ra-1cr-4 F. H. JacobiE. PfleidererA. RiehlK. F. Stäudlin    
 
DAVID HUME
Von den skeptischen und
anderen Systemen der Philosophie

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"Die Hinzufügung oder Wegnahme eines beträchtlichen Teils einer Stoffmasse zerstört die Identität des Ganzen. Dabei kommt es aber nicht auf die absolute, sondern auf die relative Größe des Teils an. Die Hinzufügung oder Fortnahme eines Berges würde nicht genügen, um (für unser Bewußtsein) einen Unterschied an einem Planeten hervorzurufen, während eine Vermehrung oder Verminderung um ein paar Zoll wohl imstande wäre, die Identität kleiner Körper zu vernichten."

"Solange es dem Feuer der Einbildungskraft erlaubt ist, in der Philosophie mitzureden, und Annahmen Zustimmung finden, bloß weil sie bestechend und angenehm sind, können wir niemals zu festen Prinzipien gelangen, nie Anschauungen gewinnen, die mit der Praxis des Lebens und der Erfahrung übereinstimmen. Erst wenn jene Annahmen abgetan sind, können wir hoffen, eine Lehre oder ein System von Anschauungen aufzustellen, die, wenn nicht wahr (das ist vielleicht mehr als wir hoffen können), so doch zumindest für den menschlichen Geist befriedigend sind und der kritischen Untersuchung standhalten."


Sechster Abschnitt
Von der persönlichen Identität

Es gibt einige Philosophen, die sich einbilden, wir seien uns dessen, was wir unser Ich nennen, jeden Augenblick aufs Unmittelbarste bewußt; wir fühlten seine Existenz und seine Dauer; wir seien sowohl seiner vollkommenen Identität wie auch seiner Einfachheit - in höherem Grad, als wir es durch eine Demonstration werden könnten - (unmittelbar) gewiß. Die stärksten Sinnesempfindungen, die heftigsten Affekte, sagen sie, stören uns nicht in dieser Gewißheit des Ich, sondern dienen nur, sie weiter zu bestigen; sie lassen uns ja eben ihre Wirkung auf das Ich durch die sie begleitenden Lust- oder Unlustempfindungen erkennen. Einen besonderen Beweis für die Tatsache des Ich suchen, hieße nur ihre Gewißheit schwächen; denn kein Beweis kann sich auf eine Tatsache stützen, von der wir ein so unmittelbares Bewußtsein haben (wie eben von ihr); es gibt nichts, wovon wir überzeugt sein könnten, wenn wir hier zweifeln wollten.

Unglücklicherweise stehen alle diese so bestimmt auftretenden Behauptungen im Widerspruch mit eben der Erfahrung, die zu ihren Gunsten angeführt wird. Wir haben gar keine Vorstellung eines Ich, die jenen Erklärungen entspräche. Oder aus was für einem Eindruck könnte diese Vorstellung stammen? Es ist unmöglich, diese Frage zu beantworten, ohne daß man in offenbare Widersprüche und Ungereimtheiten gerät; und doch muß diese Frage notwendigerweise beantwortet werden können, wenn die Vorstellung unseres Ich für klar und vollziehbar gelten soll. Jede wirkliche Vorstellung muß durch einen Eindruck veranlaßt sein. Unser Ich oder die Persönlichkeit aber ist kein Eindruck. Es soll ja vielmehr das sein, worauf sich unsere verschiedenen Eindrücke und Vorstellungen beziehen. Wenn ein Eindruck die Vorstellung des Ich veranlassen würde, so müßte dieser Eindruck unser ganzes Leben lang unverändert bleiben; denn das Ich soll ja auf diese Weise existieren. Es gibt aber keinen konstanten und unveränderlichen Eindruck. Lust und Unlust, Freude und Kümmernis, Affekte und Sinneswahrnehmungen folgen einander; sie existieren nicht alle zu gleicher Zeit. Also ist es unmöglich, daß die Vorstellung unseres Ich aus irgendeinem dieser Eindrücke oder überhaupt aus irgendeinem Eindruck stammt; folglich gibt es keine derartige Vorstellung.

Was soll aber nun bei dieser Annahme aus unseren einzelnen Perzeptionen werden? Dieselben sind alle voneinander verschieden, unterscheidbar und trennbar; sie können für sich vorgestellt werden, also für sich existieren; sie brauchen demnach keinen Träger ihrer Existenz. In welcher Weise gehören sie dann zum Ich und wie sind sie mit ihm verknüpft? Ich meines Teils kann, wenn ich mir das, was ich als "mich" bezeichne, so unmittelbar als nur irgend möglich vergegenwärtige, nicht umhin, jedesmal über die eine oder die andere bestimmte Perzeption zu stolpern, die Perzeption der Wärme oder Kälte, des Lichts oder des Schattens, der Liebe oder des Hasses, der Lust oder der Unlust. Niemals treffe ich mich ohne eine Perzeption an und niemals kann ich etwas anderes beobachten als eine Perzeption. Wenn meine Perzeptionen eine Zeitlang nicht da sind, wie während des tiefen Schlafes, so bin ich ebensolange "meiner selbst" unbewußt, man hat dann ein Recht zu sagen, daß "ich" nicht existiere. Und wenn meine Perzeptionen mit dem Tod aufhören, und ich nach der Auflösung meines Körpers weder denken, noch fühlen, noch sehen, weder lieben noch hassen könnte, so würde ich vollkommen vernichtet sein; ich kann nicht einsehen, was weiter erforderlich sein sollte, um mich zu etwas vollkommen "Nichtseiendem" zu machen. Wenn jemand nach einem ernsthaften und vorurteilslosen Nachdenken eine andere Vorstellung von "sich selbst" zu haben meint, so bekenne ich, daß ich mit ihm nicht länger zu streiten weiß. Alles, was ich ihm zugestehen kann, ist, daß er vielleicht ebenso recht hat wie ich, d. h. daß wir in dieser Hinsicht wesentlich verschieden sind. Er nimmt vielleicht etwas Einfaches und Dauerndes in sich wahr, was er "sich selbst" nennt; darum bin ich doch gewiß, daß sich in mir kein derartiges Moment findet.

Wenn ich aber von einigen Metaphysikern, die sich eines solchen Ich zu erfreuen meinen, absehe, so kann ich wagen, von allen übrigen Menschen zu behaupten, daß sie nichts sind als ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind. Unsere Augen können sich nicht in ihren Höhlen bewegen, ohne daß sich unsere Perzeptionen ändern. Unsere Vorstellungen sind noch veränderlicher als unsere Gesichtswahrnehmungen, und alle anderen Sinne und Vermögen tragen zu diesem Wechsel bei; es gibt keine Kraft der Seele, die sich, sei es auch nur für einen Augenblick, unverändert gleich bleiben würde. Der Geist ist ein Art Theater, auf dem verschiedene Perzeptionen nacheinander auftreten, kommen und gehen, und sich in unendlicher Mannigfaltigkeit der Stellungen und Arten der Anordnung untereinander mengen. Es findet sich in ihm in Wahrheit weder in einem einzelnen Zeitpunkt Einfachheit noch in verschiedenen Zeitpunkten Identität; sosehr wir auch von Natur aus geneigt sein mögen, uns eine solche Einfachheit und Identität einzubilden. Der Vergleich mit dem Theater darf uns freilich nicht irre führen. Die aufeinander folgenden Perzeptionen sind allein das, was den Geist ausmacht, während wir ganz und gar nichts von einem Schauplatz wissen, auf dem sich jene Szenen abspielten, oder von einem Material, aus dem dieser Schauplatz gezimmert wäre.

Was macht uns nun aber so geneigt, diesen einander folgenden Perzeptionen Identität zuzuschreiben und vorauszusetzen, wir besäßen unser ganzes Leben lang eine unveränderliche und ununterbrochene Existsenz? Bei der Beantwortung dieser Frage müssen wir unterscheiden zwischen der persönlichen Identität, soweit sie unser Denken und unsere Einbildungskraft, und derselben Identität, soweit sie unsere Affekte und den Anteil, den wir an uns selbst nehmen, betrifft. Jene Seite der Sache beschäftigt uns zuerst. Um hinsichtlich ihrer vollkommene Klarheit zu gewinnen, müssen wir gründlich vorgehen und zunächst Rechenschaft geben über die Identität, die wir Pflanzen und Tieren zuschreiben. Zwischen dieser Identität und der Identität des Ich oder der Persönlichkeit besteht ja eine weitgehende Analogie.

Wir können uns eine deutliche Vorstellung davon machen, daß ein Gegenstand, während sich die Zeit ändert, unverändert und ununterbrochen derselbe bleibt; diese Vorstellung bezeichnen wir als Vorstellung der Identität oder Selbigkeit. Wir können uns ebenso deutlich vorstellen, daß mehrere voneinander verschiedene Gegenstände sich folgen, zugleich aber durch eine enge (assoziative) Bezeichnung miteinander verknüpft sind. Wenn wir den letzteren Tatbestand genau ins Auge fassen, so gewinnen wir (zunächst eine ebenso vollkommene Vorstellung der Verschiedenheit, als wenn keine Beziehung zwischen den Gegenständen bestände. Danach sind diese beiden Vorstellungen, die der Identität und die der Aufeinanderfolge miteinander in Beziehung stehender Gegenstände, an und für sich durchaus verschieden und sogar einander entgegengesetzt. Dennoch ist kein Zweifel, daß sie in unserem gewöhnlichen Denken miteinander verwechselt zu werden pflegen. Die Akte unserer Einbildungskraft, die wir vollziehen, wenn wir jetzt den ununterbrochen und unveränderlich fortexistierenden Gegenstand betrachten, ein ander Mal der Aufeinanderfolge miteinander in Beziehung stehender Gegenstände in unserer Vorstellung folgen, sind für die innere Wahrnehmung einander annähernd gleich; im letzteren Fall ist keine wesentlich größere Anstrengung der Denktätigkeit erforderlich als im ersten. Die Beziehung erleichtert den Übergang des Geistes vom einen Gegenstand zum anderen und macht den Fortschritt der seelischen Tätigkeit zu einem so ungehemmten, als ob sich ein dauernder Gegenstand der Betrachtung darbieten würde. Diese Übereinstimmung ist die Ursache der Verwechslung und des Irrtums; sie bewirkt, daß wir die Vorstellung der Identität an die Stelle der Vorstellung zueinander in Beziehung stehender Gegenstände setzen. Wir mögen immerhin einen Augenblick die durch die Beziehungen ausgezeichnete Aufeinanderfolge als veränderlich oder unterbrochen ansehen, im nächsten Augenblick schreiben wir ihr unfehlbar wiederum vollkommene Identität zu, betrachten sie also als unveränderlich und ununterbrochen. So neigen wir, vermöge der soeben bezeichneten Ähnlichkeit in den Akten unserer Einbildungskraft, zu diesem Irrtum, daß wir meist in ihn verfallen, ehe wir es gewahr werden. Mag auch die Reflexion den Irrtum immer wieder korrigieren und uns zu einer zutreffenderen Auffassung zurückführen, so gelingt es uns doch nie lange unsere philosophische Einsicht festzuhalten und unsere Einbildungskraft dem Einfluß dieser Neigung zu entziehen. Unser letztes Auskunftsmittel besteht immer darin, daß wir derselben Recht geben, also kühn behaupten, die verschiedenen durch Beziehungen miteinander verbundenen Gegenstände seien in der Tat dasselbe, wie unterbrochen und veränderlich sie auch sein mögen. Um uns wegen dieser Ungereimtheit zu rechtfertigen, erdichten wir dann noch ein besonderes, obgleich unserem Vorstellungsvermögen sich entziehendes Prinzip, das die Gegenstände miteinander verbindet und ihre Unterbrechung oder Veränderung verhindert. So erdichten wir die dauernde Existenz (der Gegenstände) unserer Sinneswahrnehmungen, um die Unterbrechung (dieser Sinneswahrnehmungen) zu beseitigen. (In gleicher Weise) lassen wir uns zum Begriff einer Seele, eines Ich, einer (geistigen) Substanz verführen, um die Veränderung (in uns) zu verdecken. Doch ist zu bemerken, daß auch da, wo wir keine solche (bestimmte) Fiktion machen, unser Hang, die Identität mit der (assoziativen) Beziehung zu verwechseln, groß genug ist, um den Gedanken in uns entstehen zu lassen, es müsse neben der Beziehung noch etwas Unbekanntes und Geheimnisvolles da sein, das die zueinander in Beziehung stehenden Elemente verbindet (10). Dies ist so viel ich sehe auch der Fall bei der Identität, die wir den Pflanzen zuschreiben. Soweit es aber nicht der Fall ist, fühlen wir doch immer zumindest die Neigung, jene Vorstellungsverwechslung zu begehen; wir begehen sie, obgleich wir kein unveränderliches und ununterbrochenes Etwas aufzufinden vermögen, das unseren Begriff der Identität rechtfertigt, und obgleich es uns darum nicht gelingt, uns mit uns selbst in vollkommen befriedigender Weise abzufinden.

Soweit ist der Streit über die Identität nicht ein bloßer Streit um Worte. Wenn wir, unzutreffenderweise, veränderlichen oder unterbrochenen Gegenständen Identität zuschreiben, so betrifft unser Irrtum nicht bloß den Ausdruck, vielmehr verbinden wir damit gewöhnlich eine Fiktion von etwas Unveränderlichem und Ununterbrochenem, oder von etwas Geheimnisvollem und Unerklärbaren, oder es besteht zumindest eine Neigung zu solchen Fiktionen. Es genügt aber, um das Recht unserer Auffassung in einer Weise darzulegen, die jeden befriedigen muß, dem es ehrlich darum zu tun ist, daß wir auf unsere alltäglichen Erfahrungen und Beobachtungen hinweisen, die zeigen, daß die Gegenstände, welche veränderlich sind oder Unterbrechungen erleiden und doch angeblich mit sich identisch bleiben, in der Tat immer nur das Besondere haben, aus einer Aufeinanderfolge von Elementen zu bestehen, die durch Ähnlichkeit, Kontiguität oder Ursächlichkeit miteinander verknüpft sind. Da eine solche Aufeinanderfolge offenbar unserem Begriff der Verschiedenheit entspricht, so können wir ihr nur infolge eines Irrtums Identität zuschreiben; und da die Beziehung der Elemente, die uns zu diesem Irrtum veranlaßt, durch nichts ausgezeichnet ist als dadurch, daß sie eine Vorstellungsassoziation begründet, also einen leichten Übergang der Einbildungskraft von der einen Vorstellung zur anderen veranlaßt, so kann der Irrtum nur auf der Ähnlichkeit beruhen, welche diese Art der Tätigkeit des Geistes mit derjenigen hat, die wir bei der Betrachtung eines unverändert dauernden Gegenstandes vollziehen. Unsere Hauptaufgabe muß danach jetzt die sein, zu zeigen, daß alle Gegenstände, denen wir trotz der mangelnden Unveränderlichkeit und ununterbrochenen Dauer Identität zuschreiben, aus einer Aufeinanderfolge von Gegenständen bestehen, die durch (assoziative) Beziehungen miteinander verknüpft sind.

Man nehme an, vor uns liege eine beliebige Masse eines Stoffes, dessen Teile räumlich zusammenhängen und miteinander (notwendig) verknüpft sind; offenbar müssen wir dieser Masse, wenn alle ihre Teile ununterbrochen und unverändert sich selbst gleich bleiben, vollkommene Identität zuschreiben; die Bewegungen oder örtlichen Veränderungen, die wir am Ganzen oder an beliebigen seiner Teile wahrnehmen, mögen sein welche sie wollen. Nun wird aber zur Masse ein sehr kleiner oder unbedeutender Teil hinzugefügt oder von ihr fortgenommen: obgleich dies die Identität des Ganzen, genau genommen, vollkommen vernichtet, so tragen wir doch, da wir es nun einmal in unserem Denken nicht so genau zu nehmen pflegen, kein Bedenken, bei einer so unbedeutenden Veränderung die materielle Masse immer noch für dieselbe zu erklären. Der gedankliche Übergang vom Gegenstand vor der Veränderung zum Gegenstand nach der Veränderung vollzieht sich so ungehemmt und leicht, daß wir den Wechsel kaum bemerken und geneigt sind zu denken, wir hätten nur denselben Gegenstand dauernd betrachtet.

Ein sehr merkwürdiger Nebenumstand drängt sich hierbei unserer Beobachtung auf. Die Hinzufügung oder Wegnahme eines beträchtlichen Teils einer Stoffmasse zerstört die Identität des Ganzen. Dabei kommt es aber nicht auf die absolute, sondern auf die relative Größe des Teils an. Die Hinzufügung oder Fortnahme eines Berges würde nicht genügen, um (für unser Bewußtsein) einen Unterschied an einem Planeten hervorzurufen, während eine Vermehrung oder Verminderung um ein paar Zoll wohl imstande wäre, die Identität kleiner Körper zu vernichten. Dies läßt sich wohl nicht anders erklären als aus dem Umstand, daß Gegenstände nicht nach Maßgabe ihrer absoluten Größe, sondern entsprechend dem Größenverhältnis, in dem sie zueinander stehen, auf den Geist einwirken und die Kontinuität seiner Tätigkeiten aufzuheben oder zu unterbrechen vermögen. Da es nun diese Unterbrechung ist, die bewirkt, daß ein Gegenstand aufhört als derselbe zu erscheinen, so muß umgekehrt der ununterbrochene Fortgang (oder die Kontinuität) des Vorstellens dasjenige sein, was die unvollkommene Identität (von der wir hier reden) ausmacht.

Dies bestätigt ein anderes Phänomen. Die Hinzufügung oder Wegnahme eines beträchtlichen Teils eines Körpers vernichtet seine Identität; es ist jedoch bemerkenswert, daß, wo sich die Veränderung allmählich und unmerklich vollzieht, wir weniger geneigt sind, die Identität als aufgehoben zu betrachten. Der Grund kann gewiß kein anderer sein, als daß der Geist, wenn er den aufeinanderfolgenden Veränderungen des Körpers betrachtend folgt, den Übergang von dem Bild, das derselbe im einen Augenblick gewährt, zu dem Bild, das er im folgenden Augenblick darbietet, wenig verspürt und so in keinem Augenblick ein Bewußtsein der Unterbrechung seiner Tätigkeit gewinnt. Wegen seiner Kontinuität der Perzeption schreibt der Geist dem Gegenstand dauernde Existenz und Identität zu.

Wieviel Vorsicht wir aber auch anwenden mögen und Größe des Ganzen sich entsprechend vollziehen lassen, so müssen wir doch schließlich, wenn die Veränderung eine beträchtliche Größe erreicht hat und wir dies bemerken, Bedenken tragen, den verschiedenen Gegenständen immer noch Identität zuzuschreiben. Hier bietet sich dann aber ein neues Trugmittel dar, mittels dessen wir die Einbildung veranlassen können, noch einen Schritt weiter in jenem Irrtum zu verharren. Derselbe besteht darin, daß wir den Gedanken zu Hilfe rufen, die Teile nähmen (gewissermaßen) Bezug aufeinander und vereinigten sich so zu einem gemeinsamen Zweck oder Ziel. Ein Schiff, das durch wiederholte Reparaturen größtenteils ein anderes geworden ist, wird noch immer als das gleiche Schiff betrachtet; auch die Verschiedenheit der Materialien hindert uns nicht, demselben eine Identität beizulegen. Hier ist eben der gemeinsame Zweck, zu dem sich die Teile verbinden, bei allen Veränderungen der gleiche geblieben und dies ermöglicht hier den leichten Übergang der Einbildungskraft vom einen Zustand des Gegenstandes zum anderen.

Dieser Effekt wird aber noch verstärkt, wenn wir die Vorstellung einer auf die Verwirklichung des gemeinsamen Zwecks abzielenden wechselseitigen Rücksichtnahme der Teile hinzufügen, also annehmen, daß sie in allen ihren Tätigkeiten und Wirkungen in wechselseitiger ursächlicher Beziehung zueinander stehen. Dies ist bei den Tieren und Pflanzen der Fall; bei diesen weisen die verschiedenen Teile nicht nur auf einen gemeinsamen Zweck, sondern es besteht zugleich zwishen ihnen eine wechselseitige Abhängigkeit und eine (notwendige) Verknüpfung. Diese enge Beziehung macht, daß wir, obgleich jeder zugeben muß, daß Pflanzen wie Tiere in sehr wenigen Jahren vollkommen andere werden, ihnen Identität beilegen. Wir tun dies, während tatsächlich Form, Größe und Substanz derselben sich vollständig verändert haben. Eine Eiche, die ein kleines Pflänzchen war und zu einem großen Baum emporgewachsen ist, ist für uns doch noch dieselbe Eiche, obgleich vielleicht kein materielles Teilchen dasselbe geblieben ist und kein Teil seine Form bewahrt hat. Ein Knabe wird ein Mann; er ist einmal stark, einmal mager, aber all das ohne Veränderung seiner Identität.

Schließlich erwähne ich noch folgende zwei Tatsachen, die in ihrer Art bemerkenswert sind. Wir vermögen im allgemeinen zwischen numerischer und qualitativer Identität ziemlich genau zu unterscheiden, bisweilen aber kommt es vor, daß wir sie verwechseln und in unserem Denken und Schließen die eine für die andere eintreten lasen. So sagt jemand, der ein Geräusch hört, das gelegentlich unterbrochen wird und dann wieder von neuem beginnt, das Geräusch sei noch immer dasselbe. Natürlich besitzen hier die Töne nur qualitative Identität oder Gleichheit. Nichts ist an ihnen numerisch identisch außer der Ursache, die sie hervorrief. Ebenso kann man ohne Verstoß gegen den richtigen Sprachgebrauch sagen, eine Kirche, die früher in Ziegelsteinen errichtet war, sei in Trümmer gefallen; darauf habe die Gemeinde "dieselbe" Kirche aus Quadersteinen und der modernen Architektur entsprechend wieder aufgebaut. Hier ist weder die äußere Gestalt noch das Material dasselbe, es ist überhaupt nichts den beiden Gegenständen gemeinsam, als ihre Beziehung zu den Einwohnern der Gemeinde; dies genügt aber, uns beide als identisch bezeichnen zu lasen. Freilich dürfen wir nicht übersehen, daß in diesen letzteren Fällen der erste Gegenstand in gewisser Weise aufgehört hat zu existieren, ehe der zweite ins Dasein trat. Dementsprechend kann sich uns in keinem Zeitpunkt die Vorstellung der Verschiedenheit und Mehrheit aufdrängen; und dies macht, daß wir weniger bedenklich sind sie identisch zu nennen.

Die zweite Tatsache, die ich noch erwähnen wollte, ist folgende: So gewiß bei einer Aufeinanderfolge von Gegenständen, die durch Beziehungen miteinander verknüpft sind, die Wahrung der Identität im allgemeinen dadurch bedingt ist, daß die Veränderung der Teile keine plötzliche oder vollständige ist, so lassen wir uns doch, wo die Gegenstände ihrer Natur nach veränderlich und unbeständig sind, auch wohl einen plötzlicheren Übergang gefallen, als er sonst mit dem Gedanken der Identität vereinbar wäre. Weil beispielsweise die Natur eines Flusses in der Bewegung und Veränderung der Teile besteht, so hindert der Umstand, daß die Teile des Flusses in weniger als 24 Studen vollkommen andere geworden sind, nicht, daß der Fluß durch Jahrhunderte hindurch derselbe bleibt. Was für irgendein Ding natürlich und wesentlich ist, von dem erwarten wir gewissermaßen, daß es so ist; das Erwartete aber macht weniger Eindruck und erscheint von geringerer Bedeutung als das, was ungewöhnlich und außerordentlich ist. Eine bedeutende Veränderung, die wir erwarten, erscheint demgemäß der Einbildungskraft tatsächlich geringer als die geringste außergewöhnliche Veränderung. Da sie dementsprechend die Kontinuität des Vorstellens weniger stört, so kann sie die Identität weniger leicht aufheben.

Kehren wir jetzt zurück zur Frage nach der Natur der persönlichen Identität, die in der Philosophie zu einer so großen Frage geworden ist, zumal in letzter Zeit in England, wo die mehr in die Tiefe gehenden Wissenschaften mit besonderem Eifer und besonderer Hingabe studiert werden. Auch hier müssen wir bei der Betrachtungsweise bleiben, die uns den Gedanken der Identität bei Pflanzen und Tieren, bei Schiffen, Häusern, kurz allen zusammengesetzten und veränderlichen Erzeugnissen der Kunst oder der Natur so wohl verständlich gemacht hat. Auch die Identität, die wir dem Geist des Menschen beilegen, ist nur eine fingierte; sie ist von gleicher Art wie diejenige, die wir Pflanzen und tierischen Körpern beilegen. Sie kann deshalb auch keinen anderen Ursprung haben, muß vielmehr einer gleichartigen, und unter gleichen Umständen sich vollziehenden Wirkung der Einbildungskraft ihr Dasein verdanken.

Sollte aber dieses Argument den Leser nicht überzeugen - obgleich es meiner Meinung nach vollkommen überzeugend ist - so möge er folgende Betrachtung, die spezieller und unmittelbarer auf die Sache eingeht, bei sich erwägen. Mögen wir die Identität, die wir dem menschlichen Geist beilegen, uns auch noch so vollkommen denken, so verwandelt sie doch offenbar nicht die mancherlei voneinander verschiedenen Perzeptionen in eine einzige, sie beraubt sie nicht des Charakters der Verschiedenheit und Gesondertheit, der ihnen so wesentlich ist. Trotz aller Identität bleibt es dabei, daß jede einzelne Perzeption, die im zusammengesetzten Ganzen des Geistes auftritt, ein gesondertes Etwas ist, verschieden, unterscheidbar und trennbar von jeder anderen Perzeption, jeder gleichzeitigen und jeder nachfolgenden. Wenn wir nun trotz dieser Gesondertheit und Trennbarkeit die ganze Folge von Perzeptionen als durch Identität verbunden ansehen, so drängt sich die Frage auf, wie sich diese Beziehung der Identität näher bestimmt, ob sie insbesondere unsere voneinander unterschiedenen Perzeptionen selbst miteinander verbindet, oder nur ihre Vorstellungen in der Einbildungskraft assoziiert; d. h. mit anderen Worten, ob wir mit der "Identität" einer Persönlichkeit sagen wollen, daß wir ein reales Band zwischen ihren Perzeptionen zu entdecken vermögen, oder ob wir uns nur eines Bandes zwischen den Vorstellungen, die wir uns von ihnen machen, bewußt sind. Diese Frage nun können wir leicht entscheiden, wenn wir uns an das erinnern, was oben ausführlich (genug) dargelegt worden ist, daß nämlich der Verstand niemals eine wirkliche Verknüpfung zwischen Gegenständen wahrnimmt, daß sich auch die Verbindung von Ursache und Wirkung, bei genauer Prüfung, in eine gewohnheitsmäßige Assoziation von Vorstellungen auflöst. Denn daraus folgt offenbar, daß die Identität nicht etwas ist, das diesen verschiedenen Perzeptionen realiter zukommt und sie miteinander verbindet, sondern lediglich eine Bestimmung, die wir ihnen zuschreiben aufgrund der Verbindung, in die die Vorstellungen derselben in unserer Einbildungskraft geraten, dann, wenn wir über sie reflektieren. Nun sind die einzigen Faktoren, auf denen die Verbindung der Vorstellungen in der Einbildungskraft beruhen kann, die drei Beziehungen der Ähnlichkeit, des unmittelbaren räumlichen oder zeitlichen Zusammenhangs und der Ursächlichkeit. Sie sind die verbindenden Prinzipien in der Welt der Vorstellungen, und von ihnen abgesehen ist jeder einzelne Gegenstand in der Vorstellung von anderen trennbar, kann für sich betrachtet werden, und erscheint so wenig mit irgendeinem anderen Gegenstand verknüpft, als wenn sie durch die größte Verschiedenheit und Ferne voneinander getrennt wären. Auf irgendeiner dieser Beziehungen, der Ähnlichkeit, der Kontiguität, Kausalität, muß demnach auch die Identität beruhen; und da das eigentliche Wesen dieser Beziehungen darin besteht, einen leichten Übergang von Vorstellung zu Vorstellung hervorzurufen, so folgt, übereinstimmend mit unserer obigen Darlegung, daß die Vorstellung der persönlichen Identität einzig und allein aus dem ungehemmten und ununterbrochenen Fortgang des Vorstellens beim Vollzug einer Folge miteinander verknüpfter Vorstellungen entspringen kann.

Die einzige Frage, die noch zu beantworten bleibt, ist nun die, durch welche jener Beziehungen dieser ununterbrochene Fortgang unseres Vorstellens bedingt ist, wenn wir die aufeinanderfolgenden Momente im Dasein eines Geistes oder einer denkenden Persönlichkeit betrachten. Es leuchtet sofort ein, daß wir uns hierbei auf die Ähnlichkeit und Ursächlichkeit beschränken und den raumzeitlichen Zusammenhang, der in diesem Fall wenig oder keinen Einfluß hat, außer Betracht lassen müssen.

Um mit der Ähnlichkeit zu beginnen: Nehmen wir einmal an, wir könnten in das Innere eines anderen klar hineinsehen und die Aufeinanderfolge von Perzeptionen beobachten, welche seinen Geist oder sein denkendes Wesen ausmacht. Nehmen wir zugleich an, die betreffende Persönlichkeit bewahrt einen großen Teil ihrer früheren Perzeptionen in der Erinnerung auf. Offenbar gibt es nichts, das uns leichter veranlassen könnte, der Aufeinanderfolge der Perzeptionen trotz aller Veränderungen eine (vereinheitlichende) Beziehung zuzuschreiben als eben dieser Umstand. Denn was ist die Erinnerung anders als das Vermögen, durch das wir Bilder von früheren Perzeptionen gewinnen? Ein Bild aber gleicht notwendig seinem Gegenstand. Muß nun nicht das häufige Eintreten solcher mit anderen übereinstimmender Perzeptionen in die Gedankenkette die Einbildungskraft leichter von einem Glied zum anderen hinübergleiten und so das Ganze im Licht der ununterbrochenen Fortdauer eines Gegenstandes erscheinen lassen? Soweit die Erinnerung in dieser Weise wirkt, entdeckt sie nicht allein die Identität, sondern trägt auch zu deren Zustandekommen bei, indem sie die einander ähnlichen Perzeptionen erst entstehen läßt. Die Sache ist die gleiche, ob wir uns selbst oder andere betrachten.

Was die Ursächlichkeit betrifft, so muß bemerkt werden, daß wir dann überhaupt erst eine richtige Vorstellung vom menschlichen Geist haben, wenn wir ihn als ein System von verschiedenen Perzeptionen oder verschiedenen Existenzen betrachten, die durch ursächliche Beziehungen aneinander gekettet sind und sich gegenseitig hervorbringen, zerstören, beeinflussen und ändern. Unsere Eindrücke lassen die ihnen entsprechenden Vorstellungen entstehen und diese Vorstellungen rufen ihrerseits andere Eindrücke hervor. Ein Gedanke verdrängt den anderen und ruft einen dritten herbei, durch den er dann seinerseits verdrängt wird. In dieser Hinsicht läßt sich die Seele am besten mit einer Republik oder einem Gemeinwesen vergleichen, in dem die verschiedenen Glieder durch wechselseitige Bande der Herrschaft und Unterordnung miteinander verbunden sind und zugleich anderen Personen das Dasein geben, welche dieselbe Republik in einem unaufhörlichen Wechsel ihrer Glieder im Dasein erhalten. Wie eine Republik nicht allein ihre Glieder, sondern auch ihre Gesetze und Konstitutionen wechseln kann ohne ihre Identität einzubüßen, ebenso kann eine Persönlichkeit nicht nur ihre Eindrücke und Vorstellungen, sondern auch ihren Charakter und ihre Sinnesart wechseln, ohne dabei ihre Identität zu verlieren. Was für Veränderungen auch die Persönlichkeit erleidet, ihre Elemente bleiben immer durch die Beziehung einer Ursächlichkeit verknüpft. Vermöge der Herstellung solcher kausaler Beziehungen läßt auch schließlich die Identität in den Affekten die Identität in der Einbildungskraft noch eine Verstärkung gewinnen. Dies geschieht, sofern jene bewirkt, daß auch einander ursprünglich fremde Perzeptionen sich gegenseitig beeinflussen; daß in uns in der Gegenwart ein Interesse auch für unsere vergangenen oder zukünftigen Freuden oder Unlustempfindungen entsteht.

Daß uns die Erinnerung allein Kunde gibt von der Ununterbrochenheit und (zeitlichen) Ausdehnung dder Aufeinanderfolge der Perzeptionen in uns, dies ist es hauptsächlich, was sie für uns zur Quelle der persönlichen Identität macht. Hätten wir kein Erinnerungsvermögen, so wüßten wir nichts von Ursächlichkeit, folglich auch nicht von jener Kette von Ursachen und Wirkungen, die unser Ich oder unsere Person ausmachen. Haben wir aber einmal vermöge der Erinnerung dieses Bewußtsein der Ursächlichkeit gewonnen, so können wir jene Kette von Ursachen, folglich auch die Identität unserer Persönlichkeit über die Grenzen unserer Erinnerung hinaus ausdehnen und sie Zeiten, Umstände und Handlungen in sich begreifen lassen, die wir vollständig vergessen haben, von denen wir nun in ganz allgemeiner und unbestimmter Weise annehmen, daß sie existiert haben. Von wie wenigen unserer früheren Handlungen haben wir ja eine wirkliche Erinnerung? Wer kann mir beispielsweise sagen, welches seine Gedanken und Handlungen am 1. Januar 1715, am 11. März 1719 und am 3. August 1733 waren? Wird aber jemand darum, weil er die Ereignisse dieser Tage vollständig vergessen hat, behaupten, sein gegenwärtiges Ich sei nicht dieselbe Persönlichkeit wie das Ich jener Tage? Dies hieße, alle unsere Anschauungen von persönlicher Identität, die uns so zweifellos feststehen, über den Haufen zu werfen. - (Auch hier nun wirkt die Erinnerung.) Doch läßt die Erinnerung diese erweiterte Identität weniger entstehen, als daß sie dieselbe entdeckt; sie tut dies, indem sie uns die ursächlichen Beziehungen zwischen unseren verschiedenen Perzeptionen erkennen läßt. Denjenigen, welche behaupten, die Erinnerung lasse unsere persönliche Identität ganz und gar entstehen, wird es obliegen, uns verständlich zu machen, wie unter dieser Voraussetzung eine solche Ausdehnung der Identität über die Grenzen unserer Erinnerung hinaus zustande kommen kann.

Das Ganze unerer Lehre von der persönlichen Identität führt schließlich zu einem Ergebnis, das für die Sache von großer Wichtigkeit ist, nämlich dem Ergebnis, daß es unmöglich ist, all die feinen und spitzfindigen Fragen über die persönliche Identität zu entscheiden, da es sich dabei zuletzt viel eher um Fragen des Sprachgebrauchs, als um philosophische Fragen handelt. Die Identität hängt von den Beziehungen der Vorstellungen ab, und diese Beziehungen erzeugen die Identität vermöge des leichten Übergangs (von Vorstellung zu Vorstellung), den sie veranlassen. Da aber die Beziehungen und die Leichtigkeit des Übergangs in unmerklichen Stufen abnehmen können, so fehlt uns ein gültiger Maßstab, nach dem wir den Streit über den Augenblick, in dem sie den Anspruch auf den Namen "Identität" gewinnen oder verlieren, entscheiden könnten. So ist überhaupt aller Streit über die Identität miteinander verknüpfter Gegenstände schließlich bloßer Wortstreit, es sei denn, daß die Beziehung der Teile zu einer Fiktion Anlaß gibt oder ein eingebildetes Prinzip der Einheit entstehen läßt. Hiervon war oben die Rede.

Was ich aber den eigentlichen Ursprung unserer Vorstellung der Identität und über die schwankende Natur dieser Vorstellung, wenn wir sie auf den menschlichen Geist anwenden, gesagt habe, kann mit geringer oder gar keiner Veränderung auf die Vorstellung der Einfachheit (der Substanz) übertragen werden. Ein Gegenstand, dessen verschiedene koexistente Teile durch eine enge Beziehung miteinander verbunden sind, wirkt auf die Einbildungskraft ziemlich in derselben Weise ein wie ein vollkommen einfacher und unteilbarer Gegenstand; seine Auffassung erfordert keine wesentlich größere Anstrengung des Denkens. Wegen dieser Ähnlichkeit der Wirkung auf den Geist schreiben wir auch jenem Objekt Einfachheit zu und fingieren ein einheitgebendes Prinzip als Träger dieser Einfachheit und als zusammenfassenden Mittelpunkt für die verschiedenen Teile und Eigenschaften des Gegenstandes.


Hiermit haben wir unsere Prüfung der verschiedenen philosophischen Anschauungen, betreffs der intellektuellen wie betreffs der natürlichen Welt beendet. Dabei sind wir vermöge unserer wenig einheitlichen Art der Behandlung gelegentlich auf allerlei Punkte geführt worden, deren Erörterung bald früheren Teilen dieser Abhandlung zur Erläuterung und Bestätigung dienen, bald weiteren Betrachtungen den Weg ebnen kann. Es ist jetzt Zeit, zu einer mehr ins Einzelne gehenden Untersuchung unseres Gegenstandes zurückzukehren und nachdem wir die Natur unserer Urteilskraft und unseres Verstandes vollständig dargelegt haben, mit der genauen Zergliederung der menschlichen Natur fortzufahren. (11)


Siebenter Abschnitt
Schluß dieses Buches

Ehe ich mich aber in jene gewaltigen Tiefen der Philosophie stürze, die noch vor mir liegen, möchte ich einen Augenblick an dem Punkt, an dem ich nunmehr angelangt bin, stehen bleiben und mir die Reise vergegenwärtigen, die ich unternommen habe, und die zu einem glücklichen Abschluß zu bringen, ohne Zweifel das Äußerste von Geschicklichkeit und Fleiß erfordert. Ich komme mir vor wie ein Mann, der, nachdem er auf viele Sandbänke aufgelaufen und in einer schmalen Meerenge mit Mühe dem Schiffbruch entgangen ist, doch noch die Kühnheit besitzt, auf demselben lecken, vom Sturm mitgenommenen Schiff in See zu stechen, ja, der unter so ungünstigen Umständen noch daran denkt, die Erde zu umschiffen. Meine Erinnerung an frühere Irrtümer und Verlegenheiten macht mich mißtrauisch für die Zukunft. Der elende Zustand, die Schwäche und die Gesetzlosigkeit der geistigen Vermögen, auf die ich bei meinen Untersuchungen vertrauen muß, erhöhen meine Befürchtungen. Und die Unmöglichkeit, diesen Vermögen aufzuhelfen oder ihre Schäden zu bessern, bringt mich fast zur Verzweiflung und könnte mich zu dem Entschluß veranlassen, lieber auf dem öden Felsen, auf dem ich mich augenblicklich befinde, umzukommen, als mich auf jenen grenzenlosen Ozean zu wagen, der sich in die Unendlichkeit erstreckt. Der plötzliche Gedanke an die Gefahr macht mich melancholisch; und da es dieser Stimmung vor allen anderen eigen ist, sich mit sich selbst zu beschäftigen, so kann ich nicht umhin, meine Verzweiflung mit den niederdrückenden Überlegungen zu näheren, wie sie unser Gegenstand in einer solchen Fülle nahelegt.

Zunächst sehe ich mich durch die menschenleere Einsamkeit, in die mich meine Philosophie geführt hat, in Schrecken und Verwirrung gesetzt; ich könnte mir einbilden, ich sei ein seltsames, ungeschlachtes Ungeheuer, das, nicht geeignet, sich unter die Menschen zu mischen und mit Menschen zu leben, aus allem menschlichen Verkehr ausgestoßen worden und völlig einsam und trostlos gelassen worden ist. Gern möchte ich in der Menge Schutz und Wärme suchen, aber ich kann mich nicht entschließen, entstellt wie ich bin, Verkehr zu pflegen. Ich rufe anderen zu, sich mir anzuschließen, damit wir eine Gesellschaft für uns bilden; aber niemand will auf mich hören. Jeder hält sich in respektvoller Entfernung, weil er fürchtet, in Mitleidenschaft gezogen zu werden, wenn die Gegner von allen Seiten auf mich einstürmen. Ich habe die Feindschaft aller Metaphysiker, Logiker, Mathematiker und selbst der Theologen auf mich heraufbeschworen. Kann ich mich dann über die Beleidungen wundern, die ich zu erdulden habe? Ich habe ihnen mein Mißfallen an ihren Lehren kundgegeben. Kann ich dann erstaunt sein, daß sie Haß bezeugen gegen alles, was mich und meine Person trifft? Wenn ich den Blick nach außen wende, so sehe ich auf allen Seiten Streit, Widerspruch, Zorn, Verleumdung und Herabsetzung. Wenn ich mein Auge nach innen richte, so finde ich nichts als Zweifel und Unwissenheit. Alle Welt verschwört sich mir feindlich entgegenzutreten und zu widersprechen; und doch bin ich so schwach, daß alle meine Ansichten haltlos werden und in sich zusammenfallen, wenn sie nicht von der Billigung anderer getragen werden. Jeden Schritt, den ich tue, tue ich zögern, und jedes neue Nachdenken läßt mich Irrtum und Absurdität in meinen Schlüssen befürchten.

Mit welchem Vertrauen gar kann ich mich auf so kühne Unternehmungen einlassen, wenn ich, außer den zahllosen Schwächen, die mir selbst eigen sind, so viele finde, die der menschlichen Natur überhaupt anhaften? Kann ich sicher sein, daß ich der Wahrheit auf der Spur bin, wenn ich mit allen herrschenden Ansichten breche; oder an welchem Merkmal soll ich sie erkennen, wenn mich etwa das Glück endlich auf ihren Weg bringen sollte? Nachdem ich die sorgfältigste und gründlichste Überlegung angestellt habe, kann ich doch keinen (zwingenden) Grund angeben, weshalb ich ihrem Ergebnis zustimme; ich fühle nur eine "lebhafte" Neigung, die Gegenstände unter dem Gesichtspunkt, unter dem sie sich mir darstellen, "lebhaft" aufzufassen. Die Erfahrung ist das Prinzip, das mich davon in Kenntnis setzt, daß Gegenstände in der Vergangenheit miteinander verbunden waren. Gewohnheit ist das andere Prinzip, das mich veranlaßt, in Zukunft die gleiche Verbindung zu erwarten; und indem beide gemeinsam auf die Einbildungskraft wirken, veranlassen sie mich, gewisse Vorstellungen in kräftigerer und lebhafterer Art zu vollziehen als andere, welche nicht so glücklich sind, von jener Wirkung betroffen zu werden. Ohne diese Eigentümlichkeit des Geistes, gewissen Vorstellungen eine größere Lebhaftigkeit zu verleihen als anderen - eine anscheinend so bedeutungslose und wenig auf Vernunft gegründete Sache - könnten wir nie einer Beweisführung zustimmen noch unseren Blick über jene wenigen Gegenstände, die unseren Sinnen gegenwärtig sind, hinausrichten. Ja, selbst diesen Gegenständen könnten wir keine Existenz zuschreiben, außer der Existenz für die Sinne; sie wären für uns nichts als Elemente in der Aufeinanderfolge der Perzeptionen, die unser Ich oder unsere Persönlichkeit ausmachen. Schließlich bestände selbst diese Aufeinanderfolge für uns nur aus Perzeptionen, die unserem Bewußtsein unmittelbar gegenwärtig sind; es könnten nicht die lebhaften Bilder, welche die Erinnerung uns vorführt, als die treuen Abbilder früherer Perzeptionen von uns aufgefaßt werden. Es beruth also alle Erkenntnis, die uns das Gedächtnis, die Sinne und der Verstand vermitteln, auf der Einbildungskraft, oder der Lebhaftigkeit unserer Vorstellungen.

Kein Wunder nun, daß uns ein so unbeständiges und trügerisches Prinzip in Irrümer verstrickt, wenn wir ihm, wie wir müssen, in allen seinen Wandlungen unbedenklich folgen. Die Einbildungskraft läßt uns das eine Mal Schlüsse aus Ursachen und Wirkungen ziehen. Dieselbe Einbildungskraft überzeugt uns ein ander Mal von der dauernden Existenz äußerer Gegenstände auch wenn diese den Sinnen nicht gegenwärtig sind. So gewiß sich aber diese beiden Wirkungen im menschlichen Geist gleich natürlich und notwendig vollziehen, so widersprechen sie doch in gewissen Beziehungen einander direkt, so daß wir unmöglich richtige und regelrechte Schlüsse aus Ursachen und Wirkungen ziehen und zu gleicher Zeit an die dauernde Existenz der Materie glauben können. Wenn nun dem so ist, wie sollen wir jene beiden Antriebe der Einbildungskraft gegeneinander ausgleichen? Welchem von ihnen sollen wir uns überlassen? Oder mit welchem Recht können wir, dalls wir keinem von beiden ein Vorrecht einräumen, sondern wie das bei den Philosophen der Fall zu sein pflegt, abwechselnd durch beide uns bestimmen lassen, uns diesen ehrenvollen Titel (eines Philosophen) aneignen, da wir dann doch wissentlich uns in einem offenbaren Widerspruch bewegen?

Dieser Widerspruch würde erträglicher sein, wenn er dadurch, daß unser Denken sich in anderen Punkten als zuverlässiger erweist und zu einigermaßen befriedigenden Ergebnissen führt, wieder aufgewogen würde. Aber das gerade Gegenteil ist der Fall. Wenn wir den menschlichen Verstand bis in seine letzten Wurzeln verfolgen, so finden wir uns zu Anschauungen hingedrängt, die alle unsere Bemühungen und all unseren Fleiß illusorisch zu machen scheinen und geeignet sind, uns von jeder weiteren Untersuchung anzuschrecken. Nichts erforscht der menschliche Geist mit mehr Begier als die Ursachen der Erscheinungen; und wir sind nicht zufrieden, ihre unmittelbaren Ursachen zu erkennen, sondern suchen unsere Nachforschungen bis zur Erkenntnis des ursprünglichen und letzten Prinzips zu treiben. Nicht eher würden wir (auf diesem Weg) aus freien Stücken innehalten, als bis wir jene innere Triebkraft entdeckt hätten, vermöge welcher die Ursache die Wirkung aus sich heraustreibt, jenes Band, durch das beide miteinander verknüpft sind und jenes (eigentlich) wirksame Moment, auf dem dieses Band beruth. Dies ist unser Ziel bei all unserem Forschen und Überlegen. Wie müssen wir enttäuscht sein, wenn wir erfahren, daß diese Verknüpfung, dieses Band, oder diese Triebkraft nur in uns selbst liegt und nichts ist als die aus der Gewohnheit entstandene psychische Nötigung von einem Gegenstand zu einem anderen, der ihn gewöhnlich begleitet hat, und vom Eindruck des einen zu einer lebhaften Vorstellung des andern überzugehen? Eine solche Entdeckung schneidet nicht nur alle Hoffnung ab, daß wir jemals unsere Neugier befriedigen, sondern erstickt zugleich unsere Wünsche. Wir sehen ein, daß wenn wir sagen, wir wünschten das letzte und (eigentlich) wirkende Prinzip zu erkennen, das den Gegenständen der Außenwelt innewohnt, wir uns entweder widersprechen oder sinnlos reden.

Freilich bemerken wir diesen Mangel in unseren Vorstellungen im alltäglichen Leben nicht; wir sind uns nicht bewußt, daß wir bei den geläufigsten Verbindungen von Ursache und Wirkung das letzte Prinzip, das sie miteinander verknüpft, ebensowenig kennen wie bei den ungewöhnlichsten und außerordentlichsten. Dies beruth aber nur auf einer Täuschung der Einbildungskraft. Da fragt es sich dann, wie weit wir uns dieser Täuschung hingeben dürfen. Diese Frage ist schwierig und führt uns, in welcher Weise wir sie auch beantworten mögen, vor ein sehr gefährliches Dilemma. Schenken wir jeder beliebigen alltäglichen Eingebung der Einbildungskraft Glauben, so verleiten uns diese Eingebungen, abgesehen davon, daß sie einander vielfach widersprechen, auch zu solchen Irrtümern, Absurditäten und Unverständlichkeiten, daß wir uns zuletzt unserer Leichtgläubigkeit schämen müssen. Nichts ist gefährlicher für die Vernunft als der Flug der Einbildungskraft, nichts hat die Philosophen in mehr Irrtümer gestürzt. Menschen mit starker Phantasie können mit den Engeln verglichen werden, von welchen die Schrift sagt, daß sie die Augen mit den Flügeln bedecken. Davon uns zu überzeugen haben wir so vielfach Gelegenheit gehabt, daß wir uns die Mühe sparen, hier noch weiter darauf einzugehen.

Wenn nun aber die Betrachtung der Irrtümer, die die Einbildungskraft veranlaßt, uns den Entschluß fassen läßt, die beliebigen alltäglichen Eingebungen der Einbildungskraft abzuweisen und es lieber mit dem Verstand, d. h. mit den Wirkungen der Einbildungskraft von allgemeiner und erprobter Geltung zu halten, so drohen neue Gefahren. Eben dieser Entschluß führt, wenn er konsequent durchgeführt wird, zu den schlimmsten Folgen. Ich habe bereits gezeigt, daß der Verstand, wenn er für sich allein und nach seinen allgemeinsten Prinzipien tätig ist, sich gegen sich selbst wendet, und jede Gewißheit zerstört, in der Philosophie wie im gewöhnlichen Leben. Aus einem solchen vollständigen Skeptizismus retten wir uns nur durch jene seltsame und anscheinend bedeutungslose Eigentümlichkeit der Einbildungskraft, die darin besteht, daß wir uns nur schwer in das unserem geistigen Auge Fernerliegende hineinversetzen, daß dasselbe darum niemals von einem so merklichen Eindruck begleitet erscheint, wie dasjenige, dessen Betrachtung uns leicht und natürlich ist. Sollen wir nun den allgemeinen Grundsatz aufstellen, daß wir keinem komplizierteren oder ins Feine ausgesponnenen Gedankengang Glauben beimessen dürfen? Man überlege die Folgen eines solchen Grundsatzes. Alle Wissenschaft und Philosophie schnitte man dadurch vollständig ab. Man ließe sich ganz und gar von einer einzigen Eigentümlichkeit der Einbildungskraft leiten, statt alle zu ihrem Recht kommen zu lassen. Eine solche Ungleichheit duldet die Vernunft nicht. Außerdem widerspräche man damit ausdrücklich sich selbst, denn jener Grundsatz gründet sich ja auf die Überlegung, die wir vorhin angestellt haben; und von dieser wird man doch wohl zugeben, daß sie fein ausgesponnen und metaphysisch genug ist. Wofür sollen wir uns nun inmitten dieser Schwierigkeit entscheiden? Wenn wir jenen Grundsatz annehmen, und jede feiner ausgesponnene Schlußfolgerung verdammen, so verwickeln wir uns in die offenbarsten Absurditäten. Wenn wir ihn zugunsten solcher Schlußfolgerungen verwerfen, so zerstören wir den menschlichen Verstand. Es bleibt uns also nur die Wahl zwischen falscher Erkenntnis oder gar keiner. Und ich für meinen Teil weiß nicht, was in diesem Fall das richtige ist. Ich sehe nur, was gewöhnlich geschieht, daß nämlich nie oder selten jemand an diese Schwierigkeit denkt und daß sie, wenn sie einmal jemand zu Bewußtsein gekommen ist, schnell vergessen wird und nur geringen Eindruck hinterläßt. Sehr feine ausgesponnene Überlegungen üben wenig oder gar keine Wirkung auf uns, und doch stellen wir nicht die Regel auf und können sie nicht aufstellen, daß sie keine Wirkung üben sollen; ohne Zweifel ein offenkundiger Widerspruch.

Doch was sage ich; sehr künstliche metaphysische Gedankengänge üben eine geringe oder keine Wirkung auf uns? Ich kann kaum umhin, diese Meinung wieder zurückzunehmen und sie aufgrund meines augenblicklichen Gefühls und der Erfahrung, die ich jetzt eben an mir selbst gemacht habe, zurückzuweisen. Die intensive Betrachtung der mannigfachen Widersprüche und Unvollkommenheiten in der menschlichen Natur hat ja derartig auf mich gewirkt und mein Gehirn so erhitzt, daß ich im Begriff bin, allen Glauben und alles Vertrauen auf unsere Schlüsse wegzuwerfen und keine Meinung für möglicher und wahrscheinlicher anzusehen als jede beliebige andere. Wo bin ich, oder was bin ich? Aus welchen Ursachen leite ich meine Existenz her und welches zukünftige Dasein habe ich zu hoffen? Um wessen Gunst soll ich mich bewerben und wessen Zorn muß ich fürchten? Was für Wesen umgeben mich? und auf wen wirke ich oder wer wirkt auf mich? Ich werde verwirrt bei all diesen Fragen; ich fange an mir einzubilden, daß ich mich in der denkbar beklagenswertesten Lage befinde, daß ich umgeben bin von der tiefsten Finsternis, des Gebrauchs jedes Gliedes und jedes menschlichen Vermögens vollständig beraubt.

Da die Vernunft unfähig ist, diese Wolken zu zerstreuen, so ist es ein glücklicher Umstand, daß die Natur selbst dafür Sorge trägt und mich von meiner philosophischen Melancholie und meiner Verwirrung heilt, sei es, indem sie die geistige Überspannung sich von selbst lösen läßt, sei es, indem sie mich aus ihr durch einen lebhaften Sinneseindruck, der alle diese Hirngespinste verwischt, gewaltsam herausreißt. Ich esse, spiele Tricktrack, unterhalte mich, bin lustig mit meinen Freunden. Wenn ich mich so drei oder vier Stunden vergnügtt habe und dann zu jenen Spekulationen zurückkehre, so erscheinen sie mir so kalt, überspannt und lächerlich, daß ich mir kein Herz fassen, mich weiter in sie einzulassen.

Ich finde dann eben, daß ich absolut genötigt bin, zu leben, zu reden und in den gewöhnlichen Angelegenheiten des Lebens mich zu betätigen, wie andere Leute. Zugleich fühle ich aber, nachdem meine natürliche Neigung und die Tätigkeit meiner Lebensgeister und Affekte mich zu einem sorglosen Glauben an die in aller Welt geltenden Grundsätze zurückgebracht haben, in mir die Nachwirkung des vorherigen geistigen Zustandes noch so stark, daß ich geneigt bin, alle meine Bücher und Papiere ins Feuer zu werfen, daß ich (in jedem Fall) den Entschluß fasse, niemals um des Denkens und der Philosophie willen auf die Vergnügungen des Lebens zu verzichten. Dies ist die Gesinnung, wie sie mir jene hypochondrische Stimmung eingibt. Ich darf gewiß, ja ich muß dem Drang der Natur folgen, und mich meinen Sinnen und meinem Verstand unterwerfen. In dieser blinden Unterwerfung zeige ich ja eben meine skeptische Neigung und meine skeptischen Grundsätze am vollkommensten. Aber folgt aus jener Notwendigkeit, daß ich gegen den natürlichen Hand, der mich zur Indolenz [Unempfindlichkeit - wp] und zum Vergnügen hinzieht, ankämpfen muß, daß ich mich in gewissem Grad aus dem Verkehr und der Gesellschaft der Menschen, die so angenehm sind, ausschließen, mein Gehirn mit Subitilitäten und Sophistereien quälen muß, während ich doch die Vernünftigkeit dieses unerquicklichen Gebarens nicht einzusehen vermag und keine irgendwie sichere Aussicht habe, durch dasselbe zu Wahrheit und Gewißheit zu gelangen? Welche Verpflichtung habe ich, meine Zeit so zu mißbrauchen? Und in welcher Weise kann dergleichen der Menschheit oder meinem eigenen Privatinteresse dienlich sein? Nein, wenn ich ein Narr sein muß, wie es sicherlich alle diejenigen sind, die denken oder an etwas glauben, so sollen meine Torheiten zumindest natürlich und angenehm sein. Wo ich gegen meine Neigung ankämpfe, will ich guten Grund haben, dagegen anzukämpfen; ich will mich nicht mehr in solche traurige Einöden und stürmische Fahrten treiben lasen, wie ich es bisher getan habe.

Dies sind (wie gesagt) Gedanken, wie sie meine Hypochondrie und meine Indolenz mir eingeben. Und ich muß bekennen, daß die Philosophie ihnen nichts entgegenzustellen hat. Diese verspricht sich aber auch den Sieg vielmehr von der Rückkehr einer ernsteren und freieren Gemütsverfassung, als von der Stärke der Vernunft und der Gewißheit (die diese gibt). In allen Vorkommnissen des Lebens sollten wir jederzeit uns unseren Skeptizismus bewahren. Wenn wir glauben, daß Feuer wärmt und Wasser erfrischt, so tun wir dies (doch eben tatsächlich) nur, weil es uns zu viel Mühe macht, anders zu denken. Vollends, wenn wir Philosophen sind, sollten wir es nur sein nach skeptischen Grundsätzen, und weil wir einen Drang zu einer solchen Tätigkeit in uns fühlen. Wo die Vernunft lebhaft Gehör fordert und eine (natürliche) Neigung (des Geistes) hinzukommt, da sollten wir der Vernunft Recht geben. Wo das letztere nicht der Fall ist, sollte ihr kein Recht, auf uns zu wirken, zugestanden werden.

(Dies sind nun die Grundsätze, die auch mich hier leiten.): Wenn ich des Vergnügens und der Geselligkeit müde bin, und mich in meinem Zimmer oder auf einem einsamen Spaziergang am Ufer eines Flusses in Träumereien ergangen habe, so fühle ich mich innerlich wieder ganz gesammelt; ich verspüre wieder eine natürliche Neigung, meinen Blick den Dingen zuzuwenden, die mir in Büchern und in der Unterhaltung vorgekommen und da Gegenstand von allerlei Meinungsverschiedenheiten gewesen sind. Ich kann nicht umhin, Verlangen zu tragen nach der Erkenntnis der Grundlagen des moralisch Guten und Schlechten, nach der Erkenntnis des Wesens und der Bedingungen des Staates, nach einer Einsicht in die Ursache der verschiedenen Affekte und Neigungen, die mich bewegen und beherrschen. Es ist mir unbehaglich, zu denken, daß ich eine Sache billige, eine andere mißbillige, ein Ding schön und ein anderes häßlich nenne, über Wahrheit und Unwahrheit, Vernunft und Torheit entscheide, ohne zu wissen, aus was für Gründen ich den Entscheid fälle. Es tut mir leid um die wissenschaftliche Welt, die sich in all diesen Punkten in so beklagenswerter Unwissenheit befindetf. Ich fühle den Ehrgeiz beizutragen und durch Erfindungen und Entdeckungen mir einen Namen zu erwerben. Diese Gedanken kommen mir in der Verfassung, in der ich mich jetzt befinde, von selbst; ich fühle, wenn ich versuchen wollte, mich einer anderen Beschäftigung oder Zerstreuung zuzuwenden und dadurch jene Gedanken zu verbannen, so würde ich eine Einbuße an innerer Befriedigung erleiden. Dies ist der Ursprung meiner Philosophie.

Angenommen aber selbst, diese Wißbegierde und dieser Ehrgeiz wären nicht imstande, mich in eine solche außerhalb der Sphäre des alltäglichen Lebens liegende Spekulationen hineinzuziehen, so würde schon meine Schwäche mich in dergleichen Untersuchungen verwickeln müssen. Der Aberglaube tritt ohne Zweifel in seinen Lehren und Annahmen viel kühner auf, als die Philosophie. Während die letztere sich damit begnügt, für die Erscheinungen der sichtbaren Welt bis dahin unbekannte Gründe zu statuieren, eröffnet uns der erstere eine völlig neue Welt und führt uns Szenen, Wesen und Gegenstände vor, die sonst vollständig unbekannt sind. Nun ist es dem menschlichen Geist fast unmöglich, Tieren gleich im engen Kreis der Dinge, welche den Gegenstand der täglichen Unterhaltung und Tätigkeit bilden, sich zu beruhigen. Wir müssen uns nur über die Wahl unseres Führers entscheiden. Dabei gebührt aber dem der Vorzug, der am sichersten und angenehmsten leitet. Ich erkühne mich nun zu einer solchen Führerschaft die Philosophie zu empfehlen; ich trage kein Bedenken, ihr vor dem Aberglauben, welcher Art er auch sein mag und wie immer er sich nennt, den Vorzug zu geben. Da der Aberglaube in völlig natürlicher Weise, ohne besondere geistige Bemühung aus den alltäglichen Anschauungen der Menschen entspringt, so erfaßt er den Geist mächtiger (als die Philosophie), und kann darum gar leicht uns in unserer Lebensführung und unseren Handlungen stören. Dagegen führt die Philosophie, wenn sie echt ist, zu einer milden und maßvollen Denkweise; und ist sie falsch und überspannt, so sind ihre Anschauungen nur Sache einer kühlen und allgemeinen Spekulation und gehen selten so weit, unseren natürlichen Neigungen ein Hindernis in den Weg zu setzen. Bei den Kynikern freilich begegnen wir dem außergewöhnlichen Fall, daß Philosophen aus rein philosophischen Überlegungen heraus zu einer Lebensweise gelangten, so extravagant, wie sie nur irgendein Mönch oder Derwisch je gezeigt hat. Im allgemeinen aber sind die Irrtümer in der Religion gefährlich, die Irrtümer in der Philosophie lediglich lächerlich.

Wenn ich hier darauf hinweise, wie sowohl die Stärke als auch die Schwäche des menschlichen Geistes zur Philosophie hinführt, so weiß ich freilich, daß manche weder auf die eine noch auf die andere Weise zu ihr hingeführt werden. Besonders in England gibt es viele biedere Herren, die stets mit ihren häuslichen Angelegenheiten beschäftigt und ihr Vergnügen in den alltäglichen Erholungen suchend, ihre Gedanken wenig über die Dinge hinausschweifen lasen, die sich Tag für Tag ihren Sinnen darbieten. Aus diesen Leuten verlange ich aber auch nicht Philosophen zu machen. Ich erwarte nicht, daß sie unsere Untersuchungen mitmachen oder auch nur von ihren Ergebnissen Notiz nehmen. Sie tun wohl daran, zu bleiben, was sie sind. Anstatt sie zu Philosophen zu verfeinern, möchte ich vielmehr, ich könnte den Begründern unserer philosophischen Systeme etwas von dieser groben erdigen Mischung, aus der sie bestehen, zuteil werden lassen. Das wäre ein Ingrediens [Zutat - wp], das sie in der Regel sehr gut gebrauchen könnten, und das dazu dienen würde, die Wirkung der feurigen Teilchen, aus denen sie zusammengesetzt sind, zu mäßigen. Solange es dem Feuer der Einbildungskraft erlaubt ist, in der Philosophie mitzureden, und Annahmen Zustimmung finden, bloß weil sie bestechend und angenehm sind, können wir niemals zu festen Prinzipien gelangen, nie Anschauungen gewinnen, die mit der Praxis des Lebens und der Erfahrung übereinstimmen. Erst wenn jene Annahmen abgetan sind, können wir hoffen, eine Lehre oder ein System von Anschauungen aufzustellen, die, wenn nicht wahr (das ist vielleicht mehr als wir hoffen können), so doch zumindest für den menschlichen Geist befriedigend sind und der kritischen Untersuchung standhalten. Wir dürfen aber auch trotz der vielen eitlen Lehren, die nacheinander unter den Menschen emporgekommen und wiederum in nichts zergangen sind, angesichts der Kürze des Zeitraums, währenddessen bis jetzt das Studium und die Untersuchung dieser Fragen betrieben worden ist, an der Erreichung dieses Ziels nicht verzweifeln. Zweitausend Jahre sind, bei so langen Unterbrechungen und bei so vielem, was (den Forscher) entmutigen konnte, für die Vollendung der Wissenschaften, wenn dieses Ziel auch nur einigermaßen erreicht werden soll, eine kurze Spanne Zeit. Wir befinden uns vielleicht noch in einem zu frühen Weltzeitalter, um Prinzipien zu entdecken, die der Prüfung der letzten Generationen standhalten. Ich für meinen Teil hoffe hier nur zur Förderung der Erkenntnis ein klein wenig beizutragen, dadurch nämlich, daß ich den Spekulationen der Philosophen in einigen Beziehungen eine andere Richtung gebe und etwas deutlicher die Punkte aufzeige, in denen sie allein Gewißheit und eine sichere Überzeugung zu gewinnen erwarten können. Die menschliche Natur ist der einzige (eigentliche) Gegenstand menschlicher Wissenschaft; und doch ist ihr Studium bis jetzt am meisten vernachlässigt worden. Es genügt mir, wenn ich sie ein bißchen mehr in Mode bringen kann; diese Hoffnung dient dazu, mein Gemüt vor jener Hypochondrie zu schützen, und es gegen jene Indolenz zu stärken, die mich bisweilen beherrschen. Wenn der Leser sich in der gleichen glücklichen Gemütsverfassung befindet, so mag er mir in meinen weiteren Spekulationen folgen; wenn ncht, so folge er seinen Neigung und warte ab, bis ihm Interesse und gute Laune wiederkehren. Das Verhalten eines Menschen, der in dieser sorglosen Weise Philosophie studiert, ist in Wahrheit in höherem Grad ein echt skeptisches als das eines Menschen, der Neigung zur Philosophie in sich verspürt, und doch von Zweifeln und Gedanken so überwältigt wird, daß er sie schließlich ganz und gar abweist. Ein richtiger Skeptiker wird seinen philosophischen Zweifeln ebensosehr mißtrauen, wie seiner philosophischen Überzeugung, er wird aber zugleich die unschuldige Befriedigung, die sich ihm, sei es aus dem Zweifel, sei es aus seiner positiven Überzeugung ergibt, nicht abweisen.

Wir sollten aber nicht nur, trotz unserer skeptischen Grundsätze, unsere philosophische Neigung im allgemeinen in wohldurchdachten philosophischen Untersuchungen befriedigen, sondern auch dem Drang nachgeben, der uns antreibt, in bestimmten einzelnen Punkten, so wie dieselben in einem bestimmten einzelnen Fall sich uns darstellen, eine feste und sichere Einsicht zu gewinnen. Es ist leichter, alles Forschen und alle Untersuchung aufzugeben, als uns gegenüber dieser so natürlichen Neigung einen Zwang aufzuerlegen. Es gelingt uns aber, wenn wir ihr folgen, nur schwer, uns vor der Zuversichtlichkeit in Acht zu nehmen, die stets aus einer genauen und vollständigen Betrachtung eines Gegenstandes fließt. Bei einer solchen sind wir vielmehr geneigt, nicht nur unseren Skeptizismus, sondern auch unsere Bescheidenheit zu vergessen. Wir gebrauchen dann Ausdrück, wie "es ist augenscheinlich, es ist sicher, es läßt sich nicht leugnen", Ausdrücke, welche gebührende Achtung vor dem Publikum am Ende verhindern sollte. Auch ich bin vielleicht, nach dem Vorbild anderer, in dieser Fehler verfallen; aber ich verwahre mich hier gegen alle Einwände, die aufgrund davon gegen mich erhoben werden könnten und erkläre, daß mir solche Ausdrücke nur durch die augenblickliche Betrachtung des Gegenstandes abgenötigt wurden. Sie beruhen weder auf einer dogmatischen Gesinnung, noch darauf, daß ich mir allzuviel auf meine Urteile einbilde; Dinge, die, wie ich wohl weiß, niemand anstehen, einem Skeptiker weniger als irgendjemand sonst.
LITERATUR: David Hume, Traktat über die menschliche Natur [in deutscher Bearbeitung von THEODOR LIPPS] Bd. I, Hamburg und Leipzig 1904.
    Anmerkungen
    10) Wünscht der Leser ein Beispiel dafür, wie auch große Geister, ganz nach der Art der ungebildeten Menge, sich von diesen anscheinend so nichtsbedeutenden Antrieben der Einbildungskraft leiten lassen, so lese er SHAFTESBURYs Eröerterungen über das einheitgebende Prinzip des Weltalls und die Identität der Pflanzen und Tiere (SHAFTESBURYs "Moralisten oder philosophische Rhapsodie").
    11) Weiteres über die Identität der Persönlichkeit im zweiten Abschnitt des Anhangs. - Die hier in Aussicht gestellte weitere Zergliederung der menschlichen Natur folgt im zweiten Buch der Abhandlung.