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Das Rationale und das Irrationale im System der Philosophie [ 2 / 2 ]
5. In den vorhergehenden Darlegungen haben wir den Begriff des Irrationalen mit der kantischen Idee zusammengestellt und zu zeigen versucht, wie in ihm all die logischen Motive des Problematismus, die in der kantischen Idee bereits angedeutet waren, zur freien Entfaltung kommen. Wir können aber an den Begriff des Irrationalen noch von einer anderen Seite herankommen, nämlich vom Problem des Transzendenten aus. - Es bleibt uns daher noch übrig, das Verhältnis dieser beiden Begriffe zu untersuchen und uns darüber Klarheit zu verschaffen, ob sie in ihrer logischen Grundlage identisch sind, oder aber im Gegenteil das Irratonale in der hier festgelegten Bedeutung eines absolute Transzendenz von vornherein ausschließt. Die Erkenntnis ist in ihrer Wurzel problematisch - das war der Leitgedanke unserer Betrachtung - und erreicht ihre Vollendung erst im Prozeß unendlich fortschreitender Entwicklung. Ihr Endziel ist die Unendlichkeit zu umspannen, in sich aufzunehmen, ein allumfassendes, in sich beruhendes System zur Verwirklichung zu bringen. Mit anderen Worten, die Erkenntnis ist ihrem Wesen, ihrer Essenz nach universal, oder genauer sie tendiert zu einer Universalität, die keine Ausnahmen zuläßt. Wie wir schon mehrfach betonten, ist keine Gegebenheit denkbar, welche nicht ein Problem für die Wissenschaft werden könnte und werden müßte, es gibt keine Frage, vor der die wissenschaftliche Forschung ein für allemal stehen zu bleiben genötigt wäre. Die Problematik der Erkenntnis begreift alles Seiende, die gesamte Wirklichkeit in sich. Und wenn auch die wahrhaft kritische Wissenschaft sich stets selbst über ihre eigene empirische Begrenztheit Rechenschaft ablegen muß und daher genau die logischen Grenzen einzuhalten verpflichtet ist, innerhalb deren sie die ihr zustehenden Probleme betrachtet, so vermag sie doch auf der anderen Seite, kraft der ihr ureigenen systematischen Tendenz, diesen Grenzen und Schranken lediglich eine relative, bedingte Geltung zuzuerkennen und kann nicht umhin darauf auszugehen, ihr Problemgebiet ständig zu vertiefen und zu erweitern. Sollte es nun etwa möglich sein, von diesem Standpunkt aus die Existenz eines solchen Seinsgebietes anzunehmen, das prinzipiell der philosophischen Vernunft verschlossen wäre, das jenseits nicht nur der wirklichen, sondern überhaupt aller möglichen Erkenntnis läge? Offenbar - nicht. Das Vorhandensein einer absoluten Schranke, welche die Erkenntnis wie empirisch, so auch ideal nicht zu überschreiten imstande wäre, würde in einem direkten Widerspruch zu ihrer unbeschränkten Autonomie und Universalität stehen. Also ein unbedingt transzendentes Sein könnte bloß eine absolute, nicht problematische Gegebenheit gelten, d. h. ein solches Irrationales, das nicht nur empirisch, sondern auch transzendental mit der Sphäre des Rationalen nicht zur Deckung kommen würde. Allein die Unendlichkeit und Universalität der objektiven Erkenntnis basiert auf der Voraussetzung, oder genauer auf dem Postulat einer schlechthin durchgehenden Rationalität allen Seins und aller Seinselemente. Der Inhalt des Begriffs einer absoluten Transzendenz oder Irrationalität reduziert sich daher letztlich auf die nackte Negation aller nur möglichen rationalen Bestimmungen, folglich auch allen Seins, aller Wirklichkeit, - kurz: er bezeichnet den logischen Ausdruck für das Nichtsein schlechthin, für das absolute Nichts. Das Transzendente als eine positive Realität denken - hieße, unter diesem Gesichtspunkt, ein Undenkbares denken, ein Etwas in eine rationale Begriffsform fassen zu wollen, das gerade die Aufhebung, Vernichtung aller Rationalität in sich schließt. Sehr bedeutsam ist in dieser Hinsicht die logische Evolution, welche der Begriff des Dinges ansich in der kritischen Philosophie durchlaufen hat. Ursprünglich faßte man das Ding-ansich als eine selbständige Realität, die außerhalb und unabhängig vom denkenden Bewußtsein existiert, zugleich aber doch dadurch, daß sie das erkennende Subjekt affiziert, die materiale Grundlage der Erkenntnis - die Empfindungen in ihm erzeugt. Die logische Unhaltbarkeit dieser Deutung des Dings ansich, (das einerseits als transzendentes Sein absolut irrational ist, andererseits aber doch in einer kausalen, d. h. rationalen Verbindung mit der Erscheinungswelt steht) haben bereits die nächsten Nachfolger KANTs (FICHTE, MAIMON, BECK) aufgedeckt. Alle weiteren Bemühungen des Kritizismus waren nun darauf gerichtet, die Lehre KANTs von diesem inneren Widerspruch zu befreien. Er sah sich daher genötigt, die Identität des Transzendenten und Irrationalen preiszugeben und den Realgrund des irrationalen Faktors in der Erkenntnis aus der Welt der Dinge-ansich in die Struktur des Bewußtseins selbst zu verlegen. So entwickelte sich allmählich jene Lehre, deren erste Ansätze sich schon bei KANT aufzeigen lasen, die Lehre von der doppelten Struktur des Bewußtseins, das sich aus zwei heterogenen Faktoren zusammensetzt: einem formal-rationalen und einem materiell-irrationalen. Die konsequente Durchführung des Immanenzprinzips, in welcher diese Zwei-Elemententheorie gipfel, bedeutet ohne Frage einen wesentlichen Fortschritt in der kritischen Erkenntnistheorie. - Ist es nun aber möglich, auf diesem Standpunkt stehen zu bleiben? Und genügt diese Lehre, um das Problem des Irrationalen seinem logischen Vollwert nach zu würdigen? Freilich, sofern das Bewußtsein, sowohl die formale, wie auch die materielle Seite der Erkenntnis umspannt, verknüpft es beide zu einer gewissen Einheit. Allein diese Einheit, wenn sie rein logisch und nicht psychologisch verstanden werden soll, bleibt rein äußerlich, sie steht in keinem inneren logischen Verhältnis zum Dualismus der Form und des Inhalts, sie vermag nicht ihre Synthese zu begründen und zu erklären. Denn solange die Zweiheit und Heterogenität der Erkenntniselemente als das logisch Ursprüngliche und daher auch Prävalierende [Vorrangige - wp] gegenüber ihrer Einheit angesehen wird, solange ist eine streng logische Fundierung und Begründung ihrer Synthese schlechthin ausgeschlossen und unmöglich; denn die Transzendenz der absoluten Irrationalität wird durch die Zwei-Elemententheorie wohl psychologisch, aber nicht logisch überwunden. Die Bewußtseinseinheit kann daher der logischen Analyse der objektiven Erkenntnis nicht als fester Ausgangspunkt dienen; diese Einheit ist ebenso problematisch, wie jede andere Form der Einheit. Prinzipielle, methodische Bedeutung vermag sie nur dann zu gewinnen, wenn es gelingt, ihre systematische Grundlage, d. h. den inneren funktionellen Zusammenhang ihrer konstitutiven Elemente, der Form und der Materie oder anders, des Rationalen und Irrationalen zu bestimmen. Mit anderen Worten, als systematische Wurzel des Bewußtseins ist die Einheit der ihm innewohnenden Gegensätze in Anspruch zu nehmen, ihre logische Korrelation, die ihre Identität und Nichtidentität in eins verknüpft und verkettet. Wir sehen also: in der Korrelativität des Rationalen und Irrationalen ist die Relativität (7) jedes einzelnen dieser Begriffe begründet. Nur unter dieser Bedingung ist ihre transzendentale Identität mit ihrer empirischen Gegensätzlichkeit vereinbar. Damit ist auch die streng logische, immanente Bedeutung des Ding-ansich-Begriffs festgelegt, welche unter einem kritisch-systematischen Gesichtspunkt die einzig mögliche und notwendig ist: Er kann nicht weiter eine transzendente Realität bleiben, vielmehr ist er zu einem Grenzbegriff umzustempeln, zu einer Idee einer in sich ruhenden Systemeinheit, welche die Entwicklung der empirischen Erkenntnis eben deshalb bedingt und determiniert, weil sie selbst unbedingt ist und keiner weiteren Determination bedarf. 6. Nun sind wir genügend vorbereitet, um zu den großen methodischen Kontroversen, welche die gesamte neuere Philosophie beherrschen, kritisch Stellung zu nehmen. Könnten doch unsere bisherigen Ausführungen dahin mißverstanden werden, daß man sie als Apologie [Rechtfertigung - wp] eines radikalen, bis an die äußersten Grenzen gesteigerten Rationalismus deutete. In der Tat, was sollten solche Behauptungen anderes besagen wollen, als die durchgehende Relativität des Irrationalen, seine ideale Identität mit der Sphäre des Rationalen? Ist das nicht bereits der erste, entscheidende Schritt zu einem Panlogismus, wie ihn die erste Ausgabe von FICHTEs Wissenschaftslehre [auswah2#fichte] oder HEGELs Logik proklamiert hat? Jedoch - wir betonen es nochmals - der idealen Identität des Rationalen und Irrationalen steht ihre empirische Gegensätzlichkeit gegenüber. Der Empirismus ist daher ein notwendiges Korrelat des Rationalismus. Nicht auf der Prävalenz [Vorrang - wp] des einen von diesen Aspekten, sondern auf ihrer unlöslichen, gegenseitigen Abhängigkeit und Korrelativität ruht ihre systematische Einheit. Bisher haben wir uns bemüht, die methodische Berechtigung des Rationalismus zu erweisen. Jetzt gilt es in Ergänzung der ersten die zweite Frage zu beantworten: Worin besteht der methodische Wert des Empirismus? Und wie kommt die Präsenz von irrationalen (empirischen) Faktoren in der Struktur der wissenschaftlichen Philosophie zum logischen Ausdruck? Als leitendes Prinzip der philosophischen Erkenntnis haben wir die systematische Einheit erkannt; sie steht daher im Zentrum unserer Betrachtung. Die vollendete systematische Einheit ist jedoch ein ewiges Ideal, das in der Erfahrung niemals einen völlig adäquaten Ausdruck findet, noch finden kann. Zwischen der empirischen Wissenschaft, die ihrem Wesen nach endlich, in ihren Grundlagen und Ergebnissen problematisch und beschränkt ist, einerseits und dem unendlichen, in sich beruhenden System der Philosophie andererseits bleibt ewig eine unübersteigbare Kluft bestehen. Dieses Nichtentsprechen der realen Seite der Erkenntnis und ihrer eigenen idealen Forderungen ist der sachliche Grund, weshalb die empirische Wissenschaft über lediglich negative Definitionen der Systemeinheit nicht hinauskommen kann. Das Unvollendetbleiben der Erkenntnis, das niemals zum Abschlußkommen ihrer Entwicklung - das sind die einzigen realen Merkmale der ewigen idealen Gültigkeit dieses letzten Grundprinzips. Allein wir erkannten auch, daß diesen negativen Begriffen ein durchaus positiver Sinn zugrunde liegt, daß sie die methodische Charakteristik der postulierten Rationalität höherer Ordnung zu vertreten haben. Dieser höheren Stufe der Rationalität, als Idee oder Aufgabe, entspricht nun als reale Gegebenheit die unendliche Fülle der ungelösten Probleme das unerschöpflich Irrationale und Problematische in der Erkenntnis. Dem endlichen Inbegriff der rationalen Formen und Methoden der positiven Erkenntnis steht also die unendliche irrationale Gegebenheit der Wirklichkeit gegenüber. Welches sind nun die methodischen Folgerungen, in denen sich die logische Bedeutung dieser Antithese entfaltet? Vor allem ist es natürlich die, daß die empirische Wissenschaft sich als unzugänglich erweist, die unübersehbare Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt zu erschöpfender, sie völlig durchdringender Determination zu bringen. Allein, die negativen Konsequenzen des Problematismus reichen noch weiter, denn auch die geringste methodische Selbstbesinnung zeigt es zur Evidenz, daß alle empirisch überhaupt verwirklichbare Systematik nicht imstande ist, den unendlichen Inbegriff aller Probleme in sich aufzunehmen. Es gibt Fälle - und diese Fälle sind unvermeidlich und unausbleiblich - wo die der Wissenschaft zur Disposition stehenden methodischen Mittel sogar für eine logisch fundierte Stellungnahme den von der Erfahrung aufgeworfenen Problemmassen gegenüber nicht ausreichen. Freilich, zur streng wissenschaftlichen Lösung eines Problems (die übrigens immer nur relativ bleibt) ist die Unterordnung desselben unter bestimmte methodische Prinzipien, die Eingliederung in höhere systematische Zusammenhänge und die Abgrenzung von den anstoßenden Problemgruppen die notwendige und unerläßliche Voraussetzung. Es fehlt jedoch viel daran, daß die Probleme ausnahmslos als logische Resultate aus der immanenten Entwicklung der rationalen Wissenschaft hervorgehen. In zahlreichen Fällen (und das trifft besonders auf dem Gebiet der konkreten Erscheinungen zu) ist die wissenschaftliche Methode darauf angewiesen, sie als ihr von außen gegebenes Material hinzunehmen und zur Formulierung zu bringen. Kurz: die problematische Gegebenheit löst sich nicht restlos in rationalen Kategorien auf, sondern behauptet bis zu einem gewissen Grad ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit (8). Hier liegt der Grund, warum nicht nur das Gebiet der irrationalen Gegebenheit durch die Sphäre des Rationalen umgrenzt und determiniert wird, sondern auch umgekehrt, die positiv-rationale Wissenschaft durch die problematische Gegebenheit bedingt ist. Die funktionelle Abhängigkeit dieser beiden Sphären ist nicht einseitig, sondern gegenseitig, korrelativ. Sofern aber der irrationalen Gegebenheit eine aktive, positive Rolle in der Entwicklung der objektiven Erkenntnis zugesprochen werden muß, so ist damit auch die methodische Rechtmäßigkeit des Empirismus erhärtet und begründet. Er ist das notwendige logische Korrelat zur Grundmethode der systematischen Philosophie - dem Rationalismus. So scheint unsere Untersuchung auf rein systematischem Weg die traditionelle erkenntnistheoretische Lehre zu bestätigen, welche die wissenschaftliche Erkenntnis auf zwei verschiedenartige Quellen zurückführt: die irrationale Gegebenheit (in der traditionellen Terminologie "Erfahrung") und die reine Rationalität (das Denken). Im objektiven Gehalt der Erkenntnis entspricht diesem Dualismus ihrer Quellen ihr doppelhafter rational-irrationaler (problematischer) Charakter. Hieraus erhellt sich bereits, worin die systematischen Mängel des historischen Rationalismus und Empirismus bestehen: Beide übersehen die Doppelheit im objektiven Bestand der Erkenntnis, beide lassen das Rational-Irrationale ihres Wesens außer Betracht. Der entscheidende Fehler des Rationalismus beruth nicht etwa darauf, daß er eine schlechthin lautere Rationalität der Erkenntnis fordert, sondern daß er den ihr innewohnenden irrationalen Faktor ignoriert. Dieser Fehler nötigt ihn, den Begriff des Rationalen zu verengen, d. h. die empirisch verwirklichte Stufe des Rationalen (die relativ und unvollkommen ist) mit jener idealen und unbedingten Rationalität zu identifizieren, die als allumfassendes systematisches Ganzes, die gesamte Sphäre der problematischen Gegebenheit überwindet und in sich aufsaugt. Der Grundmangel des Rationalismus wurzelt somit nicht sowohl in seiner Einseitigkeit, als vielmehr in seiner Inkonsequenz, in seiner empiristischen Befangenheit. Der Empirismus dagegen - sofern er sich überhaupt zu einem seiner Ziele und Tendenzen bewußten methodischen Standpunkt durchringt - tritt meistens als natürliche Reaktion gegen die Einseitigkeiten und Übergriffe des dogmatischen Rationalismus auf. Er schenkt lediglich der irrationalen Seite der Erkenntnis Beachtung und will daher, als einzige Quelle objektiver Gewißheit und Wahrheit, die problematische Gegebenheit der Erfahrung anerkennen. Originale selbständige konstitutive Prinzipien stehen ihm nicht zur Verfügung. Die Erkenntnis ist eben in ihrem innersten Kern rational, und der philosophische Empirismus kann schon allein aus diesem Grund niemals eines gewissen rationalistischen Einschlags entbehren. Er bleibt, so sehr er sich auch dagegen wehren mag, vom Rationalismus abhängig. Das verrät er vor allem schon dadurch, daß er ohne Entlehnungen rationaler Methoden und Forschungsweisen nicht auskommen kann, sobald er daran geht, das beobachtete und gesammelte faktische Material nach bestimmten Gesichtspunkten zu ordnen und zu sichten. Dann aber auch - durch die schroffe Gegenüberstellung des Irrational-erfahrungsmäßigen und des Logisch-rationalen. Als Widerspiel des Rationalismus, macht er sich eines analogen Fehlers schuldig, wie der letztere: Er verengt den Begriff des Irrationalen, in dem er ihn ausschließlich auf die empirische Begebenheit bezieht, und übersieht dabei das Irrationale und Problematische, das in der Struktur des Logisch-rationalen selbst enthalten ist. Ein konkretes Beispiel soll den Unterschied der hier charakterisierten philosophischen Richtungen illustrieren und erläutern. Zu welcher logischen Konzeption von der historischen Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis führt ein jeder von diesen Standpunkten? - Dem Empirismus gilt die geschichtliche Wirklichkeit als ein schlechthin irrationales Phänomen, als ein Werden und Wachsen, das einer rationalen Erklärung und Deutung unbedingt verschlossen ist. Der Rationalismus dagegen betrachtet den geschichtlichen Werdegang der Wissenschaft unter dem Aspekt eines einheitlichen logischen Grundschemas. Die Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Probleme - so etwa ließe sich der leitende Gedanke dieser Auffassung formulieren - hat sich aus einem Urproblem durch allmähliche Differenzierung und kontinuierlichen Fortschritt von einfacheren, elementareren zu immer komplizierteren, tiefer eindringenden Fragen entwickelt. Wollten wir uns von diesem Schema leiten lassen, so müßten wir daraus unvermeidlich die Folgerung ziehen, daß die Wissenszweige, welche sich komplexere Gebilde zum Vorwurf machen (z. B. die Biologie), erst dann entstehen konnten, als die ihnen zugrunde liegenden Elementardisziplinen (z. B. Physik, Chemie) schon einen gewissen Abschluß erreicht hatten, d. h. daß die zeitliche Folge sich vollkommen mit der logischen Folge decken muß (das Dogma von HEGELs Geschichtsphilosophie). Allein dieses abstrakte Schema ist unzulänglich; es vermag die schier unerschöpfliche Inhaltsfülle der historischen Wirklichkeit gar nicht zu umfassen und in sich zu begreifen. In gewissen Grenzen allerdings läßt sich im Werdegang der Erkenntnis eine logische Kontinuität und Rationalität verfolgen, aber eben nur in gewissen Grenzen. Jenseits dieser Grenzen herrscht - die Irrationalität. Die reale Entwicklung der Wissenschaft schreitet nicht lediglich in einer, sondern in einem ganzen System von Richtungslinien fort, die teilweise parallel verlaufen, teilweise aber auch divergieren und sich kreuzen. Wie wäre die Koexistenz von Erkenntnisgebieten sonst zu erklären, die weder historisch, noch sachlich-logisch in einem inneren, organischen Zusammenhang miteinander stehen? Solche Phänomene gehören vollauf dem Gebiet des Irrationalen an. Dieses Irrationale aber bedeutet keine letzte Schranke der objektiven Erkenntnis, sondern es ist vielmehr das ewige Symbol des unendlichen philosophischen Fortschritts und des stetig fortschreitenden Aufstiegs zu höheren Formen und Stufen der Rationalität. 7. Der grundlegende Teil unserer Aufgabe ist nunmehr erledigt. Die systematische Bedeutung des Rationalen und Irrationalen können wir jetzt als hinlänglich bestimmt und charakterisiert betrachten. Zum Schluß sollen noch einige Beispiele aus der Methodologie der Wissenschaften angeführt werden, welche die allgemeinen Ergebnisse unserer Untersuchung näher erläutern und zu bestätigen geeignet sind. Der Fortschritt der Erkenntnis vollzieht sich in zwei entgegengesetzten Grundrichtungen: die eine führt zu den allgemeinsten und letzten Prinzipien der Wissenschaft, die andere - zur konkreten Inhaltsfülle der Wirklichkeit. Diese Doppelheit der Entwicklungstendenzen durchdringt die logische Struktur aller Wissensgebiete ohne Ausnahme; sie ist ihnen allen gemeinsam. Was dagegen die besonderen Unterschiede der einzelnen Disziplinen betrifft, so werden sie durch die Problemstellung, die einer jeden von ihnen eigen ist, und den dadurch bedingten spezifischen Charakter, der von ihr angewandten Methoden und Verfahrensweisen bestimmt. Für jede einzelne Wissenschaft kann daher nur das als rational und logisch erklärbar gelten, was die ihr zuständige Gruppe von Gegenständen in sich beschließt. Der gesamte übrige Teil der Wirklichkeit, der jenseits ihres Grenzbereichs liegt, ist für sie - irrational. Allein dieser transzendenten Sphäre des Irrationalen, von der jede einzelne Disziplin umgeben ist, kommt nicht lediglich die negative Bedeutung einer absoluten Schranke zu, sondern sie erfüllt auch zugleich eine positive logische Funktion, die für das betreffende Erkenntnisgebiet von der größten methodischen Tragweite ist. Jede Wissenschaft stößt in ihrer immanenten Entwicklung unvermeidlich auf gewisse Grenzprobleme, deren Eigentümlichkeit darin besteht, daß in ihnen der innere, sachliche Kontext des Objekts dieser Wissenschaft mit der gesamten sie umgebenden Sphäre des Irrationalen zum Ausdruck kommt. Zu solchen Problemen gehören erstens all die konkreten Spezifikationen und Modfikationen der betreffenden Objektklasse, die zu ihrer rationalen Analyse und Erklärung die Anwendung anderer, neuer Methoden und Gesichtspunkte erfordern. Zweitens, die letzten Voraussetzungen und Begriffsbestimmungen jeder Einzelwissenschaft, die sie mit eigenen methodischen Mitteln schon einfach deshalb nicht zu begründen vermag, weil sie ihr selbst als notwendige Grundlage dienen. Diese Voraussetzungen sind daher irrational, denn ihre logische Rechtfertigung wird nur durch den Übergang in ein anderes Wissensgebiet, also durch den Übergang zu einer Rationalität anderer Ordnung ermöglicht. Vom Standpunkt der Chemie betrachtet, sind z. B. die physiologischen Erscheinungen irrational, sofern sie in ihrer spezifischen Eigentümlichkeit aus den chemischen Methoden und Prinzipien aus nicht völlig erklärbar sind. In demselben Sinn als irrational müssen unter dem Aspekt der Chemie auch alle die von ihr vorausgesetzten allgemeinen Sätze und Axiome gelten, die ihre logische Wurzel in allgemeineren, sie bedingenden Disziplinen haben (z. B. in der Mathematik, Physik usw.). Somit entspricht jeder besonderen Stufe des Rationalen, die von einer bestimmten Einzelwissenschaft verwirklicht wird, eine ganz bestimmte Stufe des Irrationalen, welche den systematischen Zusammenhang dieser Disziplin mit den angrenzenden Wissensgebieten zum logischen Ausdruck bringt: einerseits mit den komplexeren, konkreteren, andererseits - mit den allgemeineren, abstrakteren. Am Ende untersteht auch die höchste abschließende Stufe des Rationalen und Irrationalen schließlich der Philosophie. Allein die Philosophie vermag das Problem der Erkenntnis in seiner ganzen Weite und Tiefe zu stellen. Sie schließt den Kreis der wissenschaftlichen Disziplinen. Ihre Aufgabe ist es - die entgegengesetzten Momente der objektiven Erkenntnis zu einem harmonischen Ganzen zu vereinigen: die unendliche Mannigfaltigkeit der konkreten Wirklichkeit und die höchsten allumfassenden Prinzipien des reinen Gedankens. Das Irrationale, als rein philosophischer Begriff, ist nicht an die engen Grenzen gebunden, in welche es die positiven Wissenschaften einschließen, es ist überhaupt nicht an irgendwelche empirische oder zeitliche Schranken gebunden, sondern verharrt in einer ewigen, überzeitlichen Idealität, als die unerschöpfliche Problemfülle und Problemhaftigkeit, die den unendlichen und stetigen Fortschritt der objektiven Erkenntnis gewährleistet. Die logische Rechtmäßigkeit der historischen Entwicklung von Wissenschaft und Philosophie ruht ausschließlich auf diesem systematischen Idealbegriff des Irrationalen; seine methodische Bedeutung erstreckt sich daher auch auf die Einzelwissenschaften, sofern sie am Aufbau des Erkenntnissystems, als eines Ganzen, teilnehmen. Ein schlagendes Beispiel aus dem Gebiet der Mathematik haben wir bereits weiter oben angeführt: die Irrationalzahl. Hier enthält schon der Terminus selbst den Hinweis auf die Entstehung dieser neuen Zahlenart aus einer irrationalen Gegebenheit. - In der Chemie von MENDELEJEW war das Gebundensein gewisser chemischer Eigenschaften der einzelnen Elemente an ihr Atomgewich eine nackte Tatsache, die jeglicher rationalen Begründung entbehrte. Im periodischen System der Elemente entdeckte nun der geniale Forscher jene Rationalität höherer Ordnung, welche die Irrationalität dieser Gegebenheit dadurch überwand, daß sie die Vielheit der chemischen Elemente und ihrer Eigenschaften einer einheitlichen rationalen Gesetzmäßigkeit unterstellte. - Die gleiche Rolle hat die Evolutionstheorie auf dem Gebiet der Biologie gespielt. Auch sie hat die irrationale Mannigfaltigkeit der verschiedenen Gattungen und Arten von Lebewesen mit Hilfe des Prinzips der natürlichen Auslese und der Anpassung auf einen gemeinsamen rationalen Nenner gebracht. Die biologische Evolution bildet jedoch nur einen Spezialfall des allgemein-philosophischen Prinzips der Entwicklung, das zuerst von KANT im Begriff der Idee formuliert worden war. Die Einführung dieses Begriffs in das methodische Inventar der Wissenschaft hat vor allem die Struktur der historischen Disziplinen, welche auf die Erforschung der komplexen Gebilde der kulturellen Wirklichkeit gerichtet sind, entscheidend beeinflußt und hat den Anstoß zur Entdeckung der "historischen Perspektive" gegeben, die in der Irrationalität des zeitlichen Geschehens und Folgens einen logischen Sinn, eine rationale Grundlage enthüllte. Doch die systematische Bedeutung des Entwicklungsprinzips erstreckt sich auch noch weiter auf die rein philosophischen Wissensgebiete, welche die ewig unwandelbaren Grundlegungen des Seins (Logik) oder die höchsten Idealwerte des Lebens (Ethik) sich zum Vorwurf machen. Das heißt natürlich nicht, daß Logik und Ethik zu historischen Disziplinen gestempelt und ihre überzeitlichen Inhalte zu flüchtigen Erscheinungen des historischen Werdens depotenziert werden sollen. Nein, die Idee, als rationales Prinzip höherer Ordnung, versöhnt und vereinigt die in ihrer starren Unbeweglichkeit irrationalen Gegensätze des Unvergänglichen und Vergänglichen, des Ewigen und Zeitlichen im Begriff der unendlichen Entwicklung, der stetigen und in ihrer Stetigkeit über alle Abschlüsse und Grenzen hinausgehenden Evolution. Es ist kein Zufall, daß die ersten Versuche auf dem Fundament des Entwicklungsprinzips eine Philosophie der Kultur aufzubauen, von den Philosophen der Romantik gemacht worden sind, die ihren methodischen Ausgang, bewußt oder unbewußt, von der kantischen Idee genommen haben. 8. In den vorhergehenden Darlegungen sind wir ausschließlich bei der Betrachtung der theoretischen Bedeutung des Irrationalen stehen geblieben und haben die erkenntnistheoretischen Funktionen dieses Begriffs zum Gegenstand unserer Untersuchung gemacht. Das Interesse systematischer Vollständigkeit erfordert es aber, daß wir auch noch die methodische Rolle des Irrationalen in den übrigen Teilen des Systems der Philosophie kurz skizzieren. Soll die Ethik überhaupt ein selbstständiges Gebiet der philosophischen Spekulation bilden und das Problem des Sittlichen zu jenen ewigen Problem kat exochen [schlechthin - wp] gehören, die aus der Urgegensätzlichkeit des Endlichen und Unendlichen herauswachsen, so sind wir schon a priori zu der Annahme berechtigt, daß der Begriff des Irrationalen in der Methodologie der Ethik eine nicht weniger bedeutsame Stellung einnimmt, als in der Logik. Seit KANT vertritt die Idee vornehmlich das ethische Prinzip. Der empirisch nicht zu überwindende Gegensatz zwischen Sein (der Welt des R ealen) und dem Sollen (dem moralischen Gesetz) - das ist der Ausgangspunkt, der Eckstein seiner imperativen Ethik. Allein für eine methodisch exakte und erschöpfende Abgrenzung der Sphäre des Sittlichen reicht diese Charakteristik noch nicht aus, und wir finden uns daher vor die Frage gestellt: welches sind denn die eigentümlich-ethischen Formen, in denen diese Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und sittlichem Ideal zum Ausdruck kommt? Alle ethischen Lehren bewegen sich im Wesentlichen zwischen zwei entgegengesetzten Polen: der Individual- und der Sozialethik; sie alle stoßen unvermeidlich auf das Dilemma: wer ist der eigentliche Träger der Sittlichkeit? Das Individuum oder ein überindividuelles, ein Allheitsprinzip (Gesellschaft, Staat)? und beantworten diese Frage in der einen oder anderen Richtung, je nachdem, ob sie das individuale oder das soziale Moment als Grundlage des Sittlichen anerkennen. Allein, allen diesen ethischen Konzeptionen gegenüber ist von einem kritisch-systematischen Standpunkt aus, die Frage aufzuwerfen: ob denn die Problemstellung, die sie zum Ausgangspunkt nehmen, berechtigt und einwandfrei ist? ob es überhaupt zulässig wäre die Lösung des ethischen Problems in der Richtung einer einseitigen Präponderanz [Vorrangigkeit - wp] des einen oder des anderen Faktors zu suchen? und ob nicht vielleicht gerade die Gegensätzlichkeit, der Widerspruch des individualen und sozialen Moments die notwendige Bedingung für die Wirklichkeit und Wirksamkeit des ethischen Sollens wäre? - Ist doch das ethische Ideal unendlich und verwirklicht sich in der unbegrenzenten Steigerung des moralischen Bewußtseins, in der stetig fortschreitenden Potenzierung der ethischen Werte und Normen, in einem unermüdlichen Streben und Ringen nach neuen, höheren Formen des sittlichen Lebens und sittlichen Handelns. Es ist also der Kampf entgegengesetzter sittlicher Kräfte, in dem sich das ethische Ideal verwirklicht, und dieser Gegensatz der Kräfte - was sollte er anderes sein, als der Antagonismus des Sozialen und Individualen in der Moral? In der unvergleichlichen Eigenart und dem Eigenwert des Individuums liegt die Gewähr für die Ewigkeit des sittlichen Fortschritts. In den Tiefen seines sittlichen Bewußtseins birgt es einen nie versiegenden Born, schöpferischer, Werte schaffender Kräfte, vor deren mächtigem Ansturm alle den Menschengeist einengenden Schranken und Konventionen fallen müssen, so fest sie auch in den Traditionen und Vorurteilen der Vergangenheit wurzeln mögen. Das Individuum stellt seine Heautonomie [Selbstgesetzgebung - wp] dem Staat, der Gesellschaft entgegen, nicht etwa um einer subjektiven Anarchie und Willkür willen, welche all die Mensch und Mensch einigenden sozialen Banden zerreißen würde, sondern im Namen neuer, vollkommenerer Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens. Es leugnet Staat und Gesellschaft um des Prinzips der Gesellschaftlichkeit, der Staatlichkeit willen, es zerbricht die alten Werttafeln im Namen der ewigen Idee des Guten, nach der seine Seele rastlos sucht und forscht, auch wenn sie ihr noch fern ist und sie noch nicht erkannt hat. Das höchste ethische Ideal - die volle Verschmelzung und harmonische Vereinigung des Individual- und des Allheitsprinzips bleibt also unterschütterlich und unveränderlich bestehen. Aber die reale Bedeutung des sittlichen Problems ruht auf dem lebendigen Widerspruch dieser beiden Momente, auf der Irrationalität ihres Wechselverhältnisses in der moralischen Wirklichkeit. Am allerwenigsten vielleicht wird die Bedeutung des Irrationalen in der Sphäre des ästhetischen Seins bestritten; und das hat seinen guten sachlichen Grund, ist doch das ästhetische Interesse durchaus auf das Konkrete, Individuelle gerichtet, d. h. gerade auf das Problem, an dem der irrationale Unterbau der Erkenntnis am deutlichsten zum Vorschein kommt. Dem ästhetischen Objekt ist jedoch Irrationalität in einem noch tieferen Sinn eigentümlich. - Im Kunstwerk stellt sich die Unendlichkeit der Idee in der Endlichkeit der sinnlichen Form dar - so lehrt die Ästhetik SCHELLINGs, indem sie kantische Motive weiter ausbaut und entwickelt. Was bedeutet aber diese Darstellung, diese Verkörperung? wie vermag die Kunst das zu erreichen, was der Wissenschaft ewig verschlossen bleibt? Diesen gewaltigen Vorzug hat die Kunst vor allem ihrem gesteigert irrationalen Charakter zu verdanken. Das wissenschaftliche Bewußtsein vermag an der Ideenwelt nur durch die Vermittlung einer abstrahierenden Logisierung eine Teilhabe zu gewinnen, d. h. lediglich dadurch, daß es die konkrete Idee in einen abstrakten Begriff umwandelt. Das ästhetische Bewußtsein bedarf dieser Vermittlung nicht. Es bewegt sich ausschließlich innerhalb der Sphäre des Irrationalen und nimmt die Ideen unmittelbar in ihrer konkreten Inhaltsfülle und Unendlichkeit in sich auf. Daher ist auch der symbolische Charakter der Kunst nicht sowohl durch die Synthese des Endlichen und Unendlichen bedingt, als vielmehr durch die harmonische Vereinigung zweier verschiedener Formen oder Stufen der unendlichen Irrationalität (9): einer höheren, die Idee enthüllenden und entfaltenden und einer niederen, in der sich die sinnliche Form, die konkrete Gestaltung verwirklicht. Auf dem Gebiet der Religionsphilosophie schließlich gibt das Gottesproblem ein prägnantes Beispiel für die systematische Bedeutung des Irrationalbegriffs ab. Ist Gott der Urquell allen Seins und Werdens, wie ist dann sein Wesen, seine Natur für den denkenden Geist zu fassen und zu begreifen? Allemal, wenn die spekulative Theologie sich über den logischen Sinn dieser Frage klar geworden ist, hat sie sich - und das ist höchst bedeutsam - vorzüglich auf rein negative Definitionen des Gottesbegriffes beschränkt. Gott ist unendlich, er ist unvergleichlich mit Allem, was endlicher Natur ist. Die menschliche Vernunft aber ist an gewisse Schranken und Grenzen gebunden und alle Begriffe, die sie zu konstruieren imstande ist, sind nur auf das Gebiet der endlichen Dinge anwendbar. Um in das Geheimnis der göttlichen Wesenheit einzudringen und sich zu versenken, verfügt sie daher nur über das eine Mittel: alles, was endlich und beschränkt ist zu negieren, d. h. aber alle ihr zugänglichen rationalen Bestimmungen als aufgehoben zu setzen. Die Wesenheit Gottes ist für die menschliche Vernunft irrational. Und dennoch ist es gerade diese Irrationalität, in der sich der Ursprung und Anfang aller Rationalität enthüllt, es ist die Negation des endlichen Seins, welche den Fortschritt zu der schlechthin höchsten Stufe der Realität und der Vollkommenheit vermittelt und verwirklicht. Zum Schluß sei noch eine Bemerkung gestattet. - An die Spitze der Erkenntnistheorie haben wir den Problembegriff gestellt und damit dem Entwicklungsprinzip in ihre Struktur Eingang verschafft. Ist das nicht ein offenkundiger Psychologismus? Heißt das nicht psychologische Schemata rein logischen Begriffsrelationen unterzuschieben? - So schwerwiegend dieser Einwand auch erscheinen mag, so geht er doch von einer Annahme aus, die selbst erst der Begründung bedarf. Was soll uns in der Tat dazu verpflichten, den Entwicklungsbegriff auf erkenntnistheoretischem Gebiet ausschließlich als psychologische und nicht auch als logische Kategorie gelten zu lassen? Unsere Untersuchung hat uns gerade zum entgegengesetzten Ergebnis geführt, daß nämlich die kontinuierliche Evolution aller konstitutiven Elemente der Erkenntnis die notwendige Bedingung der Möglichkeit eines absoluten, in sich geschlossenen Systems der Philosophie ist. Ist dieses Ergebnis richtig, so genügt schon allein das, um dem Evolutionsbegriff eine streng logische transzendentale Geltung zu vindizieren [zuzusprechen - wp]. Das Herausheben der Logik (Erkenntnistheorie) aus dem allgemeinen Entwicklungsprozeß, dem alle positiven Wissenschaften unterworfen sind, zieht unvermeidlich einen unüberwindlichen und in diesem Sinn schlechthin irrationalen Dualismus des formalen und des materialen Moments in der Erkenntnis nach sich, oder anders, in mehr ontologischer Terminologie gesprochen: einen Dualismus des starren unbeweglichen Seins der Eleaten und des schlechthin veränderlichen, fließenden Werdens des HERAKLIT. Zwischen diesen absoluten, unvermittelten Gegensätzen kann es keine Synthese, keinen einigenden rationalen Zusammenhang geben. Wenn aber zwischen der logischen und der psychologischen Entwicklung der Erkenntnis ein gewisser Parallelismus besteht, so ist damit noch keineswegs die Abhängigkeit der Logik von der Psychologie erwiesen. Das Verhältnis dieser beiden Disziplinen ist vielmehr gerade das umgekehrte: die logische Entwicklung liegt der psychologischen zugrunde. Die Möglichkeit aber der logischen Entwicklung wurzelt im sachlichen Gehalt der objektiven Erkenntnis selbst, in ihrer problematischen Natur, in ihrer rational-irrationalen Wesenheit. ![]() LITERATUR - Wassilij Sesemann, Das Rationale und das Irrationale im System der Philosophie, Logos, Bd. 2, Tübingen 1911
7) Die Relativität des Begriffs des Rationalen und Irrationalen zeigt sich vor allem in der Umkehrbarkeit ihres Verhältnisses: Vom Standpnkt der idealen, vollendeten Irrationalität ist die empirische, unvollendete Irrationalität - irrational. Vom Standpunkt der letzteren dagegen - die erstere. 8) Hier ist wohl der Punkt, wo die systematische Einseitigkeit des radikalen Methodologismus zu fassen ist. Er übersieht die methodische Selbständigkeit der Gegebenheitssphäre (der Irrationalitätssphäre). Für ihn existiert nur eine unendliche Aufgabe, aber keine unendliche Gegebenheit. 9) Aus der Irrationalität der ästhetischen Idee erklärt es sich, warum der Sinn eines Kunstwerks, sein Gehalt an Gefühlswerten, Stimmungen, inneren Spannungen und Bewegungen durch abstrakte, rationale Begriffe niemals ausgeschöpft werden kann. |