tb-2p-4E. Franzvon KutscheraG. PatzigFrischeisen-KöhlerW. T. Marvin     
 
REINHARD KYNAST
Objektive Erkenntnis in den
exakten Wissenschaften

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"Indem Dinge als Gegenstände der durch die Axiome aufgestellten Beziehungen hingestellt werden, scheint es so, als ob durch die fünf Axiomengruppen Hilberts bloße Etwasse definiert würden, als ob also der inhaltliche Bestand der Sachverhalte allein in den Bedeutungen liegen, zwischen, kongruent usw., beschlossen wäre."

"Die Axiome der Kinematik sind keine Definitionen, also Operationen, denen Willkür anhaftet oder die aus praktischen Zwecken, etwa dem der Begreifbarkeit der Natur durch den Menschen angestiftet worden sind, vielmehr werden in ihnen Erkenntnisse formuliert, die für alle wirkliche Bewegung gelten sollten und auch tatsächlich gelten, sofern man eben die Erfahrung als abgeschlossen ansieht."

"Schon diese kurze Analyse des wichtigsten Grundbegriffes der Mechanik dürfte gezeigt haben, wie dieser durch die mannigfaltigsten Beziehungen mit den übrigen verknüpft ist, wie der Inhalt des einen Begriffes von dem der anderen getragen wird, wie der Massebegriff mit der Bewegung verknüpft ist und umgekehrt die Bewegung ohne Masse nicht zu denken ist, kurz, wie sehr die Bedeutung jedes einzelnen Begriffs ihren Inhalt und ihre Bestimmtheit nur dem systematischen Zusammenhang verdankt, in den sie kraft ihres Relationscharakters hineingepflanzt ist."


I. Die Erscheinung der Wissenschaft

Erkenntnisse finden ihre Darstellung durch die Wissenschaften. Ob Erkenntnisse außerhalb des Rahmens der Wissenschaft ihre Darstellung finden können, lassen wir dabei offen. Um die wissenschaftliche Darstellung zu realisieren, wird der im psychologischen Akt des Erkennens begriffene Sachverhalt dargestellt in Ausdrücken, denen als sinnlich-anschauliches Element die Worte angeheftet sind, als nichtsinnliches die Bedeutungen. Die Bedeutungen wiederum weisen auf das Bedeutete, den Gegenstand, ebenso wie der einheitliche Bedeutungskomplex, der Sinn, auf den Sachverhalt hinweist. Der Sachverhalt und zwar, da es sich um objektive Erkenntnisse handelt, die dargestellt werden, der bestehende Sachverhalt ist es, der zur Darstellung kommt. Es ist daher zu unterscheiden zwischen der Darstellung, oder dem, was da in der Wissenschaft erscheint. Die letztere Schicht erst, nachdem mit ihr noch ein bestimmter, genauer zu erklärender Reinigungsprozeß vorgenommen ist, bedeutet den eigentlich wissenschaftlichen, den objektiven Gehalt der Wissenschaft. Insofern sich eine alle Wissenschaften umspannende Erscheinungsart erkennen läßt, drängt sich der Begriff einer Erscheinungsform der Wissenschaft auf. Untersucht wird diese Erscheinungsform von vier Wissenschaften: den Sprachwissenschaften, der Psychologie, der reinen Bedeutungslehre und der Phänomenologie; sie betrachten vier verschiedene Seiten der Erscheinung der Wissenschaft.

Die Sprachwissenschaften sind auf die Gesetze der Ausdrücke und ihrer Formen gerichtet, die Denkpsychologie analysiert die Akte, in denen die Sachverhalte der Wissenschaft erkannt werden von den einzelnen Individuen.

Zu trennen von diesen beiden Disziplinen, weil u. a. in ihrer Begründung davon unabhängig, sind die Gesetze der Bedeutungskomplexion. Es ist sicher, daß "das Gedacht- und Ausgedrücktwerden den Bedeutungen nur zufällig ist". (1) Daraus aber folgt, daß die Gesetzlichkeit der Bedeutungszusammenhänge keinen Begründungszusammenhang mit der Sprach- und Seelenwissenschaft hat. Indessen werden wir diese Behauptung einschränken müssen, nachdem wir den Platz bestimmt haben, der der Phänomenologie in Bezug auf ihre Mitarbeit an der Erscheinung der Wissenschaft gebührt.

Lassen Sprachwissenschaft und Psychologie die Erscheinung der Wissenschaft, so wie sie gegeben ist in Büchern usw., unangetastet, so greift die Phänomenologie (2) die Erscheinung selbst an, jedoch nicht so, als ob sie die bestehenden Sachverhalte der Wissenschaften nach ihren Prinzipien umformen wollte; sie läßt den Bestand der Wissenschaft in seiner Geltung unberührt, ihre Aufgabe ist vielmehr, diesen Bestand zu größerer Gegebenheitsnähe zu bringen. Sie will die Inhalte der Bedeutungen zur Evidenz bringen, sie verdeutlicht das inhaltlich Gegenständliche an den Sinnzusammenhängen ohne Rücksicht auf deren Geltung. Insofern diese Sinnzusammenhänge auf Gegenstände und Sachverhalte hinweisen, müssen wir die objektive Schicht des Gegenständlichen einbeziehen in den Begriff der Erscheinung, der Darstellung der Wissenschaft. Indem der Phänomenologie die Klärung der Bedeutungen als einer ihrer höchst bedeutungsvollen Aufgaben zuzuweisen ist, gerät sie in ein eigentümliches Abhängigkeitsverhältnis zur "reinen Bedeutungslehre" (3). In dieser nämlich werden die möglichen Bedeutungszusammensetzungen aufgesucht und zwar ganz unabhängig vom besonderen Inhalt der Bedeutungen. Sie entwickelt die Bedingungen, unter denen die Bedeutungselemente stehen müssen, um sinnhaft zu sein. Ihre Gesetze wehren alle Bedeutungsstrukturen ab, die Sinnloses ergeben, denen also jeder Sinn fehlt. Es gehören daher in ihr Gebiet hinein alle diejenigen Bedeutungsverknüpfungen, die Sinn haben, also auch diejenigen, die mit Widersinn behaftet sind. Nur Unsinniges, nicht widersinnige Bedeutungen schaltet sie durch ihre Gesetze aus. Man kann ihren Gegenstand daher als die Entfaltung der Gesetze der Sinnhaftigkeit bezeichnen. Was diese reine Bedeutungslehre von der formalen Logik unterscheidet, ist dies: Während die formale Logik Bedingungen der Geltung für das dem Sinnhaften entsprechende Gegenständliche aufstellt, also geltendes und nichtgeltendes Sinnhaftes in seiner gegenständlichen Beziehung, sofern eben letzteres widersprechend ist, streng scheidet, stellt die reine Bedeutungslehre die Bedingungen der Sinnhaftigkeit schlechthin auf, also Sinnvolles und Sinnloses trennend, aber ganz ohne Rücksicht auf die gegenständliche Geltung. Daher sind die Gesetze der Bedeutungslehre notwendige Voraussetzungen für die Geltungslogik, jedoch nicht begründende, sondern Voraussetzungen für die Darstellung der Logik. "Diese Gesetze des Sinnes ... weisen der Logik die überhaupt möglichen Bedeutungsformen zu, deren objektiven Wert sie allererst zu bestimmen hat" (4). Alle Gegenstände, sofern sie wissenschaftliche sind, treten für uns als bedeutete auf. Der Gegenstand des Wahrnehmungserlebnisses kann erst zum wissenschaftlichen Objekt werden, wenn er durch die Bedeutung aus seiner individuell bewußtseinsmäßigen Bezogenheit herausgerissen und in die Schicht zeitloser Geltung gehoben wird. Die Lehre von der Möglichkeit der Bedeutungszusammenhänge ist daher eine notwendige Voraussetzung für die Darstellung jeder Wissenschaft. Sie gibt Bedingungen der "Verwirklichung" einer Wissenschaft an (5). Die Erscheinung der Wissenschaft ist nur unter den Bedingungen der Sinnhaftigkeit möglich. Daher können wir das Verhältnis der reinen Bedeutungslehre und der reinen Logik zueinander auch so formulieren: Sie bedingen sich gegenseitig, sie sind rein formale Disziplinen, die unbedingt gelten, die erstere für alle Darstellung der Wissenschaft, die letztere aber für alles objektiv Gegenständliche in der Wissenschaft d. h. für alles Dargestellte in der Wissenschaft. Erstere ist gleichsam die transzendentallogische Bedingung für alle Wissenschaft, auch für die Logik und Phänomenologie - und damit findet die oben nur angedeutete Beziehung zwischen Bedeutungslehre und Phänomenologie eine weitere Klärung -, letztere die formallogische Bedingung für alle Wissenschaft, auch für die reinen Bedeutungslehre und die Phänomenologie. Es darf aber nicht übersehen werden, daß das Verhältnis der Bedeutungslehre zur Phänomenologie als der Wissenschaft, die mit der Klärung der Bedeutungen vertraut ist, ein noch engeres ist als zu den anderen Wissenschaften, worauf hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann (6).


II. Die Logik und das ideale
Systsem der Wissenschaft.

Wir haben den Gegenstand der formalen Logik bereits durch einen Gegensatz zur Bedeutungslehre kurz gekennzeichnet; die reine Form der Erscheinung der Wissenschaft fiel der Bedeutungslehre zu, die reine Form dessen, was da erscheint, des Dargestellten, gehört der formalen Logik an. Indessen ist damit noch nicht der Gegenstand der Logik in seiner positiven Eigentümlichkeit gekennzeichnet. Von den Bedeutungen werden Gegenstände und Sachverhalte intendiert. Bedeutungen können vom Bewußtsein erfaßt werden, aber niemals Gegenstände bzw. Sachverhalte. Sie können nur "gemeint" werden vom Bewußtsein. Diesem phänomenologischen Begriff von Gegenstand und Sachverhalt, in dem die Geltung, das Bestehen nicht zum kritischen Problem wird - ich kann sowohl mittels der Bedeutung bestehende wie auch nicht bestehende Sachverhalte meinen - tritt der objektive Gegenstand und Sachverhalt gegenüber, also der Gegenstand oder Sachverhalt, der im objektiven Gehalt der Wissenschaft seinen Platz hat. Diese objektive Gegenständlichkeit in ihrer für allen objektiven Gehalt der Wissenschaft geltenden Struktur aufzuweisen, also die notwendigen Bedingungen des Wahrseins der Gegenstände und Sachverhalte zu entfalten, ist die Aufgabe der formalen Logik. Es gibt keine Logik der Begriffe und Urteile, sondern nur der objektiven Gegenstände und Sachverhalte. Nur zwischen Sachverhalten gibt es Begründungszusammenhänge. So, wenn wir folgende Darstellung verstehen wollen: A = C; nun ist A = B, folglich B = C. Aus dem Gleichsein von A und C sowie dem Gleichsein des A und B folgt dasjenige von B und C. Aber kann nicht ebenfalls aus dem gegebenen Sinn, dem der Sachverhalt korrespondiert, der Schluß gezogen werden auf einen neuen Sinn. Kann nicht aus dem bloßen Sinn der Sätze A = C, A = B der Schluß gezogen werden, daß der Sinn B = C gelten muß? Aber jeder Versuch, aus einer oder mehreren gegebenen Sinnhaftigkeiten mittels der Schlußgesetze der Logik einen neuen Sinn zu folgern, impliziert das Zurückgehen auf die bestehenden Sachverhalte, die jenen Bedeutungskomplexen entsprechen. Sprechen wir daher von einem geltenden bzw. nichtgeltenden Sinn, so ist dies nur möglich, wenn wir das Sachverhaltskorrelat dabei mitmeinen. Wir heben damit nur diejenigen Sinnmöglichkeiten voneinander ab, die auf bestehende und nichtbestehende Sachverhalte hinweisen. Der Sinn ist eben vor allem ein Thema der Aktschichten, er kann vom Bewußtsein erfaßt werden, der Gegenstand aber nicht. Bedeutungserlebnisse existieren real, Gegenstandserlebnisse aber nicht. (7)

Ist also der ideale Gegenstand der formalen Logik der objektive Gehalt der Wissenschaft, unabhängig von seinen besonderen Inhalten gefaßt, so muß dieser für die Logik irgendwie gegeben sein. Das kann aber keinesfalls der empirische Zustand der Wissenschaften sein, wie er heute vorliegt. Solange man in den Darstellungen der Mathematik noch keine Axiome kannte, konnte der Begriff des mathematischen Axioms nicht Gegenstand der Logik werden. Es mußte erst eine mehr oder weniger unbewußt nach den Regeln der Logik verfahrende Ordnung der mathematischen Wahrheiten eintreten, ehe die Logik sie zielbewußt zu ihrem Gegenstand machen konnte. Die Sachverhaltskomplexe des empirischen Zustandes, die außer nach logischen Prinzipien nach ökonomischen, nach pädagogischen oder sonstigen kulturhaften Gesichtspunkten aufgebaut sind, können mit ihren vielfachen Widersprüchen nicht das sein, was die Logik als den objektiven Gehalt der Wissenschaft fordert, können nicht die Darstellung desjenigen Wissenschaftsbegriffs sein, wie ihn die formale und transzendente Logik fordern, wenn man ihre Aufgaben in einer normativen Wendung etwa so formuliert: Die formale Logik gibt die notwendigen Bedingungen für das Bestehen der wissenschaftlichen Sachverhalte an, die transzendentale Logik die Bedingungen, unter denen im System der Wissenschaft stehende und dadurch allererst eindeutig bestimmte Gegenstände wirklich sind. Auch dann, wenn man den empirischen Zustand gemäß den Bedingungen, die die Phänomenologie an die Erscheinung der Wissenschaft stellt, idealisiert, entspricht diese Art eines idealen Zustandes nicht dem Wahrheitsgehalt der Wissenschaft. Vielmehr verlangt die Logik, die Wissenschaft, so wie sie gegeben ist, derart in ein "ideales Systems" umzugestalten, daß die Begründungsverhältnisse der einzelnen Sachverhalte klar zutage liegen; das, was Axiom ist, muß als Axiom herausgehoben sein; von einem Sachverhalt, der "deduziert" ist, muß klar erkennbar sein, welcher begründenden Voraussetzung er bedarf, und ebenso mußt der Herrschaftsbereich seiner Begründungsfähigkeit gegenüber den anderen das System erfüllenden Sachverhalten kenntlich gemacht sein. Da, wo eine Synthesis durch die Erfahrung hereintritt, muß der empirische Bestandteil herauslösbar sein. Infolgedessen ist das ideale System am Besten in den sogenannten axiomatischen Darstellungen der Wissenschaft verwirklicht, und wir werden daher im Folgenden diesen Darstellungen ein besonderes Augenmerk zuwenden. Infolge der logischen Begründungsverhältnisse zwischen den empirischen Bestandteilen der meisten Wissenschaften ist die "Reihenfolge" der Sachverhalte eine bestimmte, soweit sie nicht infolge des Ausbreitungscharakters der Wissenschaft variabel ist. Die Gebietsabgrenzung der einzelnen Wissenschaften, die in der Mathematik durch die Axiome ausreichend gewährleistet ist, wird in anderen Wissenschaften, wie zum Beispiel in der Geographie oder der Geschichte eines Volkes, durch "außerwesentliche Prinzipien" (8) hervorgebracht. In den empirischen Wissenschaften ist das ideale System nur insofern, - unter Abstreifung aller anthropozentrischen Gesichtspunkte -, veränderlich zu denken, als die Unerschöpflichkeit der Wirklichkeit das bestehende ideale System zur Aufnahme neuer Sachverhalte zwingt. Aber auch das ideale System der Logik oder der Mathematik muß den Begriff der Änderung der Sachverhalte zulassen, jedoch in einem anderen Sinn; nämlich nur so, daß neue Sachverhalte hinzutreten, die indessen die Wahrheit der bereits im idealen System vorhandenen nicht umstoßen (9). So wenig jemals so ein ideales System realisiert worden ist, noch realisiert werden kann, so unerläßlich fordert seine ideelle Existenz der Begriff der Wahrheit. Die Sätze, die den Begriff der Wahrheit entfalten, müssen ihrem Sinn nach unveränderlich, ja geradezu zeitlos in ihrer Geltung vorgestellt werden. Wäre der Begriff der Wahrheit und seine objektive Entfaltung veränderlich, dann gäbe es überhaupt keine aufweisbare Wahrheit im strengen Sinn. Andererseits fordert die Idee der Wahrheit irgendwie ihre, wenn auch noch so unvollkommene Darstellung. Diese Betrachtung überträgt sich auf alle streng geltende Wissenschaft.

Derjenige Erkenntnisbegriff, der jegliche Bezogenheit auf ein Bewußtsein abgestreift hat, der ferner entzogen ist der historischen Bedingtheit, der nur am Wahrheitsbegriff orientiert ist, kann daher nur am idealen System der Wissenschaft bestimmt werden. Bevor wir jedoch diesen objektiven Erkenntnisbegriff entwickeln können, müssen wir genauer auf wenigstens angenähert verwirklichte ideale Systeme eingehen. Am besten eignen sich hierzu diejenigen Wissenschaften, deren empirischer Zustand am meisten dem idealen System angepaßt ist, also diejenigen mit axiomatischer Darstellung. Unter diesen wählen wir eine nichtempirische und eine empirische Disziplin aus, nämlich die Geometrie (10) und die rationale Mechanik (11). Es erwächst freilich aus dieser Beschränkung auf spezielle Wissenschaften unserer Methode der Vorwurf, daß ihre Ergebnisse einseitig, nämlich an den exakten Wissenschaften orientiert sind; wir wollen uns diesen Vorwurf gern gefallen lassen, wenn gleichzeitig ein Vorzug unserer Methode zugegeben wird, den sie gegenüber einem vielfach geübten Verfahren besitzt, das in wissenschaftstheoretischen Untersuchungen vom Begriff der Wissenschaft spricht, ohne ihm die nötige Klarheit durch eine Fundierung auf die tatsächlich vorhandenen Darstellungen der Wissenschaft zu geben. Mit anderen Worten, wir verfahren in bewußter Anlehnung an HUSSERL hier nach einer mehr oder weniger reinen, phänomenologischen Methode, ohne dabei ein natürlich bloßes Aufweisen mit dem Beweisen auch nur im Geringsten vermengen zu wollen.


III. Die Objekte der Geometrie

Eine weitverbreitete Auffassung vom wissenschaftstheoretischen Charakter der Geometrie ist die, daß allein die Axiome synthetische Urteile sind im Sinne KANTs und daß daher aus diesen alle Sätze der Geometrie allein unter Zuhilfenahme der Sätze der reinen Logik sich begründen lassen. Daher gelten diese abgeleiteten Urteile als analytische, indem durch Definitionen neue Begriffe aus den axiomatisch hergestellten gebildet und von diesen neuen Begriffen dann Eigenschaften ausgesagt werden, die sich aus ihrer Definition und den Axiomen gemäß den Sätzen der formalen Logik ergeben.

Allein sieht man näher zu, so verschiebt sich die Leistung der synthetischen Funktion für die Erkenntnis beträchtlich zu ihren Gunsten, so daß die analytische Funktion erhebliche Einschränkungen erfährt. Betrachten wir zunächst die Axiome. Indem "Dinge" als Gegenstände der durch die Axiome aufgestellten Beziehungen hingestellt werden, scheint es so, als ob durch die fünf Axiomengruppen HILBERTs bloße "Etwasse" definiert würden, als ob also der inhaltliche Bestand der Sachverhalte allein in den Bedeutungen "liegen", "zwischen", "kongruent" usw., beschlossen wäre. Die Verschiedenheit der einzelnen Geometrien und die daraus folgende "Willkür" in der Bildung der Axiome legt in der Tat den Gedanken nahe, als ob es sich um "reine" Definitionen handelte. Dann würde der mathematisch völlig leere Inhalt des Etwas allein durch die Axiome gefüllt; wir hätten in den Axiomen "reine" Axiome zu sehen; allerdings hätten sie einen verschränkten Charakter. Es ist nämlich nicht so, daß durch ein einzelnes Axiom der Verknüpfung ein Ding-"Punkt" durch Elemente bestimmt wird, die von vornherein unabhängig von aller Bestimmung sind. Vielmehr kommen diese Bestimmungselemente in anderen Verknüpfungsaxiomen vor, die ihrerseits aber wieder die zu bestimmenden Elemente des ersten Axiomes als bestimmende enthalten. Die Fassung HILBERTs räumt den Punkten nur scheinbar eine Vorzugsstellung ein. Diese Verschränkung von Bestimmtem und zu Bestimmendem gestattet daher nicht, einen aufgrund der Definition eines "Dings" durch ein Verknüpfungsaxiom nach den Gesetzen der formalen Logik erschlossenen, bestehenden Sachverhalt einfach als analytisches Urteil anzusprechen, bei dem der Prädikatsbegriff schon "im" Subjektbegriff enthalten wäre. Die verzweigte "Relationsnatur" (12) dieser "ersten" geometrischen Gegenstände durchbricht eine solche primitive Methode der Begriffsbildung.

Aber kommt denn nun wirklich diesen Axiomensystemen irgendeine Art von Willkür zu? Sind die zu verknüpfenden Dinge nur leere Etwasse? Ist es so, daß "Punkt", "Gerade", "Ebene" willkürlich definiert werden in dem Sinn, daß die Definitionen nur den Gesetzen der formalen Logik und der reinen Bedeutungslehre zu gehorchen haben? HILBERTs Verknüpfungsaxiome setzen das Bestehen von Gegenständen voraus, die voneinander verschieden sind. Es lautet Axiom I1:
    "Zwei voneinander verschiedene Punkte A, B bestimmen stets eine Gerad a."
Zwar sind die Punkte durch die Verschiedenheit der Bezeichnung auseinandergehalten, aber die Bedeutung von A und B erschöpft sich nicht in diesen Zeichen. Es sind ja Dinge damit gemeint, die durch die folgenden Axiome näher bestimmt werden, so daß auch ihr Verschiedenheitscharakter, ihre spezifisch geometrische Art dadurch genauer festgelegt wird. Es muß hier also eine Unterscheidungsprinzip, die theoretische Möglichkeit der Unterscheidung der Dinge derselben Klassen angenommen werden, die sich nicht allein aus den arithmetischen Grundgesetzen folgern läßt. Denn indem es Dinge sind, die dem ersten Axiom unterworfen sind, erhalten sie einen spezifisch geometrischen Inhalt, den in den folgenden Axiomen nicht mehr widersprochen werden darf. Indem nun ferner diese Axiome in ihrer Gesamtheit stets so gefaßt sein müssen, daß sie eine vollständige Geometrie aufbauen können und nicht die Regeln eines beliebigen Spieles, verlieren sie noch mehr von ihrem Willkürcharakter und damit von dem einer reinen Definition. Die Gegenstände Punkt, Gerade und Ebene füllen sich mit immer speziellerem Inhalt, je mehr Axiome über sie ausgesagt werde. Daraus ergibt sich, daß hier nicht bloße Definitionen gegeben werden; so wenig die Beziehungsträger "zwischen", "liegen" usw. inhaltsleer sind, so wenig sind es die bezogenen Gegenstände. Wir verstehen dabei unter "Inhalt einer Bedeutung" bzw. eine Gegenstandes alle diejenigen - bedeutungsmäßig oder nicht - faßbaren Momente, deren Änderung gegenüber die Sätze aller nichtgeometrischen Wissenschaften invariant sind. Die "ersten" Gegenstände der Geometrie gehen also, mit einem spezifisch geometrischen Inhalt begabt, in die Axiome ein, zumindest in die auf das erste folgenden Axiome. Sobald das erste Axiom fixiert ist, unterstehen alle übrigen nicht bloß den Gesetzen der Logik, sondern diesem ersten geometrischen Axiom mit, unbeschadet der logischen Unabhängigkeit der Axiome untereinander. Und dieses erste Axiom ist keineswegs willkürlich. Es ist sowohl allen nicht-euklidischen wie allen nicht-archimedischen Geometrien gemeinsam. Hieraus erhellt sich gleichzeitig, daß die Reihenfolge der Axiome, also die Reihenfolge der logischen Bestimmungen in den geometrischen Gegenständen liegenden Zwang unterworfen ist. Das euklidische Axiom etwa läßt sich nich an den Anfang stellen. Es bedarf, um einen bestimmten Sinn zu haben, bereits einer ganzen Anzahl von Bestimmungen über die geometrischen Gegenstände. Die Inhalte, die durch den Begriff "parallel" verbunden werden, müssen viel reicher bestimmt sein - das liegt im "Wesen" von parallel - als diejenigen, die im Axiom I1, durch die Beziehung "bestimmen" verbunden werden.

Die entgegengesetzte extreme Auffassung , die die Axiome ebenfalls zu reinen Definitionen degradiert, würde die sein, alles Inhaltliche in die Gegenstände als gegeben hineinzuschieben, so daß die Art der Beziehung zwischen ihnen durch die Gegenstände bestimmt würde; dann würde die erste Gruppe der Axiome die Beziehung "liegen", die zweite die Beziehung "zwischen", usw. definieren. Allein diese Auffassung müßte voraussetzen, daß die Grundelemente "Punkt" usw. mit vollbestimmtem geometrischem Inhalt behaftet in das allererste Axiom eintreten. Ferner, könnte man die Relationsträge ersetzen nur durch den einen Begriff des bloßen "Bestimmens", dann wären allerdings die Relationen geometrisch inhaltsleer. Aber gerade dadurch, daß hier fünf verschiedene Relationsbegriffe auftreten, zeigt sich, daß sie von vornherein mit bestimmten Inhalten begabt, in die Axiome eintreten. Es bleibt hier, sofern man die fünf Relationsbegriffe hinsichtlich ihres logischen Inhaltscharakters gleichartig behandelt, nichts anderes übrig, als ihnen einen gewissen Anteil am Gesetzescharakter des Raumes schlechthin zuzuschreiben, von dem sie ihren Inhalt haben.

Die Axiome sind also wirkliche Erkenntnisse, die Anspruch auf Geltung haben. Es soll dabei nicht bestritten werden, daß es unter Zugrundelegung anderer Gegenstände - obgleich hier Bedenken auftreten - sowie anderer Beziehungsinhalte gelingen mag, das gegebene Axiomensystem zu vereinfachen, gleichsam weiter nach rückwärts zu verfolgen. Das ist begründet nicht bloß im logischen Aufgegebensein jedes Gegenstandes, sondern auch in der Unvollkommenheit der Darstellung.

Betreten wir jetzt das Gebiet der geometrischen Lehrsätze, untersuchen also die Struktur der sogenannten Folgerungen aus den Axiomen, so sei vorweg bemerkt, daß das System der Axiome in Bezug auf seinen Wahrheitsgehalt nicht identisch ist mit dem System der geometrischen Lehrsätze, indem letztere über jenen Wahrheitsgehalt hinsausgehen. Die bloße Anwendung der Sätze der formalen Logik führt nicht zum idealen System der Geometrie. So folgen z. B. aus den Axiomgruppen I bis IV mittels der Definition des Kreises eine Anzahl von Sätzen über den Kreis, z. B. der Satz, daß die Summe je zweier gegenüberliegender Winkel in einem Kreissehnenviereck gleich zwei Rechten ist. Nun lautet die "Definition" des Kreises (13): "Wenn M ein beliebiger Punkt in einer Ebene α ist so heißt die Gesamtheit aller Punkte A, für welche die Strecken M A einander kongruent sind, ein Kreis; M heißt der Mittelpunkt des Kreises." Hier sind alle Gegenstände und Beziehungen von den Axiomen gegeben mit Ausnahme des zu definierenden Dings, des Kreises. Indem aber aus der Menge der Punkte der Ebene α eine bestimmte "Gesamtheit" herausgegriffen wird, entsteht ein neuer Gegenstand. Die Vereinigung der gegebenen Bedeutungen und zwar gerade diese Vereinigung zu einer einzigen, natürlich sinnvollen und widerspruchslosen Bedeutung, der ein bestehender Gegenstand entspricht, ist eine Erkenntnis, die die Axiome der Geometrie und die Sätze der formalen Logik nicht leisten können. Nicht ist diese Vereinigung so zu denken, als ob die einzelnen Bedeutungen in der Definition "Merkmale" des Kreises sind - weder die Strecke M P ist ein Merkmal, das der Kreis hat, noch auch der Punkt M - vielmehr werden die einzelnen Bedeutungen in ganz bestimmter und unveränderlicher Weise gleichsam aufgeschichtet, ineinandergesetzt zu einer einzigen neuen Bedeutung, der ein einziger Gegenstand entspricht. In diesem neuen Gegenstand verlieren die vorher selbständigen Bedeutungen ebenso wie die durch sie bedeuteten Gegenstände ihre Selbständigkeit, sie erfahren also eine erhebliche Umformung. Es ist jedoch ebenso sicher, daß jene aus der Erklärung des Kreises folgenden Sätze nur aufgrund eben dieser Erklärung und der Sachverhalte der formalen Logik sowie der geometrischen Axiome deduzierbar sind. Es ist nicht zu leugnen, daß einer derartigen Definition ein gewisser Willkürcharakter innewohnt, so daß es scheinen mag, es komme ihr gar kein Geltungscharakter zu. In der Tat, hätte man eine andere Gesamtheit von Punkten herausgegriffen, etwa die einer Parabel, so wären die Definition und damit auch die aus ihr folgenden Sätze ganz anders ausgefallen. Nur das hätten beide Definitionen gemeinsam, daß eine geometrische Kurve erzeugt wird. Indessen der in der Definition intendierte Sachverhalt beansprucht in dem Sinne Wahrheit, als er mitbehauptet, daß der erzeugte Gegenstand ein bestehender der Geometrie sein soll; er sagt aus: Es gibt in der Geometrie einen Gegenstand von den und den bestimmten Eigenschaften. Es ist, wenn man will, damit eine Art Existentialurteil über einen ideellen Gegenstand ausgedrückt. Obwohl also der besondere Inhalt des neuen Gegenstandes von vornherein, d. h. bevor er in die Definition eingeht, bereits insofern einen geometrischen Inhalt, als er ein geometrischer Gegenstand sein muß, ein Gegenstand, der in sich eine Struktur gemäß den geometrischen Axiomen birgt (14), obgleich sein besonderer Inhalt keineswegs aus ihnen folgt. Es liegt daher in der "Definition" auch eines nicht den Axiomen angehörenden geometrischen Gegenstandes ein synthetisches Prinzip, das ihrem Gegenstand einen Geltungscharakter beilegt, der mit irgendeiner Zweckmäßigkeit für den Aufbau der Wissenschaft nichts zu tun hat (vgl. hierzu die Ergänzungen in Kapitel VI).


IV. Die Objekte der Mechanik.

Will man sich die logische Struktur der Gegenstände der Mechanik klarmachen, so stellen sich erheblich größere Schwierigkeiten entgegen als bei der Geometrie, infolge der sehr viel unvollkommeneren Art der Darstellung, in der diese Wissenschaft geboten wird (15). Die Axiomatik ist bei weitem nicht so durchsichtig wie in der Mathematik, und überhaupt sind der Darstellungen der Mechanik, die unter axiomatischen Gesichtspunkten unternommen worden sind, sehr wenige. Wir legen, um dem idealen System möglichst nahe zu kommen entsprechend den Absichten des zweiten Kapitels, die in großer Geschlossenheit auftretende Darstellung von HEINRICH HERTZ (16) zugrunde. Keineswegs wollen wir dabei die Mängel verkennen, die auch dieser Darstellung anhaften, wiewohl es die von HERTZ selber deutlich ausgesprochene Absicht seiner Darstellung ist, "die logische, oder wenn man will, die philosophische Seite des Gegenstandes (17) zur Geltung zu bringen. "Die innere Verwandtschaft und die Tragweite der mechanischen Prinzipien in durchsichtiger Klarheit vor Augen" zu legen, ist sein Ziel. Von diesen Mängeln heben wir hier nur hervor, daß die dringend zu fordernde Anwendung auf physikalische Spezialprobleme nicht zur Durchführung gekommen ist, wenngleich z. B. die Ableitung des d'Alembertschen Prinzips oder der Lagrangschen Gleichungen einen gewissen Ersatz bietet, und daß ferner die Hinzuziehung verborgener Massen, die durch die Ausschaltung des Kraftbegriffs notwendig wird, im allgemeinen nicht eindeutig vollziehbar ist. (18)

Daß in den "Axiomen" der Mechanik in der Formulierung von HERTZ eine ganze Reihe formal- und transzendentallogischer, geometrischer und arithmetischer Axiome verborgen sind, ist leicht zu sehen, doch kann es bei diesem Umfang und der Schwierigkeit der dabei zu behandelnden Probleme nicht unsere Absicht sein, diese Axiome einzeln herauszuschälen, vielmehr begnügen wir uns mit der von HERTZ gegebenen Darstellung, an der wir nur soweit Kritik üben, als es das unmittelbare Ziel unserer Fragestellung erfordert.

An jede Darstellung der Axiome einer Wissenschaft ist die dem idealen System entsprechende Forderung zu stellen nach der Vollständigkeit, Unabhängigkeit und Widerspruchslosigkeit der Axiome. All dies ist unter gewissen Voraussetzungen für die Geometrie von HILBERT erwiesen worden, wobei natürlich hinsichtlich seiner Darstellung dieselben Beschränkungen gelten, die jeder wirklichen Darstellung gegenüber dem idealen System anhaften.

Bezüglich der sogenannten Axiome der Mechanik ist nun die Frage nach der Vollständigkeit nur dann sinnvoll aufzuwerfen, wenn man den Begriff der ins unendliche fortwachsenden Erfahrung willkürlich auf den bisher von der Mechanik bearbeiteten Umkreis der Erfahrung einschränkt. Daher ist hier unter Erfahrung im engeren Sinne die Gesamtheit aller bisher bekannt gewordenen, also bereits dargestellten mechanischen Probleme zu verstehen (19). Indem HERTZ die bekannteren grundlegenden Sätze der Mechanik ableitet aus seinen Axiomen, ist in diesem Sinn die Vollständigkeit seines Systems zu bejahen. Es findet aber auch keine Übereinstimmung statt, es werden in die Gesamtheit der Axiome nicht mehr Bestimmungen aufgenommen, als unbedingt notwendig sind, um diese begrenzte Erfahrung zu umspannen. Immerhin mag eine Bemerkung von HERTZ über diesen Punkt nicht unterdrückt werden; er bleibt "den Beweis schuldig, daß sich jede beliebige Form der Kräftefunktionen erzielen läßt, und es bleibt daher die Frage offen, ob nicht etwa gerade eine der in der Natur vorkommenden Formen einer solchen Erklärungsweise sich entzieht" (Seite 44). Es ist dies ein Mangel, der nur die tatsächliche Darstellung, nicht die idealisierte betrifft.

Nicht erwiesen mittels einer besonderen Methode ist dagegen die Unabhängigkeit und Widerspruchslosigkeit der einzelnen Axiome, wenngleich natürlich die Darstellung meinem Ziel gemäß von diesen Gesichtspunkten durchaus beherrscht ist. Für die Widerspruchslosigkeit liegt eine gewisse Bürgschaft darin, daß die Darstellung in einem mathematischen Gewand auftritt, indem die Widerspruchslosigkeit der Mathematik als erwiesen angesehen werden darf, ferner aber darin, daß nur ein einziges Axiom angeführt wird, das die aus der Erfahrung aufzunehmenden Erkenntnisse umspannen soll.

Die Unabhängigkeit der Axiome dagegen voneinander müssen wir verneinen. In der Tat haben sich in seine kinematischen [bewegungstechnischen - wp] Axiome Bestandteile der Erfahrung eingemengt, so daß diese ersteren von seinem einzigen Erfahrungsgrundsatz abhängig sein müssen. So wenig sich bei der Betrachtung der Geometrie eine allgemeine Raumgesetzlichkeit, die gleichsam den "Ursprung" der Axiome bildet, unterdrücken läßt, so wenig läßt sich der analoge Gedanke in der Kinematik von der Hand weisen. Die Axiome der Kinematik sind keine Definitionen, also Operationen, denen Willkür anhaftet oder die aus praktischen Zwecken, etwa dem der Begreifbarkeit der Natur durch den Menschen angestiftet worden sind, vielmehr werden in ihnen Erkenntnisse formuliert, die für alle wirkliche Bewegung gelten sollten und auch tatsächlich gelten, sofern man eben die Erfahrung als abgeschlossen ansieht. Es ist klar, daß namentlich die Bestimmungen über die Masse Elemente aus der Erfahrung in sich aufnehmen. HERTZ definiert:
    "Ein Massenteilchen ist ein Merkmal, durch welches wir einen bestimmten Punkt des Raumes zu einer gegebenen Zeit eindeutig zuordnen einem bestimmten Punkt des Raumes zu jeder anderen Zeit.

    Jedes Massenteilchen ist unveränderlich und unzerstörbar. Die durch dasselbe Masseteilchen gekennzeichneten Punkte des Raumes zu zwei verschiedenen Zeiten fallen zusammen, wenn die Zeiten zusammenfallen. Diese Bestimmungen sind bereits in der Definition enthalten, wenn deren Wortlaut richtig gefaßt wird." (Seite 54)
Da die im ersten Absatz gegebene Defnition der Masse keineswegs hindert, diesem "Merkmal" eine Veränderlichkeit irgendwelcher Art zuzuschreiben, so wird in dem Zusatz durch eine neue Erkenntnis ausdrücklich die Unveränderlichkeit und Unzerstörbarkeit des Masseteilchens hervorgehoben. So sehr nun freilich bei der vorliegenden Fassung der Definition des Massebegriff die Erfahrung hinsichtlich der Geltung dieser Urteile ausgeschaltet ist, - er ist nur gedacht als konstantes Merkmal von geometrischen Punkten, um einen "bestimmten" Raumpunkt bei Veränderung seiner Koordinaten infolge einer gewissen unabhängigen Variablen (der Zeit) immer als "denselben" wiederzuerkennen, so sehr entspricht gerade diese Festlegung - wir sagen nicht einer Erzeugung des Massebegriffs - dem Stand der empirischen Forschung. Es liegt hier genau so wie mit dem Problem der "Einklammerung" in der Phänomenologie HUSSERLs (20). Gewiß gelten die "eidetischen" [bildhaften - wp] Wahrheiten unabhängig von aller Erfharung, nachdem die epoche [Zurückhaltung des Urteils - wp] vollzogen ist, weil und sofern sie dann eben Gegenstände betreffen, die gar nicht in der Erfahrung gegeben sind. Verlangt man aber von diesen eidetischen Wahrheiten hinterher, daß sie für alle Erfahrung gelten sollen, so muß man die Einklammerung wieder aufheben, und dann nehmen diese Wahrheiten auch sogleich wieder an der bedingten Geltung empirischer Sachverhalte teil (21). Würde man daher die Kinematik in der Fassung von HERTZ als eine durch die Einklammerung von aller bloß empirischen Geltung befreite Beschreibung des Bewegungsvorgangs als eidetische Wahrheit über das "Wesen" Bewegungsvorgang ansehen, so ist die strenge Geltung einer solchen Wissenschaft solange nicht zu bestreiten, als sie von jeder Anwendung auf die Erfahrung, also auch Geltung für die Wirklichkeit absieht. Dann hat auch HERTZ recht, wenn er seine Kinematik als Urteile a priori im Sinne KANTs ausdrücklich hinstellt (Seite 53). Damit aber erschöpft sich eben nicht die Bedeutung dieser und überhaupt jeder Kinematik. Sie will ihrem Sinn gemäß Gesetze aufstellen, die für wirkliche Bewegungen gelten sollen. Hätte HERTZ seinem "Merkmal" das bei der Anwendung auf die Wirklichkeit zur Masse wird, Veränderlichkeit zugesprochen, also nur den Funktionscharakter konstant erhalten, so wäre eine andere Kinematik, aber auch eine logisch mögliche Kinematik daraus geworden; sie hätte auch eine strenge Geltung, aber nur in sich und für sich und damit fiele das wesentliche Moment am Geltungsbegriff für sie weg; sie besäße gar keine, auch nicht einmal eine bedingte Geltung für die Wirklichkeit. Nur soweit eine Kinematik Geometrie und mathematische Analysis ist, gilt sie streng. Übrigens gibt HERTZ selbst zu (Seite 157), daß Erfahrung "schon in den Grundbegriffen" der Kinematik enthalten ist. Ferner sagt er Seite 32:
    "Masse und Raum ... treten ... zusammen zu einer Reihe wichtiger Erfahrungsmäßiger Beziehungen."
Damit ist also die Abhängigkeit seiner kinematischen Axiome von seinem einzigen Erfahrungsgrundsatz nicht zu trennen, sondern beide als für wirklich Bewegung geltend anzusehen. Trotz dieser Abhängigkeitsverhältnisse bleibt aber natürlich der Grundgedanke von HERTZ aufrechterhalten, in seinen Axiomen nicht bloß die hinreichenden, sondern auch nur die notwendigen Bedingungen für den Aufbau der Mechanik dargestellt zu haben.

Für die Sätze, aus denen HERTZ die Mechanik aufbaut, haben wir die Bezeichnung "Axiom" beibehalten, obwohl diesen Sätzen im allgemeinen keine strenge Geltung zukommt. Indessen sind sie nicht deduzierbar aus anderen Sätzen, daher sind sie, logisch genommen, erste Erkenntnisse der Mechanik, und insofern sind sie den Axiomen der Mathematik (22).

Das Eigentümliche der Axiome von HERTZ ist nun, daß sie außer Zeit, Raum und Masse keine weiteren Grundbegriffe mehr einführen. Die Kraft erscheint also als ein abgeleiteter Begriff; dies wird erreicht durch die Einführung verborgener Massen. Die Masse wird quantitativ in einer sich nicht unmittelbar aus ihrer Definition ergebenden Weise als ein Faktor des Quadrats der Verrückung eines Systems von Massenpunkten in die Rechnung eingeführt (Seite 63). Zu den hier gehörigen kinematisch gehaltenen Bestimmungen, hinter denen als Erfahrungssatz das zweite Bewegungsaxiom von NEWTON steht, tritt nun das einzige, der Erfahrung entnommene Axiom: "Jedes freie System beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung in einer geradesten Bahn." (Seite 162. "Über die geradeste Bahn", Seite 100). Um die Bewegung eines Körpers, wobei unter Körper immer ein System von Massepunkten, das unendlich viele Punkte von unendlich kleiner Masse enthalten kann, zu verstehen ist, in einem besonderen Fall zu begreifen, also einen wirklichen Bewegungsvorgang zu erklären aus den Axiomen, reichen aber dieses Grundgesetz und die übrigen Axiome nicht aus. Es bedarf noch besonderer Bestimmungen, um gerade diesen einen individuellen Bewegungsvorgang darzustellen. Abgesehen von dem sogenannten Anfangszustand, der sowohl in der Mechanik von HERTZ wie in der von NEWTON gegeben sein muß, tritt bei NEWTON noch eine bestimmte Annahme über die Abhängigkeit der Kraft von den Koordinaten hinzu, die überhaupt erst gestattet, die Differentialgleichung der Bewegung aufzulösen. Die Art dieser Annahme ist nun keineswegs unmittelbar aus der gegebenen Bewegungserscheinung abzulesen, sondern ist erst das Ergebnis eines komplizierten und in seinen einzelnen Stufen auch heute noch nicht klargestellten logischen Prozesses. An dieser Stelle nun greift HERTZ ein, indem er die durch Beobachtung feststellbare spezielle Bahn des Systems, die als wirkliche Bahn natürlich dem Erfahrungsaxiom nicht widerspricht, aber nicht etwa aus ihm gefolgert werden kann, als gegeben ansieht, und sie von vornherein als Bedingungsgleichung in die Untersuchung einführt. Dazu tritt nun noch die notwendige Setzung "verborgener Massen" (Seite 164, 207, 235), um namentlich die Probleme, in denen Fernkräfte auftreten, zu eindeutigen zu machen. Über die Verteilung dieser Massen müssen allerdings für jedes Spezialproblem besondere Annahmen gemacht werden und das ist zweifellos ein schwacher Punkt des ganzen Systems, der eben sein Analogon in der Annahme über die Natur der Kräfte bei NEWTON findet. Die Kraft wird so bei HERTZ zu einem ganz sekundären Begriff herabgedrückt, der sogar ganz ausgeschieden werden kann, wenn er durch den Einfluß ersetzt wird, den die verborgenen Massen infolge des Grundgesetzes auf das mit ihnen "gekoppelte" System (Seite 34, 207), das sichtbar ist, ausüben.

Schon diese kurze Analyse des wichtigsten Grundbegriffes seiner Mechanik dürfte gezeigt haben, wie dieser durch die mannigfaltigsten Beziehungen mit den übrigen verknüpft ist, wie der Inhalt des einen Begriffes von dem der anderen getragen wird, wie der Massebegriff mit der Bewegung verknüpft ist und umgekehrt die Bewegung ohne Masse nicht zu denken ist, kurz, wie sehr die Bedeutung jedes einzelnen Begriffs ihren Inhalt und ihre Bestimmtheit nur dem systematischen Zusammenhang verdankt, in den sie kraft ihres Relationscharakters hineingepflanzt ist.
LITERATUR - Reinhard Kynast, Objektive Erkenntnis in den exakten Wissenschaften,Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 163, Leipzig 1917
    Anmerkungen
    1) HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 105
    2) Wir kennen nur die Phänomenologie HUSSERLs als Wissenschaft, weil alles etwa damit Verwandte, was durch den Intuitionismus in die Wissenschaft einströmt, sich bis jetzt zu wissenschaflichen Gedankenbildungen noch nicht hat durchringen können. (Vgl. meine Schrift "Das Problem der Phänomenologie", Breslau 1917)
    3) HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Abschnitt IV.
    4) HUSSERL, LU II, Seite 334
    5) OSWALD KÜLPEs Begriff der "Realisierung" ist mit meiner "Erscheinung" verwandt, jedoch werden dort anthropozentrische Gesichtspunkte hineingetragen (vgl. "Die Realisierung", Bd. 1, 1912)
    6) Vgl. BOLZANOs Wissenschaftslehre, Bd. I, Seite 7, Bd. V; ferner zu diesem ganzen Kapitel die allerdings unter anderen Gesichtspunkten den Begriff der Erscheinung analysierenden Abhandlungen von CARL STUMPF, Erscheinungen und psychische Funktionen; STUMPF, Zur Einteilung der Wissenschaften, Abhandlungen der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1906.
    7) Der zur Verfügung stehende Raum und das Ziel dieser Untersuchung verbieten, näher auf diese Schichtungen einzugehen.
    8) HUSSERL. LU I, Seite 234f
    9) Dieser Begriff des idealen Systems wird im Schlußkapitel etwas stärker nach der absoluten Seite hin entwickelt.
    10) DAVID HILBERT, Grundlagen der Geometrie, vierte Auflage, 1913.
    11) AUREL VOSS, Die Prinzipien der rationellen Mechanik in der "Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften", Bd. VI, Heft 1.
    12) Ähnlich äußert sich CASSIRER über die Grundbegriffe der Arithmetik: "Sie sind Relationsterme, die niemals losgelöst, sondern nur in idealer Gemeinschaft miteinander gegeben sein können." (Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Seite 47)
    13) HILBERT, a. a. O., Seite 21
    14) Vgl. hierzu die nach einer ähnlichen Richtung vorstoßende, dabei aber methodisch ganz anders angelegte Abhandlung von RICHARD HÖNIGSWALD, Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik, Heidelberg 1912.
    15) Vgl. VOSS, a. a. O., Seite 9, Anmerkung
    16) HEINRICH HERTZ, Gesammelte Werke III, Die Prinzipien der Mechanik, zweite Auflage, 1910.
    17) HERTZ, a. a. O. Seite 41 und Ende des Vorwortes.
    18) VOSS, a. a. O., Seite 64.
    19) Wir sehen - und dürfen es auch - von der neueren Wendung des physikalischen Weltbildes durch die Relativitätstheorie ab.
    20) HUSSERL, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, im "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung", Bd. 1, 1913, Seite 56f.
    21) Vgl. meine Schrift "Das Problem der Phänomenologie", Seite 50.
    22) Der Name "Prinzip" ist gerade in der Mechanik so häufig mißbrauch worden daß wir von seiner Verwendung absehen.