ra-2 Die WillensfreiheitDer freie WilleNationalökonomie und Rechtswissenschaft    
 
ROBERT DRILL
Nationalökonomie und Willensfreiheit
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"Das jämmerliche Subjekt, zu dem die naturalistischen Auffassungen den Menschen machen, die ihm nicht mehr Freiheit geben als einem Bratenwender, ist auch der einfachste Mensch nicht, denn alle Unbildung, aller Irrtum, überhaupt alles, was auf ihn einwirkt, kann doch die Möglichkeit, in  verschiedener  Weise zu handeln, nicht aufheben."

"Nun könnte man freilich meinen, es sei gleichgültig, ob man diese oder jene Regelmäßigkeiten  Gesetze  nenne oder nicht. Es ist  nicht  gleichgültig! Wenn  eine  Wissenschaft etwas Unrichtiges im Empirischen behauptet, so ist das nicht schlimm; der Irrtum mit all seinen Konsequenzen kann berichtigt werden, ohne daß die Wissenschaft als System davon berührt würde. Wenn man aber auch nur eine Nuance in den  Prinzipien  verfehlt, so wird das ganze System schief und man muß, um es wahr zu machen, einen Neubau beginnen. Daß einsehende Vertreter der Wissenschaft im klaren sind, was sie in den Kulturwissenschaften mit dem Wort  Gesetz  sagen dürfen und wollen, genügt für  sie;  aber wenn sie es nicht immer wieder ausdrücklich betonen, können sie nicht verhindern, daß andere das Wort sozusagen für ein  Ding  nehmen und einem  Fetischismus  verfallen."

"Es ist wie ein blutiger Witz der Weltgeschichte, daß eine große und wichtige Gruppe der Bevölkerung an die Alleinherrschaft des Materiellen glaubt und nicht sieht, daß sie damit nur einer metaphysischen  Idee  folgt, die ihr natürliches, gesundes Denken und Empfinden beirrt."


Man kann die ganzen kritischen Schriften KANTs durchackern, ohne zu merken, was er eigentlich mit ihnen beabsichtigte; der Beweis dafür ist oft genug erbracht worden. Seine Darstellungsweise bringt es mit sich, daß es sehr leicht ist, schon den Grundgedanken zu verfehlen, daher hat man es sogar fertig gebracht, zu behaupten, daß KANT nur eine Methode habe lehren wollen. Der Grundgedanke ist aber der, daß die reine Vernunft ein  Organismus  ist. Das ist nicht etwa in einem übertragenen Sinne zu verstehen, sondern ganz brutal: die reine Vernunft ist ein Lebewesen mit einem bestimmten Vermögen und Organen, die zweckmäßig und zwar mit vollständiger Zweckmäßigkeit zusammenstimmen und charakteristische Funktionen haben. Das kann natürlich hier nicht im einzelnen nachgewiesen werden; ich wiederhole, daß ich hier nur auf einige Gesichtspunkte aufmerksam machen kann. Aber wenn man sie hat, findet man sich auch in KANT und jeden Zweifel, der bestehen bleibt, kann man durch die Schriften von ERNST MARCUS beheben, dessen große, bisher wenig gewürdigten Leistungen zu vollkommener Klarheit gebracht haben, nicht nur, daß dies gerade das ist, was KANT sagen wollte, sondern auch, was viel wichtiger ist, daß es sich mit der Sache selber wirklich so verhält. Es ist wirklich so, daß als notwendige Voraussetzung des empirischen Menschen die reine Vernunft da ist, die aus gewissen geistigen Formen mit gewissen Funktionen besteht.

Diese Formen und Funktionen lassen sich restlos feststellen, ich führe aber hier nur an, was nötig ist. Da ist nun vor allem auf eine fundamentale Tatsache hinzuweisen, die eine der großen Entdeckungen KANTs ist, nämlich, daß die Vernunft beim Entstehen der Erkenntnis und zwar schon bei der simpelsten Erfahrung, nicht bloß passiv ist, sondern in entscheidender Weise  aktiv, spontan  tätig ist. Das ist geradeso eine Tatsache, wie die, daß sich die Erde um die Sonne bewegt, was man aber auch nicht bemerkte, bis es KOPERNIKUS entdeckt hat und auch nachher noch bestritt, wie man heute KANT bestreitet. Der sinnliche Eindruck, der eine vom Ding ansich ausgehende Modifikation unserer Anschauungsformen Raum und Zeit ist, ist noch gar keine Erkenntnis, sondern diese entsteht erst dadurch, daß der Verstand, ein Vermögen, das seinem Charakter nach reine  Spontaneität  ist, das sinnlich Gegebene unter die Verstandesform bringt, aus der Anschauung  Begriffe  bildet, durch die man erst "begreift". Die Anschauung allein würde nie mehr geben, als höchstens eine dunkle und verworrene Vorstellung; zu deutlichem Bewußtsein kommt sie erst durch die Aktivität des Verstand, der den Begriff macht, eine Dauervorstellung, die vom sinnlichen Eindruck grundsätzlich verschieden ist und der Verstand erst ist es, der durch seine Formen, z. B. durch das Kausalgesetz, das Sinnlich in die gesetzmäßige Ordnung bringt, die das gemeinsame Merkmal aller Erfahrung und Natur ist. Es ist also falsch zu meinen, daß das, was wir  Natur  nennen, schlechthin gegeben sei; sie ist nur zu  einem  Teil gegeben, zum anderen aber  gemacht  und zwar vom Verstand gemacht. Ohne den Verstand gäbe es keine Natur, denn er ist es erst, der sie hervorbringt. Daraus ergibt sich aber eine Folgerung von der größten Bedeutung, nämlich die, daß der Verstand der Natur nicht untergeordnet, sondern ihr  koordiniert  ist!

Die theoretische Vernunft hat außer der Sinnlichkeit und dem Verstand noch ein drittes Vermögen: die Vernunft im engeren Sinne, die hier kurz als das Vermögen der  Ideen  charakterisiert sei. Die Vernunft hat nämlich die Fähigkeit, das über alle mögliche Erfahrung hinausgehende  Absolute,  zwar nicht zu erkennen, aber zu denken. Diese Generalidee führt zu verschiedenen einzelnen Ideen, wie z. B. zur Idee der Welt, der absoluten Totalität alles Seienden. Wir haben gesehen, daß diese Ideen in Trugschlüsse verstricken, wenn man sie wie Erfahrungsbegriffe gebraucht; wir werden aber noch sehen, daß sie in anderer Art eine wichtige Funktion haben. Vorläufig sei auf das hingewiesen, worauf es nun ankommt: bei der Koordination der Vernunft mit der Natur wird sich die Frage der Willensfreiheit danach entscheiden, ob es Handlungen gibt, die aus der Spontaneität der Vernunft  entspringen. 

Vor allem ist es klar, daß sich die menschliche Handlung schon nach ihrer Gliederung von der Kausalität der Natur unterscheidet. In der Natur folgt auf die Ursache unmittelbar die Wirkung, bei einer Handlung aber schiebt sich ein  Begriff  dazwischen, z. B.: ich habe Durst und die Neigung, ihn zu löschen (Ursache), ich habe im Begriff das  Mittel,  das ich dazu anwenden muß und trinke und so erreiche ich das Ziel, die Befriedigung der Neigung (die Wirkung). Die ursprüngliche Kausalität ist hier die Neigung, die technische Regel (das Trinken), von der ich mir durch Erfahrung einen Begriff gemacht habe, ist abgeleitete Kausalität, sondern immer spielt dabei der Begriff eine Rolle. Dadurch bekommt die dreiteilige Kette der Handlung ein ganz anderes Gefüge, als es die mechanische Kausalität hat: es ist viel lockerer. Unter gewissen Umständen wird Wasser zu Eis, die Natur irrt darin nie; ich kann mich aber in der technischen Regel irren und Salzwasser trinken, so daß der Durst, statt gelöscht zu werden, noch größer wird. Die Neigung übt auch nicht den Zwang aus, den wir in der Vorstellung mit der mechanischen Kausalität verbinden, denn meine Neigung ist  meine  Neigung und ich folge ihr gern. Immerhin, da in diesem Fall die ursprüngliche Kausalität, die Neigung zur Natur (des Menschen) gehört und die abgeleitete, die Regel, der Erfahrung, also der Natur entnommen ist, ist es Natur allein, die diese Handlung bestimmt.

Anders wird die Sache schon, wenn ich mich nicht mehr stets von der augenblicklichen Neigung führen lasse, sondern die  Gesamtheit  der Neigungen, auch der noch entfernten und ihre Befriedigung ins Auge fasse und mein Verhalten so einrichte, daß dabei im ganzen das größtmögliche Wohlbefinden herauskommt. Hier tritt in die Kette der Handlung ein Element ein, das nicht aus der Natur stammt: eine  Idee.  Denn der Gedanke des  Systems  oder des  Plans  kommt nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen Vernunft und ist eine Leistung der Idee des Absoluten. Hier haben wir eine der legitimen Funktionen der Idee. Denn es ist eine Täuschung zu meinen, daß wir etwa das  System  der Natur von ihr ablesen könnten. Die Summe der einzelnen Erfahrungen würde ein zufälliger Haufen bleiben, wenn nicht die Vernunftidee zu  vollständiger  und  einheitlich  zusammenhängender Erkenntnis, also dazu aufforderte, möglichst viele Erkenntnisse zu erwerben und sie in eine Ordnung, in ein System zu bringen. Was für die theoretische Vernunft das System, das ist für die handelnde, die praktische Vernunft der  Plan.  Wenn ich mir also einen Lebensplan mache oder mich auch nur für eine gewisse Zeit nach Planmäßigem richte, so ist es eine Idee, die meine Selbstliebe dirigiert. Dann werden Handlungen unterbleiben, die geschähen, wenn die augenblicklichen Neigungen ungehemmt wären und Handlungen, die der augenblicklichen Neigung nicht entsprechen, werden eintreten. Keine dieser Handlungen wirft ein Naturgesetz über den Haufen, aber hier bleibt  mir  die  Initiative,  weil die Handlung (oder Unterlassung) ihren tiefsten Grund in meiner Idee hat. Im Komplex dieses Plans ist die Natur nicht ausgeschaltet, denn die ursprüngliche Kausalität ist hier die Gesamtheit der Neigungen, aber die Natur herrscht nicht mehr allein, denn die abgeleitete, die dirigierende Kausalität ist die Idee. Die Vernunft ist also hier mitbestimmend und so ist schon hier  Freiheit  erkennbar.

Ganz rein tritt sie aber im Gebiet des  Sittlichen  hervor, denn hier liegen  beide  Ursachen, die ursprüngliche und die abgeleitete, in der reinen Vernunft und die Natur als  causa  ist ganz ausgeschaltet. Hier ist die dirigierende Ursache das  "Gesetz",  ein Begriff, den die Vernunft hervorbringt und die bewegende Ursache der kategorische Imperativ:  du sollst!  Dieser Imperativ ist keine spekulative Konstruktion, sondern eine  Tatsache  der reinen Vernunft, deren sich jedermann als des "Gewissens" bewußt ist, wenn er sich nicht durch falsche Theorien irreführen und etwa als "Positivist" nur das gelten läßt, was man auf die Dezimalwaage legen kann. Diese Tatsache ist wie alle apriorischen Urtatsachen nicht weiter erklärbar und daher "wunderbar". Hier haben wir also reine Freiheit. Denn Freiheit heißt nichts anderes, als daß der Wille nicht von sinnlichen Antrieben, sondern von Vorstellungen, die der Vernunft ursprünglich eigen sind, bestimmt werde. Das ist bei der sittlichen Handlung durchaus der Fall, die daher durchaus frei ist. Das Fundament der Sittlichkeit ist also der einzige Satz: Handle gesetzmäßig! Auf ihm kann das System der Ethik mit derselben mathematischen Präzision erbaut werden, wie das System der Erkenntnistheorie auf der Tatsache der synthetischen Urteile a priori. Es ist auch schon geschehen, man weiß es nur nicht.

Mit diesen Betrachtungen sind wir bereits mitten im dritten Teil des Problems, in der  Praxis Theoretische Erwägungen könnten uns nicht weiter als zu der Einsicht bringen, daß wir Freiheit haben,  wenn  es Handlungen gibt, die aus der Vernunft entspringen.  Ob  es aber solche Handlungen gibt, das kann nur die Praxis zeigen. Wenn ein Ingenieur eine Maschine nach genauen Berechnungen konstruiert hat, so weiß er damit noch nicht, ob das Werk geglückt ist; das weiß er erst, wenn er versucht hat, die Maschine laufen zu lassen. Ähnlich ist es auch beim menschlichen Handeln, nur daß die Vernunft keine Maschine, sondern ein Organismus ist. Die Praxis aber sagt uns, daß es wirklich Handlungen gibt, die aus der Vernunft entspringen und das bemerkenswerte Ergebnis der ganzen transzendentalen Untersuchung ist also das, daß der einfache Mann, der sich in die Welt stellt und unbekümmert um Zweifelsfragen das Bewußtsein hat, frei handeln zu können,  ganz recht hat.  Das heißt freilich nicht, daß diese Untersuchung überflüssig gewesen ist. Abgesehen davon, daß jedes Wissen ansich Interesse hat, was die kantische Kritik das Notwendigste, das sich denken läßt, denn es galt, einen ganzen Berg von Mißverständnissen und Irrtümern hinwegzuräumen, die in den wichtigsten Fragen der Menschheit Verwirrung anstifteten und gerade diejenigen Fragen nachzudenken. Aber genutzt hat die kantische Kritik bisher nur wenig, denn ganz dieselben Irrtümer, die sie aufgedeckt hat, haben auch nachher bis auf den heutigen Tag die größte Rolle gespielt, als ob ihnen gar nichts geschehen wäre. So auch in der Frage der Willensfreiheit gar nicht gibt und der gar keinen Sinn hat. Handlungen eines indeterminierten, also überhaupt durch nichts bestimmten Willens würden den Eindruck des vollständig Verrückten machen. Selbstverständlich ist jeder Wille determiniert, aber die Frage ist gar nicht,  ob  determiniert, sondern  wodurch  und  wie  determiniert! Nur im Fall, daß  alle  menschlichen Handlungen durch die momentane sinnliche Neigung bestimmt wären, könnte man von Unfreiheit reden. Aber jedermann weiß, daß wir keineswegs immer dieser Neigung folgen und die Menschen tun es umso weniger, je größer ihre innere Kultur ist. Wenn man trotzdem glaubt, Unfreiheit annehmen zu müssen, so ist neben der metaphysischen Täuschung der Umstand schuld, daß man nicht genügend unterscheidet. Was in das Gebiet der Physiologie gehört, ferner Empfindungen und Gefühle, kurz alles, was in das Gebiet der sinnlichen Erscheinung fällt, ist naturgesetzlich bestimmt. Wenn ich die rechte Hand ausstrecke, um das Fenster zu öffnen, so geschieht dabei alles, was wahrgenommen wird, nach einer Naturkausalität und dieses Geschehen hängt naturgesetzlich auch mit dem früheren Zustand zusammen, denn ich könnte z. B. nicht mit einer bloßen Handbewegung das Fenster öffnen, wenn ich mich nicht schon vorher zum Fenster begeben hätte und ich könnte es nicht mit der rechten Hand tun, wenn der rechte Arm gelähmt wäre. Aber  muß  ich das Fenster öffnen? Von einem "muß" könnte doch nur die Rede sein, wenn eine momentane Neigung und Handlung unausweichlich Schlag auf Schlag einander folgen würden. Aber das ist ja nicht der Fall, sondern ich kann die momentane Neigung durch die Vorstellung von Zweckmäßigkeiten verdrängen, die sich auf eine spätere Zeit beziehen oder durch den Willen, aller Neigung entgegen dem Sittengesetz zu folgen. Da gibt es nun wieder ein Mißverständnis: man wendet den Einfluß der Erziehung ein und ähnliches. Niemand bestreitet diese Einflüsse, aber sie sind gar kein Einwand, denn es handelt sich ja gerade darum, ob es die Erziehung fertig bringt, die Vernunft von der Sinnlichkeit, von der momentanen und von der Sinnlichkeit überhaupt, unabhängig zu machen. Daß sie das aber kann, ist einfach Tatsache. Schlechte Erziehung, schlechtes Beispiel, ungünstige äußere Verhältnisse werden den inneren Menschen meistens anders gestalten, als es günstige Umstände tun, aber gar nichts kann die  Differenzierung  der Handlungen aufhalten, bei der sich vom Triebhaften vernünftige Handlungen abheben, denn in dem Augenblick, wo jemand auch nur ein Stück Speise, obgleich es ihm danach gelüstet, für den nächsten Tag aufhebt, ist diese Differenzierung schon praktisch geworden. Wir wissen, daß wir aus momentaner Neigung  oder  aus Gründen entfernterer Zweckmäßigkeit  oder  aus Achtung vor dem Sittengesetz handeln können (nicht im Sinne einer "Wahl", sondern der Verdrängung des Niedrigeren durch das Höhere). Das ist die einzige Freiheit, die für uns seinen Sinn hat, aber es ist  wirkliche  Freiheit, die darauf beruth, daß die Vernunft der Natur koordiniert ist. Von einem naturalistischen Standpunkt aus ist das freilich ganz unbegreiflich; anders, wenn man einsieht, daß die Vernunft ein Organismus ist, denn dann sieht man auch in ihrer Spontaneität den  dynamischen Motor,  der zu Handlungen die  Initiative  gibt. Ein Geheimnis bleibt allerdings übrig. Es gibt zwar keinen mysteriösen, besonderen "Willen", der der Vernunft im Nacken säße, sondern der "Wille" ist nur das Bewußtsein der Fähigkeit unserer Vernunft, eine Handlung frei zu beginnen. Aber wie es kommen mag, daß die Vernunft, insofern sie ein Ding ansich ist, überhaupt diese Fähigkeit hat, das wissen wir nicht und werden es, wenigstens in diesem Leben, nie erfahren. -

Das ist also die erkenntnistheoretischen  Basis  für das ganze historische und sozialwissenschaftliche Gebiet. Von hier aus sieht, daß in dem Bereich, in dem der Mensch wirkt, die starre Naturgesetzlichkeit nicht besteht. Wenn Wasserstoff und Sauerstoff unter gewissen Bedingungen zusammenkommen, so entsteht daraus mit Notwendigkeit Wasser. Aber aus einer bestimmten Situation eines Menschen ist noch gar kein sicherer Schluß auf sein Verhalten möglich, denn er kann in sehr verschiedener Weise handeln. Es gibt keine Alleinherrschaft der Naturnotwendigkeit in diesem Bereich, das ist die eine grundlegende Erkenntnis und die andere ist die von der Wirksamkeit der Idee, die bis zu dem Grad geht, daß ein Entschluß von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit sein kann.  Ein einziger Gedanke  kann den Gang der Weltgeschichte bestimmen. Zur Jllustration gibt es vielleicht nichts Besseres als ein Moment aus der Rekonstruktion des Lebens JESU, die FRENSSEN in seinem "Hilligenlei" gegeben hat. Ob sich die Dinge wirklich so abgespielt haben, ist hier gleichgültig, denn es genügt vollständig, daß sie sich so abgespielt haben  können.  JESUS war in der Einsamkeit und rang mit dem Zweifel, ob er seinem Volk mit dem Schwert und dem Wort helfen solle oder mit dem Wort allein. Das Volk erwartete einen Helden, der das Schwert führt und die Neigung JESU, alles ,was an Menschenfurcht, Eitelkeit und sinnlicher Lust in ihm war, riet auch zum Schwert. Es wäre auch gewiß nichts Kleines gewesen, wenn er dem gefolgt wäre; der Versuch, ein geqältes Volk mit dem Schwert zu befreien, ist etwas Großes. Aber JESUS wäre dann nur einer der Revolutionäre gewesen, die damals auftraten und sich "Messias" nannten. Die Regierung trat das Feuerchen aus, das sie angezündet hatten; dem Aufruhr JESU wäre es nicht anders ergangen und man wüßte heute kaum noch etwas davon. Aber er entschied sich für das Wort allein und erst damit entstand das "Christentum", das dann der stärkste geschichtliche Faktor unseres Kulturkreises wurde. In jenem Moment hat ein Gedanke über die Geschichte von Jahrtausenden entschieden.

Es versteht sich, daß auch viel geringere Wirkungen nur wenigen beschieden sind. Aber das jämmerliche Subjekt, zu dem die naturalistischen Auffassungen den Menschen machen, die ihm nicht mehr Freiheit geben als einem Bratenwender, ist auch der einfachste Mensch nicht, denn alle Unbildung, aller Irrtum, überhaupt alles, was auf ihn einwirkt, kann doch die Möglichkeit, in  verschiedener  Weise zu handeln, nicht aufheben. Wenn es trotzdem die bekannten  statistischen Regelmäßigkeiten  gibt, so ist das leicht zu erklären. Die Statistik stellt z. B. den jährlichen Fleischkonsum einer Bevölkerung fest und berechnet die Kopfquote. Diese Quote schwankt vielleicht längere Zeit nur minimal; sehr begreiflich, denn der Fleischkonsum der Einzelnen wird in normalen Zeiten pro Jahr nicht sehr differieren und der gesamte Fleischkonsum aller in ihn neu eintretenden Kinder wird sich analog dem Fleischkonsum der älteren Personen verteilen. Im einzelnen zeigen sich aber große Verschiedenheiten dieses Konsums, nicht nur nach den wirtschaftlichen Verhältnissen der Konsumenten, sondern auch aus anderen Gründen: mancher ißt viel Fleisch, weil er meint, daß er das nötig habe, mancher sehr wenig, weil er findet, daß es seiner Gesundheit nicht zuträglich ist und mancher ißt aus Prinzip gar keines. Oder angenommen, es bestehe unter gewissen Verhältnissen eine kausale Parallelität zwischen den Getreidepreisen und der Zahl der Eheschließungen einer Bevölkerung, so würde man nichtsdestoweniger darunter Eheschließungen finden, die zu den Getreidepreisen überhaupt keine Beziehung haben. Um diese Verschiedenheiten, in denen die Freiheit zu einem sichtbaren Ausdruck kommt, kümmert sich die Statistik nicht, weil sie nur die Summen der einzelnen Erscheinungen erfaßt. Es ist aber wahrhaftig kein Wunder, in der Statistik nur die Regelmäßigkeiten zu finden, wenn dabei von den Verschiedenheiten abstrahiert wird!

Diese Regelmäßigkeiten sind  sozialwissenschaftlich  von großer Bedeutung.  Erkenntnistheoretisch  aber sind die individuellen Verschiedenheiten viel wichtiger, weil  sie  es sind, die den Charakter des menschlichen Gemeinschaftslebens erkennen lassen. Die vollkommenste soziale Regelmäßigkeit, die man feststellen mag, ist immer noch kein "Gesetz". Wenn man beobachtet hat, daß die Zahl einer Bevölkerung seit langer Zeit stabil geblieben ist, so wird man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen können, daß sie es auch in der nächsten Zeit bleiben wird, aber es  muß  nicht so sein. Wenn z. B. über Frankreich eine starke religiöse Welle ginge und wieder die Lehre, daß die Verhütung von Geburten unsittlich sei, mit Kraft in die Gemüter dränge, so würde das "Bevölkerungsgesetz" Frankreichs sehr schnell selber zeigen, daß es kein Gesetz ist. Ob dies oder ähnliches geschehen wird, kümmert uns erkenntnistheoretisch gar nicht; es ist  möglich  - und das genügt. Nun könnte man freilich meinen, es sei gleichgültig, ob man diese Regelmäßigkeiten "Gesetze" nenne oder nicht. Es ist  nicht  gleichgültig! Wenn  eine  Wissenschaft etwas Unrichtiges im Empirischen behauptet, so ist das nicht schlimm; der Irrtum mit all seinen Konsequenzen kann berichtigt werden, ohne daß die Wissenschaft als System davon berührt würde. Wenn man aber auch nur eine Nuance in den  Prinzipien  verfehlt, so wird das ganze System schief und man muß, um es wahr zu machen, einen Neubau beginnen. Daß einsehende Vertreter der Wissenschaft im klaren sind, was sie in den Kulturwissenschaften mit dem Wort "Gesetz" sagen dürfen und wollen, genügt für  sie;  aber wenn sie es nicht immer wieder ausdrücklich betonen, können sie nicht verhindern, daß andere das Wort sozusagen für ein  Ding  nehmen und einem  Fetischismus  verfallen. Solche Erfahrungen werden viele gemacht haben.

In der  klassischen  Nationalökonomie und ihren Ausläufern bestand dieser Fetischismus von Anfang an; er ist nicht etwa aus einem Mißverständnis der Lehre ihrer Begründer hervorgegangen, sondern sie selber, verleitet durch die angeführten Gründe, haben ihm gehuldigt und ihn gelehrt. Sie haben nicht erkannt, daß die Gesetze, nach denen sich Wert, Preis usw. angeblich richten, nur wirtschaftliche Schemata sind, die nicht mehr können als ungefähr zeigen, wie sich etwa der Preis gestaltet, wenn nur wirtschaftliche Motive wirken. Tatsächlich gestaltet sich der Preis häufig ganz anders, weil im Leben auch noch andere Motive mitspielen und Einsicht ganz anders wirkt, als Irrtum. Die allgemeinen Sätze der theoretischen Nationalökonomie sind die Mittel, sich die Erscheinungen der Volkswirtschaft verständlich zu machen, sind aber ebensowenig ein Abbild der Wirklichkeit, wie das Schema einer wirklichen Landschaft ihre Photographie ist. Auf derselben Linie erkenntnistheoretischer Täuschung liegt die praktische Auffassung des Manchestertums, daß die Harmonie der Interessen ein Naturgesetz sei, das sich erfülle, wenn man nur alles gehen lasse. Hier kann man aber nicht einmal mehr von einem Schema reden, denn die Erfahrung hat gezeigt, daß beim  laissez faire  die Wirklichkeit sehr wenig Harmonie aufweist und sich geradezu in deren Gegenteil verkehrt. In der Tat ist die Harmonie der Interessen gar nichts, was die Natur von selber macht, sondern eine ethische Forderung, die von den Menschen Erfüllung verlangt.

KARL MARX hat den theoretischen Fetischismus der Klassiker im Prinzip übernommen und durch den historischen ergänzt, daß die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Wirtschaft mit Naturnotwendigkeit zum Kollektivismus führen würden, wie das in der materialistischen Geschichtsauffassung näher auseinandergesetzt ist. Ob man einmal irgendwo zum Kollektvismus kommen wird, kann vollständig dahingestellt bleiben. Daß aber die Prophezeiung, er  müsse  kommen, nur ein Aberglauben ist, hätte MARX schon daraus ersehen können, daß nicht einmal die Naturwissenschaft, die doch mit viel einfacheren Erscheinungen als die Historie zu tun hat, z. B. vorhersagen kann, daß sich Wasserstoff mit Sauerstoff zu Wasser verbinden  werde,  sondern nur  hypothetisch  sagt:  wenn  sie sich verbinden, wird es Wasser. Immerhin gibt es einiges, das zu Entschuldigung angeführt werden kann. Diese Entschuldigung ist die Geschichte der Philosophie von KANT bis MARX. KANT hat die Wertlosigkeit dogmatischer Metaphysik dargetan, FICHTE aber hat wieder mit ihr begonnen und behauptet, damit KANT fortzusetzen. In einer öffentlichen Erklärung hat sich KANT dagegen verwahrt; es war in den Wind gesprochen, FICHTE wurde der Mann des Tages. Dann wurde es SCHELLING; auch er hat den dogmatischen Faden gesponnen, nur zu einem anderen Gewebe. Dann HEGEL; dasselbe. An HEGEL knüpft MARX an und bog dann, was er von ihm brauchen konnte, unter dem Einfluß des ebenfalls dogmatischen Positivismus ins Materialistische um. Dogmatisms da, Dogmatismus dort - was sollte dabei herauskommen? Dazu das starke politische Temperament, das MARX in wissenschaftlichen Dingen nicht minder beeinflußt hat; sein Freund ENGELS erzählt davon in rührender Naivität. Ich möchte nicht mißverstanden werden: es fällt mir natürlich nicht ein, ADAM SMITH und die anderen bis MARX und ENGELS gering zu schätzen. Sie alle waren in ihrer Art außerordentliche Köpfe und ADAM SMITH, der trotz seiner Irrtümer eine Wissenschaft, wenn auch nicht erschaffen, so doch begründet hat, noch etwas mehr. Aber was sie in den Prinzipien geleistet haben, zerrinnt vor der Erkenntniskritik unter den Händen. Manches davon ist ganz und gar falsch, manches mindestens verzerrt. Den Einfluß der Produktionsverhältnisse auf verschiedene andere Gebiete des Lebens wird man nicht bestreiten; aber wenn man die Produktionsverhältnisse zur Basis und Seele aller Dinge macht, kommt etwas ganz Unmögliches dabei heraus. Dies in Verbindung mit der alleinseligmachenden Naturnotwendigkeit hat auch manche praktische Folgen gehabt, womit ich gar nicht die politischen meine. Es ist wie ein blutiger Witz der Weltgeschichte, daß eine große und wichtige Gruppe der Bevölkerung an die Alleinherrschaft des Materiellen glaubt und nicht sieht, daß sie damit nur einer metaphysischen  Idee  folgt, die ihr natürliches, gesundes Denken und Empfinden beirrt. Glücklicherweise sind solche Ideen starken Momenten des praktischen Lebens doch nicht gewachsen. Wenn der Augenblick das Gemüt ergreift, sinkt die metaphysische Hülle und der natürliche Mensch tritt hervor.

Von Grund auf anders als alle übrigen ist die  ethisch Richtung der Nationalökonomie. Als sie entstand, befand sie sich - so kann man wohl sagen - in der Lage eines Mannes, der sich um Spekulationen nicht viel kümmert und einfach die Grundsätze für richtig hält, die ihm sein gesunder Menschenverstand empfiehlt. Diese Art des Vorgehens genügt nicht in allen Dingen; sie reicht z. B. nicht für Erkenntniskritik aus, die es mit haarscharfen Unterscheidungen zu tun hat; die bieten sich dem Verstand nicht ohne weiteres dar, sondern müssen mühselig mit der Radiernadel herausgearbeitet werden. Aber in  praktischen  Dingen trifft ein gesunder Menschenverstand oft viel sicherer den richtigen Weg als eine langwierige Spekulation und die Praxis war es, wovon die ethische Nationalökonomie ausging. Es ist ein großes Glück, daß sich damals Männer der Wissenschaft fanden, die sich durch nichts aufhalten ließen, ihrer gesunden Einsicht zu folgen und Nationalökonomie als das zu lehren, was sie vor allem anderen ist: als praktische Wissenschaft, die ethische Forderungen erhebt. Für eine  exakte  Fundamentierung der Nationalökonomie waren damals die Voraussetzungen so wenig gegeben wie heute. Man könnte sagen, daß es unsere Wissenschaft sogar in  der  Zeit leichter gehabt hätte, in der sie noch nicht existierte oder eben erst entstand: in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein moderner Philosoph hat über die philosophischen Schriften jener Zeit geringschätzig geäußert, es stehe ja überall so ziemlich dasselbe drin. Er hat nicht bemerkt, welches Lob das für jene Zeit ist und welches Urteil über unsere - wie viel "Schule" seither verloren gegangen ist. Die Praxis kann aber nicht warten, bis das wiedergewonnen ist und die ethische Nationalökonomie war so gesund, nicht zu warten, sondern uns den sozialpolitischen Fortschritt der letzten vierzig Jahre zu bringen, den wir ja in erster Linie, direkt oder indirekt, den "Kathedersozialisten" verdanken.

Die ethische Richtung hat aber nicht nur Praktisches geleistet, sondern auch mit ihrem Zielgeben den wahren Charakter der Nationalökonomie und deren adäquates Prinzip der Systematisierung zum Ausdruck gebracht. In der Nationalökonomie und deren adäquates Prinzip der Systematisierung zum Ausdruck gebracht. In der Nationalökonomie handelt es sich vor allem um die Menschen, also um Wesen, die mit Willensfreiheit begabt sind, um einen gewissen Kreis ihrer Tätigkeit. Jeder Versuch aber, die Tätigkeit solcher Wesen mit einem Prinzip des  Seins  zu systematisieren, muß zuschanden werden, denn ein solches Prinzip reicht nur dort aus, wo Notwendigkeit herrscht. Es ist gar nicht möglich, ein derartiges Prinzip, unter das man alle wirtschaftlichen Handlungen subsumieren könnte, zu finden, denn was man auch konstruieren möge - die Freiheit kümmert sich nicht darum und durchbricht es. Für ihr Gebiet gibt es nur  ein  Prinzip der Systematisierung: das  Sollen;  die obersten Grundsätze des Sollens sind aber ethisch. So ist es die  Willensfreiheit die über den Charakter der Nationalökonomie entscheidet: sie ist  teleologisch  und  ethisch.  Gerade das wird wieder von einer neueren Richtung bestritten, die meint, die Nationalökonomie dürfe nur feststellen, was ist und müsse sich jedes Werturteils enthalten; höchstens dürfe sie hypothetisch sagen: wenn man das oder das will, sieht die Sache so aus so aus. Das ist eine Müdigkeit, die eine natürliche Folge der philosophischen Situation unserer Zeit ist! Aber wenn auch die Unsicherheit, die in der wissenschaftlichen Ethik wie in der Erkenntnistheorie besteht, ein ganz exaktes Vorgehen in der Nationalökonomie unmöglich gemacht hat, womit die Differenzen in den Werturteilen der Nationalökonomen zusammenhängen, so ist man doch nicht berechtigt, auf die ethische Grundlage der Nationalökonomie zu verzichten. Denn eine Wissenschaft, deren  Seele  die ethische Teleologie ist, fordert zur Stellungnahme heraus und man kann nicht von der Aufgabe entbunden werden, das so gut zu machen, wie es eben gehen mag. So allein kann auch das Bewußtsein vom wahren Wesen der Nationalökonomie erhalten bleiben. Derer aber, die dieses Bewußtsein geschaffen haben, indem sie die ethische Nationalökonomie begründeten und die damit die Initianten der deutschen Sozialreform gewesen sind, wird jede künftige Zeit, die gesunden Sinn hat, mit Stolz und Dankbarkeit als großer Repräsentanten der Nationalökonomie gedenken. Zu ihnen gehört LUJO BRENTANO.
LITERATUR - Robert Drill, Nationalökonomie und Willensfreiheit, Festschrift für Lujo Brentano zum 70. Geburtstag, München und Leipzig 1916