ra-3 A. BrunswigLippsO. GruppeA. Meinongvon KriesA. LöwensteinLocke    
 
LEOPOLD von WIESE
[mit NS-Vergangenheit]
Zur Methodologie der Beziehungslehre

In unserer Beziehungslehre ist nicht bloß eine logische, sondern eine soziale Beziehung gemeint. Die Größen, die hier in Beziehung treten, sind Menschen oder menschliche Kollektivgebilde, die tätig (seelisch oder körperlich tätig) aufeinander wirken.

Als GEORG von BELOW in seinem Aufsatz in Schmollers Jahrbuch (43. Jahrgang, 4. Heft), den er als "Soziologie als Lehrfach" betitelte, seinen bekannten Angriff auf unsere Disziplin veröffentlicht hatte - ich las ihn im Februar 1920, zwei oder drei Wochen nach seinem Erscheinen, jedoch unmittelbar nach Lieferung des Heftes an mich durch den Sortimentsbuchhandel -, schrieb ich sogleich an einem Abend eine kurze Erwiderung. Mir lag vor allem an einer schleunigen Antwort; ein ausführlicheres Eingehen auf die Einzelfragen glaubte ich aufschieben zu sollen. Ich hatte Grund zu der Annahme, daß schon das Aprilheft von Schmollers Jahrbuch meine Erwiderung publizieren würde, wenn sie knapp und kurz gehalten wäre. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Skizze "Die Soziologie als Einzelwissenschaft" geschrieben, die dann freilich aus Gründen, die außerhalb meines Bereiches lagen, erst im Juliheft (44. Jahrgang, 2. Heft) veröffentlich worden ist (1). Hätte ich gewußt, daß mir noch mehrere Monate Zeit zur Antwort blieben, so hätte ich manches an ihre nicht bloß andeutungsweise, sondern ausgearbeiteter gesagt. Um der Sache willen war mir deshalb der Aufschub der Drucklegung schmerzlich. Heute erst kann ich die vor fast Jahresfrist in wenigen Stunden hintereinander etwas eilig geformte Skizze ergänzen, ohne die Weiterspinnung des Gedankens mit der damals aufgezwungenen Polemik verknüpfen zu müssen. Die Zeitpause hat mir dabei den Gewinn eingebracht, daß ich mir hinsichtlich der Terminologie klarer geworden bin, als es damals der Fall war. Es ist das gegenüber der Sache ansich, die ich vor zehn Monaten genau so ansah wie heute, anscheinend untergeordnet. Wer sich indessen erinnert, wieviel Meinungsstreit gerade bei der Wortwahl einsetzt, und wieviel eine zweckmäßige Wortwahlt zur Klärung beitragen kann, wird auch das nicht unterschätzen.

Im Anschluß an SIMMEL und in Übereinstimmung mit VIERKANDT (so suchte ich im erwähnten Aufsatz darzutun) erscheint mir das Studium der Formen der Vergesellschaftung zwar nicht als die  dauernd  einzige, aber als die nächstliegende, fruchtbarste und (zumindest neben anderen) jetzt unerläßliche Aufgabe. (Ob es außer der formalen Soziologie noch eine andere gibt, die auch einen wirklichen eigenen Erkenntniswert besitzt, glaube ich, um unnützen Streit zu vermeiden, unbeantwortet lassen zu dürfen. Wer sich an einer Art Soziologie versucht, wie es viele vor uns getan haben, sollte, meine ich, von uns, die wir uns der "formalen Soziologie" zuwenden, nicht gleich als ein unnützer Kostgänger im Garten der Wissenschaft verschrien werden.) Für unst ist das Formalprinzip (im Sinne SIMMELs) ein  Ausgangspunkt;  wir sehen es als ein heuristisches an und stellen, wie ich schon damals schrieb, "die Hypothese auf: die Form läßt sich vom Inhalt trennen".

Indessen ist der Gebrauch des Wortes "Form" und "formal" nicht sehr zweckmäßig. Manche Kritik, die sich bereits gegen SIMMEL gerichtet hat, wäre vermieden oder abgeschwächt worden, wenn nicht die Vieldeutigkeit des Wortes  Form  und besonders die Vielheit von Formarten und -stärken sowie die bisweilen zu dunkle Gegenüberstellung von Form und Inhalt Mißverständnisse hervorgerufen hätte. SIMMEL wollte und wir, die wir seine Arbeit an der Soziologie fortzuführen bereit sind, wollen an dne Vergesellschaftungsvorgängen aller Lebensgebiete unter möglichster Lösung von der Sachaufgabe jedes Falles das abstrahieren, was eben gesellschaftlich an ihnen ist. Da es sich dabei um allgemeinste Abstraktionen handelte, schien der Gegensatz zwischen den anderen sozialen Einzelwissenschaften und dieser Soziologie gut ausdrückbar in der gleichfalls allgemeinsten Gegenüberstellung von Form (gleich Gesellschaftliches) und Inhalt (gleich konkrete Sachaufgabe). Aber das ist nicht immer richtig verstanden worden.

Es bietet sich eine andere Bezeichnung an: das Wort  Beziehung  statt Form. Wenn man hervorhebt, daß man aus den Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens, unter Loslösung von den Zwecken und Sachaufgaben des speziellen Falls, nur Art und Wesen der in ihnen bestehenden Wechselbeziehungen der Menschen abstrahieren will, so ist die Aufgabe so deutlich gekennzeichnet, wie es ihre Allgemeinheit überhaupt zuläßt. Mit Recht hat VIERKANDT die Beziehung die "Grundkategorie des soziologischen Denkens genannt". (2)

Die Erhebung der Beziehung (im Gegensatz zum Begriff des Gegenstandes) zur Grundkategorie ist also nichts Neues. (Auch SIMMEL sieht die Aufgabe so.) Nur möchte ich weiter vorschlagen, auch die ganze Unterdisziplin als "Lehre von den gesellschaftlichen Beziehungen" oder kurz als  Beziehungslehre  zu bezeichnen. Das scheint mir plastischer und deutlicher als "formale Soziologie". In diesem Sinne soll auch dieser Teil der "Hefte" ein  Archiv für Beziehungslehre  bilden.

Doch damit ist nur der Name geprägt und sein Sinn sehr oberflächlich angedeutet. Es handelt sich weiter um Wichtigeres:
    1. Welches ist die Aufgabe der Beziehungslehre?

    2. Weshalb müssen wir sie als nächsten und wichtigsten Problemkomplex ansehen? Ist anzunehmen, daß sie unser Wissen vom sozialen Leben der Menschen in wesentlichen Punkten fördert?

    3. Wie hat sie vorzugehen?
Uns weist der Gesellschaftsbegriff sogleich auf den Begriff der Beziehung. Es gilt der Satz GUIZOTs (3): "Die Gesellschaft in ihrem weitesten und zugleich engsten Sinn ist die Beziehung von Mensch zu Mensch." Dieser Begriff gilt auch uns nicht als metaphysischer Begriff; wir untersuchen auch nicht, ob er apriorischer Natur oder ein Ergebnis unserer Erfahrung ist. (Das überlassen wir der Philosophie.) Wir vergegenwärtigen uns nur, daß bei einer Beziehung zwei oder mehrere Größen so miteinander in Verbindung kommen, daß jede als selbständige Größe bestehen bleibt, daß aber eine teilweise Übereinstimmung und Gemeinschaft in Einzelheiten hervorgerufen wird.

Doch ist in unserer Beziehungslehre nicht bloß eine logische, sondern eine soziale Beziehung gemeint. Die Größen, die hier in Beziehung treten, sind Menschen oder menschliche Kollektivgebilde, die  tätig  (seelisch oder körperlich tätig) aufeinander wirken.

Unsere Aufgabe ist es nun, die  sozialen Beziehungen zu beschreiben, zu analysieren, zu gruppieren, zu messen und zu systematisieren.  Es handelt sich also um eine Arbeit auf dem Boden der Erfahrung. Die Beziehungslehre ist rein emirischer Natur. Sie ist dabei nicht dasselbe wie Psychologie, so sehr sie (besonders bei der Analyse der einzelnen Beziehungen) die Seelenkunde nutzen muß. Soweit es in der Psychologie eine Lehre von den Motiven gibt (diese bildet die Brücke zu unserer Disziplin), ist sie der Soziologie benachbart. Der Unterschied liegt in der synoptischen [vergleichenden - wp] Betrachtungsweise des Soziologen, der individualisierenden des Psychologen. PAREDES sagt darüber sehr richtig:
    "In der Tat ergibt sich der Begriff des Sozialen niemals aus der Betrachtung des einzelnen Menschen und seiner einzelnen Beziehungen. Damit das soziale Moment hervortritt, müssen mindestens zwei Subjekte, zwei Handlungen und eine Beziehung des einen mit einem anderen vorhanden sein in der Weise, daß die Beteiligten ihre Bedürfnisse befriedigen durch die Mittel, über welche sie zusammen verfügen. Wenn das Individuum bzw. die rein individuelle Handlung soziale Momente aufweist, so ist dies vermöge der Gemeinschaft, von der der einzelne ein Teil ist, und wegen Beziehungen, die einen sozialen Charakter wirklich haben."
Daß dabei eine Disziplin in die andere hinübergreift, eine Wissenschaft auf die andere hinweist, ist unzweifelhaft. Die dabei bestehende Verbindung geht von der Individualpsychologie zur Soziopsychologie und von dieser zur Psychsoziologie. (STOLTENBERGs Terminologie erscheint zweckmäßig.) In der Soziopsychologie werden Vorgänge des  individuellen  Seelenlebens beschrieben, die von gesellschaftlichen Zusammenhängen beeinflußt oder auf andere Menschen zu wirken imstande sind. Die Psychosoziologie, also bereits ein Zweig der Soziologie, fügt die synoptische Betrachtung der  beiden  bei der sozialen Beziehung vorhandenen  Partner  hinzu.

Mit dieser Aufgabenbestimmung der Beziehungslehre ist sie als ein Teil der Lehre vom Sein (nicht des Wertens), als Systematisierung von Tatsächlichem bezeichnet; ihre phänomenologische Natur steht fest.

Hier setzt die Kritik derer ein, die zwar an der engen Verbindung mit der Psychologie keinen Anstoß nehmen, aber befürchten, daß damit "eine Systematik der gesellschaftlichen Erscheinungen nicht zu erreichen" sei. Auch SINGER meint zur Kritik von SIMMELs Aufgabenstellung der Soziologie (4):
    "Weder ordnen sich die ungemein subtilen Resultate einer neuen Einheit ein, noch ist eine eindeutige Abgrenzung des Anwendungsbereiches möglich."
Diese Synthetiker suchen den Weg von der phänomenologischen Psychosoziologie zur engeren Soziologie. Besonders lehrreich sind die Einwendungen, die SPANN (5) bei Gelegenheit einer Anzeige des BRINKMANNschen Buches gegen die "gesellschaftskundliche" Richtung vorbringt. Es heißt da:
    "Woher in aller Welt soll aber eine Zergliederung der seelischen Verbindungen der Menschen zur  Gesellschaft  führen? - sie bleibt notwendig im Bereich des Seelischen und kann diesen Hexenkreis nie durchbrechen.  Gesellschaft  das ist nichts weniger als eine andere Art, Ebene, Gestalt des Seins, ähnlich wie  psychisch  eine andere Ebene als  physisch, mechanisch  eine andere Ebene als  teleologisch.  Wie kann denn z. B. die schönste Systematik der Antriebe  (Motivationen),  wie kann das tiefste Verständnis der Seelenvorgänge  Sympathie, Suggestion, Ressentiment  zu:  Staat, Wirtschaft, Geselligkeit, Recht  führen? Genau so müßten ja schon die berühmten Assoziationsgesetze weiland der Assoziationspsychologie, wie sie zu den  sozialen Gefühlen  (und dgl.) führen, auch zur  Gesellschaft  führen. Das lehnt aber  Brinkmann  selbst ab. Die Wahrheit ist, daß nicht nur der Assoziationsvorgang etwas anderes darstellt als etwa der gesellschaftliche Vorgang  Geselligkeit in einem Salon  (jener ist wohl Voraussetzung von dieser), sondern daß ebenso der Austausch seelischer Vorgänge, der  Sympathie  oder  Haß  in sich schließt, etwas anderes ist als die gesellschaftliche Erscheinung  Bündnis  oder  Familie  oder  Krieg Es sind Erscheinungen anderer Ebene, anderer Blickrichtungen, die wir in der  Gesellschaft  vor uns haben.  Gesellschaft ist nicht die Summe psychischer Wechselbeziehungen der einzelnen, sondern in ihrer "Ganzheit", ihrer Eigenschaft, Ganzes aus Gliedern (z. B. Gemeinschaft) zu sein liegt ihre Wesenheit beschlossen.  Ebensowenig wie die Psychologie auf Physiologie, die Physiologie auf Physik, ebensowenig läßt sich Gesellschaftslehre auf seelische Wechselbeziehungen zurückführn. Die Zergliederung dieser arbeitet mit einer Art von  psychischer Kausalität,  die Gesellschaftslehre mit der ganz anderen Kategorie der  Gliedlichkeit des Teiles,  der Bezogenheit des Teils auf das Ganze, mit dem Verhältnis des Ganzen zum Teil, nicht aber mit dem Verhältnis Wirkung zu Gegenwirkung."
Dazu wäre zu sagen: Die bloße Betrachtung auf Gliedlichkeit und Proportion von Teil und Ganzem ergibt nur eine äußere Schematisierung, deren innere Notwendigkeit nicht beweisbar ist oder aus außersoziologischen Normen hergeleitet werden muß (6). Auch erschöpft sich dabei die Aufgabe der Soziologie sehr schnell in einer Systematisierung allgemeinster Art.  Erklären  läßt sich das Wesen der Sozialgebilde (wie Klasse, Staat, Kirche, Familie usw.) nur dadurch, daß man auf die Vergesellschaftungs vorgänge  eingeht, die zu ihnen geführt haben und noch führen. Diese Vorgänge aber sind zahllose Anhäufungen von Wechselbeziehungen, und diese Wechselbeziehungen sind größtenteils seelischer Herkunft. Will man nicht bis zu diesen Erscheinungen vordringen, so bleibt man bei einer bloßen, bald erschöpften Gruppierung, die entweder geschichtliche Typen verallgemeiner oder, wie gesagt, normativ-ethisch und damit unsoziologisch ist. Wir können realistisch Sozialgebilde letztlich nur aus der Psyche oder Physis von Menschen ableiten, müssen also teilweise und in einem stärkeren Maße seelenkundlich verfahren.

Den Weg von der Analyse der seelischen Verbindungen der Menschen zur Gesellschaft, d. h. zu den gesellschaftlichen Kollektivgebilden glaube ich deutlich zu sehen. Sind doch diese Gebilde nur abstrakte Objektivierungen von zahllosen Einwirkungen von Menschen aufeinander. Ich vermag Klasse, Staat, Familie usw. eben gerade  nur  auf diesem Weg zu verstehen. Auf jedem anderen geraten wir in die Spekulation, Geschichtsphilosophie, Ethik oder Metaphysik.

Indessen bleiben noch einige Zweifelsfragen: ist die seelenkundliche Deutung ausreichen? Muß nicht ferner neben die Untersuchung und Ordnung der  Beziehungen  die Betrachtung der Menschen und Gruppengebilde auf ihre  Funktion  hin treten?

Der Einwand gegen den "Psychologismus" finden wir nicht nur bei einigen deutschen Forschern, sondern genauso ringt im Ausland die psychologische Schule mit anderen Richtungen. Gerade auch in Amerika hat die psychologische Schule ihren (heute mehr oder weniger wohl anerkannten) Sieg nicht unbestritten erfochten. In Frankreich haben der verstorbene DURKHEIM und ADOLPH COSTE eine "objektive Soziologie" gegenüber der psychologischen Betrachtungsweise gefordert. Vom  Subjekt  Mensch her sei (wie auch BRINKMANN meint) die Systembildung nicht zu bewirken. Man müsse die Erscheinungen des sozialen Lebens mit Hilfe eines rein objektiven (d. h. hier außerhalb der Menschenseele bestehenden) Kriteriums ordnen. COSTE nimmt als letzte treibende Kraft, die die Entwicklung aller Formen des Gesellschaftslebens bestimmt, "ein Tatsache, die nichts Geistiges enthält: das ist der Druck der immer wachsenden Bevölkerung" (7). BRINKMANN vermißt bei der seelenkundlichen Richtung den "Anschluß an die zweite Seite der gesellschaftlichen Gebilde, auf der die Wissenschaften von der sozialen Außenwelt, die Beschreibung der Rechts- und Wirtschaftstatsachen, der statistischen Ausmaße von Kräften und Wirkungen arbeiten".

Sicherlich bleiben bestimmte Tatsachen und Gesetze des nicht von Menschen allein herrührenden Teils der Außenwelt (Nahrungsspielraum, Bevölkerungstatsachen usw.) neben den seelischen von nicht geringerer Bedeutung; aber sie durchlaufen entweder das Medium der Psyche oder erfassen den Menschen als physisches Wesen. Die  biologische  Betrachtungsweise ergänzt aber die psychosoziologische und ist in der Beziehungslehre keineswegs ausgeschlossen.

Was die Funktion betrifft, so ist sie kein begrifflicher Gegensatz zur Beziehung, sondern nur eine bestimmte Unterart von ihr. Die Aufgaben und Verrichtungen der Menschen und Gruppen leiten sich ebenso aus den Relationen von Ich und Du her wie die nicht auf einen Zweck gerichteten und in diesem Sinne organisierten sonstigen (bloßen Seins-) Beziehungen.

Faßt man die Funktion als Ausfluß einer übergeordneten Norm, so entsteht alsbald wieder die Gefahr der Spekulation und setzt das Bestreben ein, mit Hilfe soziologischer Forschung die Geschichte zu "deuten". Jede vorzeitige Normgebung liegt aber jenseits einer realistischen, empiristischen Beziehungslehre.

Gerade  weil  wir von der Analyse der Vergesellschaftungsvorgänge weiterschreiten und aufsteigen wollen zum Verständnis der Gebilde sozialer Kollektivkräfte, setzen wir bei einer so verfahrenden Beziehungslehre ein. Es gibt keinen anderen Zugang zu ihnen. Es lag mehr an SIMMELs wissenschaftlicher Eigenart als an der Natur seiner (von ihm nur nicht zu Ende geführten) Methode, daß er in zahlreichen, unzusammenhängenden Analysen steckenblieb. Er schritt nicht weiter zur Gruppierung der analysierten Beziehungen. Ihre Systematisierung unter Zurückführung verwickelterer auf einfache Beziehungen ist jedoch nicht minder notwendig.

Zunächst ist die vorläufige Zusammenstellung von Worten erwünscht, deren Sinn eine soziale Beziehung ausdrückt. Schon WAXWEILER ließ einen ersten flüchtigen Versuch machen, ein "lexique sociologique" am Schluß seiner "Esquisse" zu geben. Die Wortsammlung gibt das Material zu zweiten Aufgabe: der Herstellung eines Netzes von Beziehungsbegriffen, die nunmehr in ein einheitliches, seelenkundlich orientiertes System gebracht werden. Zur Deduktion gesellt sich die Induktion. An den zahllosen Fällen der Selbstbeobachtung, des Studiums der gesellschaftlichen Umwelt, der Literatur, den Ergebnissen anderer sozialer Einzelwissenschaften und der Geschichte versuchen sich die Analyse und der Vergleich. Hier ist Raum in Menge für Massenbeobachtungen und Sammlung ihrer Ergebnisse. Die Kollektivarbeit erweitert die stets mehr auf das Wesentliche und die allgemeine Regel gerichtete Einzelforschung.

Die Erkenntnis, daß induktive, gut organisierte Kollektivarbeiten notwendig sind, ist auch der Grund für die Wahl des Wortes "Archiv" als Überschrift für diesen der Beziehungslehre gewidmeten Teil unserer "Hefte". Ergebnisse von Beobachtungen der Wirklichkeit sollen hier in hoffentlich wachsendem Umfang (mit in erster Linie) gesammelt werden. RENÉ MAUNIER berichtet (in der Monatsschrift für Soziologie, Seite 100) in seiner Übersicht über "Die Soziologie in Frankreich seit 1900":
    "Frankreich ist überlieferungsgemäß das Land des Individualismus. Dennoch sind dort die rein individuellen Werke selten: ein Werk wie das von  Tarde,  geschrieben auf dem Land von einem provinzialen Instruktionsrichter, bleibt eine Ausnahme. Sonst sind fast alle unsere soziologischen Werke verschiedener Stufen und Formen die Tat sozialer Organisationen, oder sie wurden von einer Gesellschaft vorgeschlagen oder diskutiert und in einer Sammlung veröffentlicht."
Gerade auch Institute wie das Unsrige, ferner Seminare und Gesellschaften zum Studium der Soziologie finden ein überreiches Arbeitsfeld im Dienst der induktiven Beziehungslehre.

Auch die, welche meinen, daß das nicht der wichtigere Teil der Soziologie sei, daß kühne Synthese auf hypothetischer Grundlage wertvoller seien, sollten sich nicht von der Kleinarbeit der Beziehungslehre abwenden.
    "Diese Spezialanalysen", wandte  von Below  ein, "haben nicht den Nachteil der Verzettelung der inneren Teilnahme. Sie bleibt ungeschwächt. Es ist eine vom Menschen - und was kann dem Menschen beachtenswerter sein als der Mensch, vorausgesetzt, daß ihn nicht eine besondere Art Lebensverneinung von jeder Neugier an diesem Gegenstand befreit hat - ausgehende, nicht peripherische, zentrifugale, sondern eine ausgesprochen zentripetale Art der Analyse. Die eigentliche Synthese rückt freilich immer mehr in die Ferne, je mehr man forscht. Sie würde in der Errichtung des einheitlichen Baues eines lückenlosen Geflechts von menschlichen Beziehungen bestehen. Aber jede Analyse bringt uns bald in dieser, bald in jener Hinsicht dem Menschen als solchen näher und führt uns damit allemal zu dem, worin auch alle Kultursynthesen beschlossen liegen. Die Analyse aber hat auch den großen Vorteil, daß sie uns von den unerträglichen, voreiligen und aberwitzigen Spekulationen vieler Geschichtsphilosophen frei macht, von den wilden Konstruktionen, die bestenfalls Werke der Dichtung sind."
Schon die ökonomische Regel, die begonnene Arbeit der Vorgänger nicht beiseite zu stoßen und nicht immer wieder mit neuen Vorschlägen zur Methodologie zu beginnen und wo anders zu beginnen, sollte es uns nahelegen, die Arbeiten SIMMELs und MAX WEBERs, WAXWEILERs, MacDOUGALLs und manch anderer fortzuführen.

Die letzten Zwecke unserer Forschungen, über die ich hier nichts auszusprechen versuchen will, mögen sehr viel höher liegen; das resolute Beschreiten eines gegebenen Weges mit vorläufig nahe und deutlich sichtbar gesteckten Zielen tut jetzt mehr not.
LITERATUR: Leopold von Wiese, Zur Methodologie der Beziehungslehre, Kölner Vierteljahrshefte für Sozialwissenschaften, München und Leipzig 1921
    Anmerkungen
    1) FERDINAND TÖNNIES' Erwiderung auf BELOWs Angriff im "Weltwirtschaftlichen Archiv", Bd. 16, ist als vermehrter Sonderabdruck mit dem Titel "Hochschulreform und Soziologie, kritische Anmerkungen zu BECKERs Gedanken zur Hochschulreform und BELOWs "Soziologie als Lehrfach" 1920 in Jena erschienen. Die Broschüre hat 36 Seiten.
    2) Vgl. VIERKANDT, Die Beziehung als Grundkategorie des soziologischen Denkens, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. IX, Heft 1 und 2 (Oktober 1915 und Januar 1916).
    3) Ihn zitiert VICENTE SANTAMARIA de PAREDES in seinem Aufsatz "Der Gesellschaftsbegriff" in der Monatsschrift für Soziologie, Seite 654.
    4) Vgl. KURT SINGER, Die Krisis der Soziologie, Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 16, Seite 255.
    5) OTHMAR SPANN, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 115, Seite 166, 1920
    6) Vgl. meine Anzeige des SPANNschen Werkes in dieser Zeitschrift auf Seite 67.
    7) VIERKANDT in der "Monatsschrift für Soziologie", Seite 105.