ra-2ra-1 E. Dubois-ReymondMainländerM. VerwornLeonard Nelson    
 
ROBERT HAMERLING
Die Atomistik des Willens
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"Es soll ja nicht geleugnet werden, daß der Verstand in der Tat Synthesen mancher Art vollzieht, die schon in die erste Wahrnehmung und Vorstellung eines Gegenstandes mithineinspielen, daß er Wahrnehmungen und Empfindungen ordnet, vergleicht, aufeinander bezieht, in Systeme bringt usw. Aber die ganze Frage bekommt eine durchaus andere, weitaus ernstere Gestalt dadurch, daß nach  Kants  Lehre die Anschauungsweisen und Urteile des Verstandes, wie sie namentlich in den Kategorien zum Ausdruck kommen, nichts weiter sein sollen als selbsterzeugte Formen und Anschauungsweisen des Intellekts, welchen  außerhalb  desselben, weder in den Empfindungen, noch in den vorausgesetzten Ursachen der letzteren,  keine Wirklichkeit entspricht.  Mit anderen Worten, daß der Verstand sich zu dem Urteil, etwas sei einfach oder vielfach, möglich oder wirklich, daß es Ursache oder Wirkung sei, daß es überhaupt da ist oder nicht - denn  Kant  setzt Dasein und Nichtsein ausdrücklich unter die Kategorien - nicht durch die Beschaffenheit der Empfindung und Wahrnehmung bestimmen läßt, nicht sie aus diesen schöpft und ans Licht zieht als etwas Objektives, sondern daß sie so durchaus  subjektiv  sind wie Geruch und Geschmack, Farben- und Tonempfindung auf dem Gebiet der Sinnlichkeit."

"Wo die Überzeugung von der rein subjektiven Natur der Kategorien des menschlichen Denkens Raum gewinnt, hat alles menschliche Erkennen und Wissen nur mehr ein psychologisches Interesse."


Erstes Buch
Theorie der Erkenntnis
[Fortsetzung 1]

Das "Apriori"

Die Frage des Sinnenscheins wäre sonach im Einklang mit den Ergebnissen der Philosophie sowohl als auch der Naturwissenschaft in, wie ich hoffe, klarer, einleuchtender Weise erörtert.

Aber die philosophische Spekulation, mit der ich bis zu diesem Punkt den Pfad geteilt habe, ist noch viel weiter gegangen in der Verweisung menschlicher Anschauungsweisen auf das Gebiet des subjektiven Scheins. Sie hat Wege eingeschlagen, auf welche ich ihr nicht folgen kann. Geleitet wurde sie dabei von der Autorität keines Geringeren als des berühmten Weisen von Königsberg, eine Autorität, deren Gewicht in unseren Tagen neu befestigt wurde durch den Neukantianismus, die gegenwärtig herrschende philosophische Schule in Deutschland. Auf diese Autorität hin wurden und werden nicht bloß der eigentliche Sinnenschein, sondern auch die  sämtlichen Kategorien des menschlichen Denkens  als etwas rein Subjektives, nur in der eigentümlichen Natur des menschlichen Denkens Begründetes betrachtet.

Indem die Philosophie diesen Standpunkt durch die bekannte "Rückkehr zu Kant" erneuerte, merkte sie sehr wenig, da sie sich zu Ende des vorigen Jahrhunderts zuerst auf denselben stellte, daß von ihr selbst der Grund unterhöhlt ist, auf welchem eine gesunde und fruchtbare Spekulation fußen könnte.

Indessen hätten KANT und die Kantianer sich mit der Aufzeigung solcher, zum Teil sehr harmloser "Synthesen" begnügt, so hätte man ihnen dies wohl gönnen dürfen. Es soll ja nicht geleugnet werden, daß der Verstand in der Tat Synthesen mancher Art vollzieht, die schon in die erste Wahrnehmung und Vorstellung eines Gegenstandes mithineinspielen, daß er Wahrnehmungen und Empfindungen ordnet, vergleicht, aufeinander bezieht, in Systeme bringt usw. Aber die ganze Frage bekommt eine durchaus andere, weitaus ernstere Gestalt dadurch, daß nach KANTs Lehre die Anschauungsweisen und Urteile des Verstandes, wie sie namentlich in den Kategorien zum Ausdruck kommen, daß z. B. Einheit und Vielheit, Möglichkeit und Wirklichkeit, Kausalität, Bejahung und Verneinung, ja Dasein und Nichtsein selbst, nichts weiter sein sollen als selbsterzeugte Formen und Anschauungsweisen des Intellekts, welchen  außerhalb  desselben, weder in den Empfindungen, noch in den vorausgesetzten Ursachen der letzteren,  keine Wirklichkeit entspricht.  Mit anderen Worten, daß der Verstand sich zu dem Urteil, etwas sei einfach oder vielfach, möglich oder wirklich, daß es Ursache oder Wirkung sei, daß es überhaupt da ist oder nicht -denn KANT setzt Dasein und Nichtsein ausdrücklich unter die Kategorien - nicht durch die Beschaffenheit der Empfindung und Wahrnehmung bestimmen läßt, nicht sie aus diesen schöpft und ans Licht zieht als etwas Objektives, sondern daß sie so durchaus  subjektiv  sind wie Geruch und Geschmack, Farben- und Tonempfindung auf dem Gebiet der Sinnlichkeit.

Wenn die Kantianer behaupten, daß nur das "Apriori" uns befähigt, die Empfindungen zu geordneten, voneinander abgegrenzten Vorstellungen zu verbinden, so müssen sie annehmen, daß die  Tiere  im Besitz  desselben,  geistig schöpferischen und autonomen Apriori sind. Es ist doch klar, daß ein Hund nicht ein bloßes Chaos von Empfindungen in seinem Kopf beherbert, sondern Menschen und Dinge wohl unterscheidet, also wohlgeordnete und wohlabgegrenzte Vorstellungen, und nicht bloß von der Gestalt, sondern auch von den Charaktereigenschaften seines Herrn ganz richtige Begriffe hat. Und nicht minder klar ist, daß er Einheit und Vielheit unterscheidet, daß er Gradunterschiede kennt, daß er Ursache und Wirkung zu verknüpfen versteht und zum Beispiel sehr wohl weiß,  warum  er geprügelt wird. Es sind ihm also die  Kategorien  nicht fremd, welche KANT als Apriori des menschlichen Denkens bezeichnet.

"Daß wir ein Blaues oder ein Rundes wahrnehmen", sagt der Kantianer LASSWITZ, "das ist Anschauung der Sinne. Aber darin liegt nichts davon, daß das Blaue zugleich ein Rundes ist. Erst durch die selbsttätige Synthese des Verstandes kommt das Urteil zustande: Dieses Blaue ist rund." Mit diesem Ausspruch sehen wir das Charakteristische der ganzen kantischen Anschauungsweise auf den Gipfel seiner Deutlichkeit gelangt. Also wir sehen ein Blaues: genau an derselben Stelle des Raumes, den das Blaue einnimmt, sehen wir ein Rundes. Aber daß dieses Runde blau, und dieses Blaue rund ist, sehen wir nicht. Dazu brauchen wir ein besonderes, geheimnisvolles Vermögen, das - noch dazu ganz aus sich selbst heraus - die Vorstellung dieser beiden Eigenschaften  vereinigt! -

Was für ein blöder Junge, der nicht bis fünf zählen kann, ist doch dieser kantische "Sinn"! Anderer Meinung war ARISTOTELES, welcher sagte: "Auch der Sinn ist schon eine Art von Vernunft." Philosophischer als die Philosophen zeigt sich ferner in diesem Punkt die Sprache, indem sie den Ausdruck "Sinn" nicht bloß für die Sphäre der Anschauung und Wahrnehmung, sondern auch für die des Denkens und Erkennens in Anspruch nimmt, von "Tiefsinn" redet usw.

Der Rückgang auf KANT hätte in einer Zeit, als die deutsche Spekulation in ein Spiel mit leeren Wort- und Gedankenschemen auszuarten drohte, von großem Nutzen sein können, da der Kritizismus uns wieder auf die großen natürlichen Probleme der Erkenntnistheorie zurückführte. Aber wenn wir auf KANT nur zurückgegangen sind, um einen Idealismus aus ihm zu holen, der schlimmer ist als derjenige, den wir eben überwunden zu haben glaubten, so hat sich dieser Rückgang schlecht gelohnt. Der Neukantianismus ließ das Einzige, was dem kantischen System einen realistischen Halt gab, die Annahme ansich seiender "Ursachen der Erscheinungen" fallen und verrante sich dafür in den hyperidealistischen Auswuchs der kantischen Lehre, der mit dem Geist des modernen Denkens in grellem Widerspruch steht: das leidige  Apriori.  Wir haben es jetzt nötig, von KANT auf LOCKE zurückzugehen, und wenn es, nach meiner festen Überzeugung, nunmehr an der Zeit ist, das kantische  a priori  entschieden zu bekämpfen, so wird man, auf LOCKE gestützt, den Vorwurf der Anmaßung bei der Widerlegung KANTs weniger zu scheuen haben.

Während die Anhänger KANTs sich zu der Behauptung versteigen, der Geltungswert des menschlichen Wissen hänge vom Apriori ab (COHEN, Kants Theorie der Erfahrung, zweite Auflage, Seite 75-76), ist umgekehrt geltend zu machen, daß von dem Augenblick an, wo die Überzeugung von der rein subjektiven Natur der Kategorien des menschlichen Denkens Raum gewinnt, alles menschliche Erkennen und Wissen nur mehr ein psychologisches Interesse hat.

- Daß, wie der Kantianismus will, statt des sinnlich wahrnehmbaren, empfindenden, vorstellenden Vermögens im Menschen, das sich weiterhin zum vergleichenden, beziehenden, trennenden Denken, mit einem Wort zur Reflexion entwickelt, ein ganz absonderliches, spontanes, nur seinem eigenen Gesetz folgendes, geistig schöpferisches Vermögen Platz greifen soll, welches den natürlichen Zusammenhang der Einzelempfindungen nicht etwa bloß entdeckt und feststellt, sondern aus Eigenem  schafft,  so daß sie nirgends real sind, als in ihm selbst - diese Lehre bringt durchaus ein fremdes, mystisches Element in den Kreis des menschlichen Organismus. Daß sie in unserer, am Begriff der naturgemäßen  Entwicklung  festhaltenden Gegenwart noch immer so viele Anhänger findet, ist unbegreiflich. Praktisch zwar läßt die Naturforschung die kantische Doktrin abseits liegen und verfolgt ruhig ihr Ziel, den geistigen Tätigkeiten, sowie z. B. auch der Raum- und Zeitanschauung, auf dem einzig möglichen, dem psychologisch-physiologischen Weg nachzuspüren; aber daß es noch immer zumindest zahlreiche  Philosophen  gibt, welche an der unseligen Verirrung des kantischen Apriori kranken, ja welche dabei noch gar als Kämpen der modernen Naturprinzipien, als Darwinisten und Positivisten gelten wollen, erregt Befremden.

Muß und kann es uns doch genügen, ein einheitliches Lebens-, Empfindungs- und Intellektualprinzip innerhalb der sogenannten Materie vorauszusetzen und aus diesem alles abzuleiten. Mehrere ganz voneinander gesonderte und verschiedene Prinzipien dieser Art anzunehmen, widerstreitet aller gesunden Naturanschauung. Wenn KANT selbst einmal sagte, ganz unmöglich sei es am Ende nicht, daß "Sinnlichkeit" und "Verstand" aus seiner gemeinsamen Wurzel entspringen, so erleuchtete ein Blitz der Ahnung sein Gehirn. Aber leider ohne Einfluß auf sein System und eben nur als ein Blitz, welcher erst im Monismus unserer Tage zur Hellen, dauernden Leuchte der unabhängigen Wissenschaft geworden ist.

KANT hätte ohne Zweifel besser daran getan, statt für jede Verrichtung des Intellekts eine besondere Naturanlage anzunehmen, das Wesen des Intellekts ein für allemal darin anzuerkennen, daß derselbe auf jede seiner Tätigkeiten und das Ergebnis derselben immer von neuem  reflektiert  und sich dadurch zu immer höheren Standpunkten der Objektivierung und der  Verallgemeinerung  des Besonderen, Einzelnen erhebt. So entsteht ihm zar nicht die Reihe selbsteigener Schöpfungen, welche KANT ihm zuschreibt, aber die fließende Folge seiner  wirklichen  Tätigkeiten von der niedrigsten, der Aufnahme einer Empfindung ins denkende Bewußtsein, bis zu jener höchsten, welche KANT bei der "Ausmessung" des intellektuellen Gebietes leider vergessen hat zu erörtern und zu erklären. Von allen geistigen Vermögen spricht er in seiem Werk; nur nicht von demjenigen, welches ihn befähigte, sich dieses gesamte geistige Tun objektiv zu machen und die "Kritik der reinen Vernunft" zu schreiben.

Welches Menschen tieferer Sinn könnte sich der Ahnung entschlagen, daß wir in der Natur und ihren Gesetzen die Gesetze des geistigen Seins und Lebens wiederfinden, daß das geistige Gepräge auf dem Antlitz des Stofflichen und Sinnfälligen eine geheimnisvolle Einheit andeutet, welche Natur und Geist verknüpft. Diesem geheimnisvollen Band aber leiht der Kantianismus nur einen plumpen und unzutreffenden Ausdruck, indem er all die gemeinsamen Gesetze und Normen des geistigen wie des kreatürlichen Lebens zu einem bloß selbsterzeugten Wahn des Verstandes macht. Die Gesetze des Denkens entwickeln und dabei ausdrücklich jeden Bezug derselben auf die Gesetze des Seins leugnen, zu behaupten, daß Kausalität und Zweck und Notwendigkeit und Freiheit, Einheit und Vielheit, Dasein und Nichtsein selbst, mit  allen  Kategorien des menschlichen Denkens nur ein allen gemeinsamer Schein und Betrug ist, welchen der Verstand dem von der Sinneswahrnehmung gelieferten Stoff "überzieht",  ohne sich durch irgendeine Beschaffenheit der Wahrnehmung selbst hierzu bestimmen zu lassen - das heißt nicht das Band zwischen Geist und Natur enger weben, sondern es zerreißen, und eine ewige Kluft aufrichten zwischen den beiden. Denken und Sein erscheinen so für immer gesondert, dieses als ein Schatten, ein Nichts, jenes als ein leeres Spiel, während sie in gleichwertiger Vereinigung die Träger eines wesenhaften, einheitlichen Seins und Lebens bilden. Wiedergeboren ist die Natur aus dem Geist, aber nicht aus dem Geiste geboren. Es ist ja wahr, daß die Welt ein Sinnenschein ist und zum Teil vielleicht auch ein Gedankentrug. Aber es ist nicht wahr in einem brüsken, das rechte Maß weit überschreitenden Sinn des Kantianismus, namentlich des neuesten. Es ist unwahr, daß sie ohne alle Wahrheit ist, ohne alle über das bloße Denken hinausreichende Wirklichkeit, und daß keine höheren Gesetze als die von Schein und Trug in ihr zum Ausdruck kommen. Im Gegenteil: die Gesetze des zeitlichen, endlichen Seins und Lebens sind und bleiben Zeichen, Symbole des ewigen, unendlichen.

Zieht man den Fleiß und den Scharfsinn in Betracht, den vor allem der treffliche ALOIS RIEHL in seinem umfangreichen Werk über den "Kritizismus" daran gewendet hat, das kantische Lehrgebäude, insbesondere das Apriori, in seinem vorteilhaftesten Licht darzustellen, so kann man nur mit Bedauern so viel Arbeit an ein Gedankensystem gewendet sehen, das im besten Fall höchst gekünstelt, geschraubt, zweitdeutig und unklar ist und bleibt, an dessen Stelle wir längst angefangen haben die einfache Wahrheit zu setzen, und das den Fortschritten der Wissenschaft in keiner Weise mehr entspricht.

Seit es eine Philosophie gibt, ist kein Angriff auf eine philosophische Lehrmeinung je anders erwidert und zu widerlegen versucht worden, als durch den Vorwurf eines angeblichen Mißverständnisses. So wird man auch mich bei meinem Angriff auf das Apriori zumindest den Laien gegenüber - denn die Fachmänner wissen wie sehr ich im Grunde recht habe, wenn sie es auch nicht eingestehen - durch die Anklage auf "Mißverständnis" des Kredits zu berauben suchen. Alle Philosophen sprechen heutzutage gern - wir leben ja in einer realistischen Zeit - vom "Realismus" ihrer Meister und ihrem eigenen. Dabei kommen hernach die merkwürdigen Definitionen von "Realität" und "Realismus" zum Vorschein. Zum Beispiel: "Die Realität eines Gegenstandes in der Vorstellung, im Denken ist ja auch schon Realität; was bedarf es für uns noch einer anderen?" - Aber ich verharre auf meinem Standpunkt: Realist ist mir einzig derjenige, welcher die Existenz von selbständigen Wesenheiten, von Wesenheiten ansich hinter den Erscheinungen annimmt; jede andere Art von angeblicher "Objektivität", "Wahrheit" und "Realität" gilt mir als leerer Trugbegriff. Ich weiß, daß mir in diesem Punkt alle unbefangen Denkenden zur Seite stehen, die sich ihre Unabhängigkeit von einem philosophischen System bewahrt haben. Ich kenne sie aus dem Grund, die Sophistereien, mit welchen ein krasser Idealismus den Schein des Realismus erkünstelt; aber sie flößen mir nicht die geringste Achtung ein. Ich kenne auch all die Künsteleien, womit man das Apriori KANTs zu verteidigen und zu beschönigen sucht. Ich weiß, wieviel Aufhebens noch immer davon gemacht wird, daß KANT zuerst wieder die Philosophie auf einen realen Boden gestellt haben soll, weil der die "Erfahrung" zu ihrem Prinzip machte. Der älteren Metaphysik gegenüber hatte KANT manch wirkliches Verdienst; aber welche Bewandtnis es mit dem "realen Boden der Erfahrung" bei KANT hat, kann nur  der  beurteilen, der weiß, was KANT unter "Erfahrung verstand. Man kann den Laien auch mit den allerschönsten, höchst realistisch klingenden Zitaten aus KANT in Erstaunen versetzen; aber ich bitte ihn, zu glauben, daß man jedem dieser Zitate hundert andere gegenüber anführen kann, die ganz klingen und das Gegenteil besagen.

Ich mache diese ganze Bemerkung hier ein für allemal. Mögen diejenigen, welche meinem Werk Beachtung schenken, auch bezüglich des weiterhin noch Darzulegenden sich bei den Einwürfen der Gegner an das Gesagte zu erinnern.

Worauf es mir bei der Ankämpfung gegen den Kantianismus ankommt, beruth einzig darauf, daß der Kantianismus die Kategorien als selbsterzeugte Anschauungsformen des Verstandes faßt, während nach meiner Überzeugung der Verstand dieselben  nicht  selbst erzeugt, sondern durch Reflexion, beziehendes und vergleichendes Denken, aus dem Material der Sinnesanschauung,  abstrahiert Alles andere ist mir hier Nebensache.

- KANT hat zwar die Herrschaft der angeborenen  Ideen  gestürzt, dafür aber die eingeborenen Begriffsformen und Kategorien auf den Thron gesetzt und den reinen Verstand zum allmächtigen Zauberer gemacht, der nach lauter  ihm  speziell eigenen, in ihm allein vorhandenen Schablonen der Welt ihre Gestalt gibt. Diese Überschätzung der reinen Verstandesfunktion gegenüber der Anschauung beherrscht noch immer die Geister auf philosophischem Gebiet allzusehr. Anschauungsformen sind uns allerdings angeboren: aber sie sind nicht im reinen Verstand begründet, sondern in unserer physiologisch-psychologischen Organisation,  und bleiben bestimmbar durch die Erscheinungen.  Die Produkte der Verstandesfunktion sind nur summierte, abbreviierte, auf tautologische Ausdrucksformel gebrachte Anschauungen, und auch die  Relationen  der Dinge sind, trotz aller gegenteiligen Behauptungen, so gut in der Anschauung gegeben, wie die Dinge selbst. Auch vereint der Verstand nichts eigenmächtig, was nicht schon in der Anschauung vereinigt ist. Zeigt mir die Anschauung etwas Schweres, etwas Hartes, etwas Gelbes  neben einander, nicht  in einander, so wird der Verstand in alle Ewigkeit nichts zu vereinigen finden: schon in der Anschauung, nicht erst im Verstand verschmelzen die genannten Eigenschaften zum Gegenstand, zum "Gold". Die Kategorien liegen nicht im Verstand bereit, sondern sind aus der Anschauung abstrahiert, wie alle Begriffe. Der Verstand ist ein Vermögen der Analyse; synthetisch verfährt er zumindest nicht aus eigenen Mitteln. Er ist im Grunde nur das  aktive Gedächtnis,  welches die vergangenen und die gegenwärtigen Anschauungen zusammen festhält und kombiniert. Es kann ja anerkannt werden, daß er die Anschauung zu begrifflicher Klarheit führt; aber es muß geleugnet werden, daß er aus der Anschauung etwas völlig  Neues  macht, oder Elemente in sei hineinträgt, die nicht schon ursprünglich in ihr enthalten waren.

Man muß in diesem Punkt den englischen Vorläufern KANTs eine viel größere Besonnenheit zuerkennen. Ihr ganzes Bestreben ging löblicherweise dahin, die begriffliche Anschauung aus der sinnlichen herzuleiten. Ihr Grundsatz: "Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu." [Nichts ist im Verstand, das nicht vorher in den Sinnen war. - wp] behält meiner Meinung nach seine unverbrüchliche Geltung.

Wenn ich der gewöhnlichen Ansicht der Philosophen zuwider behaupte, daß die Beziehungen der Dinge zueinander gerade so real sind, wie die Dinge selbst und wie diese  wahrgenommen  werden, also keineswegs als Zutaten des menschlichen Verstandes betrachtet werden können, so wendet man ein, die Beziehung zwischen  A  und  B  liege weder in  A  noch in  B,  also nur - im Verstand. Allerdings liegt sie weder in  A  noch in  B,  sondern eben  zwischen  beiden, aber sie ist deshalb nicht im mindesten weniger real und objektiv. Redensarten wie die: "Es gibt keine reale Zweckmäßigkeit in den Dingen, sie ist eine bloße Zutat unseres Verstandes", haben keinen gesunden Sinn. Und wenn man soviel Aufhebens davon macht, daß es die  "Apperzeption  des Verstandes" ist, welche die perzipierten Einzelwahrnehmungen zu einem einheitlichen, geordneten Ganzen vereinigt, und zwar aus eigenem Vermögen, so muß ich gestehen, daß meine  Apperzeption  sich nicht die Mühe macht, einen Apfel, der mir halbiert vorgelegt wird, zum Ganzen zu vereinigen - sie läßt ihn wie er ist. Die  Apperzeption  stellt keine andere Ordnung her, als in der Wahrnehmung gegeben ist. Nein! der Verstand ist nicht der Tausendsassa, für welchen man ihn ausgibt; nicht der Schöpfer aus nichts: er arbeitet nur mit dem von der Anschauung gegebenen Material. Von ihm stammt die Ordnung unserer  Begriffe,  aber nicht die Ordnung der Dinge und ihrer Eigenschaften.

- Wenn die Außenwelt wirklich, wie die Neukantianer behaupten,  deshalb  für real gelten muß, weil die Wahrnehmung zwar nicht auf Anregung eines äußeren Gegenstandes, aber nach den für  alle  Menschen gültigen Gesetzen der Sinnlichkeit und des ordnenden Verstandes vor sich geht, so müßten auch diejenigen recht haben, welche für die Ideen von Gott, Unsterblichkeit der Seele und dgl. volle Realität beanspruchen, weil dieselben angeblich nach allgemeingültigen Gesetzen der menschlichen  Vernunft  zustande kommen. Man sieht nicht ein, warum die, nur in ihnen begründeten Anschauungen der  Sinne  und des  Verstandes  vor den, nur in ihr begründeten Anschauungen der Vernunft etwas voraushaben sollten? Die Wahrheit ist freilich, daß nur die Gesetze der Sinnlichkeit und des Verstandes für alle Menschen gelten, jene sogenannten  "Postulate"  der Vernunft dagegen weit davon entfernt sind, allen Menschen als solchen einzuleuchten. Aber auch wenn sie dies täten, wäre es Unverstand oder Unehrlichkeit zu behaupten, daß Dinge, von welchen ich mir infolge meiner besonderen Organisation eine Vorstellung mache, deshalb objektiv-real existieren müßten. Und ganz ebenso wäre es unverständig oder unehrlich, zu sagen, die Objekte der Wahrnehmung müßten uns  deshalb,  und  nur insofern  als real gelten, weil die Wahrnehmung zwar ohne realen Gegenstand, aber nach allgemeingültigen Gesetzen unserer sinnlich-intellektuellen Natur zustande kommt.

Wenn ihr behauptet, es gebe  gar kein  Reales hinter der Erscheinung, so hilft es nichts, für die Leugnung außerhalb des Bewußtseins existierender, auf dieses wirkender Wesenheiten den Laien damit trösten zu wollen, daß ihr ihm versichert, diese Existenz des Gegenstandes als  bloßen  "Bewußtseinsinhalts" sie ja auch eine Wirklichkeit und zwar gerade die wahre, echte und einzige, die es gibt. Wer euch versteht, der braucht diesen Trost nicht, und wer euch nicht versteht, dem genügt er nicht. Die Frage des Laien an den Philosophen lautet rund und nett:  "Gebt ihr mir die Wirklichkeit von Wesenheiten  (nicht  Dingen - denn diese sind  Erscheinungen) außer mir zu oder nicht?"  Und wenn ihr ihm in den gewundetsten Redensarten erwidert,  außer  ihm gebe es eine Wesenheit, ein Sein freilich so eigentlich nicht, und es sei Unsinn zu glauben, unsere Vorstellungen von Dingen müßte durch irgendetwas außer uns  veranlaßt oder bedingt  werden, aber in uns, in unserem  Bewußtsein,  bei welchem man auch wieder beileibe nicht etwa einen, der dieses Bewußtsein  hat,  voraussetzen darf - in diesem Bewußtsein hätten sie, die Dinge die allerschönste, die prachtvollste, die allerrealste Realität, die sich nur denken läßt - wenn ihr solches dem Laien zu Gemüte führen und ihm einreden wollt, das sei eine  realistische  Weltanschauung - wo wird er euch den Rücken kehren und mit Recht. -

Ein Engländer (RICHARD SHUTE, "Discourse on truth" (1), behauptet allen Ernstes, der Glaube aller Menschen, daß  3 + 4  und  2 + 5 = 7  sind, beruth nur auf der Tatsache, "daß die Tätigkeiten verschiedener Individuen sich sehr ähnlich sind;" wie ja auch die Gesetze der  Verdauung  für alle Menschen dieselben zu sein scheinen. "Aber niemand" (fährt er fort) "betrachtet diese Gesetze in irgendeinem Sinn als notwendig. Die Gesetze der Zahl werden ohne Zweifel die nämlichen bleiben, solange der Mensch derselbe bleibt, aber dies gilt auch von den Gesetzen der Verdauung." -

So Herr SHUTE. Also wie es nur eine Schwäche unserer Verdauungsorgane ist, daß wir nicht Kieselsteine verdauen, so liegt es auch nur an der besonderen Konstruktion unseres Gehirns, daß wir  3 + 4 für = 7  oder mit einem anderen Wort,  7  für  = 7  halten. Für ein anders konstruiertes Gehirn würde  7 nicht = 7  sein. Ähnliche Ansichten werden auch von deutschen Denkern der neuesten Zeit vertreten.

Die Wahrheit, daß  2 x 2 = 4  ist, würde nur in einer solchen Welt nicht gelten, in welcher  2 nicht = 2,  und  4 nicht = 4  ist, in einer Welt, in welcher unsere Zahlen überhaupt nicht gelten. Von einer solchen Welt und ihrer Möglichkeit zu reden - von einer Welt, in welcher  1  nicht  1, 2  nicht  2  ist, sondern etwas anderes - von der Möglichkeit einer solchen Welt zu reden, muß man den Insassen der Irrenhäuser überlassen.

Das Gleiche gilt in Bezug auf alle analytischen Sätze überhaupt. Denn jeder analytische Satz ist eine logische  Gleichung  zwischen Subjekt und Prädikat - das Prädikat nur ein anderer Ausdruck für das Subjekt. So wenig man also sagen kann, daß die Gleichung  2 + 2 = 4  für Bewohner einer anderen Welt möglicherweise nicht gilt, so wenig kann man es sagen von einem im strengen Sinn analytischen Satz, einem identischen Urteil.

- Daß das wahrhaft Reale nicht in der  Zeit  ist, ist eine ganz grundlose Behauptung. In einem  bestimmten  Zeitpunkt ist das Reale allerdings nicht, aber es ist  immer,  folglich zu  aller  Zeit. Warum man aber von dem, was zu  aller  Zeit ist, sagen soll, es sein in  keiner  Zeit, sei überhaupt nicht in der Zeit, das begreife ich nicht. Ebensowenig passend scheint es mir zu sagen, das wahrhaft Reale ist, weil  überall,  nicht im  Raum.  Wäre das Reale wirklich nicht in Zeit und Raum, so wäre es  niemals  und  nirgends.  Was aber niemals und nirgends ist, das ist überhaupt nicht. Was nicht in Zeit und Raum existiert, das existiert überhaupt nicht, sondern ist eine bloße Abstraktion (wie die sogenannten Ideen).

SCHOPENHAUER und andere haben unrecht, wenn sie behaupten, der Begriff des Menschen von der Außenwelt sei zurückzuführen auf einen Schluß von der Wirkung auf Wirkendes. Erblickt der gemeine Mann ein Pferd, so fällt es ihm nicht ein, zwischen diesem Pferd und seiner Wahrnehmung einen Unterschied zu machen. Ihm ist die Anschauung des Pferdes in seinem Auge völlig eins mit dem Pferd selbst. Er denkt nicht, daß jene von diesem "verursacht" ist, er denkt nicht einmal, daß sich das Pferd in seinem Auge  spiegelt,  er denkt, während er  sieht,  nicht an sein Auge - er sieht, und damit gut. Die Verstandestätigkeit, welche sich diesen Vorgang nach dem Kausalitätsgesetz zurechtlegt, ist nur Sache des Philosophen.

Aber vielleicht ist der Schluß auf die Außenwelt nach dem Kausalitätsgesetz ein  unbewußter?  Das könnte man vielleicht gelten lassen, wenn nur diese Schluß an und für sich ein logisch korrekter wäre und sich nicht in einem Zirkel bewegen würde. Zum Begriff einer Wirkung würden wir niemals gelangen, wenn wir nicht den Begriff einer Außenwelt, den Begriff von Dingen, die auf uns wirken und auf welche wir wirken, schon hätten. Es geht nicht an, den Begriff der Außenwelt vom Begriff der Wirkung, und den Begriff der Wirkung vom Begriff der Außenwelt abzuleiten. Von einem ähnlichen, aber doch anderen Standpunkt kommt FRIES dazu, die Behauptung, daß wir zur Voraussetzung von Dingen außerhalb von uns bei der Wahrnehmung durch das Kausalgesetz veranlaßt sind, zu leugnen. (Reinhold, Fichte und Schelling, Seite 41f)

- Wie unterscheiden sich Vorstellungen und Anschauungen voneinander? - Die Vorstellung des Pferdes ist die in mir fortdauernde, aber mir nicht immer bewußte Anschauung des Pferdes. Der Unterschied besteht nur darin: daß bei der unmittelbaren (ursprünglichen) Anschauung das Objekt als ein gegenwärtiges angeschaut wird. Die Vorstellung ist eine, wenn auch abgeschwächte, doch direkte Fortsetzung der Anschauung, wie ja gar oft eine Wirkung, wenn auch abgeschwächt, noch fortdauert, obgleich der ursprünglichste Akt der Einwirkung schon vorüber und das Wirkende nicht mehr gegenwärtig ist.

Und der  Begriff wie unterscheidet sich dieser von Anschauung und Vorstellung? Auch er ist mit diesen beiden, in seiner ersten und natürlichen Form, identisch. Der Begriff, den ein Mensch vom Pferd hat, ist zunächst nichts weiter als die Summe der Einzelanschauungen, welche dieser Mensch von Pferden gehabt hat, nur undeutlich vorgestellt und in eine einzige Anschauung oder Vorstellung verschmolzen. Der Begriff ist nicht wesentlich von der Vorstellung, wie diese nicht wesentlich von der Anschauung verschieden ist. So gewiß nun die Einzelanschauungen bei verschiedenen Menschen verschieden sind, so gewiß ist auch die Gesamtvorstellung oder der Begriff nicht bei allen Menschen der gleiche. Wir haben, nach Maßgabe unserer Anschauungen, von derselben Sache sehr verschiedene Begriffe.

Nicht zu verwechseln ist mit diesem  natürlichen  Begriff, der noch identisch ist mit der Summe der Einzelvorstellungen, der  wissenschaftliche  Begriff, oder die  Definition  einer Sache, das Produkt einer Denkoperation des reflektierenden Menschen.

Mit dem hier Gesagten stimmt eine Stelle, welche ich in einem Werk von HARMS, "Die Philosophie seit Kant", Seite 552 finde:
    "Philosophisch sagt der Sensualismus, oder, was dasselbe ist, die Mechanik des Vorstellens, gibt es keinen Begriff, sondern nur unbestimmte Gesamtvorstellungen, Aggregate von den vielen einzelnen Vorstellungen, welche sich aneinander reihen und miteinander gruppieren; der Begriff ist nur ein logisches Postulat, eine Forderung des Denkens, der psychologisch nichts entspricht."
Wie die Gattungsbegriffe, so sind auch die Relationsbegriffe (Kategorien) aus der Anschauung abstrahiert und entwickelt.

Wie entsteht mein Begriff von einer Sache? Wenn ich die Sache zum erstenmal in meinem Leben erblicke, so ist der Begriff, den ich von ihr und ihrer Art habe, noch identisch mit dieser ersten Anschauung. Sehe ich ein zweites Exemplar desselben Gegenstandes, eines Tieres z. B., so verschmilzt mir das Gemeinsame der beiden Anschauungen zum Begriff davon. Und je mehr Exemplare dieses Objekts ich weiterhin zu Gesicht bekomme, desto mehr verschwindet das Spezielle, Individuelle, Bildliche der einzelnen Anschauungen, desto reiner und schärfer (abstrakter) wird zwar der Begriff, desto mehr aber verliert er an Anschaulichkeit und Lebendigkeit. Dies ist wohl auch der Grund, warum wir in der Kindheit und Jugend die Dinge frischer und lebendiger auffassen und sie auch anschaulicher darzustellen wissen, als in einem späteren Alter, in welchem das Spezielle, Individuelle, Bildliche der Anschauungen uns mehr in der abstrakten Allgemeinheit des Begriffs zerrinnt. Denn je mehr sich die Zahl unserer Anschauungen derselben Art häuft, desto mehr muß das Besondere derselben gegen das, was ihnen allen gemeinsam ist, in den Hintergrund treten. Anfangs schauen wir die Welt in Bildern an, später in Begriffen.

Es ergibt sich aus dieser Darlegung, daß die Bildung der Begriffe gar nicht auf einer besonderen Tätigkeit des Verstandes, sondern einfach darauf beruth, daß das  Gemeinsame  der Einzelanschauungen, weil es  das Beständige, immer Wiederkehrende  ist, im Gedächtnis umso besser haftet und so zu bleibenden Art-Vorstellung wird.

Man sieht, ich vertrete auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie mit Bewußtsein und Bedacht den Standpunkt des verpönten "Sensualismus". Ich kümmere mich nicht um Schlagworte. Wenn ich einmal um der Wahrheit willen mich mit den Materialisten berühre, so ist mir das gleichgültig, als wenn ein andermal die philosophischen Realisten die Achseln über mich zucken, weil ich - was ich wirklich tue - bekenne, nötigenfalls ohne Bedenken mit logischen Schlüssen über die Schranken der Erscheinungswelt und der Erfahrung hinauszugehen. Daß man eine Wahrheit nicht "aus bloßen Begriffen" ermitteln, auf rein logischem Weg nichts Gültiges feststellen kann, habe ich immer für ein ziemlich grundloses Gerede gehalten, trotz des ungemeinen Ansehens, in welchem diese Behauptung steht. Da meiner Überzeugung nach die Begriffe und Kategorien des Denkens ganz aus der Erfahrung stammen, so ist jede Verknüpfung von Begriffen auch für das Wirkliche gültig, und der Zusammenhang der Begriffe enträtselt mir den Zusammenhang der Dinge. Und dies ist selbst dann der Fall, wenn eine Kette streng logischer Folgerungen mich hinausführen sollte über das Gebiet jeder wirklichen oder möglichen Sinneserfahrung. Ich teile auch nicht die Prüderie, dem Zwang der Logik mich entziehen zu wollen, wenn er mich wirklich nötigt, jenseitige Dinge hinter den Erscheinungen anzunehmen und von ihnen sogar dieses oder jenes auszusagen. "Aber die Gesetze und Kategorien des Denkens", sagt der Kantianer, "sind nur bestimmend für die Formen und Zusammenhänge der Erscheinungswelt: außerhalb derselben verlieren sie jede Geltung." Nun, das ist eben, was ich keineswegs so unbedingt zugebe, sollte ich auch mein ganzes Zeitalter verblüffen durch das ketzerische Geständnis, daß mich der große KANT mit dem berühmtesten und gepriesensten aller seiner Lehrsätze nicht überzeugt hat. Mir ist das Sein der höchste aller Begriffe; ich kenne kein anderes wahres Sein, als das Sein überhaupt, das universelle, allgemeinen Sein, das auch nicht ohne universelle, für  jede  mögliche Seinsform im Bereich des Alltags gültige, und zum Teil  erkennbare  Bestimmungen ist. Es gibt für mich keine mögliche seiende Welt, in welcher das Gesetz der Identität keine Geltung hätte, keine Welt, in welcher  +A = -A  und  2 x 2 = 5  sein könnte, keine Welt, auf welche die Kategorien der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit, oder des Seins und Nichtseins keine Anwendung finden, kein Sein, das nicht  Qualitäten  besitzt usw., kein mögliches Sein also, für welches nicht die meisten der Kategorien, welche KANT bloß für das menschliche Denken und für die bloße Erscheinungswelt aufstellt, ihre Gültigkeit haben  könnten,  und nach meiner Überzeugung auch  müßten.  Damit aber ist die Schranke niedergerissen, welche es dem denkenden Menschengeist verwehren will, anhand der Logik sich aus der Erscheinungswelt hinauszuwagen in die Welt des Wirklichen. Die Logik, die ja im Grunde nichts ist, als das in alle seine Gleichungen auseinander gelegte, für alle Welten gültige Identitätsgesetz, tritt in ihr volles Recht.

Dem "sich selbst verneinenden" Willen steht in unseren Tagen mehr als je eine sich selbst verneinende Logik zur Seite. Aber beides, der Wille und die Logik, sind "nicht umzubringen".

Sind sie doch beide die universellsten Prinzipien der Welt; und wem eine Ahnung aufgegangen vom geheimen, innersten Zusammenhang der beiden, für den wird in dieser Einheit auch die Gewähr einer anderen liegen: der ursprünglichsten und wesentlichsten Einheit der Gesetze des  Denkens  und des  Seins. 
LITERATUR - Robert Hamerling, Die Atomistik des Willens - Beiträge zur Kritik der modernen Erkenntnis - Hamburg 1891
    Anmerkungen
    1) Siehe Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 7, Seite 234.