ra-2 Die WillensfreiheitDer freie WilleNationalökonomie und Rechtswissenschaft    
 
ROBERT DRILL
Nationalökonomie und Willensfreiheit
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"Man kann der Nationalökonomie keinen Vorwurf daraus machen, daß ihre erkenntnistheoretische Begrüngung noch recht viel zu wünschen übrig läßt, denn wer soll sich in jenem Irrgarten zurechtfinden, wenn ihn nicht ein glücklicher Zufall den rechten Weg weist? Es bestünde auch keine Hoffnung, jemals zu befriedigenden Zuständen zu gelangen, wenn die Behauptung richtig wäre, daß die Philosophie ihrer Natur nach gar nicht imstande sei, feste Resultate zu geben. Wenn das richtig wäre, dann wäre aber auch das Urteil über die Philosophie gesprochen; denn persönliche Meinungen brauchen niemanden zu interessieren und sind keine Wissenschaft, auch wenn sie im gelehrtesten Gewand erscheinen. Das Kennzeichen des Wissens ist Objektivität, d. h. es muß Gründe haben, von deren Richtigkeit sich jedermann, der die nötige Bildung hat, überzeugen kann."

"Das Suchen nach wirtschaftlichen  Gesetzen  kennzeichnet auch die  österreichische Schule.  Sie ist allerdings viel vorsichtiger, als die klassische Nationalökonomie, denn sie behauptet nicht, die volle empirische Wirklichkeit zu erfassen und begnügt sich, mit der Isoliermethode den Menschen unter dem Einfluß des Eigennutzes zu betrachten. Aber sie meint, nichtsdestoweniger auf diese Weise zu  exakten Gesetzen  zu gelangen, die den Naturgesetzen an Allgemeinheit und Notwendigkeit an nichts nachstehen. Das ist nun wieder eine Täuschung, denn in der Konstruktion, bei der man den Eigennutz allein auf das Wirtschaftssubjekt wirken läßt, ist der entscheidende Faktor, eben der Eigennutz, eine  variable  Größe. Man müßte den Eigennutz in Kilogramm ausdrücken können, um etwas  Gesetzmäßiges  damit auszumachen, denn in Wirklichkeit ist der Eigennutz wie jeder Trieb so differenziert, daß jeder Versuch, allgemeine  Gesetze  der Wirksamkeit des Eigennutzes zu finden, vergeblich ist und nur  Schemata  zu erzielen sind. Diese Täuschung ist eine psychologische, aber das, was gelockt hat, in sie zu verfallen, ist wiederum jene metaphysische Idee, überall in der Welt eine Naturgesetzlichkeit zu suchen."


Auf den ersten Blick mag manchem das Thema "Nationalökonomie und Willensfreiheit" etwas weit hergeholt erscheinen. Immer noch ist die Zahl derer nicht gering, die meinen, daß man die alten Zweifelsfragen der Menschheit ruhig den Philosophen überlassen könne, zumal das sie ja doch nicht imstande seien, sie zu lösen, wie der Umstand beweise, daß trotz einer zweieinhalbtausendjährigen Geschichte der Philosophie auch heute noch ganz entgegengesetzte Ansichten auf diesem Gebiet bestehen; die Nationalökonomie habe Dringenderes zu tun, als den Chor der philosophischen Streiter zu vermehren. Indessen läßt sich wohl zeigen, daß es für die Nationalökonomie als Wissenschaft kein wichtigeres Problem gibt, als die Frage nach der Freiheit oder Unfreiheit des Willens, denn es ist geradezu das  Grundproblem  der Nationalökonomie, weil von der Beantwortung ihr Charakter und ihre Methode abhängen, insofern das wissenschaftlich exakt sichergestellt sein soll und man sich nicht damit begnügt, von mehr oder weniger unsicheren Meinungen aus die wirtschaftlichen Erscheinungen zu systematisieren. Daß es ein  philosophisches  Problem ist, das in so entscheidender Weise die  Nationalökonomie  beeinflußt, wundert den nicht, der sich mit den erkenntnistheoreteischen Fragen befaßt hat, denn die Nationalökonomie teilt dieses Schicksal mit allen anderen Erfahrungswissenschaften. Sie alle arbeiten mit Voraussetzungen, mit gewissen Grundbegriffen und Grundsätzen, deren Legitimation sie in ihrem Kreis, im Kreis der Empirie nicht erweisen können, weil es überempirische oder, wenn man will, vorempirische Begriffe und Grundsätze sind, über die nur eine logische, philosophische Untersuchung entscheiden kann. Der natürliche Weg wäre also überall der, daß die Erfahrungswissenschaften ihre Voraussetzungen als fertige Resultate von der Philosophie übernähmen. Aber leider ist das nicht so einfach, aus dem Grund, weil die Philosophie, so, wie sie heute ist, gar keine fertigen Resultate zu bieten hat, ja noch mehr, weil die meisten Vertreter der Philosophie geradezu von dem Standpunkt ausgehen, daß die Philosophie solche Resultate überhaupt nicht bieten könne. Fast jeder Philosoph hat seine eigenen Ansichten. Man kann darum der Nationalökonomie keinen Vorwurf daraus machen, daß ihre erkenntnistheoretische Begrüngung noch recht viel zu wünschen übrig läßt, denn wer soll sich in jenem Irrgarten zurechtfinden, wenn ihn nicht ein glücklicher Zufall den rechten Weg weist? Es bestünde auch keine Hoffnung, jemals zu befriedigenden Zuständen zu gelangen, wenn die Behauptung richtig wäre, daß die Philosophie ihrer Natur nach gar nicht imstande sei, feste Resultate zu geben. Wenn das richtig wäre, dann wäre aber auch das Urteil über die Philosophie gesprochen; denn persönliche Meinungen brauchen niemanden zu interessieren und sind keine Wissenschaft, auch wenn sie im gelehrtesten Gewand erscheinen. Das Kennzeichen des Wissens ist Objektivität, d. h. es muß Gründe haben, von deren Richtigkeit sich jedermann, der die nötige Bildung hat, überzeugen kann. Daß die Philosophie allerdings in der Lage ist, Wissen zu schaffen, war die Überzeugung IMMANUEL KANTs, für die er auf seine Tat hinweisen konnte. Nur deshalb, weil er sich bewußt war, daß Philosophie zu apodiktischer [unwiderlegbarer - wp] Gewißheit gelangen kann, blieb sie ihm Wissenschaft, denn er hat es klar und wiederholt ausgesprochen, daß die Philosophie entweder diese Gewißheit leisten muß oder gar nichts ist. Daß es so sein muß, läßt sich einsehen, denn die Philosophie hat es nur mit dem Apriori zu tun - mit Erkenntnissen, die für schlechthin notwendig gehalten werden wollen oder weniger schulgemäß ausgedrückt: die Philosophie liegt logisch vor der Erfahrung und hat daher kein anderes Mittel der Erkenntnis, als  vollständige  Schlüssigkeit und das ist apodiktische Gewißheit, gedankliche Notwendigkeit. Wenn sich diese Notwendigkeit nicht erweisen läßt, dann mögen die Gedanken sehr schöne, geistreich und alles mögliche sein, aber als Wissen und Wissenschaft sind sie nichts.

Daß jede nationalökonomische Richtung irgendwie auf philosophischen Grundlagen ruht, läßt sich leicht zeigen und daraus ist auch der tiefste Grund zu erkennen, der ganze nationalökonomische Schulen in die Irre geführt hat; denn, sind die Prinzipien verkehrt, dann ist es auch das System, mag auch manches und selbst vieles einzelne richtig sein. Einige Beispiele in kurzen Hinweisen werden genügen, zumal die Tatsachen, die hier vorzubringen sind, dem Nationalökonomen nichts Neues sagen; sie sollen mir nur dazu dienen, den Gesichtspunkt hervortreten zu lassen, um den es sich hier handelt.

Man kann es wohl als das Charakteristische der sogenannten  klassischen  Nationalökonomie ansehen, daß sie die Volkswirtschaft als eine Mechanik des wirtschaftliche Egoismus betrachtet; die menschliche Natur sei überall dieselbe, alle Menschen seien von denselben Trieben fast in gleichem Maße beherrscht und darum seien die allgemeinen Sätze, die man aus dem wirtschaftlichen Beobachtungsmaterial ableiten könne, Naturgesetze der Volkswirtschaft, die immer und überall gälten. Es ist nun sehr interessant, den logischen Spuren nachzugehen, die erkennen oder erraten lassen, wie die klassischen Nationalökonomen zu dieser Auffassung kamen. Eine gewöhnliche Erklärung ist die, daß sie die Ergebnisse ihrer Beobachtungen, die aber oft wenig umfassend gewesen seien, unzulässig verallgemeinert hätten. Das ist richtig, aber es erklärt noch nichts, denn es fragt sich,  warum  sie das getan haben. Man muß sich doch fragen, wie Männer, die ja nicht in naiver Weise geurteilt haben, sondern trotz aller Fehler wissenschaftlich arbeiteten, dazu kamen, daß sie kein Bedenken trugen, aus einem verhältnismäßig kleinen Beobachtungsmaterial die allgemeinsten Schlüsse zu ziehen? Das ist nur so zu erklären, daß sie schon mit der Voraussetzung, dies sei wissenschaftlich zulässig, an das Material herantraten, denn ohne dieses Urteil hätte auch ihr Material sie belehren können, daß sie in ihren Behauptungen mindestens hätten vorsichtiger sein müssen. Sie sind einer Selbsttäuschung zum Opfer gefallen, deren Grund darin liegt, daß sie den fundamentalen Unterschied zwischen dem Verhalten der Natur und der Menschen nicht sahen. Der Naturforscher, der ein Experiment gemacht hat, ist überzeugt, daß unter den gleichen Umständen jede Wiederholung des Experiments zu demselben Ergebnis führen muß, wie das erste Mal, denn er geht von dem Grundsatz aus, daß sich die Dinge unter gleichen Umständen in gleicher Weise verhalten. Die Richtigkeit dieses Grundsatzes ist die notwendige Voraussetzung nicht nur des Experimentierens, sondern der ganzen Erfahrung. Aber was für die Natur gilt, gilt nicht in der gleichen Weise für die menschlichen Handlungen. Man findet in ihnen freilich gewisse Regelmäßigkeiten, aber wenn man sich verleiten läßt, diese  Regel mäßigkeiten für  Gesetz mäßigkeiten zu halten und zu meinen, daß sich die Menschen unter den gleichen wahrnehmbaren Umständen wie die Natur immer in gleicher Weise verhalten, so sind das Gedanken, Prinzipien, die unter dem Einfluß einer  metaphysischen Idee  entstanden, der Idee, daß alles in der Welt nach Gesetzen der Natur geschehe. Diese Idee kann in jedem Menschen wirksam werden, ohne daß er sie von jemandem übernähme, denn sie kommt aus der reinen Vernunft, bei ADAM SMITH aber, dem Begründer der klassischen Nationalökonomie, hat man auch eine historische Erklärung. ADAM SMITH gehörte in seinen moralphilosophischen Ansichten zur schottischen Schule der Universität Glasgow. Die Darstellung der Morallehre, die er gibt, ist nicht sehr exakt, aber ihr Grundgedanke ist ein  naturalistischer:  die Natur leitet die Menschen durch Instinkte, die Vernunft hat keine leitende Stellung, sondern gewinnt ihre Urteile über das, was geschehen soll, erst aus der Beobachtung der Forderungen, die die Naturinstinkte an den Menschen stellen; der herrschende Trieb ist die Selbstliebe und auch ihre Schranken, wie Klugheit, Gerechtigkeit und Wohlwollen, sind im Grunde nichts anderes als indirekte Selbstliebe. Das ist eine Auffassung, die ihre Abhängigkeit von jener Idee deutlich verrät. LUJO BRENTANO hat in seiner Schrift über "Das Arbeitsverhältnis gemäß dem heutigen Recht" die Ansicht vertreten, daß ADAM SMITH ein Anhänger der  materialistischen  Weltanschauung gewesen oder es geworden sei, als er den jungen Herzog BUCCLEUGH auf einer Reise nach Frankreich begleitete und dort mit den Physiokraten und Enzyklopädisten, insbesondere mit HELVETIUS, verkehrte. Für den Zweck dieser Abhandlung macht es aber nicht aus, ob man ADAM SMITH dem Materialismus oder dem schottischen Naturalismus zuzählt, denn beide Weltanschauugnen stehen unter dem Einfluß jener Idee und es sollte hier nur gezeigt werden, wie die klassische Nationalökonomie mit ihren Leitgedanken in der Philosophie wurzelt und zwar in einem Teil von ihr, wohin der kritisch Geschulte den klassischen Autoren nicht folgen wird, denn es ist das Gebiet der  dogmatischen  Metaphysik.

Ein anderes Beispiel ist KARL MARX. Seine geistige Abstammung von HEGEL und FEUERBACH, vom französischen Sozialismus und Positivismus und von der klassischen Nationalökonomie ist so bekannt, daß man nichts darüber zu sagen braucht. In seiner Lehre und Schule tritt die metaphysische Idee von der allgewaltigen, auch den Menschen ganz beherrschenden Naturnotwendigkeit mit besonderer Schärfe hervor und ergreift auch in einer charakteristischen Formulierung die  historische Entwicklung.  Es ist geradezu die Generalidee seines Werkes, aus der Wissenschaft den ganzen  teleologischen  Teil auszumerzen und die Naturkausalität zur Alleinherrscherin zu machen. Er erreichte seine Absicht dadurch, daß er die objektive soziale Entwicklung mit dem subjektiven Wollen und Handeln identifizierte. Das heißt: was den Menschen als zielbewußtes Handeln erscheint, das ist nach MARX nur die Art und Weise, wie die von der Naturkausalität geführte soziale Entwicklung in Erscheinung tritt. Diese kühne, allzu kühne Konstruktion, die ein Vorbild bei HEGEL hatte, ist der Kern der materialistischen Geschichtsauffassung und damit die Seele des Marxismus. Sie degradiert die Welt der Tat zur Jllusion (obgleich die Marxisten das nicht gelten lassen wollen - ohne Inkonsequenzen geht es eben bei solchen Konstruktionen nicht ab) und sie sieht das Reale nur in der absoluten Naturnotwendigkeit. Von hier aus erhalten alle Einzelheiten des Marxismus ihre charakteristische Färbung. Daß sich Kapitalien konzentrieren, ist Tatsache; dem Marxismus genügt das aber nicht und er sagt: sie  müssen  sich konzentrieren. Daß es Klassenkämpfe gibt, sieht jedermann, der Marxismus aber sagt, daß sie sein  müssen.  So stellt er alles unter die Idee der Notwendigkeit, schließlich auch das Endziel, den Kollektivismus, der nach seiner Ansicht absolut unvermeidlich ist. In den letzten anderthalb Jahrzehnten sind allerdings viele Sozialisten in diesen Fragen recht skeptisch geworden und es ist wahrscheinlich, daß der eigentliche Marxismus von den praktischen Erfordernissen des Tages immer mehr verdrängt wird. Das scheint aber auch der einzige Weg zu sein, wie die Sozialisten selber mit ihm fertig werden mögen, denn man muß sagen, daß die Kritik, die die sogenannten Revisionisten an ihm geübt haben, unzureichend ist. Diese Kritik war fast durchaus empirisch, aber damit allein kann man an die Wurzel des Marxismus nicht herankommen, denn die Wurzel, die materialistische Geschichtsauffassung, die das Ganze nährt, ist  metaphysisch.  Beim empirischen Argumentieren findet sich leicht ein Ausweg. Man hat ja gesehen, wie das gemacht wird: Läßt sich die absolute Verelendung nicht mehr halten, so wird sie eben relativ und exakt zu beweisen, daß auch diese nicht vorhanden sei, wird die Statistik noch nicht ausreichen. Man kann kritisch nur dann zu einem festen Ergebnis kommen, wenn man die Grundanschauung des Marxismus durchleuchtet, denn dann sieht man, daß er die Welt überhaupt verkehrt anschaut, weil es sich im sozialen Leben keineswegs in erster Linie oder gar ausschließlich darum handelt, was  ist,  sondern darum, was und wie es anders  gemacht  werden soll. So ist also auch hier die Frage, ob Naturnotwendigkeit oder Freiheit im sozialen und historischen Geschehen, die erste aller Fragen. Die Voraussetzung ihrer Beantwortung aber ist Klarheit über die Willensfreiheit.

Das Suchen nach wirtschaftlichen "Gesetzen" kennzeichnet auch die  österreichische Schule.  Sie ist allerdings viel vorsichtiger, als die klassische Nationalökonomie, denn sie behauptet nicht, die volle empirische Wirklichkeit zu erfassen und begnügt sich, mit der Isoliermethode den Menschen unter dem Einfluß des Eigennutzes zu betrachten. Aber sie meint, nichtsdestoweniger auf diese Weise zu "exakten Gesetzen" zu gelangen, die den Naturgesetzen an Allgemeinheit und Notwendigkeit an nichts nachstehen. Das ist nun wieder eine Täuschung, denn in der Konstruktion, bei der man den Eigennutz allein auf das Wirtschaftssubjekt wirken läßt, ist der entscheidende Faktor, eben der Eigennutz, eine  variable  Größe. Man müßte den Eigennutz in Kilogramm ausdrücken können, um etwas "Gesetzmäßiges" damit auszumachen, denn in Wirklichkeit ist der Eigennutz wie jeder Trieb so differenziert, daß jeder Versuch, allgemeine  Gesetze  der Wirksamkeit des Eigennutzes zu finden, vergeblich ist und nur  Schemata  zu erzielen sind. Diese Täuschung ist eine psychologische, aber das, was gelockt hat, in sie zu verfallen, ist wiederum jene metaphysische Idee, überall in der Welt eine Naturgesetzlichkeit zu suchen. Wer sich Gedanken über die Konstruktion der Welt macht, ist immer in Gefahr, von dieser Idee in die Irre geführt zu werden, wenn er nich schon über ihren dialektischen Charakter aufgeklärt ist. Denn der Anreiz, der von dieser Idee ausgeht, ist groß: sie verspricht eine außerordentliche Förderung des Wissens, nämlich die Entdeckung eherner Gesetzlichkeit auf Gebieten, die einen anderen, unbestimmteren Charakter als die Naturwissenschaft zu haben scheinen. Kein Wunder daher, daß insbesondere in der Zeit, als die Naturwissenschaft unerwartet große Fortschritte machte, eine förmliche Sucht nach Naturgesetzlichkeit auf anderen Gebieten ausbrach, wie sich das in zahlreichen Soziologien und in der Konstruktion historischer Gesetze zeigte und noch zeigt. In der neuesten Zeit haben diese Versuche allerdings stark an Kredit verloren, was neben der natürlichen Ernüchterung neueren Schriften über die Grenzen zwischen Natur- und Kulturwissenschaften zu danken ist. Aber die Entscheidung über jene idee kann nicht durch mehr oder weniger geistreiche Betrachtungen, sondern nur dadurch herbeigeführt werden, daß man die Idee an ihrem Ursprung aufsucht und hier mit vollständiger logischer Exaktheit Recht und Anmaßung ihres Anspruchs voneinander scheidet. Ihr Ursprung ist die Vernunft. Wir haben keine anderen Erkenntnisquellen als Erfahrung und Vernunft. Der Satz aber, daß alles in der Welt nach Gesetzen der Natur geschehe, stammt aus der Vernunft, denn er geht über alle mögliche Erfahrung hinaus.

Damit ist auch der Weg der Kritik vorgezeichnet: über Vernunftideen kann nur  Vernunftkritik  entscheiden; die Erfahrung reicht an die Ideen nicht heran, die Vernunft aber muß imstande sein, das, was sie hervorbringt, auf die Rolle hin zu beurteilen, die ihm zukommt. Wenn KANT dieses Vertrauen zur Vernunft nicht gehabt hätte, wäre er nicht auf den Gedanken gekommen, Vernunftkritik als apodiktische Wissenschaft zu versuchen. Der Erfolg hat ihm recht gegeben. Wenn das auch heute noch sehr wenig anerkannt ist, so liegt das freilich zu einem Teil an KANT selber, nämlich an seiner didaktisch wenig zweckmäßigen Art der Behandlung des Gegenstandes. Es mag wohl so gewesen sein, daß KANT im Laufe der Zeit den Maßstab dafür verlor, was er dem Verständnis der anderen normalerweise hätte zutrauen dürfen oder vielleicht konnte er die Darstellung wirklich nicht besser machen, wie er in seiner Bescheidenheit angedeutet hat. In einer so schwierigen Sache muß man Fraktur reden, um deutlich zu werden. Sein Vortrag aber ist schwerfällig, manches Wichtige ist nur erwähnt, nicht ausgeführt und man kann sagen, daß man bei manchen Partien seiner Kritik schon wissen muß, was er will, um sie zu verstehen. Es hat zwar Personen gegeben und es gibt auch heute noch welche, die in seine Lehre vollständig eingedrungen sind. Aber das ist in den etwa 130 Jarhen, die seit dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft verflossen sind, direkt nur wenigen gelungen und ich bezweifle nicht im geringsten, daß auch ich KANT niemals begriffen hätte, wenn mir nicht das Glück zuteil geworden wäre, auf einige Schriften aufmerksam zu werden, die ich am Schluß nennen werde. Und doch ist Vernunftkritik keine Geheimwissenschaft, sondern denen, die schulgemäß zu denken vermögen, allgemein zugänglich, wenn man nur merkt, worauf es ankommt. Das soll hier am Problem der Willensfreiheit gezeigt werden. Es ist zwar hier nicht möglich, das Problem in aller Ausführlichkeit zu behandeln, die jedem Zweifel begegnen könnte, denn seine Lösung hat die ganze transzendentale Ästhetik und Analytik zur Voraussetzung. Aber es ist möglich, in ziemlich kurzen Ausführungen auf die entscheidenden Punkte aufmerksam zu machen. Das ganze Problem gliedert sich in drei Teile:
    1. die Antinomie der Vernunft
    2. die Organisation der Vernunft
    3. die Praxis
Die  Antinomien,  gewisse Widersprüche, die sich die Vernunft bei ihrem Bestreben, die Erfahrung zu überschreiten, selber macht, sind ganz besonders geeignet, den Philosophen zu kritischer Besinnung zu bringen. Denn es ist doch eine sehr sonderbare Sache, daß man über die Welt, das "All", gewisse allgemeine Gesetze aufstellen und formallogisch beweisen kann und daß man die genau  umgekehrten  Gesetze  ebenfalls  beweisen kann. KANT hat das an vier Antinomien gezeigt. So lautet die Thesis der ersten Antinomie: "Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen." Und die Antithese besagt: "Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raum, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit als auch des Raumes, unendlich." Obgleich sich diese beiden Sätze gegenseitig vollständig ausschließen, kann man sie beide zwingend beweisen. Es ist klar, daß da etwas nicht in Ordnung sein muß, denn der Widerspruch ist der sichere Beweis, daß man die Wahrheit verfehlt hat. Diese und die anderen Antinomien haben unzählige Philosophen beschäftigt, nur eben nicht als Antinomien, deren Streit unparteiisch zu schlichten sei, sondern in der Weise, daß sich die Philosophen für die These oder die Antithes entschieden oder völliger Skepsis ergaben. Nur KANT hat die Vernunft ihres Richteramtes walten lassen. Uns interessiert hier die dritte Antinomie. Ich will ihre Beweise in der verkürzten Weise wiedergeben, wie sie LUDWIG GOLDSCHMIDT formuliert hat. Die  These  lautet:
    Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig.
Beweis: 
    Angenommen, der Gegner (die Antithese) hätte recht, alles in der Welt geschehe nach Gesetzen der Natur, so hinge alles, was geschiht, mit einem früheren Zustand zusammen, der selbst wieder in einem notwendigen Zusammenhang mit einem vorhergehenden stünde. Wir hätten also für jede Wirkung eine Ursache, für diese wiederum eine Ursache bis ins Unendliche zu denken; diese Kette von Wirkungen und Ursachen hätte also keinen ersten Anfang, weil zu jedem Geschehen noch ein vorhergehender Zustand gedacht werden muß, von dem der jetzige abhängt. Die Reihe der voneinander abstammenden Ursachen wäre also niemals  vollständig,  also nicht  bestimmt.  Gerade darin aber besteht das Gesetz der Natur, daß ohne hinreichend (vollständig) bestimmte Ursache nichts geschieht. Also ist jene Annahme unbeschränkter Allgemeinheit der Naturkausalität mit sich selbst im Widerspruch, also muß eine unbedingte Spontaneität der Ursachen angenommen werden, durch die die Reihe angefangen werden kann, d. h. eine Kausalität, eine Art zu wirken, die nicht wiederum durch eine vorhergehende Ursache bestimmt ist. -
Die  Antithese  lautet:
    Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.
Beweis: 
    Gesetzt, es gäbe Freiheit in diesem eben bezeichneten Sinn, so würde die Kausalität schlechthin  anfangen  können; es würde Handlung (hier im allgemeinsten Sinn zu verstehen), ein Geschehen möglich sein, dem nichts vorherginge, das diese Handlung nach beständigen Gesetzen bestimmte. Wir befänden uns also im Widerspruch mit jenem Kausalgesetz, nach dem ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschieht. Also dürfen wir keine Spontaneität der Ursachen (die aus Gesetzmäßigkeit Gesetzlosigkeit machen würde) annehmen. - -
Das sind also die Beweise der beiden sich durchaus widersprechenden Sätze. Mit der bloßen Feststellung dieser Antinomie ist schon Wichtiges erreicht: der Anspruch des naturalistischen Satzes, daß alles in der Welt nur nach Gesetzen der Natur geschieht, wird  abgewiesen;  er kann nicht schlechthin gelten, denn sein Gegensatz hat ebenso gute Beweisgründe. Entweder sind beide Sätze falsch oder beide gelten nur mit Einschränkungen; ein drittes gibt es nicht. Nun ist es ohne weiteres klar, daß die Antithese gilt, wenn man sie auf die Welt der  Erscheinungen  beschränkt; alles, was in Raum und Zeit erscheint, erfolgt nach Gesetzen der Natur, also auch nach Naturkausalität. Aber KANT hat gezeigt, daß Raum und Zeit unsere Anschauungsformen sind und den  Dingen ansich  nicht zukommen. Man kann daher, ohne in einen Widerspruch zu geraten,  denken,  daß das Ding ansich Kausalität aus Freiheit hat. Freiheit ist damit nicht bewiesen, aber der Widerspruch, die Antinomie ist behoben und das genügt fürs erste, denn wenn man Kausalität aus Freiheit ohne inneren Widerspruch nicht einmal denken könnte, dann wäre sie sogleich abgetan. Es genügt freilich nicht, um eine Freiheit des Willens verständlich zu machen. Das leistet erst die Einsicht in die Organisation der reinen Vernunft, womit wir zum zweiten Teil der Sache kommen.
LITERATUR - Robert Drill, Nationalökonomie und Willensfreiheit, Festschrift für Lujo Brentano zum 70. Geburtstag, München und Leipzig 1916