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(1862 - 1950) [mit NS-Vergangenheit] Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen 2. Schuppe. Der naive Realismus [1/2]
Fundamentalbestand SCHUPPEs Erkenntnistheorie hat sich vorzugsweise auf dem Boden der Logik entwickelt und diese Entstehung aus der Logik hat ihr einen bleibenden Charakter aufgedrückt. Erst in späteren, kürzeren Darstellungen seiner Lehre hat SCHUPPE seine Anschauungen auch unabhängig von seiner Logik zu entwickeln versucht. Ein Vergleich mit der von mir entwickelten Erkenntnistheorie ist dadurch sehr erschwert. Soviel aber scheint sich mir aus den Schriften SCHUPPEs mit Sicherheit zu ergeben, daß auch er nur die Empfindungen und Vorstellungen als gegeben ansieht und daß er, wie AVENARIUS und ich, die Empfindungen nicht in einem hypothetischen Aufenthaltsort der Seele, z. B. in den Ganglienzellen der Großhirnrinde lokalisiert (Introjektionstheorie), sondern sie da sein läßt, wo sie "draußen" gegeben sind. Dabei habe ich mir gestattet, die Termini SCHUPPEs gegen die meinigen zu vertauschen. Der Sinn ist derselbe. Was ich Empfindung nenne, bezeichnet SCHUPPE auch als den "unmittelbaren Empfindungsinhalt" (3). Er verlangt, daß wir das
Daß alle unsere Vorstellungen sich aus diesen unmittelbaren Empfindungsinhalten, bei welchen an nichts "Inneres" oder "Subjektives" gedacht werden darf, entwickeln, nimmt wohl auch SCHUPPE an, wenngleich nicht selten diese Abhängigkeit des Denkens von den Empfindungen in den Hintergrund tritt. Auch in diesem Punkt weicht sein Ausgangspunkt vom erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand meiner Darstellung nicht wesentlich ab. SCHUPPE jedoch rechnet noch ein weiteres zum erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand, "das bewußte Ich", ja er räumt dieser Ich-Tatsache noch die Priorität vor dem Tatbestand der Empfindungen ein. Ausdrücklich heißt es (Seite 60):
SCHUPPE hat auf eine Begründung seiner Ich-Tatsache verzichtet. Er wiederholt nur immer wieder, daß die Existenz des bewußten Ich der einzig mögliche Ausgangspunkt ist, daß es kein leerer Begriff, sondern jedem das Sicherste und Bekannteste von der Welt ist, daß wir nichts sicherer und genauer wissen, als daß unser Ich existiert, daß die Existenz des bewußten Ich die erste oder primäre Existenz ist, daß sie das Urmaß ist, an welchem aller Begriff von Existieren gemessen wird (Seite 63). Ausdrücklich gibt er dabei zu, daß eine theoretische Erkenntnis eines angeblichen Wesens dieses bewußten Ich nicht vorhanden ist. "Es ist das Bekannteste und zugleich das Urgeheimnis des Bewußtseins" (Seite 155). Ist dem nun aber wirklich so? Hat z. B. das Kind wirklich im ersten Lebensjahr schon ein bewußtes Ich, d. h. eine Empfindung oder Vorstellung von seinem Ich? (7) Man wird mir zugeben, daß man wenigstens bei der Beantwortung dieser Frage zweifeln kann, und das genügt mir schon: ein Satz, der solche Zweifel gestattet, gehört nicht in den erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand. Man kann positiv verfolgen, wie sich beim Kind aus zahlreichen Empfindungen indirekt die Ich-Vorstellung entwickelt, aber nirgends tritt eine direkte Ich-Empfindung auf. Woher sollte also die von SCHUPPE behauptete "mit allem äußeren Sein im Bewußtseinsinhalt absolut inkommensurable Natur des bewußten Ich" (Seite 530) kommen? Aufgrund der Genese der Ich-Vorstellung ist meines Erachtens im Gegenteil eine absolute Kommensurabilität anzunehmen. SCHUPPE nimmt nun auch gar nicht an, daß wir das Ich etwa empfinden, d. h. daß es als Empfindungsinhalt in unserem Bewußtseinsinhalt vorkommt, sondern nach SCHUPPE soll sich das Ich im Akt des Selbstbewußtseins sich selbst gegenständlich machen (Seite 526). Und SCHUPPE gesteht selbst zu:
Einen anscheinenden Beweis für die Existenz dieses Ich könnte man vielleicht in der folgenden Argumentation SCHUPPEs erblicken. Er sagt (Seite 89): wenn man den Inbegriff alles Seienden unter den Gattungsbegriff Bewußtseinsinhalt gebracht denkt und dabei ganz von der Verschiedenartigkeit und der Bedeutung aller unter diesen Titel gebrachten Dinge abstrahiert und nur dieses Eine im Auge behält, daß sie eben Bewußtseinsinhalt sind, so steht natürlich auch diesem Inhalt immer noch der Begriff des Bewußtseins, dessen Inhalt sie sind, gegenüber; das nach gedachter Zerlegung auf der einen Seite stehende Moment des bloßen Bewußtseins sei, obgleich undefinierbar, obgleich inhaltslos, doch absolut unentbehrlich, wenn nicht eben das andere Glied, der Bewußtseinsinhalt, den Charakter, in welchem seine Existenz liegt, verlieren soll. Ist dies nicht schließlich doch eine petition principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp]? Natürlich muß, wenn ich die Gesamtheit meiner Empfindungs- und Vorstellungserlebnisse, der einzigen ursprünglichen Daten, bei ihrer Zusammenfassung als "Bewußtseinsinhalt" bezeichne und diese Bezeichnung nicht einfach als Etikette, sondern im Sinne des zusammen Wortes "Bewußtseinsinhalt" nehme, dann dem Inhalt ein Bewußtsein gegenübersteht. Wer zwingt mich aber zu dieser Bezeichnung, mit welchem Recht darf SCHUPPE statt und mit der einfachen Bezeichnung, die nur zusammenfaßt und zur Verständigung dient, also nichts hinzufügt, ein offenbar weittragendes, sehr beweisbedürftiges Urteil, daß nämlich alle diese Daten Inhalt meines Bewußtseins sind, einschieben? Ich würde z. B. als zusammenfassende Bezeichnung Existierendes oder Σx oder Σy vorschlagen. Wo bleibt dann "das auf der einen Seite stehende Moment", das Bewußtsein bzw. das Ich? Dieses Ich ist also nicht nur eine Abstraktion und somit keinesfalls ein gegebenes Glied des fundamentalen erkenntnistheoretischen Tatbestandes, sondern noch dazu eine noch sehr der Erklärung und des Berechtigungsbeweises bedürftige Abstraktion. Meines Erachtens verfällt SCHUPPE hier in denselben Fehler wie BERKELEY und AVENARIUS: die Erkenntnistheorie muß nach meinem Dafürhalten, um es kurz auszudrücken, ich-los beginnen, d. h. von einem ich-losen Fundamentalbestand ausgehen. Noch eine andere "schlichte Tatsache" führt SCHUPPE zugunsten seines Ich gelegentlich an: er sagt, "es gebe kein Wissen von etwas, das nicht als das Wissen eines Ich auftritt, welches eben dies oder jenes als seinen Bewußtseinsinhalt vorfindet" (Seite 94). Wenn SCHUPPE damit meint, daß tatsächlich die Ich-Vorstellung alle Empfindungs- und Vorstellungserlebnisse begleitet, so ist der Satz nicht einmal für den Erwachsenen, geschweige denn für das Kind (z. B. in seinen ersten Lebensmonaten) richtig. Meint er aber, daß die Ich-Vorstellung jederzeit hinzugedacht werden kann oder muß, so handelt es sich offenbar nicht um eine schlichte Tatsache, nicht um ein gegebenes Glied des erkenntnistheoretischen Fundamentalbestandes, sondern wiederum um einen sehr erklärungs- und beweisbedürftigen Satz. Ich erinnere an meine Besprechung der analogen Behauptungen von AVENARIUS in meinem ersten Aufsatz (diese Zeitschrift, Bd. 27, Seite 330f). Die "volle Erfahrung" von AVENARIUS manipuliert auch mit einem solchen Ich, das hinzugedacht werden muß oder von dem nicht abstrahiert werden darf. Ausdrücklich muß hervorgehoben werden, daß SCHUPPE selbst sich vor die Frage gestellt sieht (Seite 154f), ob sein Ich nicht einfach identisch ist mit der Gesamtheit seiner Bewußtseinsinhalte, jedoch erklärt er: das behaupte er nicht, aber wodurch das Ich sich als Ich noch von der Gesamtheit seiner Bewußtseinsinhalte unterscheidet, könne doch wohl niemand sagen (9). Ich glaube und hoffe im Folgenden zu zeigen, daß SCHUPPE damit zu früh resigniert hat; die Ich-Vorstellung ist keine Urtatsache, sondern hat sich sekundär entwickelt (gewissermaßen als ein nachträglich ausgeschiedenes Schneckenhaus, das wir nun überall mit uns herumtragen), aber in wohl nachweisbarer Weise, aufgrund ganz bestimmter und charakteristischer Unterschiede innerhalb des Bewußtseinsinhaltes. Man darf nur nicht in das Ich erst Geheimnisse hineindenken, wie dies bei der Auffassung des Ich als Urtatsache unvermeidlich ist, Geheimnisse, die sich dann freilich später jeder Aufdeckung entziehen. SCHUPPE wundert sich darüber (Seite 251),
SCHUPPE gibt übrigens schließlich auch selbst zu, daß er mit seinem Ich einen Transcensus [Überschreiten - wp] vollzieht, und meint, dieser Transcensus sei "natürlich überhaupt unvermeidlich" (Seite 699). Er sagt ausdrücklich:
Allgemeinbegriffe. Dingbegriffe. Charakteristisch für SCHUPPEs Verarbeitung des erkenntnistheoretischen Fundamentalbestandes ist die Anlehnung an die Logik. Allenthalben ist SCHUPPE geneigt, das Denken im Allgemeinen als Bewußtsein zu fassen (Seite 94). Der Logik wird daher eine viel weitere Aufgabe zugeschrieben: sie erhellt nicht nur die obersten Gattungen des Denkbaren und im Denken Verwendbaren, sondern auch die obersten Gattungen des Seienden in ihrer begrifflichen Wesenheit auf (Seite 107 und 112) (11). Sie ist also wesentlich materialer Natur. Damit hängt nun auch ein Hauptlehrsatz SCHUPPEs zusammen: Denknotwendigkeit ist mit Wirklichkeit identisch (Seite 175, 177). Hieran knüpft sich der weitere Satz, daß der Gedanke sich als solcher in den gedachten Dingen findet und in gewissem Sinn mit ihnen identisch ist (Seite 106) und schließlich ergibt sich der merkwürdige Schluß, daß das Spezifische als die Verwirklichung des Generischen und letzteres als der tragende Grund und die innere Möglichkeit alles Spezifischen erscheint (Seite 182); das Spezifische soll ohne das Generelle undenkbar sein (Seite 181, 390, 392, 394, 396, 401, 574, 603). Hiermit wagt sich SCHUPPE über die Grenzen der Erkenntnistheorie in das metaphysische Gebiet hinein. Wie die meisten Abschwankungen zur Metaphysik ist auch diese nur möglich geworden durch eine unzureichende Analyse des psychologischen und psychophysiologischen Tatbestandes. SCHUPPE übersieht oder scheint zumindest zu übersehen, daß unsere Allgemeinvorstellungen lediglich aus den speziellen Vorstellungen entstammen, welche ihrerseits nur Erinnerungsbilder der Empfindungen sind, und daß die Entwicklung der Allgemeinvorstellungen eng an unsere Gehirntätigkeit gebunden ist. Es wäre ja in der Tat amechanon eudaimonias [unvorstellbares Glück - wp], wenn die Skala der wirklichen Prozesse sich in dieser an PLATO anklingenden (12) Weise zu einer Kette schließen würde, indem die letzten Ergebnisse der Empfindungen, die Allgemeinvorstellungen, sich wieder als das innerste Wesen, der tragende Grund der (stets speziellen) Empfindungen entpuppten; aber die psychologischen und psychophysiologischen Tatsachen zerstören diese metaphysische Hoffnung vollkommen. Insofern ist meine Erkenntnistheorie viel skeptischer als diejenige SCHUPPEs. Nach meiner Auffassung haben die Allgemeinvorstellungen nur die Aufgabe und Fähigkeit, das Gemeinsame der Empfindungen zusammenzufassen. Sie arbeiten die Empfindungen um, ohne an ihrer "Verwirklichung" oder Wirklichkeit irgendeinen Anteil zu haben. Vielleicht ist es zweckmäßig hier noch besonders hervorzuheben, daß zwei Ansichten vollständig getrennt werden müssen, nämlich die Ansicht, daß das Wesentliche der Empfindungen in dem ihnen Gemeinsamen (d. h. in den ihnen gemeinsamen Bestandteilen) und insofern im Allgemeinen zu suchen ist, und die Ansicht, daß in den Allgemeinvorstellungen das Wesentliche der Empfindungen gelegen ist. Die erste Ansicht wird später zu prüfen sein, und es wird sich ergeben, daß für unsere Hirnorganisation in der Tat das Allgemeine der Empfindungen in bestimmtem Sinn das Wesentliche der Empfindungen ist. Die zweite Ansicht ist die SCHUPPEs; ich kann kein Argument zu ihren Gunsten bei SCHUPPE finden und sehe ein entscheidendes Argument zu ihrer Widerlegung in dem Faktum, daß die Allgemeinvorstellungen erst Produkte einer sekundären psychologischen Umwandlung sind. Noch in einer anderen Richtung bekommen die Allgemeinvorstellungen bei SCHUPPE eine transzendente Bedeutung, welche ihnen nach meinem Dafürhalten nicht zukommt. SCHUPPE streift ihnen nicht nur die Entstehung aus speziellen Empfindungen individueller Objekte ab, sondern ist auch geneigt - entsprechend der bereits hervorgehobenen Ignorierung der psychophysiologischen Bedingtheit der Allgemeinvorstellungen - die individuelle, d. h. an das individuelle Gehirn gebundene Natur der Allgemeinvorstellungen zu übersehen. Die Allgemeinvorstellungen sind bei SCHUPPE nicht nur Vorstellungen des Allgemeinen, wie sie sich bei diesem und jenem Individuum finden, sondern unindividuelle, vom Individuum losgelöste Allgemeinvorstellungsgebilde (13). Schließlich kann ich es mir nicht versagen, die Darstellung der Allgemeinbegriffe bei SCHUPPE, obwohl ich die erkenntnistheoretische Bedeutung der letzteren nicht anerkennen kann, wegen ihres psychologischen Interesses noch etwas eingehender zu verfolgen. Nach SCHUPPE (vgl. z. B. Seite 388) gewinnen wir aus dem einfachsten wirklichen Eindruck durch Unterscheidung drei Elemente: eine spezifische Sinnesqualität, eine räumliche Bestimmtheit (Wo, Ausdehnung und Gestalt) und eine zeitliche Bestimmtheit (Wann und eine bestimmte Dauer). (vgl. auch Seite 165/166) Unmittelbar aus dem so ausgesonderten Element, das sich sofort als Allgemeinbegriff, als Spezies darbietet, so sich in der Spezies nach SCHUPPE die eigentliche Gattung aussondern.
"Die Elemente haben den Charakter des Allgemeinen. Nur das Zusammen der Elemente in der wirklichen Erscheinung ist ein Individuelles. Jedes derselben für sich gedacht, und zwar ganz ohne Veränderung, so wie es in der Wirklichkeit erschien, ist Spezies oder Artbegriff. Wir nennen es Elementarspezies." (Seite 169) Zunächst ist die letztere Auffassung berechtigten Zweifeln ausgesetzt. Es ist richtig, daß Qualität, räumliche und zeitliche Bestimmtheit stets zusammenvorkommen; folgt aber daraus, daß diese Elemente "sich gegenseitig fordern als Bedingungen ihrer Existenz?" Zumindest ist dieser Ausdruck sehr mißverständlich. Man wird verleitet irgendwelche kausale oder logische Beziehungen anzunehmen, eine Annahme, welche sich auf keinerlei Argumente stützt. Noch viel bedenklicher scheint mir die Annahme SCHUPPEs, daß die Elemente unmittelbar den Charakter des Allgemeinen haben. Sein wesentliches Argument findet sich Seite 171:
Im Speziellen beginnen unsere Abstraktionen nun damit, daß wir den räumlich-zeitlichen Individualkoeffizienten, wie ich die räumlich-zeitliche Lage, das Wo und Wann zu bezeichnen vorgeschlagen habe, entweder ganz weglassen (im Sinne einer isolierenden Abstraktion) oder unbestimmt lassen (im Sinne einer zusammenfassenden Abstraktion). Die beiden so entstandenen Begriffe, die "raum- und zeitlose Individualvorstellung" und die "räumlich-zeitlich unbestimmte Individualvorstellung (17) sind im Allgemeinen nur als Durchgangsstufen bedeutsam. (18) Sie kennzeichnen jedoch bereits scharf die beiden Wege, welche unsere Begriffsbildung nun weiter einschlägt. An der raum- und zeitlosen Individualvorstellung arbeitet die Abstraktion in der Richtung weiter, daß sie nunmehr auch die anderen räumlichen Merkmale, Form und Ausdehnung wegläßt (im Sinne der isolierenden Abstraktion) oder unbestimmt läßt (im Sinne der zusammenfassenden Abstraktion). (19) So entsteht einerseits die Vorstellung "Rot" und andererseits die Vorstellung "Rotes", indem wir im ersten Fall Form und Ausdehnung (Würfelform und Würfelgröße) ganz wegdenken, also die Qualität isolieren und im zweiten Fall Form und Ausdehnung nur unbestimmt lassen, also viele rote Formen und Ausdehnungen zusammenfassen (20). "Rot" ist kein Allgemeinbegriff, zumindest nicht in demselben Sinn wie "Rotes". Der Begriff "Rot" ist einer allgemeinen Verwendung fähig, aber involviert noch keine Allgemeinheit. Erst aus der Erfahrung anderer roter Körper ergibt sich diese allgemeine Anwendbarkeit. Die Allgemeinheit der "Elementarspezies" (um SCHUPPEs Ausdruck zu gebrauchen) ist also nicht unmittelbar gegeben, eine Induktion nicht überflüssig, sondern unerläßlich. Die Allgemeinbegriffe, mit anderen Worten, sind nicht, wie Schuppe allenthalben vorauszusetzen scheint, unabhängig von der Induktion schon in der einzelnen Sinneserfahrung gegeben, sondern erst das Ergebnis vieler Sinneserfahrungen. Man kann SCHUPPE eventuell zugeben, daß für die Abstraktion "Rot" ein einmaliges Sehen eines roten Würfels genügt, aber diese Abstraktion "Rot" entbehrt, solange das Sehen nur einmal stattgefunden hat, der Allgemeinheit. Erst mit dem öfteren Sehen roter Objekte ergibt sich, daß meine Abstraktion "Rot" einer allgemeinen Anwendung fähig ist. An dieser Tatsache ändert auch der Umstand nichts, daß ich später aus Analogiegründen diesen durch eine isolierende Abstraktion entstandenen Begriffen eine allgemeine Anwendbarkeit auch ohne mehrfache Einzelerfahrungen zuschreibe. Prinzipiell ist nur wesentlich, daß ansich mit diesen isolierenden Abstraktionen wie Rot keine Allgemeinheit verbunden ist. Anders der durch eine zusammenfassende Abstraktion entstandene Begriff "Rotes". Dieser entsteht - wenn ich wiederum von späteren Analogiebildungen absehe - überhaupt nur und erst aufgrund mehrfacher ähnlicher Sinnesempfindungen und ist dank dieser Entstehung unmittelbar ein Allgemeinbegriff. - Das Verhalten der Sprache ist auch hier interessant. Sprachliche Bezeichnungen sind auf dieser Stufe der Begriffsbildung im Allgemeinen nur für die isolierenden Abstraktionen wie Rot zu finden. Für die zusammenfassenden Abstraktionen wie Rotes fehlen sie, weil die alsbald zu besprechenden Dingbegriffe im allgemeinen einen ausreichenden Ersatz liefern. Wenn SCHUPPE sagt:
Die Dingbegriffe haben mit dieser letztbesprochenen Entwicklung prinzipiell nichts zu tun. Sie knüpfen vielmehr an das zuerst besprochene Stadium der räumlich und zeitlich unbestimmten Individualvorstellungen an. Wir beobachten nämlich häufig, daß eine räumlich zusammenhängende Empfindung oder ein räumlich zusammenhängender Empfindungskomplex mit der Zeit (also in sukzessiven zeitlichen Lagen) seine sonstigen Eigenschaften sämtlich und einzeln, z. B. Form oder Farbe (22), stetig verändert. Fasse ich nun alle diese stetigen sukzessiven Variationen im Sinn der zusammenfassenden Abstraktion zusammen, so gelange ich zur Vorstellung des individuellen Dings. Bei dieser werden also erstens die zeitlichen Lagen, räumlichen Lagen, Formen und Qualitäten innerhalb mehr oder weniger bestimmter Grenzen (23) unbestimmt gelassen, zweitens aber wird außer einer stetigen räumlichen Ausdehnung eine stetige Veränderung der einzelnen oder aller Eigenschaften mit der Zeit verlangt. Diese letztere Stetigkeit nehmen wir in tausend und abertausenden von Fällen wahr, in vielen anderen nehmen wir sie hypothetisch an. Nach Analogie setzen wir sie schließlich beinahe bei jedem Empfindungskomplex, den wir erleben, voraus, und nehmen an, daß es sich um ein Ding handelt, welches sich stetig verändert hat und stetig verändern wird. Fast alles wird zum Ding. Im populären Dingbegriff ist schlechterdings nichts mehr enthalten (24). Alle Gegenüberstellungen des Dings gegen unsere Empfindungen, unser Ich usw. sind sekundäre Variationen des natürlichen Dingbegriffs. Wir meinen ursprünglich und meinen, sofern nicht durch sekundäre Überlegungen (Introjektion etc.) unsere Vorstellungen modifiziert worden sind, auch später nur unsere Empfindungskomplexe und zwar diese im Hinblick auf die oben genannten Bedingungen. Vergleiche ich SCHUPPEs Ansichten über die Entwicklung der Dingbegriffe mit dieser meiner Auffassung, so ist vorauszuschicken, daß SCHUPPE seine Auffassung im Lauf der Jahre etwas modifiziert hat. Im "Menschlichen Denken" glaubte SCHUPPE noch, daß das individuelle Ding als solches erst erkennbar ist, wenn die Begriffe von Arten und Gattungen entstanden sind. In der "Erkenntnistheoretischen Logik" (Seite 452f) wird eine solche Abhängigkeit der Dingbegriffe von Allgemeinbegriffen nur in einem eingeschränkten Umfang noch behauptet (Seite 457). SCHUPPE legt bei seiner neueren Darstellung ein größeres Gewicht auf die Gemeinschaft in Ruhe und Bewegung. Es liegt in der Tat auf der Hand, daß bei der Abgrenzung der Individuen von einem Hintergrund dieser Faktor, den ich noch lieber als Kontrast gegen den Hintergrund charakterisieren möchte, oft eine erhebliche Rolle spielt. Andererseits kann er doch für den Dingbegriff nicht maßgebend sein, insofern in zahllosen Fällen, z. B. bei Formveränderungen, die einzelnen Teile eines Dings sich in Bezug auf Ruhe sehr ungleichmäßig verhalten, ohne daß wir den Dingbegriff aufgeben. SCHUPPE hält auch die Vorstellung von Raumindividuen für eine notwendige "Voraussetzung des Dingindividuums". Meines Erachtens genügt die oben angeführte stetige räumliche Ausdehnung. Schließlich legt SCHUPPE das Gewicht mehr auf die Gesetzmäßigkeit der Veränderungen, während ich die Stetigkeit der Veränderungen für wesentlich halte. Ich berufe mich dabei auf die Tatsache, daß das Kind und oft genug auch der Erwachsene von sich verändernden Dingen spricht und Dingbegriffe bildet, ohne die Gesetzmäßigkeit der Veränderungen irgendwie festgestellt zu haben oder auch nur an die Gesetzmäßigkeit der Veränderungen zu denken, während die Erwartung das Ding stetig seine Form, seine Lage etc. verändern zu sehen allerdings unsere Dingvorstellung von Anfang an begleitet. Mit der Feststellung der psychologischen Entwicklung des Dingbegriffs ist die Frage nach der Bedeutung der dem Ding zugeschriebenen Einheit bzw. der Beharrlichkeit einer ihm etwa zugrunde liegenden "Substanz" noch nicht erledigt. Auf die modernen Lösungsversuche dieses HUMEschen Problems werde ich demnächst bei der Besprechung der Erkenntnistheorie von SCHUBERT-SOLDERN zurückkommen. Die Erörterungen SCHUPPEs über diese Frage stehen zu den Hauptsätzen seiner Erkenntnistheorie in keiner näheren Beziehung.
1) Ich pflichte jedoch WUNDT (Philosophische Studien 12, Seite 365 und 376 Anm.) bei, daß in dem älteren Hauptwerk SCHUPPEs, der "Erkenntnistheoretischen Logik", die empirische Seite der Theorie etwas mehr hervortritt. Von den Erstlingswerken "Das menschliche Denken" und "Die aristotelischen Kateogorien" sehe ich dabei natürlich ab. 2) Einige rechtsphilosophische Schriften habe ich nicht berücksichtigt, weil sie für die Erkenntnistheorie nichts Wichtiges enthalten. 3) Vgl. auch "Über Wahrnehmung und Empfindung", Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 98, Halle/Saale 1891 4) Im "Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik" bekämpft SCHUPPE die Introjektionstheorie auch unter dem Titel der Lehre von der mit räumlichen Grenzen sich abschließenden Seelensubstanz und von der Subjektivität der Empfindungen (z. B. Seite 30). Natürlich decken sich diese Begriffe nicht vollständig. 5) "Was sind Ideen?", Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 82 6) Vgl. auch "Natürliche Weltansicht", Philosophische Monatshefte, Bd. 30, 1894, Seite 4f 7) Mit der anderen Annahme, daß das Kind ein "unbewußtes Ich" hat, habe ich es hier nicht zu tun; SCHUPPE postuliert ausdrücklich ein "bewußtes Ich". 8) SCHUPPE selbst gesteht im "Grundriß" zu (Seite 18): "Das Sich-selbst-denken des leeren Ich ist eine vollendete Undenkbarkeit." 9) Ich verweise bezüglich dieses Punktes namentlich auch auf die Ausführungen SCHUPPES in "Die Bestätigung des naiven Realismus, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 17, 1893, Seite 372 und "Zum Eudämonismus", Bd. 8, Seite 152f. 10) SCHUPPE selbst bezeichnet es als uncharakterisierbar (Seite 150) 11) Vgl. z. B. auch "Normen des Denkens", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 7, 1883, Seite 403 12) Auch WUNDT hat auf solche Anklänge an PLATO bei SCHUPPE aufmerksam gemacht. Manche Ausführungen SCHUPPEs erinnern auch stark an die Lehren ERIGUENAs. 13) So wird auch die Behauptung WUNDTs einigermaßen verständlich, daß SCHUPPE "logische Abstraktionen in reale Wesen verwandelt". 14) Interessant ist, wie auch bei AVENARIUS der Begriff der Bedingung und des Bedingten ontologisch verwertet wird. 15) Daß sie nicht überhaupt ohne weiteres mit der Form zusammenfällt, bedarf keiner weiteren Erörterung; man denke nur an eine Fahne, deren Farben bald in dieser bald in jener Reihenfolge aufeinander folgen. 16) Hingegen wenig zutreffend mit Summen, als welche vielmehr mit den Kollektivbegriffen zu vergleichen sind. 17) Noch präziser wären die Bezeichnungen "ohne Raum- und Zeitlage" statt "raum-und zeitlos" und "nach Raum- und Zeitlage unbestimmt" statt "räumlich-zeitlich unbestimmt". 18) Daher auch das Fehlen von Wortbezeichnungen für diese Stufen. 19) Selbstverständlich läßt sie in einem zweiten Verfahren in analoger Weise, um zu Raumvorstellungen zu gelangen, auch die Qualitätsmerkmale (z. B. rot) weg bzw. läßt sie diese Qualitätsmerkmale unbestimmt. 20) Die Qualität soll dabei noch unverändert festgehalten werden, es handelt sich also noch immer um eine einzelne ganz bestimmte Rotnuance. 21) Ich erinnere nochmals daran, daß diese Auseinandersetzung zunächst nur für homogene Empfindungen gilt. Ihre Ausdehnung auf zusammengesetzte Empfindungen bleibt einer anderen Stelle vorbehalten. 22) Von Größe und Anordnung will ich der Kürze halber wieder absehen. 23) Diese Grenzen sind, nebenbei gesagt, für einen exakten Dingbegriff ebenso notwendig, wie für ein bestimmtes Integral; bei extremen Form- und Qualitätsveränderungen hören wir auf, von "demselben" Ding zu sprechen. 24) Eine in einigen Punkten verwandte Auffassung hat bekanntlich JOHN STUART MILL vertreten. Der Widerlegungsversuch STÖRRINGs (Dissertation Halle/Saale 1889) ist nicht geglückt. |