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ELISABETH LEINFELLNER
Fritz Mauthner
- Sprachkritik als Erkenntnistheorie


Mauthner im hist. Kontext
Fritz Mauthner
Sprachkritik und Atheismus
...die Adjektive sind weniger trügerisch als die Verben, und die Verben weniger als die Substantive.

Philosophisches System und Wahrheit
Bevor wir auf die spezifischen Probleme der Sprachkritik eingehen, müssen die Rolle der Philosophie und das Problem der Wahrheit und anschließend daran die systematische Stellung der Sprachkritik angeschnitten werden. Ein prinzipielles Problem der Philosophie ist in mauthnerscher Sicht durch folgende kritische Analyse gegeben: wenn die Philosophie Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes, Denken des Denkens, und das heißt nach MAUTHNER auch Spracherkenntnis durch Sprache, sein soll, dann ist sie ein aussichtsloses Unterfangen. Philosophie ist aber möglich als Überblick, als vergleichendes Zusammenfassen leitender Gedanken der Einzelwissenschaften, eine Vorstellung, die wir in der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie wiederfinden.

MAUTHNER lehnte es ab, ein philosophisches System zusammenzustellen, weil er von Systemen nicht viel hielt. Er begründet dies so:
  • in der Natur gibt es keine festen Grenzen zwischen den Erscheinungen
  • ein für alle Zeiten gültiges philosophisches System müßte die absolute Wahrheit verkörpern - und dies sei unmöglich.
Die absolute Wahrheit ist unerreichbar, da zwischen Welt und absoluter Erkenntnis die Sprache als verzerrender Filter dazwischen steht; die Existenz von drei Bildern der Welt verhindert a priori ein einheitliches Bild. Die Wahrheit ist immer relativ, und auch wenn man sich - irrtümlicherweise - eine zukünftige absolute Erkenntnis der Wahrheit vorstellen könnte, so verändern sich doch die Wissenschaften, unser Denken und die Sprache, und mit ihnen muß sich nach MAUTHNER die Philosophie ändern. MAUTHNER führt damit das analytische Konzept der Wahrheit in einer Sprache L ein.

Das Verhältnis von Sprachkritik, Philosophie und Sprachwissenschaft
Wohin gehört nun die Sprachkritik? MAUTHNER hat einerseits die Sprachkritik als eigene Disziplin gesehen. Ihre Position im System der Wissenschaften stellt er sich einmal folgendermaßen vor: während die Naturwissenschaften hauptsächlich Sachwissen vermitteln, vermitteln die Geisteswissenschaften hauptsächlich Wortwissen. Aber die Sprachkritik könne als einzige Geisteswissenschaft ebenbürtig den Naturwissenschaften gegenübertreten.

MAUTHNER spricht auch davon, daß die Sprachkritik die wichtigste Aufgabe der Erkenntnistheorie, als einer Disziplin der Philosophie, sei. Sprachkritik wird manchmal geradezu mit Erkenntnistheorie identifiziert. Explizit und noch umfassender heißt es in der Selbstdarstellung: "Alle kritische Philosophie ist Kritik der Sprache, und in den Beiträgen: "Philosophie ist die Grenze der Sprache selbst, der Grenzbegriff, der limes: ist Kritik der Sprache.

Freilich dürfe eine solche erkenntnistheoretische Sprachkritik oder sprachkritische Erkenntnistheorie nicht Geschichte, Logik und Psychologie außer acht lassen, ein Rat, den MAUTHNER selbst in großem Umfang beherzigt hat (man beachte seine Stellungnahmen zu fast allen Wissensgebieten an Hand des Fachwissens seiner Zeit). Am wichtigsten ist hier, daß die Sprachkritik der erkenntnistheoretische Versuch ist, darzustellen, daß und wie die Sprache unser Bild der Welt verzerrt. Eine Korrektur dieses Bildes hat der Skeptiker MAUTHNER eigentlich für unmöglich gehalten: die Sprachkritik kann das Rätsel der Sphinx nur lösen, indem die Sphinx zum Schweigen gebracht wird.

Die Sprachkritik konzentriert sich also auf die Nahtstelle zwischen Wortsprache und Wirklichkeit. Die Sprachkritik, sagt MAUTHNER, ist eigentlich nichts anderes als vorurteilslose und dadurch klärende Sprachgeschichte, oder, mit stärkerer Betonung der philosophischen Komponente, ein erkenntnistheoretischer Nominalismus. Man könnte hier einwerfen, daß eine so verstandene Sprachkritik eigentlich mit der Sprachwissenschaft völlig oder nahezu identisch sein müsse. Tatsächlich enthält zum Beispiel nahezu jeder Artikel in den zwei dicken Bänden seines Wörterbuch der Philosophie ausführliche sprachgeschichtliche Erläuterungen, getreu MAUTHNERs Auffassung, daß Sprachgeschichte Geschichte der Welterkenntnis oder des Denkens ist.

Hier scheint nun in MAUTHNERs Philosophie ein Dilemma aufzutreten: einerseits existiert nach MAUTHNER höchstens die Individual- bzw. Dualsprache, andererseits wird Sprache als etwas Soziales aufgefaßt, und es wird die Sprachgeschichte zum Beispiel in Form der Etymologie oder der Geschichte der Übersetzung eines Terms herangezogen, um Sprachkritik zu betreiben. Faßt man jedoch die Sprache als zeitliche Aneinanderreihung von miteinander verflochtenen Individual- bzw. Dualsprachen auf, dann verschwindet das Dilemma und es kann dann eine Srpachgeschichte unabhängig von der Existenz der Sprache geben, in dem Sinn, in dem man die Geschichte als eine Aneinanderreihung von miteinander verflochtenen Biographien betrachten kann.

Wie MAUTHNERs Beispiele zeigen, ist die Methode der Sprachkritik daher zum Teil tatsächlich mit den Methoden der Sprachwissenschaft identisch - Sprachkritik erscheint als vorurteilslose, klärende Sprachgeschichte. Nur tritt zu den sprachwissenschaftlichen Methoden seine erkenntnistheoretische Zielsetzung hinzu. Wie Sprachkritik methodisch funktioniert, zeigt man am besten durch drei Gruppen von Fallstudien.

Sprachkritische Methoden
Die zwei Bände des Wörterbuch der Philosophie sind eine reiche Quelle für Sprachkritik, die sich an der Wortgeschichte orientiert. Zwei Beispiele mögen genügen: MAUTHNER weist darauf hin, daß der LEIBNIZsche Ausdruck Apperzeption im Deutschen als Wahrnehmung wiedergegeben wird; durch die Schreibung Wahr- anstelle des sprachgeschichtlich korrekteren War- sei bei vielen Autoren (CAMPE, HEGEL, WUNDT) bei der Definition von Wahrnehmung und ähnlichen Ausdrücken fälschlich mit der Bedeutung von wahr operiert worden, so, als sei das Wahrgenommene das als wahr Angenommene.

Besonders schlecht sei es auch dem Wort Tao ergangen. Der Term sei schon im Chinesischen nie klar definiert worden, und bei der Übersetzung habe dann jeder Autor denjenigen Begriff (Term), den er selbst als den höchsten angesehen habe, für Tao verwendet: Logos, Vernunft, Natur, Gott, ja sogar Energie. MAUTHNER hat übrigens alle vier Bände der Geschichte des Atheismus als eine spezielle Wortgeschichte gesehen, die von Gott.

MAUTHNER hat die drei kognitiven Kategorien des Adjektivischen, Verbalen und Substantivischen zur Grundlage sprachkritisch klärender Analysen gemacht, indem er zu zeigen versuchte, daß gewisse Terme den falschen kognitiven Kategorien oder auch Sub-Kategorien zugeordnet sind. Faßbar wird die Zugehörigkeit eines Terms zu einer unpassenden kognitiven Kategorie durch seine Zugehörigkeit zu einer entsprechenden grammatischen Kategorie.

Ein Teil dieser fehlerhaften Zurodnungen ist im Prinzip reparabel: wenn Geist und Seele schon verwendet werden müssen, dann sollen sie kognitiv der verbalen Kategorie zugeordnet werden, d.h. als Tätigkeiten, Funktionen, zweistellige Beziehungen etc. angesehen werden, nicht als Dinge - statt Seele könnte man dann vielleicht verbal Geseel sagen und damit den Tätigkeitscharakter der Seele andeuten, so wie Gehör die Tätigkeit des Hörens durchklingen läßt. Dann können aber den Seelen und den Geistern keine absoluten Eigenschaften zugeschrieben werden.

Daß die Seele unsterblich ist, können wir dann ebensowenig sagen, wie wir sagen können, daß der Teufel viereckig ist. Der Satz Die Seele ist unsterblich ist nicht falsch - MAUTHNER betont dies ausdrücklich - sondern unverständlich, d.h. unsinnig, ebenso unverständlich und unsinnig wie Das Davonlaufen des Hasen ist rosenrot. Die Antizipation von GILBERT RYLEs Konzept des Kategorienfehlers ist hier unverkennbar. MAUTHNER hielt aber Reparaturen der Sprache im allgemeinen für unrealistisch.

Auch innerhalb der kognitiven, bzw. der entsprechenden grammatischen Kategorien selbst, können Terme unpassenden Kategorien selbst, können Terme unpassenden Sub-Kategorien angehören. Wir sagen heute noch mit einem intransitiven Verb aufgehen, die Sonne geht auf, und nicht, wie es wegen der Bewegung der Erde korrekt wäre, mit einem transitiven Verb, z.B. erreichen, daß die Erde die Sonne erreicht. Transitive Verben täuschen oft Ursachen vor, wo keine sind; und oft gibt es keine transitiven Verben, wo sie, wissenschaftlich gesehen, benötigt würden. Zum Beispiel müßte man sinnesphysiologisch sagen Der Baum grünt mich und nicht Der Baum ist grün.

Hier geht es darum, daß grammatische Kategorien fiktive ontologische Kategorien erzeugen. So erzeugt, z.B. die grammatische Kategorie Substantiv die fiktive ontologische Kategorie des Dinges, so daß dann jedem Substantiv ein Ding entsprechen muß. Die hier einsetzende Sprachkritik findet ihren schärfsten Ausdruck in MAUTHNERs monumentalem Werk, der negativen Wortgeschichte "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande".

Die Zurechnung Gottes zur substantivischen Welt ist nach ihm der unwiderlegbarste, weil sprachkritische, Beweis für das empirische Nicht-Dasein Gottes. Nach MAUTHNER ist Gott ein "Gott unseres Wörtervorrats". Drückte man Gott adjektivisch als das Ewige oder verbal als das Werden aus, dann könnte man das Existenzurteil Gott ist (die Substanz) wohl kaum aussprechen. So ist Gott dem kritischen Denker ein Nichts; ein Etwas kann er nur dem Dichter sein, getreu MAUTHNERs Auffassung, daß die Sprache wegen ihres metaphorischen Charakters ein brauchbares Vehikel der Dichtung ist. MAUTHNER hat viele Substantiva aus anderen Wissensgebieten auf ähnliche Weise analysiert, z.B. Seele und Ich, jedesmal mit dem Ergebnis, daß wir von Worten in eine Scheinwelt geführt worden sind.

Sprachreform
Es ist naheliegend, sich zu fragen, ob denn unsere Sprache, wenn sie schon so unzulänglich ist, nicht reformiert werden sollte. Daß sie sich gewissermaßen selbst verbessert, ist nach MAUTHNER schon deshalb möglich, weil es - stets sprachlose - Erkenntnisfortschritte werden: die Sprache hinkt der Erkenntnis zwar nach, aber sie bleibt immerhin nicht stehen. Ob man eine Sprachreform vorschlägt, hängt aber davon ab, ob die Sprachkritik entweder zwar Unzulänglichkeiten, Fehler, Unklarheiten klärend aufzeigt, aber - mit WITTGENSTEIN zu reden - dann alles so läßt, wie es ist, oder ob sie, z.B. im Sinne der Philosophie des Wiener Kreises, metaphysische Terme eliminiert, falsch angewandte einstellige Ausdrücke, wie in Der Baum ist grün durch mehrstellige, wei in Der Baum grünt mich, ersetzt, usw.

MAUTHNER hat, wie wir gesehen haben, hie und da reformatorische Vorschläge gemacht, aber im Grunde hat er jede Art von gängiger Sprachreform abgelehnt. Die einzige Sprachreform, die man im Rahmen seiner Philosophie akzeptieren kann, ist, paradox ausgedrückt, das Schweigen. Die Kunstsprachen (Esperanto, Volapük) sah er überhaupt nicht als Sprachen an. Eine Idealsprache á la JOHN WILKINS, LEIBNIZ und RAIMUNDUS LULLUS, die sämtliche erkenntnistheoretischen Probleme vermeiden würde, sei unmöglich, denn die Naturwissenschaften könnten nicht den Weltkatalog herstellen, der die Grundlage einer solchen Idealsprache bilden würde.

Zusammenwirken der drei Sprachen (Bilder)
Einmal hat MAUTHNER darüber spekuliert, ob es möglich wäre, entweder
  • eine Sprache zu bilden, die nicht in die drei Teilsprachen, die adjektivische, die verbale und die substantivische, zerfällt, oder
  • die drei Teilsprachen als selbständige, aber doch aufeinander bezogene Sprachen aufzubauen.
Im ersten Fall kam er zu der Auffassung, daß es eine solche Sprache nicht geben könne, und im zweiten, daß dies zwar möglich, aber unfruchtbar sei. Prinzipiell trägt jede dieser Sprachen zur relativen Wahrheit bei, und sie sollen daher zusammenwirken, z.B. als Kunst (adjektivisch), Wissenschaft (verbal) und Mystik (substantivisch).

Wir können dieses Zusammenwirken am besten am Beispiel der wissenschaftlichen Sprache exemplifizieren, und zwar, indem wir das Zwei-Komponenten-Modell wissenschaftlicher Sprachen, wie es im Wiener Kreis entwickelt worden ist, mit MAUTHNERs Ansichten vereinen. Der von MAUTHNER betonten unmittelbar sensualistischen, adjektivischen Sprache der sinnlichen Erfahrung korrespondiert die empirische Beobachtungssprache, der verbalen Sprache korrespondiert die theoretische Sprache, d.h. die Sprache der funktionalen Abhängigkeiten, und der substantivischen Sprache korrespondieren die rein theoretischen Terme, denen ja oft auch in Wirklichkeit nichts oder nur partiell etwas entspricht.

Sprachkritik der Philosophie und Logik
Wenn man Logik mit MAUTHNER als die Struktur einer Sprache betrachtet, dann kann auch sie, wie die Grammatik, sprachkritisch, und das heißt auch: erkenntnistheoretisch, analysiert werden. Logik und Grammatik sind nur zwei Funktionen oder Seiten eines Phänomens, der jeweiligen Sprache; eine Logik ist die Logik einer bestimmten Sprache - genau so, wie eine Grammatik die Grammatik einer bestimmten Sprache ist.

Die Logik ist wie die Grammatik, etwas historisch Gewordenes, das auch anders sein könnte. Daher gibt es nur Grammatiken, aber keine allen Sprachen gemeinsame philosophische Grammatik, keine Logik, sondern nur Logiken: eine chinesische Logik z.B. würde anders aussehen als unsere. Nach dem Muster der vergleichenden Grammatik könnte es auch eine vergleichende Logik geben. Für MAUTHNER ist die Logik empirisch, d.h. zur Erkenntnis, unbrauchbar, ein Schicksal, das sie mit der Grammatik teilt.

Die Logik (der indoeuropäischen Sprachen), die MAUTHNER so unzulänglich findet, ist die aristotelische, bzw. allgemein die traditionelle Logik, aber auch die GEORGE BOOLEs und ERNST SCHRÖDERs über JOHN STUART MILLs und anderer Autoren induktive Logik, die er manchmal etwas positiver sieht. MAUTHNER kritisiert an diesen Systemen, daß sie von uns der Semantik der natürlichen Sprachen und damit von der empirischen Welt entfernen, d.h., daß sie rein formal seien, oder, wie er es ausdrückt: es gibt keine formale Logik ohne Inhalt.

MAUTHNERs kognitive (semantische) Kritik der Logik drückt sich besonders in seiner Analyse der Schlüsse aus. Schlüsse sind nach ihm, wie bei MILL bloß tautologisch; wir gewinnen durch sie keine neuen Erkenntnis. Der Schluß Wenn alle Planeten an den Polen abgeplattet sind, und Mars ein Planet ist, dann ist auch der Mars an den Polen abgeplattet ist nur möglich, wenn wir schon im voraus wissen, daß der Mars - und jeder Planet - an den Polen abgeplattet ist; die erste Prämisse, die den Quantor alle enthält, wäre sonst eine bloße Vermutung.

Ein anderes semantisches Problem zeigt sich nach MAUTHNER bei den folgenden zwei Schlüssen 1) und 2):
  • Wenn ARISTOTELES der weiseste Mann aller Zeiten war, und der weiseste Mann aller Zeiten der Lehrer ALEXANDERs, dann war ARISTOTELES der Lehrer ALEXANDERs,
  • Wenn ARISTOTELES der eitelste Pedant des Altertums war, und der eitelste Pedant des Altertums der Lehrer ALEXANDERs, dann war ARISTOTELES der Lehrer ALEXANDERs.
Die Konklusionen in 1) und 2) haben wegen der verschiedenen Prämissen von 1) und 2) verschiedene Bedeutungen, obwohl sie äußerlich gleich aussehen und daher logisch als gleich angesehen werden. Das heißt, Konklusionen müssen auf jeweilige Texte relativiert werden, in heutiger Terminologie: man muß sich mit ihren Präsuppositionen auseinandersetzen.

Der mauthnersche Psychologismus (Hominismus) zeigt sich, wenn MAUTHNER vieles, was in der Logik auf Schlüsse zurückgeführt wird, auf das Gedächtnis, die Assoziationen, bzw. die Sprache oder den Sprachgebrauch zurückführt; zu der Erkenntnis, daß es regnet, wenn es naß ist, brauchen wir daher keine Schlußverfahren. Denn jedes Wort enthält in seinen "Merkmalen" (MAUTHNERs Term) schon die Schlüsse, die aus ihm gezogen werden können.

MAUTHNER stößt sich - vom semantischen, pragmatischen und psychologischen Standpunkt aus zu Recht - an folgendem: einerseits ist das mathematisch aufgefaßte, selbstidentische A = A semantisch völlig nichtssagend, andererseits erscheint in der - außersprachlichen oder sprachlichen - empirischen Wirklichkeit A = A oft als A = A-b. Denn in Wirklichkeit gibt es keine absolute empirische oder als absolute semantische Gleichheit (absolute Synonymität), nur Ähnlichkeit; erst wenn empirisch festgestellt worden ist, daß b vernachläßigt werden kann oder soll, kann A = A als Gleichheit gesetzt werden.

GERTRUDE STEINs "A rose is a rose is a rose" ist demnach keine Identitätsaussage. Die Gesetzessprache liefert hier moderne Beispiele, etwa: die Tomate wird umgangssprachlich im Deutschen und im Englischen und gesetzlich in den USA (Entscheidung des Supreme Court von 1893) als Gemüse angesehen, ist aber botanisch eine Frucht. Wir erhalten: Obst = Obst - Tomate. Hierzu gehört, daß MAUTHNER - wie die heutigen Quantenlogiker - auch die Kommutivität (Vertauschbarkeit) des zweistellig relationalen ist ablehnt.

Aus dem restlichen Vorrat der mauthnerschen Kritik der traditionellen Logik erwähnen wir noch, daß es nach MAUTHNER keine Abstraktion in dem Sinne gibt, daß sie zu den wesentlichen Eigenschaften der Phänomene führt. Weiters sind Begriffe Terme/Termini, und daher sind sie einerseits hypothetisch, vorläufig, und, wie bei MACH, dynamisch, in steter Evolution begriffen, und andererseits, im Rahmen der Identifikation von Sprache und Denken, verschwommene Vorstellungen. Hier besteht unverkennbar Ähnlichkeit zu OCKHAM, nach welchem ein gedachtes Universale für vieles stehen kann, ohne daß deswegen Abstraktion mit Hilfe der klassenbildenden Eigenschaft stattgefunden hat.

Es ist keine Frage, daß eine Sprachkritik im Sinne MAUTHNERs ein brauchbares Unternehmen sowohl für die Philosophie als auch für andere Wissenschaften ist. Während eine auf die Philosophie gerichtete klärende Sprachkritik zum Beispiel zeigt, daß ARISTOTELES seine Kategorien der griechischen Umgangssprache entnommen und dann in die Wirklichkeit projiziert hat, so, als seien sie ontologische Kategorien, so antizipiert seine Sprachkritik umgekehrt auch, daß die Wissenschaften (z.B. heute Relativitäts- und Quantentheorie) oft Kategorien benötigen, die in der Umgangssprache nicht vorhanden sind, oder dort nicht sinnvoll angewandt werden können.

Jeder Empirismus, der die platonische Existenz von Ideen ablehnt, jede konstruktive Form der Mathematik, die nicht mit einem an sich seienden Unendlichen arbeiten will, hat - zumindest implizit - eine sprachkritische Seite. Wenn es heute eine Psychologie ohn substantivierte Seele, eine Rechtswissenschaft ohne an sich seiendes Recht, eine Politische Wissenschaft ohne die Fiktion eines an sich existierenden Staates oder die Idee des Staates, eine Naturwissenschaft ohne personifizierte Ursachen und Kräfte gibt, dann setzt dies voraus, daß ein mauthnersches sprachkritisches Programm angewandt wurde.

Sprachskepsis
Im Prinzip war MAUTHNER der Meinung, daß das Aufzeigen der Geschichte einer sprachlichen Form sei es eines Lexems, einer morphologischen Kategorie usw., in Verbindung mit der Erkenntnis, daß die Sprache falsche Bilder der Welt erzeugt und dann dort etwas vermuten läßt, wo nichts oder etwas anderes ist, zeigt, daß alle in Wortsprache ausgedrückte Erkenntnis statistisch, induktiv ist. Ein Ergebnis von MAUTHNERs erkenntnistheoretischer Analyse der Sprache war eine absolute Skepsis: die Sprache ist für die Erkenntnis denkbar ungeeignet - aber aufs beste geeignet für die Poesie.

Dieser erkenntnistheoretische Sprachskeptizismus kann in Anlehnung an die drei Sätze des GORGIAS (Nichts ist; Wenn etwas wäre, dann könnte es nicht erkannt werden; Wenn etwas erkannt werden könnte, dann könnte es nicht mitgeteilt werden.) so formuliert werden: Es gibt noch etwas; Dieses Etwas ist nur mit Unsicherheit oder vielleicht gar nicht erkennbar; Die Erkenntnis dieses kann in der Wortsprache nur metaphorisch, uneigentlich und individuell ausgedrückt werden, und dem gegenseitigen Verstehen sind dadurch unüberschreitbare Schranken gesetzt.

Es wird oft gerügt, daß alle Sprachskeptiker doch diese Skepsis sprachlich ausgedrückt haben, d.h. daß wir so tun, als könnten wir mit WITTGENSTEIN der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas, der Sprache den Ausweg aus der Sprache als Gefängnis, zeigen und mit OTTO NEURATH das Boot auf offener See reparieren, d.h. die Sprache zurechtrücken, während wir sie sprechen. MAUTHNER ist sich dieses Problems bewußt: der metaphorische Spiegel, die Sprache, soll nicht versuchen, sich selbst als Sprache zu spiegeln; zum Unterschied von anderen Sprachskeptikern lädt er seine Leser dazu ein, die Waffe des Sprachskeptizismus auch gegen ihn selbst zu richten.

Heute beantwortet man dieses sprachkritische Problem mit dem Konzept der Metasprache, ohne den gewünschten Erfolg, wie KURT GÖDELs Resultate zeigen (MAUTHNER führt bereits das Konzept einer Metasprache ein, wenn er sagt, daß ein Logikkalkül ohne Rückbeziehung auf die Umgangssprache als Medium seiner Erklärung undenkbar ist. Eine andere Lösung ist es, zu kapitulieren und sich auf die Unhintergehbarkeit der Sprache zu berufen. MAUTHNER hingegen überläßt sich, weil er das Problem für lösbar hält, in intellektueller Redlichkeit der "ruhigen Verzweiflung" des Skeptikers. Nur die sprachlose und damit gottlose - "Götter sind Worte" - Mystik führt kurze Augenblicke aus dieser Skepsis heraus.

Wem MAUTHNERs extremer Sprachskeptizismus ungewöhnlich erscheint, der möge daran denken, daß die heutigen Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, aber zu einem hohen Grade auch bereits die Sozial- und Geisteswissenschaften, ebenfalls der Umgangssprache zumindest mit Mißtrauen, wenn nicht mit Skepsis, begegnen, und sich daher von ihr gelöst haben. Die meisten Wissenschaften trachten danach, ihre Ergebnisse mit Hilfe mathematischer Strukturen auszudrücken, nicht mit Hilfe der Umgangssprache.

Dazu kommt, daß MAUTHNER einerseits von der wissenschaftlichen Sprache behauptet hatt, daß sie, wie die Umgangssprache, prinzipiell sensualistisch sei. Damit erbt die Wissenschaft alle Nachteile der Umgangssprache. Andererseits hat MAUTHNER den Ausweg aus dem Dilemma - und damit auch der Sprachskepsis - wohl gesehen, aber nicht mehr betreten: die Mathematik ist nach ihm keine Sprache und daher auch keine sensualistische Sprache.

Die mathematischen Terme sind keine sensualistischen Begriffe. Die Mathematik stellt strukturelle Proportionen auf, denen in der Wirklichkeit etwas entspricht, wenn auch die Proportionen selbst erst der vergleichenden Tätigkeit des Verstandes entspringen. Die Mathematik ist Struktur oder schematisches Modell. MAUTHNER hat aber diesen wichtigen Gedanken nicht weiter verfolgt und blieb daher bei einer Sprachskepsis auch gegenüber der Wissenschaft stehen.

Der Platz der mauthnerschen Sprachkritik
in der Geschichte der Philosophie

MAUTHNER hat sich zu recht als den eigentlichen Begründer der Sprachkritik betrachtet; auf seine Vorgänger weist er selbst hin. Die Scholastik in ihrer freieren Form ist nach ihm ein Versuch, den platonischen (Wort-)Realismus zu überwinden. JOHN LOCKE ist ihm der erste Philosoph, der trotz einer gewissen Wortgläubigkeit, psychologische Sprachkritik betrieb. ´LICHTENBERG, der "bis zu Sprachkritik witzige Physiker", HAMANN der "genialische Sprachkritiker". MAUTHNER nennt auch JACOBI und NIETZSCHE unter den Vorläufern seiner Sprachkritik.

Von NIETZSCHE sagt er, er wäre ein besserer Sprachkritiker geworden, wenn er sich nicht nur einseitig mit moralischen und abstrakten Begriffen beschäftigt hätte, wenn er nicht wortabergläubisch gewesen wäre, und wenn er nicht so darauf bedacht gewesen wäre, ein Dichter zu sein. MACH sei einer "der stärksten Sprachkritiker auf seinem Gebiete". MAUTHNER hat MACH sehr geschätzt und oft zitiert. Umgekehrt hat auch MACH MAUTHNER beifällig erwähnt.

Es wäre im Prinzip möglich, MAUTHNERs Sprachphilosophie
  • nur im Rahmen der etablierten (etabliert meint hier "bis in die siebziger Jahre) Analytischen Philosophie zu betrachten, oder
  • noch spezieller, als Vorläufer von WITTGENSTEINs Philosophie, insbesondere der des späten WITTGENSTEIN.
Für 2) sprechen: Philosophie oder zumindest Erkenntnistheorie ist Sprachkritik, die, als vorurteilslose Sprachgeschichte, alles läßt, wie es ist; Die Grenzen der Sprache sind Grenzen der Welt; Die Philosophie kann (soll) keine Systeme aufstellen; Sprache und Denken können weitgehend identifiziert werden; Die Sprache lebt im Sprachgebrauch; Die Logik soll sich mit unserer Sprache beschäftigen; Die Sprache ist eine Ansammlung von Dualsprachen als Kategorien von (Sprach-)Spielen, z.B. wie ein Schachspiel, mit Regeln; Will man die Sprache verstehen, dann müssen die sprachlichen Kontexte (Lebensformen) berücksichtigt werden.

Auch kleiner Einzelheiten sind beiden Philosophen gemeinsam, so die Leitermetapher (im Tractatus, aber schon bei dem Skeptiker SEXTUS EMPIRICUS), das Motiv des Schweigens, bei WITTGENSTEIN im Tractatus, weil alles, was klar gesagt werden kann, gesagt worden ist, bei MAUTHNER aus der ruhigen Verzweiflung heraus, daß letztlich nichts gesagt werden kann.

Obwohl MAUTHNER der wichtigste Vorläufer inbesondere des späten WITTGENSTEIN ist, so spricht gegen 2) - und damit implizit auch gegen 1) - doch ein generelles Argument. MAUTHNERs Blick war nicht, wie der des späten WITTGENSTEIN und der Analytischen Philosophen, hauptsächlich auf die Sprache als Sprache gerichtet, sondern auf die (Wort)Sprache als - nach ihm unbrauchbares - Mittel der Erkenntnis. Daher reicht er historisch hinter die Analytische Philosophie zurück, und über ihre klassische Ausprägung hinaus. Blickt man zurück und sieht man von seinem Sprachskeptizismus ab, dann ähnelt MAUTHNERs erkenntnistheoretische Position am meisten der MACHs, den er viele Male zustimmend behandelt. Mit MACH verbindet MAUTHNER z.B. die Betonung der Sinnesempfindungen, MAUTHNERs sprachkritische Ablehnung des Ichs, welche bei MACH physiologisch fundiert ist, usw.

Durch diese erkenntnistheoretische Fragestellung weist MAUTHNERs Philosophie aber auch über die etablierte Analytische Philosphie (und eine nur an der langue oder der Sprachkompetenz orientierten Linguistik) hinaus; er erörtert Probleme, die erst in letzter Zeit wieder in den Blickpunkt getreten sind: Soll die Logik semantischen oder erkenntnistheoretischen Bedürfnissen angepaßt werden, etwa spezifischen empirischen Theorien (Quantentheorie, Entscheidungstheorie, Textlinguistik)? Was ist die gehirnphysiologische und psychologische Grundlage der Semantik (Kognitive Psychologie)? Soll in semantischen Netzwerken durch Deduktion erklärt werden, was durch Assoziation erklärt werden kann (Künstliche -Intelligenz-Forschung)?

Ausblick
MAUTHNERs Philosphie enthält nichts von dem, was auf viele seiner philosophischen Zeitgenossen und deren Nachfahren in der Philosophie so anziehend wirkte: eine interessante, weil schwer verständliche, philosophische Terminologie, vage Formulierungen, die den Anschein der Tiefe erwecken, religiös-metaphysische Versprechungen eines Jenseits und eines ewigen Lebens, das Aufgehen in einer Sprachmystik, Definitionen absoluter Kategorien des Seienden, das Setzen des Ichs als den Mittelpunkt des Universums, aber auch den Glauben an die Wissenschaft als die Erlöserin von allem Übel.

MAUTHNER hat das alles vom skeptischen Standpunkt aus gesehen, aber er hat doch eine Rangordnung aufgestellt: die Adjektive sind weniger trügerisch als die Verben, und die Verben weniger als die Substantive. Und wenn auch die nicht-mathematisierte Sprache der Wissenschaft trügerisch ist, so ist sie doch weniger trügerisch als die in Sprache umgesetzte Alltagserfahrung, und die in Sprache umgesetzte Alltagserfahrung ist weniger trügerisch als die Sprache der Kunst und der Religionen.

Es ging MAUTHNER nicht darum, seine Philosophie als die endgültige Lösung aller Probleme hinzustellen, sondern um eine philosophische Haltung. Denn der Inbegriff seiner Philosophie besteht darin, den Philosophierenden dazu zu bringen, zu fragen und sich nicht mit den traditionellen Antworten zufrieden zu geben. Auf sich selbst bezogen sagte er: "Ich möchte fragen lehren und lernen".
LITERATUR - Elisabeth Leinfellner in Dascal / Gerhardus / Lorenz / Meggle (Hrsg), Sprachphilosophie - ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin/New York 1992