene deutsche Spekulation verfolgt wird. So unabgeschlossen all dies ist, so scheint es doch, als ob unsere Zeit iner neuen philosophischen Epoche entgegengeht, als ob gerade in der Gegenwart eine lange vorbereitete Entwicklung zur Reife gelangt. Freilich streben die einzelnen Richtungen innerhalb der Philosophie der Gegenwart im Einzelnen noch weit auseinander; aber frü den, der die ganze Bewegung zu überblicken sucht, scheint sie doch im Großen eine viel einheitlichere Tendenz aufzuweisen, als der erste Anschein vermuten läßt."
Um nur noch einen der Autoren des Buches, den ersten in der Reihe, ERNST CASSIRER, auch einen Berliner, zu Wort kommen zu lassen, so läuft sein Bericht über die jüngste Entwicklung der Erkenntnistheorie darauf hinaus, daß wur uns rasch einer (wenn auch nicht Koinzidenz [Übereinstimmung - wp], so doch) engsten Begegnung von "kritischem Realismus" und "objektivem Idealismus" nähern. Eine solche engste Begegnung würde aber nicht nur einen ungewöhnlich weitgehenden Ausgleich des bisher in so starken Differenzen verlaufenen erkenntnistheoretischen Denkens bedeuten. Es würde vielmehr, bei den bekannten Beziehungen zwischen Erkenntnistheorie und metaphysischem Systembau, zumal bei einem stärkeren Überwiegen der Elemente des objektiven Idealismus, zugleich die unbedingt nötige und denkbar beste Grundlage für eine neue Begriffsdichtung bieten. Wer von den philosophischen Beobachtern hat nun Recht? Der Fall ist lehrreich. Es zeigt sich, wie schwer es ist, aus der Beobachtung des bloßen Verlaufs eines noch so hoch stehenden Kulturzweiges allein schon dessen Gegenwartsverlauf, geschweige denn eine Zukunftsrichtung abzuschätzen. Und ist es nicht in der Tat ein wenig die Situation Münchhausens, der sich an seinem Zopf aufhängen wollte? Für dergleichen Beobachtungen muß ein viel allgemeinerer Standpunkt außerhalb der zu beurteilenden Bewegung, wenn auch natürlich in einer gewissen Vertrautheit mit dieser, gewählt werden. Es ist das durch keinerlei andere Manipulationen zu ersetzende Privileg des Kulturhistorikers, diesen Standpunkt einzunehmen. Von dessen Betrachtungsweise aus aber kann kein Zweifel sein, daß wir einer Kultur des Idealismus entgegengehen (was ja auch schwerlich noch jemand leugnet); daß eine Kultur des Idealismus aber auch Begriffsdichtungen bringen wird, ja, in Zeitaltern einer hohen Zivilisation bringen muß, gehört zum eisernen Bestand geschichtlicher und psychologischer Erfahrungen, dem nicht so leicht zu widersprechen ist.

Also wird wohl doch nicht so ganz feststehen, daß uns in absehbarer Zeit ein Drang zur metaphysischen Systembildung erspart bleiben wirde. Daß aber dann unter diesen Systemen eins beherrschend hervortreten wird, entspricht auch einer geschichtlichen Erfahrung. Und stehen wir etwa so weit von dieser Entwicklung? Schon drängen sich Namen auf die Zunge und Füße derer, die den neuen Reigen eröffnen werden, stehen vor der Tür.

Unter diesen Umständen scheinen mir dann doch die Bemerkungen durchaus zulässig, die ich für diese Situation früher über die Role der empirischen Psychologie gemacht habe. Aber ich komme darauf im Einzelnen nicht zurück; ich will mich nicht wiederholen. Wohl aber wird es nötig sein, ehe ich zu einigen mehr aktuellen Bemerkungen aus diesen Zusammenhang übergehe, noch das Verhältnis der empirischen Psychologie zum Betrieb der geisteswissenschaftlichen Einzeldisziplinen ins Auge zu fassen.

Der ältere Betrieb aber Geisteswissenschaften war getragen durch die Philologie als Kunst und Methode der Deutung von Schriften: noch vor einem Menschenalter galt, dementsprechend, als Geschichte nur, was in schriftlicher Überlieferung vorlag; Prähistorie war verpönt. Spatenforschung war höchst verdächtig; junge Leute, die anderer Ansicht waren, gerieten in den Verdacht mangelnder Akribie. Heute ist das gewiß anders geworden und vor allem auf dem Gebiet des klassischen Altertums sind wieder einmal die Fortschritte vorbildlich. Doch immer noch beherrschen Analogievorstellungen, die dem älteren philologischen Betrieb entnommen sind, weithin die Geisteswissenschaften. Ein Beispiel mag das anschaulich machen. Noch heute gilt, wenn auch in abnehmendem Grad, in Literatur- und Kunstgeschichte, überhaupt in den Disziplinen der höchsten geistigen Bewegungen eine Ableitungsmethode, deren einfachstes generalisiertes Schema sein würde: der Dichter oder Künstler a geht auf die Dichter oder Künster A und B zurück, wie der Nachweis gewisser Ähnlichkeiten oder gar Entlehnungen aus ihren Werken ergibt: folglich ist sein Wesen durch die Formel A + B geteilt durch 2 ausgedrückt. Es ist selbstverständlich, daß ein solcher Schluß das Wesentliche der Erscheinung, um deren Beschreibung es sich handelt, übersieht und daß eine auf ein solches Verfahren aufgebaute Geschichte ein Zerrbilddes wirklichen Verlaufes ergibt; denn eben das Personen und Dingen jeweils spezifisch Eigene ist unterdrückt. Einem wissenschaftlichen Betrieb aber, der, von der Philologie herkommend, sich der Geschichte nahte, lag die gewohnheitsmäßige Übernahme einer solchen Schlußweise allerdings nah. In der Erklärung des Zusammenhangs von Schriften hatte sich die Methode bewährt; Buch ließ sich allenfalls von Buch her ableiten. Warum sollte also nicht auch die Ableitung von Menschen möglich sein? Man sieht an diesem Beispiel deutlich, was der alten Methode, wie sie einst so gut wie ausschließlich zur Interpretatoin der schwer verständlichen Schriften des griechischen und römischen Altertums ausgebildet worden war, in dem Augenblick, da sie zum Verständnis des Zusammenhangs von Menschen benutzt (und das heißt: auf die Geschichte übertragen) wurde, fehlte; es fehlte das Verständnis des Eigenartigen, Wesentlichen des einzelnen Menschen, es fehlte die Psychologie. Und da die Geschichte in diesen früheren Zeiten, vor jetzt ein bis zwei Menschenaltern, schon in den Mittelpunkt der geisteswissenschaftlichen Bewegung zu treten begann, so fehlte nur zu sehr die psychologische Gesichtspunkt den Geisteswissenschaften überhaupt.

Nun ist das mittlerweile anders geworden. Neben die philologische Methode sind in den Geisteswissenschaften andere Methoden getreten; und eben sie, wie die inzwischen in alle Geschichtswissenschaft siegreich eingezogene kulturgeschichtliche Auffassung, haben die Philologie, da sie eine viel eingehendere Interpretation der Quellen erfordern, als solche zur Entwicklung neuer schärferer Methoden gezwungen und zwingen sie dazu von Tag zu Tag.

Unverkennbar aber bleibt dabei, daß hinter dieser ganzen jüngsten Fortentwicklung als treibendes Mittel die psychologische Anschauung steht. Und zwar keine metaphysische, sondern eine rein der Erfahrung gemäße psychologische Anschauung.

Aus der Kenntnis dieses Zusammenhangs her versteht man alsbald, wie die Durchbildung einer empirischen Psychologie heutzutage geradezu das dringende Bedürfnis aller Geisteswissenschaften ist; sie muß und wird unbedingt erfolgen: nicht nur auf dem Gebiet der experimentell festzulegenden Tatsachen, sondern ebenso auf dem Weg der Selbstbeobachtung, nicht nur für die Materien der Individualpsychologie, sondern auch für die der Sozial- und Völkerpsychologie und nicht weniger auch in den reichen Gebieten der Lebensalterpsychologie, insbesondere der Kinderpsychologie und der Psychologie des Charakters.

Und klar ist, daß all dies schon die volle Ausbildung der empirischen Psychologie als eigene große Universitätsdisziplin erfordert, auch ganz abgesehen davon, ob eine solche Ausbildung die Geisteswissenschaften vor der Übermacht einer andrängenden neuen Metaphysik bewahren möchte: was allerdings meiner Ansicht nach der Fall sein würde.

Nun aber kam die Erklärung der Hundertundsechs, wendete sich "gegen die Besetzung der Philosophischen Lehrstühle mit Vertretern der Experimentellen Psychologie" und wies "die Philosophischen Fakultäten sowie die Unterrichtsverwaltungen auf die daraus erwachsenden Nachteile für das Studium der Philosophie und Psychologie hin": die "Experimentelle Psychologie soll in Zukunft nur durch die Errichtung eigener Lehrstühle gepflegt werden". Und unwidersprochen hat darauf WUNDT und mit unwiderleglichen Gründen gezeigt, daß die Folge des hier vorgeschlagenen Verfahrens die Abschiebung der Experimentellen Psychologie in den Betrieb der Naturwissenschaften, speziell in den Tätigkeitsbereich der Medizinischen Wissenschaften sein würde.

Was hieß nun dies alles? Glaubte man wirklich in den Kreisen der Philosophen, daß ein kräftiger Betrieb der Empirischen Psychologie ohne Experimentelle Psychologie möglich ist? Selbst in den Geisteswissenschaften läßt sich spüren, daß dies unmöglich ist; ich habe davon in meiner früheren Erklärung gesprochen. Wenn aber die Experimentelle Psychologie "abgeschoben" werden sollte: was sollte dann aus den übrigen, eben jetzt in bester Entwicklung begriffenen Teildisziplinen der Empirischen Psychologie werden? Wäre es da nicht eine ganz unumgängliche Pflicht der "Erklärung" gewesen, sich über die der Empirischen Psychologie als Ganzem zugedachte Rolle, besser gesagt: über das ihr zugedachte Schicksal klar und deutlich auszudrücken? Man darf nicht denken, daß dies auch nur mit der Klarheit eines minderen Grades geschehen ist, die, in dem hier soeben gegebenen Zitat, in den Worten vom "Studium der Philosophie und Psychologie" zu liegen scheint; in der "Erklärung" stehen diese Worte so weit von der Erörterung der Lage der Experimentellen Psychologie entfernt, daß die gegenseitige Beziehung und die daraus resultierenden Ergebnisse nur von dem überblickt werden konnten, der ganz genau zuschaute, während sich der Durchschnittsleser des allenfalls noch vorhandenen Zusammenhangs kaum bewußt wurde. Da war es dann begreiflich, daß, wie ich zahlreichen Mitteilungen weiß, dieses Fehlen einer klaren Stellungnahme zur Empirischen Psychologie als einem Ganzen, mit Einschluß der experimentellen Teildisziplin, sehr überraschte und daß man in dieser Hinsicht eine Aussprache "ohne Hörner und Klauen" zu hören wünschte: daß die Empirische Psychologie als Ganzes willkommen geheißen wird. Aus einem solchen Verfahren mußte dann die Zulassung und Entwicklung besonderer geisteswissenschaftlicher Lehrstühle für Empirische Psychologie und damit auch für Experimentelle Psychologie ohne weiteres und, sozusagen, von selbst erfolgen.

Da war es dann gewiß ein trefflicher Schritt, daß eine Ergänzung der "Erklärung" in dem gewünschten Sinn (in einem Artikel der Frankfurter Zeitung) von RICKERT, dem Geschäftsführer der Erklärungsaktion, in dem hier soeben gewünschten Sinn erfolgte. Sie zeigt gegenüber der Psychologie immer noch Spuren von Zurückhaltung, die in diesem Grad bei vielen Unterzeichnern der Erklärung vielleicht nicht vorhanden sein dürften. Im Ganzen aber beseitigt sie die Bedenken, zu denen die Erklärung vom Standpunkt der Geisteswissenschaften Anlaß gab und wird hoffentlich dazu beitragen, der Psychologie in ihren verschiedenen Denominationen in ausreichendem Maß Lehrstühle an den deutschen Universitäten zu verschaffen.

Liegt aber eine solche Lösung nicht zugleich im Interesse aller reinen Philosophie? Wie will man denn sonst die praktischen Disziplinen der Ethik, Pädagogik und Politik, wie noch mehr Ästhetik und Erkenntnistheorie pflegen? Die Reibungen im Verhältnis von Philosophie und Psychologie, wie sie nun lange genug gewährt haben, müssen auch auf diesem begrenzten Gebiet einem Zustand gegenseitiger inniger Förderung weichen. Sie selbst, sehr verehrter Herr Kollege, sprechen von der "verächtlichen Gleichgültigkeit, ja, der Abneigung, die manche entscheidenden, individuellen und überindividuellen Instanzen bei uns gegen die Philosophie empfinden". Diese Empfindungen werden gewiß beträchtlich abgeschwächt werden, wenn sich ein gleichmäßig friedlicher Fortschritt auf den doch immer noch von Alters her verschwisterten Gebieten der Philosophie und der Empirischen Psychologie bemerken läßt.

Ich könnte meine Bemerkungen hier abbrechen oder, richtiger, schließen, wenn Sie, verehrter Herr Kollege, nicht ein Motiv mehr persönlicher Art aufgegriffen hätten, das aber noch, so will mir scheinen, lehrreiche fachliche Beobachtungen gestattet. Sie beklagen sich, daß ich das Verhalten der Hundertundsechs einer unerfreulichen sittlichen "Wertung" unterworfen habe. Sie habe Notwehr getrieben, ich aber habe ihnen das Recht hierzu aberkannt. Davon kann nun aber nach dem klaren Wortlaut meiner Ausführungen in alle Wege nicht die Rede sein. Wie sollte ich, insbesondere bei meiner Ihnen wohlbekannten wissenschaftlichen Stellung, dazu kommen, Ihnen dieses "erste Ethos des Gelehrten" abzustreiten und (um Sie selbst weiter zu zitieren) "diesen Glauben an das eigene, unersetzbare Ziel"? Nicht dieses Ethos habe ich der Erklärung, also auch Ihnen, wi Sie sich ausdrücken "als sittlichen Makel angeheftet", sondern etwas gänzlich Anderes: nämlich die Form, in der Sie die Notwehr geübt haben.

Sie wissen so gut wie ich und wie alle Welt, die sich für dergleichen Fragen erwärmt, daß die Berufung auf die Lehrstühle der deutschen Universitäten keine einfache Sache ist. Wir sind nicht in der stolzen Lage englischer Universitäten, etwa der von Cambridge, das seine Professoren einfach proprio motu [aus eigenem Antrieb - wp] beruft. Die Berufung erfolgt durch den Staat; den Fakultäten steht nur die fachliche Beratung in Form eines Vorschlagsrechts zu. Bei dieser Regelung potenzieller Art, die, ansich gewiß nicht ohne manche Vorteile, zu einem ständigen Auf und Ab der Kräftewirkungen von Regierung und Fakultäten führt, ist bekanntlich nicht ausgeschlossen, daß das Ausschlagen der auf beiden Seiten tätigen Kräfte bis zu Konflikten führt. In diesem Zustand werden die Fakultäten ihren Anteil am Berufungsgeschäft nur dann wahren können, wenn sie einen Faktor, in welchem sie unbedingt überlegen sind, ständig rein und unbeeinflußt zu ihrer eigensten Disposition halten. Dieser Faktor ist der ihrer besonderen Sachverständigkeit. Und nun fährt hier die Erklärung der Hundertundsechs dazwischen und empfiehlt ihre besondere fachmännische Erfahrung den "Philosophischen Fakultäten sowie den Unterrichtsveranstaltungen" zu maßgebener Berücksichtigung.

Nennen Sie das, verehrter Herr Kollege, Einstehen für korporative Rechte? Ich habe dieses Vorgehen, in einer dem Kulturhistoriker naheliegenden Weise, mit dem unbewußten Wirken jener für unsere Zeit charakteristischen Motiv zu erklären gesucht, die ich unter dem Ausdruck "Machtpolitik" zusammenfasse:
    "Zur Entschuldigung oder vielmehr zur Erklärung läßt sich anführen, daß in einer Zeit ganz überwiegender Förderung materieller Interessen die Willensäußerungen der Nation so sehr auf grobe Mittel und eine rücksichtslose Geltendmachung dieser Mittel geschult worden sind, daß sich selbst die höchsten geistigen Interessen diesem Einfluß nicht mehr ganz entziehen können."
Was haben Sie nun darauf erwidert? Sie fassen den Inhalt des eben zitierten Satzes in die (noch dazu durch Gänsefüßchen als wörtliches Zitat charakterisierten) Worte "rücksichtslose Geltendmachung großber Mittel zur Förderung materieller Interessen" zusammen und behaupten, ich habe Ihre Notwehr als eine solche Geltendmachung "denunziert".

Denunziert" Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht dreimal, sondern mindestens zwölfmal besonnen haben, ehe ich dieses Wort niedergeschrieben hätte. Wem denunziert? Wer denunziert, hat einen Adressaten im Kopf. Ich habe meinen Artikel in der breitesten Öffentlichkeit geschrieben; aufgrund des besten Gewissens von der Welt lehne ich ab, auf irgend jemandes Absichten, für irgendjemand Ansichten gehabt zu haben. Aber unwillkürlich frage ich mich in der Situation, in die Ihr Wort mich gebracht hat, wie es denn mit dem Gegner, wie mit der Erklärung steht? Ausdrücklich hat sie sich, in einem Schritt, der meines Wissens keinen auch nur irgendwie annähernd ähnlichen Präzedenzfall in der Geschichte der deutschen Universitäten aufweist, an ganz bestimmte Adressaten, die Philosophischen Fakultäten und die Unterrichtsverwaltungen, gewendet.

Ich verfolge die in diesem Moment nächstliegende Schlußreihe nicht. Ich bin weit davon entfernt, rekriminieren [Gegenklage erheben - wp] zu wollen. Ich nehme ihnen auch die "Denunziation" nicht übel. Ich habe mich aufrichtig gefreut über die volle Würdigung meines Charakters, die Ihr Artikel im Übrigen an mehr als einer Stelle enthält; es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß ich in akademischen Kreisen zur Klasse der Gutverleumdeten gehöre.

Aber noch mehr. Ich habe seit dem Erscheinen Ihres Artikels das Urteil jüngerer und älterer Freunde über den eigenartigen Schritt, die Erklärung Fakultäten und Regierungen zuzusenden aufgesucht. Und ich habe zu meinem Erstaunen gefunden, daß es keineswegs immer mit dem meinen zusammengeht. Es gibt eine Meinung, wonach in dieser Zusendung eher eine Demonstration gegen die Regierungen, insbesondere das Preußische Kultusministerium wegen der Behandlung der Marburger Sache zu sehen ist. Viel interessanter ist aber eine ebenfalls vertretene Meinung, wonach es gänzlich veraltet ist, für die unversehrte Bewahrung des Vorschlagsrechts der Fakultäten einzutreten: dabei komme doch nichts heraus; es sei viel besser, die Regierungen besorgten die Ernennungen nur von sich aus; usw. Ich bin gewzungen, in meiner Auseinandersetzung mit Ihnen, sehr verehrter Herr Kollege, diese Anschauung zu registrieren. Aber ich tue es mit Schmerz. Sie scheint mir ein Verfallszeichen unseres älteren Universitätswesens zu sein, und soll ich sie von diesem Standpunkt aus charakterisieren, so kann es nur mit dem Motto "Ruimus in servitium" [in dienstfertiger Eile - wp] geschehen.

Können aber so radikale Meinungen, wenn sie etwa im Kreis der Jüngeren nicht vereinzelt, sondern sozial auftreten, nicht auch als ein Symptom und als ein Gegenstück gleichsam dessen angesehen werden, was ich als "Machtpolitik" bezeichnete?

Ich empfehle mich Ihnen in aufrichtiger Hochachtung als Ihr ergebener Karl Lamprecht.
LITERATUR Karl Lamprecht, Eine Gefahr für die Geisteswissenschaften, Maximilian Harden (Hg), Die Zukunft, Bd. 83, Berlin 1913
    Anmerkungen
    1) Übrigens bemerke ich ausdrücklich, daß ich hier nicht als Delegierter der Unterzeichner, sondern nur auf meine Verantwortung spreche.