tb-1AbichtAschkenasyvon Asterde BiranBerkeley    
 
EUGEN WECK
Der Erkenntnisbegriff bei Paul Natorp
[ 2 / 3 ]

"Es gibt für uns keine Dinge, kein Sein, das nicht von uns erkannt ist; folglich, so lautet der Schluß, ist das Erkennen des Dings-ansich für uns unmöglich. Das ist der Ausgangspunkt des Idealismus und Subjektivismus. Ein Gegebensein darf nur als Charakter der zu lösenden Aufgabe aufgefaßt werden. Die Aufgabe selbst, der Gegenstand, ist ein zu bestimmendes X."

"Wäre es nicht denkbar, daß zwar unser ganzer Erkenntnisinhalt eine bloße Produktion rein subjektiver Art ist, aus der wir überhaupt nicht herauskommen können, so daß wir also zwar Schöpfer des Seins wären, daß es aber trotzdem eine objektive Welt gäbe, die wir allerdings dogmatisch vorauszusetzen hätten."


Zweiter Teil
Darstellung des Natorpschen
Erkenntnisbegriffs

I. Abschnitt
Die Erkenntnisfaktoren
(Unterscheidung von Form und Stoff im Erkennen.)

1. Kapitel
Die Materie der Erkenntnis

Dem Zweck meiner Aufgabe entsprechend beschränke ich mich bei nachfolgenden Ausführungen auf die rein sachliche Erörterung des NATORPschen Erkenntnisbegriffs und gehe nur an wenigen Stellen auf die historische Grundlegung ein. (1)

Das Hauptziel des kritischen Idealismus besteht in der Aufdeckung der strengen Gesetzmäßigkeit unseres Erkennens nicht aus der Peripherie, d. h. aus der Betrachtung der Erkenntnisgegenstände, sondern aus dem Zentrum heraus, d. h. aus dem Erkennen selbst. Die erkenntnistheoretischen Untersuchungen bleiben ausschließlich auf das beschränkt, was im Erkennen vorhanden ist. Insofern es für uns keine Gegenstände gibt, die nicht erkannt sind, sind Gegenstand und Erkennen überhaupt nicht voneinander zu trennen (2). NATORP verlangt von der wahren Philosophie, daß sie "mit aller sonstigen festgegründeten Wissenschaft einen strengen Zusammenhang" behauptet (3). Eine jeder festgegründeten Wissenschaft geläufige Unterscheidung ist die zwischen Dasein und Sosein eines Gegenstandes, d. h. die Unterscheidung seiner Existenz von seiner Qualität oder Beschaffenheit. Bekanntlich setzte KANT das Dasein außerhalb des erkennenden Subjekts existierender Gegenstände voraus, während er die Erkenntnis ihres Soseins leugnete und für subjektiv erklärte. Nichtsdestoweniger erschien ihm die Behauptung, daß unsere Sinne von den äußeren Gegenständen affiziert werden, aus dem Grund bedenklich, weil ja eine solche Behauptung über die Annahme eines bloßen Daseins der Objekte hinausgeht. In diesen Andeutungen ist schon eine weitere Unterscheidung enthalten, nämlich Inhalt der Erkenntnis und Gegenstand der Erkenntnis. Zwar stehen bei KANT Erkenntnisinhalt und Gegenstand in einem ursächlichen Zusammenhang zueinander, insofern die Affektion durch den Gegenstand als eine conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] erklärt wird, aber was wir schließlich vom Gegenstand zu erkennen glauben, ist subjektiv; das "Ding-ansich" vermögen wir niemals zu erfassen.

Dementsprechend ist das Erkennen nach KANT eine Verbindung von Produktion und Reproduktion. Denn im Erkenntnisinhalt wird das Dasein des Gegenstandes reproduziert, während sein Sosein aufgrund der subjektiven Bedingungen des Erkennenden durch Produktion gegeben ist. Eine Möglichkeit des Vergleichs zwischen dem Sosein der Dinge als Erkenntnisinhalte und Gegenstände weist KANT ab.

Diese allgemeinen Bemerkungen lassen deutlich erkennen, von welchem Gesichtspunkt aus wir in der folgenden Darstellung die materialen und formalen Elemente des Erkenntnisbegriffs bei NATORP einer Betrachtung unterziehen.

Zur Durchführung der Forderung des Anschlusses der Philosophie an jegliche festbegründete Wissenschaft konstruiert NATORP zunächst den Unterschied zwischen natürlicher und wissenschaftlicher Erkenntnis, der sich übrigens im Prinzip schon bei den Eleaten findet.

Die Richtung des natürlichen Erkennens geht auf den Gegenstand direkt (4). Es ergreift in irgendeiner Weise das Objekt (5), zwar nicht physisch, aber doch ideal, insofern es im Sinn der griechischen Realisten ein adäquates Abbild der realen Wirklichkeit zu sein glaubt. (6) Diese Abbildung der Welt beruth nach NATORP auf folgenden "Hauptfaktoren" oder "Elementen" (7):
    1) Auf der Wahrnehmung als der einfachen Objektabbildung und zwar in unmittelbarer Gegenwärtigkeit (8);

    2) auf der repräsentativen Vorstellung, welche nicht unmittelbar Gegenwärtiges vergegenwärtigt;

    3) auf bestimmten Vorstellungen und zwar
    a) des Dings oder der Substanz, d. h. das Bewußtsein der Beharrung des Gegenstandes im Wechsel seiner Erscheinungen und
    b) der Ursache und Wirkung, d. h. das Bewußtsein der Erhaltung derselben Beziehung zwischen Veränderungen verschiedener Dinge. (9)
Nach NATORP glaubt die natürliche Erkenntnis somit bei der Wahrnehmung und Vorstellung den Gegenstand objektiv zu erkennen, d. h. sie nimmt an, daß er sich im Raum und in der Zeit befindet und ganz bestimmte mit unseren Sinne wahrnehmbare Eigenschaften oder Qualitäten besitzt. Die wissenschaftliche Erkenntnis dagegen bestreitet die Objektivität von Raum und Zeit, indem sie diese nur im Sinn von sinnlichen Anschauungsformen verstanden wissen will. Auch die Sinnesqualitäten, z. B. die Farbe, bedeuten für sie keine tatsächlichen Eigenschaften der Dinge, sondern Produkte unserer subjektiven Bedingtheit (10). Glaubt die natürliche Erkenntnis z. B. im Schluß von der Wirkung auf die Ursache eine objektive Gesetzmäßigkeit zu erkennen, so zähl die wissenschaftliche Erkenntnis den Begriff der Kausalität zu den Kategorien (11), die in irgendeiner Form auf der Veranlagung des erkenennden Subjekts beruhen sollen.

Diese Gegenüberstellung der natürlichen und der wissenschaftlichen Erkenntnis zeigt uns, was bei NATORP Materie der Erkenntnis alles sein kann.

Bei ARISTOTELES kommt der Erkenntnisinhalt zustande:
    1) Durch die Aktivität des Erkenntnisgegenstandes, insofern dieser auf das erkennende Subjekt auf irgendeine Weise einwirkt,

    2) durch die Rezeptivität des Subjekts, indem dieses die Eindrücke der Außenwelt aufnimmt und zwar nicht nur rein passiv, sondern das Erkenntnisvermögen wird aufgrund der Rezeption in irgendeiner Weise aktiv mitwirkend.
Diese aristoteleischen Grundgedanken hat THOMAS von AQUIN in der Lehre von der species sensibilis und species intelligibilis weiter ausgebildet. Die species sind jedoch selbst nicht Erkenntnisgegenstände; sie vermitteln lediglich die Verbindung zwischen Subjekt und Objekt (12).

NATORP hingegen verwirft aufgrund der transzendentalen Methode jedes Gegebensein eines Objekts außerhalb der Erkenntnis. Darum ist ihm das kantische Ding-ansich nur ein Rest an Dogmatismus. Folgerichtig muß er auch jede Affektion des Subjekts durch die Außenwelt leugnen. Hieraus ergeben sich aber die für unsere Betrachtung wichtigen Schlüsse:

Bei Natorp besteht die Materie der Erkenntnis lediglich im Erkenntnisinhalt; die Ausschaltung der Mitwirkung der Außenwelt am Zustandekommen des Erkenntnisprozesses läßt keine andere Möglichkeit zu als die, daß der Erkenntnisinhalt ausschließlich aus dem Subjekt heraus abgeleitet wird. Das bezieht sich sowol auf die sinnliche wie auch geistige Erkenntnis.

Das denken ist ein aufgrund der synthetischen Einheit im Subjekt gesetzmäßig sich vollziehender in sich abgeschlossener Akt. Alle Beziehung auf den Gegenstand, aller Begriff vom Objekt und also auch vom Subjekt entspringt allein in der Erkenntnis, ihrem eigenen Gesetz zufolge (13). Erkenntnis vor, nach oder außerhalb des Denkens ist unmöglich. (14) Der Ort der Tatsetzung der Erkenntnis ist das Bewußtsein. (15) Das wahre Sein ist gleichbedeutend geworden mit dem Inhalt der Erkenntnis (16).

Die Materie der sinnlichen Erkenntnis wird durch die subjektiven Empfindungen repräsentiert. Sie sind die letzte materielle Basis der Erfahrung (17), ein Mannigfaltiges und Unterschiedliches, zerlegbar und unterscheidbar in Elemente, gleichsam in Punkte und Atome des Gegeben. (18)

Indessen besitzen die Empfindungen als die Elementarinhalte des Bewußtseins (19), als das hier und da gegebene (20) keine gesonderte Existenz (21). Sie werden durch das Gesetz der synthetischen Einheit unmittelbar untereinander zu Vorstellungen verbunden (22). Somit wird der sinnliche Inhalt des Bewußtseins in seiner unmittelbaren Form durch die Vorstellung dargestellt (23).

Aber die Empfindung ist nicht als ein "Datum der Erkenntnis" gegeben, woraus sich anderes, noch Unbestimmtes, bestimmen ließe (24), sondern der Inhalt der Empfindungen ist lediglich eine gestellte Aufgabe. Das Konkrete der Erscheinung ist nur ein zu bestimmendes, bestimmbares X (25), gleichsam ein aristotelisches dynamen oi (26) vor der Erkenntnis ist demnach nur ihre Aufgabe gegeben; (27) das "vermeintlich Erstgegebene" ist das Gesuchte, ja das zuletzt Gesuchte. (28)

Das zu bestimmende sinnliche X als die Materie zunächst der sinnlichen Erkenntnis hat eine doppelte Bedeutung (29). Einmal ist es das noch nicht Bestimmte, zuletzt im Begriff zu Bestimmende, der gesuchte, noch nicht erkannte Gegenstand (negative Bedeutung) (30), auf der anderen Seite das Bestimmbare, die gegebene Möglichkeit der durch Begriff und Urteil zu vollziehenden Bestimmungen; nunmehr ist es der erkannte Gegenstand, das Sinnliche nicht wie es ansich ist, sondern hineingefügt in die Formen, "in denen allein der Gegenstand gedacht werden kann" (positive Bedeutung) (31).

Das Sinnliche soll durch die geistige Erkenntnis immer weiter bestimmt werden. Es ist nicht absolut aufzufassen als etwas in sich Abgeschlossenes, sondern rein relativ als die Materie der Erkenntnis je nach dem Stand der wissenschaftlichen Arbeit.

Zwischen dem gegebenen sinnlichen = X als Materie der Erkenntnis und dem begrifflichen Faktor als Form der Erkenntnis besteht ein innerhalb der Erfahrungsgrenzen unaufhebliches Wechselverhältnis (32). In diesem Wechselverhältnis zwischen Form und Materie der Erkenntnis einerseits und der Unbegrenztheit des sinnlich Gegebene = X andererseits liegt der Grund, weshalb Erkenntnis als ein immerwährender, nie vollendeter Prozeß gedacht werden muß. (33)

NATORP versucht Empfindung, Wahrnehmung und Vorstellung als die Betätigungsweisen der sinnlichen Erkenntnis aus der Einheit des Bewußtseins unter ausdrücklicher Ausschaltung außerhalb desselben existierender Gegenstände und deren Einwirkung auf das Subjekt abzuleiten. Kann aber der Inhalt der sinnlichen Erkenntnis nur aus dem Subjekt heraus erklärt werden, und wird zugleich die Existenz einer realen Außenwelt verneint, so ist auch zur Erklärung der Entstehung der Materie der Erkenntnis keine andere Möglichkeit mehr als die gegeben, daß die Entstehung des Erkenntnismaterials im Subjekt selbst erfolgt. Die geistige Erkenntnis besteht dann in der Auffassung des letztlich durch die Empfindung vermittelten Materials mittels der Funktionen des Begriffs und des Urteils.

Das ist in der Tat NATORPs Meinung. Für ihn erzeugt das Subjekt das Objekt aus sich selbst heraus ohne die aktive Mitwirkung der Außenwelt. Das Subjekt ist beständig in schöpferischer Denkarbeit tätig, aus der Einheit des Bewußtseins neue Denkobjekte zu schaffen. Es ist dabei ausschließlich aus sich selbst beschränkt. Es produziert die Denkobjekte wie der zweite Künstler (siehe oben) sein Werk aus sich selbst hervorbringt, ohne daß ihm ein in Wirklichkeit existierendes Modell die Richtlinien seiner Arbeit weist. Erkennen ist somit für NATORP kein Erleiden wie bei ARISTOTELES, sondern ein schöpferisches Tun, volle Aktivität.

Dementsprechend bringen wir die Ansicht NATORPs von der Erkenntnis auf die Formel:

Erkennen ist die Produktion des Erkenntnisinhaltes aus dem erkennenden Subjekt heraus.

Ist aber Erkennen Produktion, so kann auch der Erkenntnisbegriff in keinem anderen als einem produktiven Sinn verstanden werden.

Ich beantworte die weiter oben bereits aufgeworfene Hauptfrage dahingehend, daß ich sage:

Unter den beiden Voraussetzungen
    1) daß die Erklärung des Erkenntnisinhaltes nur aus dem Subjekt heraus erfolgt,

    2) daß die Außenwelt keinen Anteil an der Entstehung des Erkenntnisobjekts hat,
ist Erkennen nicht wie bei KANT Produktion und Reproduktion, sondern ausschließlich Produktion.

Hieraus folgt, daß der Erkenntnisbegriff Natorps auch nur produktiv sein kann.

Entsteht das Sein als Inhalt des Gedachten nur im und durch denken (34), so braucht sich das zunächst nur auf das Sein der Dinge im Denkinhalt zu beziehen. Der Ansicht NATORPs, daß alles für uns Existierende im Bewußtsein existiert, wird man zustimmen können, insofern es für uns kein Sein gibt, das nicht auf irgendeine Weise von uns erkannt ist. NATORP geht aber einen Schritt weiter: er will das ganze Erkenntnisgebiet lediglich vom Standpunkt des Bewußtseins aus durchforschen und begründen. Nehmen wir einmal an, es wäre das zur Erklärung der Materie der Erkenntnis möglich, dann bleibt doch immer noch die Frage offen, ob denn überhaupt Dinge außerhalb des erkennenden Subjekts existieren. Zweifelt aber Natorp nicht daran, daß es eine reale Welt außerhalb unseres Bewußtseins gibt, so ist nicht einzusehen, warum die Annahme nicht zur Erklärung des Erkenntnisprozesses verwertet werden soll. Entweder muß als NATORP inkonsequent sein, oder er muß sich zum Solipsismus bekennen. Meiner Meinung nach liegt NATORPs Fehler darin, daß er einseitig alle Erkenntnisse aus dem Bewußtsein ableitet; ich halte die starre Durchführung dieses Prinzips sowohl für das praktische wie auch für das wissenschaftliche Leben für unmöglich.


2. Kapitel
Die Formelemente der Erkenntnis

Sehen wir wiederum von der natürlichen Erkenntnis aus. Eine gewisse Einheit der Erkenntnis leitet NATORP schon daraus ab, daß diese sich aus den Vorstellungen: Substanz, Ursache und Wirkung als genau zusammengehörigen Faktoren durchgängig aufbaut (35). Auch besitzt die natürliche Erkenntnis für ihn ein gewisses Bewußtsein "ihrer einheitlichen Grundverfassung", was sich namentlich im Bau der Sprachen in Wortklassen, Wortformen und syntaktischen Beziehungen zu erkennen gibt (36). Eine bestimmte Formulierung "dieses Grundgerüstes der natürlichen Erkennntnis" ist NATORP das aristotelische Kategoriensystem, dessen Bestandteile er "natürliche Kategorien" nennt. (37)

Die Formelemente der wissenschaftlichen Erkenntnis sind zu sondern in solche der sinnlichen und solche der Verstandeserkenntnis.

Empfindung bezeichnet nicht bloß die leere Stelle im Raum, sondern gibt ihr zugleich den Inhalt. (38) Deshalb gehört der Raum und mit ihm die Zeit zur Empfindung und nicht zum Begriff. (39) Ist aber der Ort der Bestimmbarkeit durch Zeit und Raum bezeichnet (4), so erhebt sich die Frage, wie die zeitlich-räumliche Ordnung als Denkleistung von NATORP gedacht ist. Damit gelangen wir aber zum Kern- und Angelpunkt der Philosophie NATORPs, zum Grundsatz der synthetischen Einheit.

Unter synthetischer Einheit versteht NATORP die Grundgestalt der Erkenntnis, welche in Begriff und Urteil nach verschiedenen Seiten ausgedrückt ist. Mit dem Beiwort "synthetisch" soll angedeutet sein, daß jeder ursprünglichen Denksatzung eine Relation zwischen zwei Terminis: Einheit eines Mannigfaltigen und Identität eines zugleich zu Unterscheidenden zugrunde liegt. Aus dieser Grundrelation lassen sich alle anderen gesetzmäßigen Grundrelationen mit strenger Notwendigkeit entwickeln. Die Denkverfahren, die aus der Wechselbeziehung des Einen und Mannigfaltigen hervorgehen, sind die der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität mit ihren verschiedenen Stufen (41).

Die ursprünglichen Arten der Verbindung und zugleich einer Auseinanderhaltung der Empfindungen, folglich die ursprünglichsten Vorstellungsformen sind Raum und Zeit (42). Wir erleben die Zeit "in der Aufreihung unserer Wahrnehmungen". (43) Sie betrifft daher den Elementarinhalt unseres Bewußtseins. Da aber dieser Elementarinhalt in seiner unmittelbaren Daseinsweise nur durch die Form der Verbindung, d. h. der Vorstellung, dargestellt wird, so muß die Zeitvorstellung als Verbindung der Inhalte des Bewußtseins in ihrer unmittelbarsten Form aufgefaßt werden. Die Verbindung geschieht zunächst durch eine quantitative Synthesis (44). Die Zeit ist also kein Inhalt der Empfindung, sie ist aber auch nicht ohne Empfindung, vielmehr realisiert sie sich in der Vorstellung allein in der Aufreihung der Empfindungen. (45)

Wie die Zeitvorstellung das Auseinanderhalten der zu verbindenden Elemente darstellt, so bezeichnet das Raumvorstellen die Möglichkeit ihrer Zusammensetzung in einem Vorstellungsgebilde (46). Das durch die Zeit unterschiedene Mannigfaltige wird unter der Form des Raums zur Einheit der Vorstellung zusammengenommen.

Aber beide, Raum und Zeit, stehen nicht nur in einer bestimmten Beziehung zum begrifflichen Verfahren der Quantität oder der Zahl - die Zeitvorstellung entspricht der Zählung als Festsetzung der Reihenfolge (Ordnungszahl), die Raumvorstellung der Zählung als Zusammennehmung der Einheiten in einem Ganzen (Anzahl, Summe) - vielmehr weisen sie durch ihre Eigenschaft der Stetigkeit auf das Verfahren der Qualität zurück (47). Als Ordnung der Empfindungen aber unterliegt die zeitlich-räumliche Vorstellung ... den Gesetzen der Relation, welche, in der Form des Denkens, eben die Funktionen der Ordnung darstellen, und zwar mit dem Ziel der Ordnung in einer einzigen, ausschließenden Weise. Auf dieser geforderten Einzigkeit der Ordnung aber beruth der Begriff des Existierenden, im Unterschied vom bloß allgemein (nach Erfahrungsgesetzen) Möglichen." (48)

Somit sind Raum und Zeit nicht dem Stoff nach verschieden, sondern nur in der Art der Satzung der letzten Elementarinhalte. NATORP verdankt diese Einsicht KANT, für welchen "innerer und äußerer Sinn", d. h. Raum und Zeitvorstellung zuletzt nur gewisse Arten sind, die Vorstellungen im Gemüt zu setzen (49).

Hieraus geht hervor, daß für NATORP Zeit und Raum nicht in einem objektiven Sinn, sondern als Funktionen unseres Erkennens zu verstehen sind; folglich subjektiven Charakter haben.

Versuchen wir nunmehr die Formelemente der begrifflichen Erkenntnis zu charakterisieren.

ARISTOTELES versteht unter Kategorien Seinsweisen. Die kantischen Kategorien sind ausschließlich im Sinne von Erkenntnisweisen gedacht. Sie finden daher nur Anwendung auf Erscheinungen, Phänomena, nicht aber auch Noumena, d. h. übersinnlich Reales oder Dinge-ansich (50). Sie sind für KANT "nichts anderes, als die Bedingungen des Denkens zu einer möglichen Erfahrung, sowie Raum und Zeit die Bedingungen der Anschauung zu eben derselben enthalten." (51) KANTs Kategorienlehre hat in einem engeren wie sein Kritizismus in einem weiteren Sinn den Zweck, HUMEs Folgerung aus der Prämisse, daß der Begriff der Kausalität kein aus der Erfahrung gewonnener Begriff ist, zu vermeiden. Das Resultat seiner Untersuchung besteht in der Feststellung, daß der Kausalbegriff nur eine Funktion des Verstandes und nicht aus der Erfahrung abgeleitet ist. KANT zählt darum den Kausalbegriff zu den Kategorien, die für ihn nichts weiteres sind als realisierte logische Funktionen. Das Prinzip und zugleich der "Leitfaden" zur Entdeckung der Kategorien war für ihn die schon von ARISTOTELES vorgebildete Lehre vom Urteil (52). Dementsprechend unterscheidet KANT 12 Kategorien.

Für NATORP vollzieht sich das Denken "in Aussagen" (53). In der allgemeinen Form der Aussage muß sich deshalb die allgemeine Form der Erkenntnis irgendwie ausdrücken. Diese allgemeine Aussageform ist der Begriff, der in seinem Schema

zugleich das Urteil in seiner einfachsten Gestalt darstellt. Begriff und Urteil fallen somit, einer einzigen Wurzel, der synthetischen Einheit entstammend, in ihrer Urform zusammen (54).

Bei KANT stellen die Urteilsformen die möglichen Verknüpfungsarten des Verstandes bei seiner logischen Tätigkeit dar. Aber auch die Kategorien sind für ihn Verknüpfungsarten von Vorstellungen, bzw. deren Gegenständen (55). Der einzige Unterschied besteht darin, daß die Urteilsformen die logisch-formale, die Kategorien aber die sachliche Verknüpfung zum Ausdruck bringen oder wie RIEHL sich ausdrückt: "Die logische Funktion wird zu Kategorie, wenn sie statt auf Begriffe, auf Gegenstände der Anschauung angewendet wird." (56)

Für NATORP sind sowohl die Aussageform, Begriff und Urteil, wie auch die Grundprädikationen - damit bezeichnet NATORP die Kategorien - Schöpfungen des Denkens, eigene Erzeugnisse der Erkenntnis. Sie entstehen unabhängig von den Empfindungen und sind allein aus der eigenen Gesetzlichkeit des Erkenntnisprozesses zu verstehen. (57)

Aber nicht nur hinsichtlich der Entstehung sind die Kategorien NATORPs - die hauptsächlichsten sind die Größe des Stetigen, die zeitliche und räumliche Bestimmung, die Qualität des Sinnlichen, die Relationen der Beharrung und des Wechsel, Begriffe wie die des Möglichen und Notwendigen, sowie des Wirklichen oder Existierenden - von denen KANTs unterschieden, auch ihrer Beschaffenheit nach weichen sie erheblich von einander ab.

Für KANT ist die Zahl wie auch die Bedeutung der Kategorien ein für allemal festgelegt. Nach NATORP hat KANT die Urteils- und Kategorientafel "mindestens starken Anschein nach" nur historisch aufgenommen und sich dabei auf die "fertige Arbeit" der Logiker allzusehr verlassen (58). Der Fehler KANTs liegt für NATORP darin, daß er das Denken zwar als eine Einheit betrachtet, aber als eine solche "im Sinne" der starren Einzahl des Prinzips oder eines zwar gegliederten, aber in dieser Gliederung doch wieder starren Systems. (59)

Wie ganz anders stellt sich das Wesen der Kategorien dar, wenn es aus den Erfordernissen einer synthetischen Einheit heraus verstanden (60) und die Denkeinheit durch Korrelation bewirkt wird, die eine Entwicklung und zwar ins Unendliche möglich macht!

Dann sind die Kategorien - das ist das Neue bei NATORP - nicht mehr starre, für alle Zeit festgelegten, unveränderliche Gegebenheiten, sondern nur die Auffassung von ihnen kann als richtig gelten, die eine Entwicklung der Kategorien ins Unendliche für möglich hält.

Mit dieser neuen Auffassung der Kategorien glaubt NATORP einem dringenden Bedürfnis abgeholfen und der fortschreitenden wissenschaftlichen Arbeit einen wertvollen Dienst erwiesen zu habe. Sind nämlich die Kategorien Erzeugungen des Denkens und werden durch die Entdeckung neuer Tatsachen neue Kategorien gefordert, so müssen ihnen zu ihrer Schöpfung in der Erkenntnis im Interesse des Fortschritts der Wissenschaft die Wege für immer freigelegt bleiben.

Faßt aber NATORP die Kategorien auf als reine Erzeugungen, als unmittelbare Schöpfungen der Erkenntnis, beweglich und entwicklungsfähig bis ins Unendliche, so gibt er damit zu, daß die Formelemente der Erkenntnis durch Produktion entstehen ohne andere Mittel als die, welche ihr durch das Gesetz der synthetischen Einheit gegeben sind.

Ich ziehe das Fazit meiner Untersuchung:
    1. Natorp leitet Material- und Formalelemente allein aus dem Bewußtsein ab; sie tragen daher beide einen rein subjektiven Charakter.

    2. Die Verstandeselemente sind nichts anderes als Konstruktionsstücke, die sich mit dem sinnlichen Erkenntnismaterial verbinden.

    3. Somit ist der Erkenntnisbegriff Natorps sowohl seiner materialen wie formalen Seite nach in einem produktiven Sinn verstanden.
LITERATUR - Eugen Weck, Der Erkenntnisbegriff bei Paul Natorp, [Inauguraldissertation] Ohligs 1914
    Anmerkungen
    1) Übrigens hat Natorps historische Begründung des kritischen Idealismus von verschiedenen Seiten eine direkte Ablehnung erfahren. Vgl. hierzu: Rolfes, Platos Ideenlehre, Rezension im Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, Fulda 1903, Seite 431-39; Hohmanns Rezension von Natorps "Platos Ideenlehre", in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, vormals Fichte-Ulricische Zeitschrift im Verein mit Siebeck, Volkelt, Falckenberg, Busse, Bd. 128, Heft 1, Seite 84-92; vgl. dagegen Chamberlains Kritik desselben Buches in seinem Werk "Kant".
    2) Natorp, Logik, Seite 6 und 7.
    3) Natorp, Philosophische Propädeutik, Seite 24 und 25.
    4) Natorp, Philosophische Propädeutik, Seite 4 und 5
    5) F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, Bd. 1, Seite 164
    6) Severin Aicher, Kants Begriff der Erkenntnis verglichen mit dem des Aristoteles, Berlin 1907, Seite 7
    7) Natorp, a. a. O., Seite 4
    8) ebd.
    9) Natorp, a. a. O., Seite 5
    10) Natorp, a) Philosophische Propädeutik, Seite 7; b) Allgemeine Psychologie, Seite 19
    11) a) vgl. Seite 18; b) vgl. Aicher, a. a. O., Seite 41.
    12) Vgl. Alois Otten, Allgemeine Erkenntnislehre des heiligen Thomas, Paderborn 1882, Seite 51f
    13) Natorp, Vortrag, Seite 10
    14) Natorp, a. a. O., Seite 9
    15) Natorp, Logik, Seite 6 und 7
    16) Natorp, Vortrag, Seite 9; vgl. "Zur Streitfrage zwischen Empirismus und Kritizismus", Archiv für systematische Philosophie, Bd. V, Seite 190; "Bericht über deutsche Schriften zur Erkenntnistheorie aus den Jahren 1896-1898", Archiv für systematische Philosophie, Bd. VI, Berlin 1900, Seite 217, 237; Bd. III, Seite 197; Cohen, Logik, Seite 5, 14, 17, 18, 28, 365, 368.
    17) Natorp, Allgemeine Psychologie, Seite 16
    18) Natorp, Philosophische Propädeutik, Seite 14
    19) Natorp, Allgemeine Psychologie, Seite 33
    20) Natorp, Philosophische Propädeutik, Seite 15
    21) Natorp, Allgemeine Psychologie, Seite 32
    22) ebd.
    23) ebd.
    24) Natorp, Über subjektive und objektive Begründung der Erkenntnis, Philosophische Monatshefte, Bd. XXIII, 1887, Seite 282
    25) Natorp, Logik, Seite 7, 13, 14; "Philosophische Propädeutik", Seite 13, 14, 25; Philosophie, Seite 166f; Vortrag, Seite 15; Allgemeine Psychologie, Seite 35, 38; Zur Streitfrage zwischen Empirismus und Kritizismus, Archiv für systematische Philosophie, Bd. V, 1899, Seite 198; Quantität und Qualität in Begriff, Urteil und gegenständlicher Erkenntnis, Philosophische Monatshefte, Bd. 27, Seite 129.
    26) Natorp, Philosophische Monatshefte, Bd. XXIII, Seite 283
    27) ebd.
    28) ebd.
    29) Natorp, Philosophische Propädeutik, Seite 14 und 25
    30) ebd.
    31) ebd.
    32) a. a. O., Seite 14, 15.
    33) a. a. O., Seite 15
    34) Natorp, Platos Ideenlehre, Seite 372
    35) Natorp, Philosophische Propädeutik, Seite 5
    36) ebd.
    37) ebd.
    38) "Quantität und Qualität etc.", Philosophische Monatshefte, Bd. 27, Seite 141
    39) a. a. O., Seite 141
    40) a. a. O., Seite 138
    41) Natorp, Logik, Seite 12-30; Logische Grundlagen etc.", Seite 44f.
    42) Philosophische Propädeutik, Seite 14
    43) a. a. O., Seite 65
    44) ebd.
    45) Natorp, Psychologie, Seite 36
    46) Philosophische Propädeutik, Seite 14 und 15.
    47) a. a. O., Seite 66
    48) ebd.
    49) Kant, Kritik der reinen Vernunft, Seite 72
    50) vgl. Willmanns Bekämpfung der kantischen Kategorientafel (Geschichte des Idealismus, Bd. III, § 103, 3.)
    51) Kant, Kr. d. r. V., Seite 124
    52) vgl. Aicher, a. a. O., Seite 41; Kant, Kr. d. V. Seite 96; Riehl, Kritizismus I, Seite 362
    53) Natorp, Logik, Seite 5
    54) ders. "Philosophische Propädeutik", Seite 13; "Logik", Seite 13.
    55) Aicher, a. a. O., Seite 40, 41; Windelband, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. II, Seite 71.
    56) Riehl, Kritizismus, Bd. 1, Seite 358.
    57) Natorp, Logik, Seite 5
    58) ders. Vortrag, Seite 17.
    59) ebd.
    60) Natorp, a. a. O., Seite 18