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GEORG SIMMEL
Vorlesungen über Kant
[2/7]

"Kants originales Denken galt einerseits der Natur, das seelische Leben als solches und alles Geschichtliche andererseits interessierte ihn nur vom Standpunkt seines sittlichen Wertes aus und war ihm an und für sich kein Gegenstand eigenen Forschens. Und doch sollte die ganze psychologische und historische Welt nicht weniger auf ihre apriorischen Voraussetzungen geprüft werden. Man würde dann erkennen, daß, was wir geschichtliche Tatsachen nennen, so wenig das unmittelbare Erleben abspiegelt, wie die naturwissenschaftliche Tatsache den reinen Sinneneindruck enthält, daß der Bericht des Augenzeugen ebenso wie die reproduzierende Darstellung eine Formung des gegebenen Stoffs nach gefühlsmäßigen, intellektuellen, politischen, psychologischen, ethischen Kategorien darstellt. Und dies ist kein zu behebender Mangel und Entstellung, sondern die unerläßliche Bedingung, unter der der Rohstoff des geschichtlichen Daseins zu einer verständlichen und sinnvollen Gestaltung in unserem Geist werden kann. Nicht anders ist es mit dem Recht, mit dem Kunstverständnis, mit der Psychologie, mit der Religion."


Dritte Vorlesung

Der zuletzt auseinandergesetzte, von KANT geschaffene Begriff der Erfahrung begegnet einer Reihe von Schwierigkeiten, die aber vielleicht var nicht seiner inneren Bedeutung entspringen, sondern der noch nicht gewonnenen Zuordnung, dem noch nicht geklärten Verhältnis zu älteren, gleichfalls mit Recht weiterlebenden Begriffen und gedanklichen Forderungen. Unter diesem Vorbehalt erwähne ich drei Schwierigkeiten gegen die Aprioritätslehre, die mir nur in abgestuften Graden lösbar, aber für das inneres Wesen der Vernunftkritik höchst aufklärend erscheinen.

Der Gedanke, daß die Beschaffenheit des erkennenden Subjekts selbst die Bedingung des Erkennens ist, daß man also von jedem erfahrbaren Gegenstand von vornherein und ohne ihn zu untersuchen diejenigen Bestimmungen aussagen kann, die die Erkenntniskräfte des Subjekts, der Prozeß des Erkennens selbst ihm aufprägt, - dieser Gedanke ist zwar in seiner Einfachheit, die seine späte Entdeckung eigentlich zu einem Wunder macht, unmittelbar einleuchtend; allein die unbedingte Gültigkeit irgendeines bestimmt formulierten Satzes folgt daraus nicht so unmittelbar, wie KANT meint. Das Apriori, das die Erfahrung in uns tatsächlich gestaltet, ist eine objektive Kraft, eine wirksame Wirklichkeit in uns, die in bewußten Begriffen und Formeln erst nachträglich ausdrückbar ist. Niemand wird behaupten, daß das Kausalgesetz als ein bewußtes Prinzip in uns wirkt, wenn wir unsere Wahrnehmungen ihm gemäß deuten. Es verhält sich mit ihm nicht anders, als wenn wir etwa mit dem Gravitationsgesetz eine Wirklichkeit, die sozusagen von ihm nichts weiß und uns als solche ganze ungreifbar ist, in die wechselnde und unsichere Sprache unserer Begriffe überführen. Die Formel, in der das Kausalgesetz uns bewußt wird, ist, analog jedem Naturgesetz, nur eine reflektierende Deutung derjenigen seelischen Wirklichkeit in uns, die die Funktion der Erfahrungsbildung real ausübt. Diese letztere also ist das wirkliche Apriori, nicht aber das begriffliche und gewußte Kausalgesetz, das nur den durch unser Bewußtsein gebrochenen Reflex, nur die dem Irrtum unterworfene Wahrnehmung jenes bedeutet. Wir wissen also mit vollkommener Sicherheit, daß es ein allgemein gültiges Apriori geben muß, wenn es ein Erkennen geben soll; allein dies ist ein rein abstraktes und abstrakt bleibendes Wissen, eigentlich nur ein Postulat; denn welches nun im Einzelnen die Inhalte dieses Apriori sind, können wir keineswegs mit derselben Sicherheit wissen, sind hier vielmehr auf dieselbe Ungewißheit und Korrigierbarkeit angewiesen, von der das Apriori gerade befreit schien. Ich sehe keine ganz befriedigende Lösung dieser Schwierigkeit, der KANT selbst freilich entgeht, weil er ein Kriterium für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Formen des Erkennens zu besitzen glaubt: die systematische Abrundung. Er findet auf Wegen, die an vielen Stellen wunderlich und abstrus, an wenigen überzeugend sind, daß jene Normen, die die Erfahrung bilden, den Urteilsformen der Logik entsprechen, und konstruiert diesen analog 12 apriorische Begriffe, denen dann wieder die Grundsätze des Verstandes entsprechn. Jene 12 Kategorien zerfallen in 4 Abteilungen mit je 3 Nummern. Diese Einzelheiten interessieren uns hier nicht, sondern nur das Prinzip, daß, wenn für ein symmetrisches, in sich geschlossenes Schema die hinreichenden Ausfüllungen gefunden sind, damit der Beweis für die Richtigkeit und Zulänglichkeit dieser Ausfüllungen geführt wäre. Die Schwäche dieser Methode liegt heute auf der Hand. Ganz abgesehen von aller Gequältheit und Schiefheit im Einzelnen, wissen wir, daß die Abrundung eines Gedankenkomplexes nach unseren Ideen von Symmetrie und Architektonik nicht die geringste Garantie für die sachliche Wahrheit oder Vollständigkeit jener Gedanken einschließt, - wobei es gleichgültig ist, ob die Wirklichkeit, die das System einfassen und nachzeichnen soll, eine äußerliche oder eine seelische ist. Wichtiger aber als diese sehr naheliegende Widerlegung scheint es mir, die tiefere Bedeutung und Tendenz jener barocken Systematik zu verstehen.

Über den Entwicklungsgang und die definitiv befriedigende Form unseres Erkennens entscheiden zwei sich gegenseitig ausschließende Motive, die in den mannigfaltigen Kämpfen, Verdrängungen, Kompromissen die Geistesgeschichte durchziehen, und zwischen denen die Wahl, wie bei allen letzten Entscheidungen der Intellektualität, von denen jeneseits der Intellektualität gelegenen Instinkten der Gesamtpersönlichkeit ausgeht. Man kann sie als den systematischen und den progressiven Trieb bezeichnen. Der eine läßt uns nur soweit mit unserem Weltbild zufrieden sein und an seine Wahrheit glauben, wie alle Einzelheiten desselben sich in einen lückenlosen Zusammenhang fügen, der nach einheitlichen Prinzipien aufgebaut ist. Erst wenn, wie in einem Organismus, jeder Teil auf jeden hinweist und dadurch ein in sich ausbalanziertes Ganzes aus den Teilen entstehen kann, darf die Erkenntnis als vollendet gelten, weil sie erst so die harmonische Einheit und die architektonische Struktur der Welt nachzeichnet. Natürlich ist dies ein unerreichbares Ideal, das nur in den allergrößten Zügen oder in einzelnen Provinzen des Erkennens annähernd durchführbar ist; entscheidend ist aber eben, daß dies das Ideal ist, das als die definitive Form des Erkennens, gleichviel ob sie ihre Ausfüllung findet oder nicht, die systematische, fertige Abrundung gilt. Ist hier das Bild des vollkommenen Erkennens ein Kreis, so läßt die andere Tendenz es einer ins Unendliche verlaufenden Linie gleichen. Sein Abschluß ist für diese nicht nur tatsächlich, wegen der menschlichen Unzulänglichkeit, sondern auch prinzipiell unmöglich. Sei es, daß die Erscheinungen selbst endlos neue Kombinationen entwickeln und bisher unerhörte Kräfte entbinden, sei es, daß das Verhältnis unseres Geistes zur Wirklichkeit nur in der Vermehrung und Korrektur seiner Vorstellungen ins Unendliche sich adäquat ausdrückt, - jedenfalls ist es das innere Wesen des Erkennens, niemals und nirgends abzuschließen, und die symmetrische Vollendung seines Baues ist ein Widerspruch in sich selbst. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß die erste Gesinnung sich besonders mit dem Rationalismus, die zweite mit dem Sensualismus vertragen wird. Die kantische Vorstellung dder von apriorischen Begriffen geformten Erfahrung bringt auch diese beiden Bedürfnisse zu einer überraschenden Synthese. Die Welt, die sich unseren sinnlichen Erfahrungen darbietet, ist freilich kein System, sie ist unübersehbar und ihre Erkenntnis geht ins Unendliche. Aber der Geist, dessen innere Struktur übersehbar vorliegt, ist eine abgeschlossene, systematische Einheit. Die Welt bekommt Zusammenhalt und durchgängigen Sinn dadurch, daß die allgemeinsten Prinzipien, mit denen unser Verstand ihre Eindrücke zu Erfahrungen formt - die Gesetze, die er ihr vorschreibt -, ein innerlich ausgeglichenes architektonisches System, das System unseres Geistes, bilden. Die Wirklichkeitserkenntnis selbst aber gleicht jener ins Unendliche zu verlängernden Linie, weil sie nicht der in sich zusammengehaltenen Innerlichkeit des Geistes allein entstammt, sondern das Produkt dieser mit den unendlich wechselnden und vermehrbaren Eindrücken der Wirklichkeit ist. Das Produkt eines konstanten und eines variablen Faktors aber muß ersichtlich selbst variabel sein. Damit ist der Natur und der Erfahrung ihre ganze Grenzenlosigkeit gewahrt, die Gesamtheit der Wirklichkeit ist von jeder einschränkenden Systematik frei. Und doch ist das Ganze vom System der Erkenntniskräfte getragen, dessen Struktur alle Unermeßlichkeit der Einzelerscheinungen umschreibt, weil es erst die Erfahrung über diese gestaltet. Der systematische Trieb, der sonst an der objektiven Wirklichkeit eine täuschende Selbstbefriedigung gewann, hat sich auf den Geist zurückgezogen und überläßt jene Wirklichkeit dem Trieb des Fortschreitens.

Die Genialität dieser Lösung zeigt KANT ganz auf der Höhe seiner geistesgeschichtlichen Stellung: sein Fußpunkt ist die objektiv vorliegende Erkenntnis, die er zergliedert, bis er für ihre konstituierenden Elemente diejenige Gleichberechtigung gefunden hat, durch die er die Einseitigkeit der von boß subjektiven Trieben erzeugten Weltbilder aufhebt. Dennoch werden wir heute diese Lösung nicht annehmen. Die systematische Geschlossenheit ist uns selbst in der Beschränkung auf den Geist noch zu viel; auch ihn glauben wir in den Fluß der Entwicklung ziehen zu sollen. Mögen in jedem Augenblick auch apriorische Normen die Erfahrung beherrschen, - warum sollen nicht auch sie, die doch, unsere Naturerkenntnis bildend, von der anderen Seite gesehen selbst natürliche Wirklichkeiten sind, eine Entwicklung zeigen, deren kontinuierlicher Fluß sie in keinem Augenblick zu einem systematischen Abschluß kommen läßt? Und wenn es ein Zirkel ist, die Entwicklung als das dauernde Schicksal der Dinge erkennen zu wollen, wenn die Erkenntnis selbst sich dauernd entwickelt, - so ist es einer jener unvermeidlichen fundamentalen Zirkel, in denen sich der Relativitätscharakter unserer eigenen geistigen Existenz offenbar.

Mit der Hinfälligkeit des systematischen Zusammenhanges, in dem jeder Teil seine Wahrheit dadurch beweist, daß er die andern zu einem einheitlichen Ganzen ergänzt, - fällt zugleich der einzige Beweis dahin, daß die apriorischen Kräfte mit der Sicherheit und Vollständigkeit, die ihrer realen Wirksamkeit eigen ist, in das wissenschaftliche Bewußtsein gelangt sind. Es bleibt dabei, daß KANT die Allgemeinheit und Notwendigkeit, mit der die Struktur unseres Geistes unsere Erfahrungen bedingt, mit Unrecht auf die wissenschaftlichen Prinzipien übertragen hat, mit denen wir nachträglich, und sicher oft unvollständig und irrend, jene Bedingungen formulieren, und die sich der Gültigkeit dieser nur ins Unendliche annähern können. Trotz dieser fundamentalen Abweichung des modernen Denkens vom kantischen besitzt seine Entdeckung, daß unsere Erfahrungen von übersinnlichen, von unserem Geist gleichsam mitgebrachten Voraussetzungen bedingt sind, eine noch keineswegs erschöpfte Fruchtbarkeit. KANT selbst hat sie nur auf das naturwissenschaftliche Gebiet angewandt; denn sein originales Denken galt einerseits der Natur, das seelische Leben als solches und alles Geschichtliche andererseits interessierte ihn nur vom Standpunkt seines sittlichen Wertes aus und war ihm an und für sich kein Gegenstand eigenen Forschens. Und doch sollte die ganze psychologische und historische Welt nicht weniger auf ihre apriorischen Voraussetzungen geprüft werden. Man würde dann erkennen, daß, was wir geschichtliche Tatsachen nennen, so wenig das unmittelbare Erleben abspiegelt, wie die naturwissenschaftliche Tatsache den reinen Sinneneindruck enthält, daß der Bericht des Augenzeugen ebenso wie die reproduzierende Darstellung eine Formung des gegebenen Stoffs nach gefühlsmäßigen, intellektuellen, politischen, psychologischen, ethischen Kategorien darstellt. Und dies ist kein zu behebender Mangel und Entstellung, sondern die unerläßliche Bedingung, unter der der Rohstoff des geschichtlichen Daseins zu einer verständlichen und sinnvollen Gestaltung in unserem Geist werden kann. Nicht anders ist es mit dem Recht, mit dem Kunstverständnis, mit der Psychologie, mit der Religion. Die Erfahrung auf all diesen Gebieten ist keineswegs, was sie ohne die Besinnung auf KANT zu sein scheint: ein Hinnehmen des Gegebenen, ein treuer Reflex dessen, was die Wirklichkeit unserem Bewußtsein zuführt; sondern, was Erkenntnis sein soll, muß von uns dazu gestaltet werden, was ein Gegenstand der Erfahrung sein soll, ist von den Formen der Erfahrung abhängig, mit denen unser Geist als mit seinem ursprünglichen Besitztum an die Wirklichkeit herantritt. Oder genauer: unser Geist hat nicht diese Formen, sondern er ist sie.

In der kantischen Fassung begegnet dieser Begriff nun einer weiteren, tiefgreifenden Schwierigkeit. Die Sätze der Geometrie sind die abstrakten Formeln für diejenigen Energien, die regelmäßig unsere Sinneseindrücke zu Raumgestalten bilden. Aber Unsicherheiten, Alterationen [Veränderungen - wp], Täuschungen gehen doch auch hier vor sich, bei Kindern, unter ungewöhnlichen äußeren oder physiologischen Umständen. Ganz unzweideutig sind bei einer anderen apriorischen Form, der Kausalität, die Fälle, in denen sie eben nicht herrscht, in denen wir, unfreiwillig, aber gelegentlich auch freiwillig, keineswegs dem Kausalgesetz gemäß denken. Wie vereinigt sich dies nun mit der Allgemeinheit und Notwendigkeit dieser Denkformen und damit, daß unser Geist sie a priori in sich trägt und sie dadurch seinen Einzelinhalten unvermeidlich aufprägt? KANT würde darauf sehr einfach antworten: das Apriori ist eben nur ein Apriori des Erkennens. Wo wir es nicht anwenden, erkennen wir nicht, sondern vollziehen nur irgendwelche subjektiven seelischen Prozesse, die aber keine Erfahrungen sind. Daß diese Formen unserem Geist immanente Energien sind, bedeutet noch nicht, daß sie fortwährend funktionieren müssen, sondern sie treten natürlich, wie alle Potenzen des Daseins, nur unter ganz bestimmten sonstigen Bedingungen in reine und ungehinderte Wirksamkeit und werden unter anderen abgelenkt und entstellt. Das Apriori wird durch die Mängel seiner Anwendung so wenig seiner gesetzlichen Gültigkeit beraubt, wie durch die nicht-euklidischen Geometrien, denn es ist nur ein Gesetz für die Erfahrung, aber nicht für jedes beliebige seelische Gebilde.

Dies ist durchaus richtig, aber es führt, wie mir scheint, zu einem verderblichen Zirkel. Jene Normen beherrschen nur die gültige Erfahrung. Aber woher wissen wir denn, was gültige Erfahrung ist, außer dadurch, daß wir diese Normen in ihr geltend finden? Hätten wir irgendein anderes Mittel, die Wahrheit unserer Vorstellungen festzustellen, so wäre uns geholfen; wir könnten dann etwa beweisen, daß diese bestimmte Beschaffenheit ihrer nur durch die Anwendung jener Grundsätze für uns erreichbar ist, und wären nun berechtigt, sie als Bedingung der Erkenntnis zu proklamieren. Für die populäre Meinung besteht freilich eine solche Doppelheit der Wege der Wahrheit: das Nachdenken und der sinnliche Augenschein; diese, unabhängig voneinander verlaufend, bestätigen sich gegenseitig und legen jeden Punkt, an dem sie zusammentreffen, eben dadurch als gültige Wahrheit fest. Aber diese Zweiheit, die für die Praxis und einzelne Erkenntnisprozesse durchaus legitim ist, hat KANT prinzipiell und für die Gesamtheit des Erkennens ja gerade beseitigt. Er hat ja gerade gezeigt, daß nur durch das Zusammenwirken von Verstand und Sinnlichkeit Erkenntnis zustande kommt, daß unser verständiges Denken deshalb eine Wahrheit über die Dinge in sich erzeugen kann, weil die Kategorien unseres Verstandes, die für uns objektive Welt mit produziert haben und deshalb von vornherein in ihr enthalten sind, daß andererseits diese Kategorien nur als Formen sinnlicher Inhalte eine Bedeutung haben. Diese Vereinheitlichung unserer Erkenntniskräfte beraubt uns aber des Kriteriums für die Wahrheit, das in ihrer unabhängigen Zweiheit gelegen hatte. Wir wissen jetzt nur: die apriorischen Normen werden in einigen Fällen angewandt, in anderen nicht; daß die ersteren einen besonderen Wert haben, eine Wahrheitsbedeutung über die bloß psychologische hinaus, das können wir nach gar nichts anderem entscheiden, als daß in ihnen eben jene Normen gültig sind. Diese sind also sozusagen in eigener Sache Richter und der Wahrheitsbegriff dreht sich im Kreis.

Dem zu entgehen macht KANT noch einen Versuch. Die Einheit der Vorstellung soll es sein, durch die sie, sich gegenseitig und ihrem Zusammen, Wahrheit garantierten; insofern die mannigfaltigen Vorstellungen zu einem einheitlichen Gegenstand, Satz, Weltbild, zusammengehen, sind sie eben objektive Erkenntnisse. Aber ich frage: wonach entscheiden wir denn, ob Einheit, d. h. doch, Verträglichkeit, Zueinanderpassen der Vorstellungen, besteht? Doch nur dadurch, daß sie sich nach den Axiomen des Raums, dem Kausalgesetz, dem Verhältnis der dauernden Substanz und ihren wechselnden Bestimmungen usw. richten, kurz: nach eben jenen formenden Kategorien, für die wir erst nach einer Bestätigung gesucht haben. Den Vorstellungselementen ist ihre Einheit nicht ohne weiteres anzusehen. Daß sie sich logisch nicht widersprechen, genügt nicht; denn viele Gedanken sind logisch verträglich, die sachlich absolut nicht zusammengehen. Sehen wir genau hin, was wir unter der Einheit eines Gegenstandes, einer Seele, eines Gedankenkreises verstehen, so ist sie immer der Zusammenhang zwischen einzelnen Anschauungs- oder Gedankenelementen, der durch beherrschende Prinzipien vermittelt wird. Die Naturgesetzlichkeit, die Nachfühlbarkeit eines Charakters, die Kenntnis räumlicher Anordnungsmöglichkeiten entscheiden darüber, ob Erscheinungen zeitlich, seelisch, räumlich zusammengehen, ob sie eine Einheit bilden oder nicht. In diesem Zusammenhang besteht die Einheit, sie ist kein Etwas jenseits seiner, das erst durch ihn erwiesen wird. Daß die apriorischen Normen die Einheit der Erkenntnis zustande bringen, beweist für sie also keinerlei ihnen zuwachsende Bedeutsamkeit oder Bestätigung ihrer Gültigkeit, da Einheit nichts anderes ist als der Name für die Zusammenhänge, die die Wirksamkeit jener unter den Vorstellungselementen stiftet.

Der letzte Grund dieser Schwierigkeiten, für die apriorischen Bedingungen der Erkenntnis eine Legitimierung zu finden, die nicht wieder aus ihnen selbst geschöpft wäre, liegt in der völligen Fraglosigkeit, mit der KANT die bestehende mathematische und empirische Erkenntnis als Fundament jeder Untersuchung über das Wesen des Erkennens hinnimmt. Die Analyse des Erkennens hat ihm ihre Aufgabe restlos und zweifellos erfüllt, wenn sie die Bedingungen der vorliegenden Wissenschaft ausreichend demonstriert hat. Irgendwo muß freilich für jedes Forschen ein letzter Punkt liegen, über den nicht hinausgefragt wird, sondern dessen nicht bezweifelte Festigkeit den ganzen Bau trägt; und es ist die ganze Aufgabe der grundlegenden Wissenschaften, diesen Punkt immer weiter hinauszurücken, jede momentane dogmatische Sicherheit durch immer tiefer gelegene abzulösen. Um also die ersten Prinzipien des Erkenntnisgebietes zu begründen, müßte man über dieses Gebiet selbst hinausgreifen, vielleicht auf ein praktisches, vielleicht biologisches, vielleicht religiöses. Schließt man dies aus und sucht alle Fundamente des Erkennens im Erkennen selbst, so scheint es unvermeidlich, daß die Beweise sich schließlich im Kreis drehen, weil sie keinen Stützpunkt außerhalb ihres eigenen Kreises haben. Der kantische Zirkel: unsere Erkenntnisse sind wahr, weil und insofern sie von apriorischen Normen bestimmt sind - und diese sind gültig, weil jene von ihnen normierte Wissenschaft unbezweifelt gilt -, dieser Zirkel ist der unmittelbare Ausdruck des absolut theoretischen Charakters der kantischen Philosophie, den ich hervorgehoben habe. Die moderne Tendenz, das Wissen selbst anderen Herrschermächten des Lebens ein- oder unterzuordnen, liegt ihm völlig fern, - wir werden sehen, wie wenig der berühmte Primat der praktischen Vernunft in dieser Hinsicht zu bedeuten hat. Sein Blick bleibt so in das wissenschaftliche Erkennen gebannt, daß er die Gültigkeit des einen Elements desselben nur vom anderen und so wechselseitig zu entlehnen weiß.

Endlich erzeugt der neue Erfahrungsbegriff in sich eine dritte Schwierigkeit, die mir jedoch völlig lösbar scheint und auf dem Weg zu ihrer Lösung diesem Begriff noch einmal ein volles Licht zuwenden wird. Aus den Sinneseindrücken entwickelt sich Erfahrung, indem sie nach den Formen und Gesetzen geordnet werden, deren Komplex wir, indem wir sie als wirkende seelische Energien betrachten, unsere Verstand nennen. Die Formung, die der sinnliche Stoff auf diesem Weg erwirbt, drückt KANT auf zweierlei Weisen aus: das Sinnliche gewinnt einerseits Allgemeingültigkeit, andererseits Objektivität. Spricht man das rein und unmittelbar Sinnliche in Satzformen aus, so ist es z. B. dies: "ich sehe die Sonne scheinen, darauf fühle ich die Erwärmung eines Steins". Dies ist nichts als das Bewußtsein von Vorgängen in den Sinnesorganen des Subjekts, die mit ihrem einmaligen und persönlichen Vorkommen schlechthin abgeschlossen sind. Weder über das Bewußtsein anderer Subjekte, noch über die Sache jenseits der Subjekte wird damit das Geringste ausgesagt, - es ist also noch nicht, was wir Erfahrung nennen. Diese wird erst durch die Metamorphose in den Satz: "der Sonnenschein erwärmt den Stein." Hiermit ist jenes Doppelte gegeben:
    1. der Folge meiner Eindrücke entspricht ein Verhältnis von Dingen, ich nehme nicht nur wahr, sondern in dieser Wahrnehmung offenbart sich ein Sein.

    2. Wenn dieses Objektive wirklich ist, so ist auch die ihm parallel gehende Wahrnehmung nicht auf das Subjekt und den Augenblick beschränkt, sondern ich bin nun sicher, daß ich diese Wahrnehmung notwendig, bzw. unter den gleichen Umständen immer haben muß, und daß nicht nur ich, sondern alle Subjekte die gleiche haben werden.
Den Erfahrung-bildenden Prozeß kann man also so ausdrücken, daß er aus subjektiven Wahrnehmungen eine Aussage über das objektive Verhalten der Dinge schafft. Daß beide Stadien des Erkenntnisprozesses einen völlig verschiedenen Sinn haben, ist die festeste Voraussetzung KANTs, mit der er allen Sensualismus abweist; denn für diesen ist Erfahrung oder Erkenntnis nichts anderes, als die Konstatierung jener unmittelbaren Eindrücke, höchstens ihre Summierung zu Eindrucksgewohnheiten; seiner Bedeutung nach bleibt das ganze Erkennen impressionistisch auf die Sinneswahrnehmung beschränkt. Da nun KANT zugibt, daß wir aus dieser letzteren allein den Stoff unserer Erkenntnisse gewinnen und alle Wirksamkeit der Verstandeskategorien ihr nur eine besondere Form gibt, - worin besteht denn der ungeheure Umschwung einer bloß subjektiven Sinnesempfindung in die Aussage über ein Objekt? Um gleich vorwegzunehmen, was mir als die einzig widerspruchslose Lösung dieses schwierigen KANT-Problems erscheint: dem einzelnen Sinnesvorgan gegenüber besteht dieses Neue ausschließlich in der Garantie darüber, daß eben dieser Sinnesvorgang sich für mich und für jeden anderen unter den gleichen Bedingungen jederzeit wiederholen wird. Der Satz: "die Sonne erwärmt den Stein", fügt zwar noch die Kategorie der Kausalität zu seinem subjektiven Gegenstück: "ich sehe Sonnenschein - ich fühle nachher den erwärmten Stein." Aber für die Praxis des Erkennens leistet dies nichts anderes als die Sicherheit, daß ich jederzeit und daß jedermann eben die gleiche Wahrnehmung machen wird. Durch die Kausalität wird die Wahrnehmung gleichsam nur in einen neuen, festeren Aggregatzustand übergeführt. So scharf KANT den Satz: "A ist die Ursache von B", von dem unterscheidet: "B folgt zeitlich auf A", so weiß ich doch nicht, worin sich diese objektive Kausalfolge noch von der Bestimmung unterscheidet, daß in jedem überhaupt jemals vorkommenden Fall B auf A zeitlich-wahrnehmbar folgen wird.

Den Sensualisten gegenüber ist das Entscheidende, daß das perfekt gewordene Erfahrungsurteil über jede noch so große relative Summe von einzelnen Wahrnehmungsfolgen hinausgeht, aber mehr als der absoluten Summe derselben äquivalent sein kann es nicht; die übersinguläre Gültigkeit der Urteile bedeutet nur, daß sie jeden singulären Fall, der überhaupt vorkommen mag, eindeutig bestimmen. Darum sind Objektivität und Notwendigkeit der Erfahrungsurteile Wechselbegriffe: daß sie von einem Objekt gelten, ist der Name für jene eigentümliche Festigung und Konsolidierung von Verhältnissen der Sinneswahrnehmung, die deren gleichartige Wiederholung unter den gleichen Umständen garantiert.
LITERATUR: Georg Simmel, Vorlesungen über Kant, Leipzig 1905