ra-2ra-1SokratesDubois-ReymondVerwornSpencerSchwarz    
 
JOHANN UEBINGER
Der Begriff der "docta ignorantia"
[in seiner geschichtlichen Entwicklung]
[2/2]

"Sokrates,  hat nur das Eine gewußt, daß er nichts weiß. Nach diesem Ausspruch allein schon darf man ihn für den gelehrtesten Menschen halten, freilich hat er noch nicht den Geist vollkommen befriedigt, da er auch jenes Eine ebenso wie alles andere, nicht weiß; um aber mit mehr Nachdruck zu betonen, daß er nichts weiß, hat er gesagt jenes Eine zu wissen; und deshalb, weil er nichts gewuß hat, wollte er uns auch nichts schriftlich überliefern. Daß alles eitel ist, behauptet auch der weise  Salomon,  der gelehrteste unter all denen, über welche uns die frühere Zeit berichtet."

"Weil so ein einzelnes Ding sich nicht ohne alle andern erkennen läßt, so gibt es oder gäbe es, wenn man sie haben könnte, bloße  eine  Wissenschaft, nicht mehrere, wodurch alle Dinge vollkommen erkannt werden. So stellen sich Schwierigkeiten für das Wissen in den Weg bei den Arten; bezüglich der Individuen aber gesteht man allgemein ein, daß es davon keine Wissenschaft gibt, deshalb, weil deren Zahl unendlich ist; und doch sind die Arten nichts, oder eine gewisse Einbildung, bloß Einzeldinge existieren, nur diese werden wahrgenommen, von diesen bloß ist Wissen zu haben und nur aus diesen zu entnehmen."

"Die Erscheinungen ein und desselben Gegenstandes fallen gar verschieden aus; gar sehr verschieden sind auf gleiche Weise die Urteile, welche gefällt werden, verschieden nach den verschiedenen Lebewesen, verschieden je nach den verschiedenen Menschen und verschieden sogar bei einem einzigen Menschen. Es bleibt demnach nichts als der Schluß übrig, daß man bloß wissen kann, wie irgendein Gegenstand diesem oder jenem erscheint, aber nicht, wie derselbe ansich oder seiner Natur nach beschaffen ist."

"Wenn diese Männer es standhaft laut verkündet haben, daß man nichts wissen kann, darf man dann, fragt  Gassendi  mit Emphase, ausschreien und mit Hohnlachen den Satz auszischen, man weiß nichts?

"Weil es niemanden unter den Menschen gibt, welcher volle Einsicht in die Beschaffenheit eines Dings, selbst des geringfügigsten, besitzt, so ist es nicht ein Verlangen der Natur, wonach man vollen Einblick zu besitzen wünscht. Sodann kann man auch zugeben, daß es Ursachen des Wissens gibt, jedoch nur des Wissens aus der Erfahrung und also, um so zu sagen, des Wissens um die Erscheinungen."

Ein dem zuletzt charakterisierten "Buch über das Nichts" sehr ähnliches schrieb etwa ein Jahrhundert später der Professor an der Akademie zu Toulouse FRANZ SANCHEZ, ich meine dessen Buch über das sehr vornehme, erste und allgemeingültige Wissen,  daß man nichts weiß.  Die Art übrigens, wie gleich der Titel unser Nichtwissen betont, gibt einen Anhaltspunkt von vornherein zu der Vermutung, das gepriesene Büchleich bewege sich in einem ähnlichen Gedankenkreis, wie die drei Bücher des CUSANUS  "De docta ignorantia".  Diese aus dem Titel gewonnene Vermutung wird in der Tat durch den Inhalt bestätigt.

Angeboren, so hebt die Vorrede an, ist dem Menschen der Trieb wissen zu wollen, wenigen vergönnt zu wissen um dieses Wollen, ganz wenigen wirklich zu wissen; und dem Autor selbst wurde ein von den anderen verschiedenes Los nicht zuteil. Sodar dieses  eine  bekennt er nicht zu wissen, nämlich daß er nicht weiß. Jedoch  nimmt  er an, daß weder er, noch andere dies wissen: dieser Satz soll ihm Standarte sein, dann ergibt sich die Folgerung: Nichts weiß man. Wenn er, sagt er sich, jenen Satz zu beweisen weiß, so wird er mit Fug und Recht jenen schließen dürfen, daß man nichts weiß; falls er den Beweis zu erbringen weiß, so würde das umso besser sein. Das alles behauptet er.

Für SANCHEZ nämlich ist jede Definition eine bloße Worterklärung und fast jede Anlaß zu einer Frage. Die Beschaffenheiten der Dinge können wir nicht erkennen; wenn wir sie aber nicht erkennen, so vermögen wir sie auch nicht näher anzugeben; freilich sagt man, die Definition zeigt die Beschaffenheit eines Dinges deutlich an, aber dies ist nicht der Fall. Weiter ist nicht einzusehen, wie wir einer Sache, welche wir nicht kennen, Namen beilegen sollen; und doch gibt es solche. Bezüglich der Namen herrschen daher beständig Zweifel und in den Worten viel Verwirrung und Trug, vielleicht sogar auch in all denen, welche gerade hervorgebracht wurden. Freilich sagt man beispielsweise, man definiere das Ding, welches  Mensch  ist, durch die folgende Definition: verständiges, sterbliches Wesen. Indessen entstehen dann neuerdings Zweifel bezüglich des Wortes "Lebewesen", "verständig" und "sterblich". Man wird weiter gehen und diese Begriffe und höhere Gattungsbegriffe und Artunterschiede, wie man sich ausdrückt, bis hinaus zum höchsten Begriff  Ding  (ens) bestimmen. Doch weiß man auch von diesem letzten Begriff nicht, was er bezeichnet. Man wird ihn selbst nicht definieren können, weil er keinen Gattungsbegriff mehr über sich hat. Mit dem Fragen hat man daher ein Ende zu machen. Aber dies, fügt SANCHEZ bei, löst den Zweifel nicht, befriedigt auch nicht den Geist; gezwungen verrät man schließlich sein Nichtwissen.

Aus freien Stücken dagegen hat dies sonst keiner getan, als jener weise und rechtschaffene SOKRATES, welcher nur das Eine gewußt hat, daß er nichts weiß. Nach diesem Ausspruch allein schon darf man ihn für den gelehrtesten Menschen halten, freilich hat er noch nicht den Geist vollkommen befriedigt, da er auch jenes Eine ebenso wie alles andere, nicht weiß; um aber mit mehr Nachdruck zu betonen, daß er nichts weiß, hat er gesagt jenes Eine zu wissen; und deshalb, weil er nichts gewuß hat, wollte er uns auch nichts schriftlich überliefern. Daß alles eitel ist, behauptet auch der weise SALOMON, der gelehrteste unter all denen, über welche uns die frühere Zeit berichtet. Wir wissen also nichts.

Um diesen Satz noch genauer nachzuweisen, geht SANCHEZ näher auf die Definition der Wissenschaft ein. Wissenschaft ist nach seiner eigenen Ansicht die vollkommene Erkenntnis einer Sache. Diese Definition einmal zugegeben, was man nicht gerade unbedingt muß, ist dreierlei zu beachten: die Sache, welche zu wissen ist, die Erkenntnis und schließlich deren Eigenschaft  vollendet.  Einen jeden dieser Bestandteile müssen wir für sich besonders erwägen, um dann hieraus zu entnehmen, daß nichts gewußt wird.

Dinge gibt es zunächst recht viele, vielleich unendlich viele, nicht bloß an Individuen, sondern auch an Arten; unendlich viele darf man jedenfalls  annehmen.  Um ein einzelnes Ding zu erkennen, müssen wir dessen Prinzipien kennen; dies sind vielleicht Materie und Form; aber im unendlichen Gebiet der Dinge gibt es vielleicht unendlich viele Materien, verschieden der Art nach. Sodann sind unter den Dingen einige von sich, aus sich, in sich, durch sich und bloß für sich, welche beispielsweise die Philosophen  erste Ursache,  oder unsereins  GOtt  nennen; alle übrigen sind von diesem, nicht von sich, nicht aus sich, nicht in sich, nicht durch sich und nicht für sich, sondern von einander, aus einander, in einander, für einander. Aber beiden Klassen von Dingen muß man kennen. GOtt aber, wer kent ihn vollkommen. "Nicht sehen wird mich der Mensch und leben." Demnach "wird das, was an GOtt unsichtbar ist, durch das, was geschaffen, erkannt und geschaut" wird. Auch die Dinge muß man jedenfalls zuerst kennen, welche andere verursachen, und zugleich die Art, wie sie dies tun, um irgendetwas vollkommen zu wissen. Eine solche Verkettung aber besteht unter allen Dingen, daß keines gleichgültig, ein jedes dem anderen nützt oder schadet; ja sogar das nämliche dazu da ist, viele zu schädigen und viele zu fördern. Also muß man zur vollkommenen Erkenntnis eines einzigen alle kennen lernen. Weil nun so ein einzelnes Ding sich nicht ohne alle andern erkennen läßt, so gibt es oder gäbe es, wenn man sie haben könnte, bloße eine Wissenschaft, nicht mehrere, wodurch alle Dinge vollkommen erkannt werden. So stellen sich Schwierigkeiten für das Wissen in den Weg bei den Arten; bezüglich der Individuen aber gesteht man allgemein ein, daß es davon keine Wissenschaft gibt, deshalb, weil deren Zahl unendlich ist; und doch sind die Arten nichts, oder eine gewisse Einbildung, bloß Einzeldinge existieren, nur diese werden wahrgenommen, von diesen bloß ist Wissen zu haben und nur aus diesen zu entnehmen.

Es gibt aber noch einen anderen Grund für unser Nichtwissen. Dies ist die so außerordentlichh große Substanz gewisser dinge, so daß wir sie gar nicht zu fassen vermögen. Hierher gehrt das Unendliche der Philosophen, wenn ein solches existiert, bzw. unser GOtt, bezüglich dessen es kein Maß, keine Begrenzung und folglich auch nicht irgendein Begreifen seitens des Geistes geben kann. Ganz mit Recht; denn zwischen dem begreifenden Subjekt und dem begriffenen Objekt muß eine bestimmte Proportion bestehen; jenes muß größer als dieses oder ihm zumindest gleich sein. Zwischen uns aber und GOtt gibt es keine Proportion; ebenso wenig, wie zwischen einem Endlichen und dem Unendlichen, zwischen einem Vergänglichen und dem Ewigen; kurz mit ihm verglichen sind wir eher nichts, wie etwas. Eine zweite Gattung von Dingen, dem zuletzt besprochenen diametral entgegengesetzt, aber gibt es, deren Sein so geringfügig ist, daß es der Geist kaum zu begreifen vermag; und deren Menge ist sehr groß, deren Erkenntnis zum Wissen sehr notwendig, dennoch besitzen wir fast keine davon. Dergleichen Dinge sind vielleicht alle Akzidenzien [Merkmale - wp], welche beinahe nicht sind; bislang hat es demzufolge keinen gegeben, welcher ihre Beschaffenheit vollkommen klarzulegen vermocht hätte.

Die Dinge also zunächst, ihre unendliche Anzahl, ihre unenlich verschiedene Beschaffenheit, ihre unendliche Größe hier und dort ihre unendliche Gefügigkeit, welche dem Nichts nahe kommt, bereiten unserem Erkennen unüberwindliche Hindernisse; doch ganz abgesehen selbst von den Gegenständen ist uns das, was ein Erkennen im eigentlichen Sinne ist, nicht vergönnt. Dasselbe ist die Tätigkeit des erkennenden Subjekts, welche auf das erkannte Objekt gerichtet ist. Nichts ist so vortrefflich, wie dieses einzig in seiner Art dastehende Erkennen. Besäße dasselbe die Seele vollkommen, so wäre sie GOtt ähnlich, ja GOtt selbst; denn nicht kann einer vollkommen erkennen, was er nicht geschaffen hat; und GOtt hätte nicht schaffen und das Erschaffene nicht regieren können, was er nicht vorher vollkommen gekannt hätte. Er allein ist daher die Weisheit, die Kenntnis, die vollendete Einsicht; er durchdringt alle Dinge, weiß alle, kennt alle, sieht alle; denn er ist alle und in allen, alle sind er selbst und in ihm. Das unvollkommene armselige Geschöpf von Mensch aber, wie wird dieses andere Dinge erkennen, ein Geschöpf, welches das eigene Selbst nicht kennen kann, das in ihm und mit ihm ist? Wie soll ein Geschöpf, welches die klarsten, offenkundigsten Dinge, beispielweise was es ißt, was es trinkt, was es betastet, was es sieht, was es hört, nicht vollständig begreift, die verborgensten Dinge der Natur, darunter die geistigen und unter diesen unsere Seele erkennen?

Und erst die vollkommene Erkenntnis! Unter einer solchen ist diejenige zu verstehen, wodurch ein Gegenstand von allen Seiten, inwendig und auswendig, vollständig geschaut wird. Und das ist die Wissenschaft, mit der wir jetzt die Menschen anfreunden wollen, sie selbst freilich vermag das nicht. Keiner aht es jemals dahin gebracht, daß wir Wissen besitzen. Es fehlt hierzu an den unerläßlichen Vorbedingungen; eine vollkommene Erkenntnis verlangt ein in jeder Beziehung, geistig und körperlich, ansich und in seiner äußeren Lebenslage ein vollkommenes Subjekt, welches erkennt, und einen Gegenstand zum Erkennen, welcher gehörig zurecht gelegt ist. Ist also unser Wissen eine verwegene Zuversicht, verbunden mit allerhand Nichtwissen?

Die soeben mitgeteilten Grundzüge des Buches  "Quod nihil scitur"  lassen meines Erachtens deutlich einen ähnlichen Standpunkt erkennen, wie ihn die Bücher  "De docta ignorantia"  vertreten. SANCHEZ beruft sich für die Richtigkeit desselben auf die selben Autoritäten, wie CUSANUS, auf den so sehr gelehrten SOKRATES und den weisesten und gelehrten von allen, auf SALOMON. Diese Berufung freilich ist für sich allein nicht entscheidend; aber hinzu kommt die Tatsache, daß beide das gleiche Ziel mit ihren prüfenden Untersuchungen verfolgen. SANCHEZ nämlich hatte, wie er selbst versichert, ähnlich wie CUSANUS, dabei im Sinn, nach bestem Können eine zuverlässige, leich verständliche Wissenschaft zu begründen, nicht aber eine, voll von ungeheuerlichen und erdichteten Vorstellungen, welche, der Wahrheit eines Gegenstandes fremd, lediglich dazu dienen, den tiefsinnigen Geist eines Schriftstellers ans Licht zu stellen, nicht aber dazu, über Gegenstände zu belehren. Auch die Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenem Wissen verdient hier Erwähnung. Beispiele vollkommenen Wissens anzuführen nimmt SANCHEZ freilich dort, wo er unser Nichtwissen beweisen will, aus nahe liegenden Gründen keinen Anlaß, aber ganz ausgeschlossen hat er in Gedanken dasselbe, wie es scheint, nicht. Hierauf deutet der Schluß des merkwürdigen Büchleins, wo er verspricht, ein anderes Mal der Erforschung der Dinge selbst näher zu treten, um zu sehen, ob und wie irgendetwas gewußt wird. Diese Hindeutung zum Schluß wäre höchst überflüssig, wenn ihr nicht bestimmt die Absicht zugrunde läge, im Voraus schon auf ein Gebiet vollkommenen Wissens aufmerksam zu machen. Es läßt sich sogar angeben, welches Gebiet er gemeint haben muß. Wenn einer nämlich nicht vollkommen erkennt, was er incht geschaffen hat, so erkennt er offenbar andererseits das vollkommen, was er geschaffen hat, und das einzige Gebiet, wo der Mensch wie ein zweiter GOtt schaltet, ist die Mathematik. Hier also muß es auch nach SANCHEZ Wissenschaft, vollkommene Wissenschaft geben, wodurch, wie bekannt, ein Gegenstand von allen Seiten, inwendig und auswendig, vollständig geschaut wird. Im übrigen herrscht das Nichtwissen; denn im übrigen gilt, wie bei CUSANUS, der Satz: was wir nicht hervorgebracht haben, vermögen wir auch nicht völlig zu erkennen. Zudem besteht nach beiden Denkern zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen keine Proportion, und bei der engen Beziehung aller Dinge untereinander werden, wenn eins nicht gewußt ist, auch die übrigen nicht gewußt. Angesichts dessen helfen wir uns durch das Aufstellen von Annahmen,  coniectare;  und dieses Annehmen gilt SANCHEZ, wie sich nachweisen läßt, so viel wie  erfahren,  bezeichnet also sicherlich mehr, als das bloß negative "ignorare", mehr auch, wie ein Vermuten, welches noch mehrere einander ausschließende Behauptungen als gleichberechtigt neben sich selbst anerkennen muß, bezeichnet ganz, wie bei CUSANUS, ein Aussagen, welches relativ richtig, d. h. nicht unrichtig und doch auch nicht vollkommen richtig, ein Teil, ein Moment des vollkommen Richtigen und zur Stunde unter den obwaltenden Verhältnissen am richtigsten ist.

Nicht verschweigen will ich indessen, daß SANCHEZ in prüfenden Überlegungen weiter, wie CUSANUS, geht uns sich im gleichen Schritt dem eigentlichen Skeptizismus nähert. Dahin rechnie ich die wiederholt aufgestellten Behauptungen, daß wir etwas Bestimmtes nicht einmal von unserem Nichtwissen wissen, daß er den SOKRATES tadelt, weil er das Gegenteil behauptet. Das ist des Guten nun doch offenbar zuviel.

Abgesehen also von diesen Abweichungen, ist denn dann nur die gerade vorher nachgewiesene Übereinstimmung durch Entlehnung zu erklären? Diese Frage läßt sich beim Mangel bestimmter Nachrichten hierüber nicht bestimmt entscheiden. Möglich, ja wahrscheinlich ist jene immerhin. Die Werke des CUSANUS waren, wie bekannt, 1514 in Paris erschienen, wurden kurz vor der Zeit, als SANCHEZ 1576 schrieb, noch einmal zu Basel aufgelegt. In der Vorrede beiden Ausgaben, namentlich in der Basler wird erklärt, daß durch dieselben einem dringenden wissenschaftlichen Bedürfnis, welches sich in aller Herren Länder geltend macht, Rechnung getragen werden soll. In dem Bestreben, allgemeine Angaben zu individualisieren, möchte ich nach dem Obigen, solange nicht der bestimmte Gegenbeweis geführt ist, annehmen, daß einer der  Verehrer Cusanus in Frankreich  umd die angegebene Zeit FRANZ SANCHEZ war.

Nicht bei ihm, aber bei einem jüngeren Zeit- und Landesgenossen läßt sich auch der Ausdruck "docta ignorantia" abermals nachweisen, bei PETER GASSENDI. Ihn darf man in all den Fragen, welche uns hier beschäftigen, als den treuesten Schüler des CUSANUS bezeichnen. Nicht der für seinen Meister so begeisterte Prior BERNHARD, nicht der an ihn in so vielen Stücken erinnernde KARL BOVILLUS haben den Kern der Lehren, welche im Begriff "docta ignorantia" gleichsam kristallisiert erscheinen, so scharf erfaßt, so treu wiedergegeben, wie dies seinerseits der berühmte Philosoph und Mathematiker, der langjährige Probst aus Digne PETER GASSENDI getan hat.

Schon der Ausgangspunkt zu der in Rede stehenden Lehre scheint bei den beiden in gewisser Hinsicht ähnlich gewesen zu sein. Es ist bekannt, wie CUSANUS lange herumsuchte, ehe er in der Lehre vom menschlichen Erkennen einen ihn allseitig befriedigenden Standpunkt erreichte, bekannt, wie dieser Standpunkt von dem der herrschenden Schule, welche sich nach ARISTOTELES nannte, durchaus verschieden war, bekannt schließlich, wie scharf er von diesem Standpunkt die Aristoteliker beurteilte. Was GASSENDI in dieser Hinsicht erlebte, erzählt uns derselbe in dankenswerter Weise selbst. In seiner Jugend wurde er in die peripatetische [aristotelische - wp] Philosophie eingeweiht und erinner sich in seinem 32. Lebensjahr, wo er eben die  "Exercitationes"  zu schreiben im Begriff steht, sehr wohl, daß jene damals in allen Stücken keineswegs seinen Beifall gefunden hat. Sobald er aber sein eigener Herr, unabhängig von fremder Absicht geworden war und damit begann, die ganze Lehre in ziemlich großer Tiefe und Breite zu erforschen, schien er binnen kurzem wahrzunehmen, wie nichtig, wie nutzlos sie zu diesem Zweck ist, in glückliche Verhältnisse zu gelangen. Er saß jedoch fest auf der todbringenden Leimrute des allgemeinen Vorurteils, wonach, wie er sah, alle Stände den ARISTOTELES gelten ließen. Doch hohen Mut flößte ihm ein, alle Furcht benahm ihm das Lesen seines CHARRON; diesem zufolge glaubte er nicht mit Unrecht zu argwöhnen, daß jene Schule doch nicht so ganz und gar gutzuheißen ist, ein Argwohn, der sich durch viele Gründe glaubhaft machen läßt. Das einmal gewonnene Vertrauen auf die eigenen Kräfte wuchs noch durch das Lesen des RAMUS und des Grafen PICO de MIRANDULA, Männer, welche er deshalb miterwähnen will, weil er es stets für edel angesehen hat, diejenigen offen zu nennen, welchen man seine Fortschritte zu verdanken hat. Er fing seitdem also an, sich die Lehrsätze anderer Schulen anzusehen, um zu erfahren, ob etwa diese etwas Gescheites bieten. Zwar fand er allüberall Schwierigkeiten vor, doch hat niemals etwas seinen Beifall auf gleiche Weise gefunden, wie die Zurückhaltung der Akademiker und Pyrrhoneer. Einsichtsvoll in der Tat handelten diese Philosophen; um das Nichtige und Ungewisse am menschlichen Wissen augenscheinlich zu zeigen, richteten sie sich so ein, daß sie sowohl gegen, wie auch für alle Sätze sprechen konnten.

Diesen Vorbildern entsprechend trug GASSENDI die Philosophie des ARISTOTELES so vor, daß seine Zuhörer gar wohl an ARISTOTELES festhalten konnten; teilte indessen im Anhang dazu auch die Sätze mit, aufgrund deren man die aristotelischen Ansichten nach seiner festen Überzeugung völlig zu entkräften vermag. Was er zugunsten des Aristotelismus vortrug zu veröffentlichen hielt er sich nicht verpflichtet; genug getan schien ihm, diejenigen Nachweise zu veröffentlichen, welche er in der entgegengesetzten Richtung gegeben hatte. So erschienen 1624 seine  "Unglaublichen  Versuche gegen die Anhänger des Aristoteles", seine "Exercitationes paradoxiscae adversus Aristoteleos".

Aus diesen "Versuchen" heben wir zunächst die Mißbilligung der Methode heraus, deren die Anhänger des ARISTOTELES sich bedienen. Für alle übrigen Dinge, so klagt GASSENDI, herrscht der allerregste Eifer, im Studium der echten Philosophie, gleichsam als ob sie uns nichts angeht, die bodenloseste Nachlässigkeit. Dies einzuräumen ist man vielleicht wenig geneigt, wenn man die zahllosen Arbeiten kennen gelernt hat, welche die Anhänger des ARISTOTELES geduldig in der Absicht auf sich nehmen, um den Anschein für sich zu haben, daß sie möglichst philosophiert haben. Doch aus der echten Philosophie haben sie eine Sophistik gemacht, ein Versuchsfeld für gelehrte Abhandlungen, um in diesen bloße Streitereien pflegen zu können. In dieser Absicht haben sie zunächst alle bedeutenden Schriftsteller aus ihren Schulen hinausgewiesen: den PLATON, MARKUS TULLIUS, SENECA, PLINIUS, PLUTARCH und andere, welche fürwahr sehr viele Beiträge zur Weisheit hätten liefern können. Ausgewählt dagegen hat man einzig den ARISTOTELES, welcher durch seine zweideutige Ausdrucksweise und abgerissenen Lehrsätze geeignet erschien, zahlreiche Geschosse für ihre Wortgefechte liefern zu können. Und nachdem man jene bedeutenden Schriftsteller aus den Schulen entfernt hatte, verzichtete man noch obendrein auf diejenigen Teile der Philosophie, welche man ohne Zank und Streit hätte behandeln müssen; es sind dies vornehmlich die Disziplinen der Mathematik. In den Teilen aber, welche man beibehielt, ließ man die Hauptsachen beiseite und jagte bloß fabelhaften Dingen nach; fügte ein, was nicht zur Sache gehört; behandelte, was man aufnahm, wirr durcheinander, dunkel, in barbarischem Stil, auf philologische, nicht auf philosophische Art. Kurz: Mit so vielen Worten, wie die Anhänger des ARISTOTELES, mit so vielen leeren Wiederholungen derselben Worte über einen deutlichen, klaren Gegenstand sich auslassen, der mit so wenigen sich abschließen und entscheiden läßt: ist nicht wahre Philosophie oder Liebe zur Weisheit, sondern vielmehr Philologie oder Wortklauberei. Oder ist dies wirklich philosophieren, der Wahrheit nachgehen und nicht viel sich kindisch gebärden, reine Sophistik treiben.

Die so gekennzeichnete ganz verkehrte Methode aber läßt sich genügend nur durch das verweichlichte und feige Mißtrauen erklären, womit die Anhänger des ARISTOTELES die von diesem einst mit Beschlag belegte Wahrheit allzu sorglos annahmen, diese ernsthaft zu durchforschen aber nicht weiter besorgt waren. Infolgedessen sind sie dann der Lehre des ARISTOTELES so zu eigen gegeben, daß ihnen das kostbarste Gut, die Freiheit zu philosophieren, durchaus verloren gegangen ist. Mit einer so großen Scheu nämlich blicken sie zu ARISTOTELES hinaus, daß sie nich wagen, die Grenzen seiner Lehren zu überschreiten; und daran tun sie entschieden unrecht. In Fragen nämlich, welche die Natur der Dinge angehen, welche zur philosophischen Forschung gehören, seinen Geist in dieser Weise unter das Ansehen dieses oder jenes Menschen beugen, dies ist eines Philosophen durchaus nicht würdig. Derartiges hat ein ARISTOTELES selbst seinem Lehrer PLATON gegenüber nicht getan und ganz mit Recht ebensowenig sonst ein hervorragender Denker; nur die Mehrzahl der heutigen Philosophen macht eine Ausnahme. Auf diese Weise nehmen sie selbst ein Kreuz auf sich, durch welches sie unaufhörlich bei Tag und Nacht gequält werden; vergebens aber quälen sie sich; die Wahrheit wollen sie aus der Tiefe holen, welche, wie sie glauben, Aristoteles schon vor langer Zeit entdeckte. Darum bemühen sie sich nicht um die Natur selbst, sondern bloß um die Schriften des ARISTOTELES; sie glauben nämlich, sie könnten daraus die Wahrheit am leichtesten schöpfen.

Doch ihn und seine Lehre allen anderen Denkern vorzuziehen, dazu fehlen die nötigen Gründe. Nicht seine Religion, sein Lebenswandel, seine Geistesanlage, und auch nicht die Zeugnisse dritter Personen reichen da aus. Vielmehr ist auch auf diejenigen zu hören, welchen den ARISTOTELES abfällig beurteilen. Diese taten nicht bloß die alten Kirchenväter, sondern auch von den Lehrern der Scholastik konnten sich sehr viele nicht enthalten, zuweilen sogar widerwillig gegen den Aristoteles aufzutreten, z. B. ALBERTUS MAGNUS, THOMAS von AQUIN, DUNS SCOTUS, GREGOR von RIMINI, WILHELM DURANDUS, ROGER BACON; um die anderen, sicherlich nicht wenige, zu übergehen: die Kardinäle der Kirche PETER d'AILLY und NIKOLAUS CUSANUS.

Auf den CUSANUS kann sich in diesem Zusammenhang GASSENDI mit Fug und Recht berufen. Es ist freilich nicht zu verkennen, daß dieser seinen Angriff rhetorisch aufgebauscht hat, indessen berührt dies nicht den Kern der Sache. Auch jener nämlich tadelt die Anhänger des ARISTOTELES in einem ganz ähnlichen Sinn, auch er macht denselben Streitsucht, eitles Wortgezänk, geschwätzige Logik, nichts besagenden Wissensdünkel zum Vorwurf, auch er tadelt in sehr scharfen Ausdrücken die unvernünftige, blinde Unterwerfung unter die Autorität des ARISTOTELES und macht über ein derartiges Verhalten gelegentlich einen sehr drastischen Vergleich.

Durch die Verwerfung des ARISTOTELES und überhaupt eines jeden Philosophen als einer maßgeblichen Autorität in philosophischen Fragen schafften sich die genannten Denker vorerst Raum für das freie Spiel ihres selbständigen Philosophierens. Ganz merkwürdigerweise aber berühren sich beide auch hier in den grundlegenden Fragen der Lehre von der Tragweite des menschlichen Erkennens ziemlich nahe. Die beseligende und schuldlose Wahrheit, schreibt GASSENDI, gleich zu Anfang seiner "Versuche", ist in dem unergründlichen Brunnen des Abderiten verborgen; denn, so erfolgt späterhin die nähere Begründung, ein Wissen und insbesondere bei ARISTOTELES gibt es nicht.

Dieser so ganz allgemein hingestellte Satz, fürchtet jedoch nicht ganz ohne Grund GASSENDI, könnte leicht mißverstanden werden. Einem solchen möglichen Mißverständnis will er darum gleich von vornherein vorbeugen und bemerkt deshalb zunächst, er wolle durch den erwähnten, an die Spitze gestellten Satz durchaus nicht den Anschein erwecken, als ob er jedes Wissen ohne Unterschied in gleicher Weise anzugreifen beabsichtigt. Zuerst nämlich könnte einer behaupten, daß man mit dem Weltapostel und der Kirche die Kenntnis der Geheimnisse, wie sie der Glaube lehrt, ein Wissen nennen darf oder kann, daß daher auch zu sagen gestattet ist, daß wir wissen, daß GOtt dreieinig, der Leib des Herrn unter den Gestalten der Eucharistie gegenwärtig ist und dergleichen, kurz, daß es ein Wissen von hl. Dingen gibt, daß die Theologie der Scholastik gemeinhin unter die Wissenschaften gezählt wird. Eine derartige Wissenschaft will GASSENDI nicht bekämpfen; ein derartiges Wissen fußt nicht auf einem Beweisverfahren, welches sich aus den Prinzipien der Natur ergibt, sondern stützt sich einzig auf den Glauben, welcher sich aus der Offenbarung und von der göttlichen Autorität herleitet. Darum nennt man diese Kenntnis gemeinhin nicht so sehr Wissen, als Glauben.

Was GASSENDI hier über die Glaubenswissenschaft vorausschickt, stimmt ganz auffallend mit der betreffenden Lehre des CUSANUS überein. Auch dieser unterscheidet, meines Erachtens zumindest, genau zwischen Glauben und Wissen. Das erste und zweite Buch des "gelehrten Wissens" hat das natürliche Wissen, das dritte hingegen den durch Wunderwerke und Weissagungen befestigten, durch die Zeugnisse der Jünger bekräftigten übernatürlichen Glauben, im besonderen die einzelnen Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses zum Gegenstand; und am Schluß einer anderen philosophischen Schrift desselben heißt es sehr bezeichnend: Übrig bleibt die so süße Betrachtung über unseren Glauben, er überragt alle Lehren durch seine Gewißheit, gewährt einzig und allein Glückseligkeit.

Noch eine zweite Ausnahme aber macht GASSENDI an der Stelle, welche uns hier beschäftigt; er sagt, daß man ganz gut zugeben kann, daß in Anlehnung an den gewöhnlichen Sprachgebrauch die aus der Erfahrung geschöpfte Kenntnis Wissen zu nennen ist; so z. B. sagt man von einem, er weiß, daß er sitzt, weiß, daß der Honig eher süß als bitter schmeckt, das Feuer mehr warm als kalt ist und dergleichen. Auch ein derartiges Wissen will GASSENDI nicht bestreiten, auch dieses letztere kann man wie das gerade vorher besprochene schon durch die Überschrift als ausgeschlossen ansehen, wenn man darauf achtet, daß Wissen im strengsten Sinn die zuverlässige, augenscheinliche, durch die Angabe der notwendigen Ursache oder durch einen Beweis erworbene Kenntnis eines Gegenstandes ist. Wohl wissen wir, daß z. B. der Honig unserem Geschmack süß vorkommt, aber wir wissen nicht, ob derselbe auch seiner Natur nach, an und für sich, in Wirklichkeit süß ist; die notwendige Ursache hierfür oder den Nachweis dafür, weshalb sich eine Sache so verhält, haben wir nicht; vielmehr liegen Anzeichen vor, aufgrund deren man annimmt, der Honig seiner Natur nach nicht mehr süß als bitter ist, mag derselbe einem Menschen wegen dessen Veranlagung auch vorkommen und sich mit Rücksicht auf ihn verhalten wie er will. Dieses vermeintliche Wissen ist es also, auf welches GASSENDI seinen Angriff richtet. Ein und derselbe wahrnehmbare Gegenstand, führt er aus, erscheint dem einen Lebewesen so, dem anderen anders, und wie den Lebewesen im Großen und Ganzen, so insbesondere auch den Menschen; ja sogar bei ein und demselben Menschen wird sich bezüglich ein und desselben Gegenstandes eine große Verschiedenheit ergeben.

Der Nachweis, worauf man das oben gekennzeichnet Wissen glaubt stützen zu können, ist hiermit zerstört. Die Erscheinungen ein und desselben Gegenstandes fallen gar verschieden aus; gar sehr verschieden sind auf gleiche Weise die Urteile, welche gefällt werden, verschieden nach den verschiedenen Lebewesen, verschieden je nach den verschiedenen Menschen und verschieden sogar bei einem einzigen Menschen. Es bleibt demnach nichts als der Schluß übrig, daß man bloß wissen kann, wie irgendein Gegenstand diesem oder jenem erscheint, aber nicht, wie derselbe ansich oder seiner Natur nach beschaffen ist.

Zunächst einmal erkennen die Menschen nicht die innerste Natur der Dinge oder, wie man sagt, deren Verschiedenheiten; würden diese klar erkannt, so wäre das dann erst eine Wissen oder die Wahrheit der Dinge; diese zu erreichen haben sich schon so lange so viele Sterbliche vergeblich abgemüht. Und dann kann man auch nicht alle äußeren Erscheinungen irgendeines Dings oder, wie man sagt, alle Einzeldinge zu diesem Zweck durchforschen, um irgendwelche allgemeinen Sätze aufzustellen. Könnte dies wenigstens geleistet werden - nicht von einem einzigen, sondern von vielen oder auch von allen Menschen zusammen - so wäre fürwahr ein sehr großer Grundriß, um die Wahrheit zu besitzen, geschaffen.

Diese beiden Sätze hat der gerade vorhergehende fünfte Versuch bereits klar und deutlich gemacht; im sechsten will GASSENDI daher bloß als Schlußstein des Ganzen noch zwei Kapitel anfügen, welche wohl derart sind, daß dem Satz, daß man nicht weiß, einige Glaubwürdigkeit verschafft wird. Der eine Beweis hierfür klingt etwas verwunderlich und lautet in gedrängter Kürze ungefähr so: Seit der Zeit, wo die Menschen philosophieren oder die Wahrheit und genauer ausgedrückt die Natur der Dinge erforschen, hat bis auf diese Stunde - ich will gar nicht sagen: ein einzelner - sondern auch nicht einmal ein einzelnes Volk, eine philosophische Schule entstehen können, welche imstande gewesen ist, die Wahrheit zu ermitteln und klar darzulegen. Der zweite Beweis aber besagt: Diejenigen Denken insgesamt, welche bislang für die weisesten Männer gehalten wurden, haben frank und frei eben dieses Nichtwissen um die Dinge eingestanden; so beispielsweise der so weise SALOMON, der so weise SOKRATES, der göttliche PLATON, die Platoniker ARKESILAOS und KARNEADES, PYRRHO und die Skeptiker, DEMOKRIT. Wenn diese Männer es standhaft laut verkündet haben, daß man nichts wissen kann, darf man dann, fragt GASSENDI mit Emphase, ausschreien und mit Hohnlachen den Satz auszischen, man weiß nichts?

Aber, so wirft man hier ein, dann weiß man auch nicht, daß man nicht weiß, und in diesem Fall zeugt es von Verwegenheit, jenen Satz aufzustellen; wenn man aber wenigstens dieses Eine weiß, so gibt es zumindest davon ein Wissen, daß man nichts weiß. Gar leicht auf diesen Einwurf erscheint nach dem früher Gesagten dem GASSENDI die richtige Antwort. Das Wissen der Erfahrung oder, wie man dasselbe auch nennen kann, das Wissen um die Erscheinungen tastet er nicht an, läßt er vielmehr, wie schon im Voraus bemerkt, ruhig weiter bestehen; auch festzuhalten ist weiterhin an dem Satz: wir wissen, daß wir nichts wissen, und demzufolge auch, daß es irgendein Wissen gibt.

Aber, so wirft man weiter ein, die Anhänger PYRRHOs sind doch allzu ungerecht gegen die Natur, alle Menschen verlangen ja von Natur nach Wissen; dies beweist unwiderleglich die Erfahrung. Würde also nicht die Natur umsonst ein solches Verlangen ihnen eingeflößt haben, wenn sie nicht irgendetwas wissen könnten? Ferner weist man darauf hin, daß es sowohl Wissenschaften, als auch wißbare Gegenstände, wie beispielsweise die gesamten Dinge der Natur, tatsächlich gibt; daher versäumte auch bei keinem die Natur, Raum für Wissen zu lassen. Man weist andererseits darauf hin, wie es doch unbillig wäre, für unnütz die Arbeiten so vieler ausgezeichneter Philosophen zu halten, welche bis auf diese Stunde ihre Arbeitskraft auf die Wissenschaft verwandten. Es hat nämlich den Anschein, daß die Natur die Philosophen gleichsam abgesandt hat, damit durch sie in der Welt, in welcher Unwissenheit, der Gegensatz der Wissenschaft, sich bereit machte, die Wissenschaft eingeführt wird. Schließlich könnte man auch noch darauf hinweisen, daß die Behauptung doch ganz abgeschmackt ist, Physik, Metaphysik, Rechtskunde und die übrigen Wissenschaften seien leere Namen ohne Inhalt, und nun erst gar die mathematischen Disziplinen! Daß wir durch diese sehr viele Dinge ganz zuverlässig und ganz augenscheinlich wissen, kann nur einer, der von Sinnen ist, leugnen; in einem solchem Maß einleuchtend und überzeugend sind die Beweise in der Mathematik.

Auf diese gehaltvollen Einwürfe kann man, fährt GASSENDI fort, kurz das Folgende erwidern: Erstens erscheinen gegen die Natur nicht ungerecht jene, welche ebensowenig, wie sie der Natur etwas nehmen, derselben mehr, wie billig, zuschreiben und die demgemäß gern einräumen, die Natur habe allerdings allen Menschen ein Verlangen nach Wissen eingepflanzt; aber nicht indessen, wohl gemerkt, das Verlangen, auf jede Weise oder alle Dinge ohne Ausnahme zu wissen. Solange daher alle Menschen sehr viele Dinge durch die Erfahrung und insofern sie in die Erscheinung treten, zu wissen verlangen, ist der Satz, daß sie dies unter Führung der Natur tun, richtig. Aber sobald sie überdies die innersten Beschaffenheiten und die notwendigen Ursachen wissen wollen, so ist dies bereits eine Gattung von Wissenschaft, welche die Natur des Engels oder sogar GOttes angeht und sich nicht für die winzigen Menschenkinder schickt; deshalb kann man auch von einem solchen Verlangen nicht sagen, dasselbe stamme aus der Natur. Demgemäß können wir beispielsweise folgern: weil es niemanden unter den Menschen gibt, welcher volle Einsicht in die Beschaffenheit eines Dings, selbst des geringfügigsten, besitzt, so ist es nicht ein Verlangen der Natur, wonach man vollen Einblick zu besitzen wünscht. Sodann kann man auch zugeben, daß es Ursachen des Wissens gibt, jedoch nur des Wissens aus der Erfahrung und also, um so zu sagen, des Wissens um die Erscheinungen. Daher kann man auch zugestehen, daß es der wißbaren Dinge viele gibt, aber eben nicht wißbar durch Beweise nach Art jener aristotelischen Wissenschaft, sondern durch Erfahrung bloß oder nach ihrer Erscheinung. Schließlich der Einwurf bezüglich der Arbeiten der vorzüglichsten Philosophen läßt sich auf die gleiche Weise erledigen erledigen. Jene nämlich sind nicht deshalb für wertlos zu erachten, weil sie uns ein aristotelisches Wissen bislang nicht verschafft haben; sie haben aber ein anderes zuwege gebracht, wahrer und nützlicher, d. h. das Erfahrungswissen umd die Erscheinung der Dinge. Darum heben wir auch mit Nachdruck hervor, jene Philosophen sind gleichsam auserkoren, um das Nichtwissen zu beseitigen, stellt sich diesem ja doch das Wissen um das Nichtwissen, wovon wir sprachen, gegenüber; andererseits steht das Nichtwissen, von welchem die Anhänger des ARISTOTELES träumen, dem Menschen nicht übler an, als der Hand die Abwesenheit von hundert Fingern; denn wie ihr von Natur nicht so viele Finger gebühren, ebenso kommt jenem, wie es scheint, auch nicht das Wissen um die innerlichsten Beschaffenheiten zu. Hieraus ersieht man, wie unberechtigt der Angriff des ARISTOTELES ist; denn nicht braucht Verzweiflung diejenigen, welche philosophieren wollen, deshalb zu beschleichen, weil sie sehen müssen, daß die großen Philosophen offen eingestehen, daß man nichts wissen kann, d. h. nichts, was die innersten Beschaffenheiten der Dinge angeht. Während sie sich in dieser Beziehung nämlich für nicht wissend ansehen, werden sie ja darum doch andererseits für sehr gescheit angsehen; denn keines beinahe von denjenigen Dingen, welche man wissen kann, bleibt ihnen verborgen; nicht mit Unrecht hat daher einer  (quispiam  [jemand - wp]) gesagt, ihr Nichtwissen sei sehr gelehrt,  ignoratiam doctissimam. 

Der "Quispiam", von welchem in diesem Zusammenhang GASSENDI so unbestimmt spricht, ist in dessen Gedanken ganz bestimmt niemand anders als NIKOLAUS CUSANUS. Daß er diesen sowie dessen einschlägige Lehre sehr wohl kannte, wurde früher schon nachgewiesen; und hiernach kann es meines Erachtens keinem begründeten Zweifel mehr unterliegen, daß er diesem auch den Begriff und Ausdruck "ignorantia doctissima" entlehnte. Wie dieser, so sieht GASSENDI eine nicht alltägliche Vollkommenheit darin, bis zu dem Punkt fortschreiten, daß man für Nichtwissen hält, was andere für Wissen ausgeben, und weiterhin in gutem Glauben anerkennt, man wisse nicht, was man in der Tat nicht weiß; man könne nicht wissen oder zuverlässig und einleuchtend kennen, untrüglich und mit Sicherheit behaupten, wie irgendein Ding seiner Natur nach ansich und durch die inneren, notwendigen und untrüglichen Ursachen beschaffen ist: Dies will bei GASSENDI ebenso, wie bei CUSANUS, "docta ignorantia", "ignorantia doctissima" besagen.


V.
In England bei John Locke

Zwar findet sich in JOHN LOCKEs berühmten "Versuch über den menschlichen Verstand" nicht der lateinische Ausdruck "docta ignorantia", wohl aber der gleichwertige englische "learned ignorance".

Fünf oder sechs Freunde trafen bei demselben auf dem Zimmer zusammen, erörterten einen Gegenstand, weit abgelegen von dem des genannten Werks, und befanden sich alsbald in einer Lage, bei welcher sich Schwierigkeiten auf jeder Seite erhoben. Nach einer Weile stiegen in LOCKE Ahnungung darüber auf, daß man einen unrichtigen Weg eingschlagen habe und daß es, bevor man an die Erforschung der Natur herantritt, es vor allen Dingen nötig ist, die eigenen Fähigkeiten zu prüfen und genau zuzusehen, welche Gegenstände unserem Verstand zugänglich sind und welche nicht. Dieser Ansicht stimmten die Freunde bei, und LOCKE brachte bei der nächsten Zusammenkunft einige hastig hingeworfene und ungeordnete Gedanken über einen Gegenstand vor, über den er bis dahin noch nicht nachgedacht hatte. Dieselben aber bildeten die erste flüchtige Skizze zu seinem  Versuch über den menschlichen Verstand,  den er dann nach Verlauf von zwei Jahrzehnten der großen Öffentlichkeit übergab.

Das vierte und letzte Buch des "Versuches" interessiert uns hier zunächst. Dasselbe, von Erkenntnis und Meinung handelnd, unterscheidet verschiedene Abstufungen unseres Erkennens, ein intuitives und ein demonstratives. Das letzte ist nicht allemal schon dann klar, wenn die ihm zugrunde liegenden Vorstellungen dies sind; denn die Seele erkennt die Beziehungen zwischen diesen nicht in allen Fällen, nicht einmal dort immer, wo sie es könnte. In einem solchen Fall verbleibt sie in  Nichtwissen  und kommt zumeist nicht weiter als zu einer  wahrscheinlichen Annahme. 

Genauer läßt sich die Tragweite unseres Erkennens bestimmen, wenn wir dabei von den Begriffen der Identität, Koexistenz, Relation und realen Existenz ausgehen. Unser Erkennen der Identität und Verschiedenheit nämlich reicht gerade so weit, wie unser Vorstellen; hingegen das der Koexistenz nicht sonderlich weit; die Erkenntnis der anderen Relationen ist ihrem ganzen Bereich nach zwar nicht leicht zu bestimmen; fest steht jedoch, daß die Ethik des Beweisverfahrens fähig ist; bezüglich der realen Existenz haben wir schließlich eine intuitive Kenntnis von unserem eigenen, eine demonstrative von GOttes und eine sensitive vom Dasein einiger weniger anderer Dinge.

Unser Nichtwissen ist daher groß, dehnt sich unendlich weiter als unser Erkennen aus. Einiges Licht über den gegenwärtigen Zustand unseres Geistes zu verbreiten hofft LOCKE für den Fall, daß wir ein bißchen nach der dunklen Seite ausschauen und einen Blick auf unser Nichtwissen werfen. Dieser prüfende Blick mag dazu beitragen, leere Wortstreitigkeiten zu beschwichtigen und nützliche Kenntnis zu fördern. Falls nämlich entdeckt ist, wie weit unsere klaren und deutlichen Vorstellungen reichen, so halten wir unsere Gedanken innerhalb des Bereiches solcher Gegenstände, welche unserem Verstand zugänglich sind, und stürzen nicht in den Abgrund von Finsternis, worin wir weder Augen haben, um ein Ding zu sehen, noch die Fähigkeit, dasselbe zu begreifen. Gänzlich ausgeschlossen bleibt dann die stolze Anmaßung, daß es nichts gibt, was über unser Begreifen hinausliegt. Um uns von der Torheit einer solchen Anmaßung zu überzeugen, brauchen wir nicht weit zu gehen. Wer nämlich irgendetwas weiß, der weiß in erster Linie dies, daß er nicht lange nach Beweisen seines Nichtwissens zu suchen braucht. Die geringfügigsten und geläufigsten Dinge, welche uns in den Weg kommen, haben dunkle Seiten, in welche der schärfste Blick einzudringen nicht vermag. Der klarste und umfassendste Verstand der Denker wird verwirrt und in Verlegenheit gesetzt bei jedem Teilchen der Materie. Dies so zu finden, darüber werden wir uns umso weniger wundern, wenn wir die Ursachen unseres Nichtwissens betrachten. Es gibt deren drei Hauptklassen:
    1. Mangel an Vorstellungen,

    2. Mangel an einer auffindbaren Verknüpfung zwischen den bereits vorhandenen Vorstellungen und schließlich

    3. Man an Untersuchung und Prüfung unserer Vorstellungen.
Dennoch gibt es ein reales Erkennen, wie das vierte Kapitel nachzuweisen versucht. Unser Erkennen ist real aber nur so weit, wie eine Gleichförmigkeit zwischen unseren Vorstellungen und dem realen Sein der Dinge besteht. Real sind demnach
    1. alle einfachen Vorstellungen,

    2. alle unsere komplexen Vorstellungen, ausgenommen die von Substanzen,

    3. real demnach das mathematische Erkennen und

    4. die Moral,
diese ist nach LOCKEs Ansicht für reale Gewißheit ebenso empfänglich, wie die Mathematik. Dagegen haben die Vorstellungen von Substanzen ihre Urbilder außerhalb von uns; insofern dagegen, als sie mit diesen übereinstimmen, ist unser Erkennen bezüglich derselben real, sind unsere Vorstellungen, wenn vielleicht auch nicht ganz genaue Abbilder, dann doch wahr und die Unterlagen für ein reales Erkenen derselben insofern, als wir ein solches besitzen. Freilich wird sich zeigen, daß dieses nicht sonderlich weit reicht, aber soweit es reicht, wird es noch ein reales Erkennen sein. Bei unseren Nachforschungen an Substanzen aber müssen wir auf die Vorstellungen achten und nicht unsere Gedanken auf Namen oder Arten beschränken, welche man in den Namen gesetzt vermutet. Demnach ist, um das Gesagte ganz kurz zusammenzufassen, dort, wo immer wir die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung irgendeiner unserer Vorstellungen klar und deutlich einsehen, zuverlässiges Erkennen; und wo immer wir sicher sind, daß diese Vorstellungen mit der Realität der Dinge übereinstimmen, dort ist zuverlässies reales Erkennen.

Trotz all dem erscheint das Begreifen unseres Verstandes angesichts der unermeßlich weiten Ausdehnung der Dinge außergewöhnlich eng begrenzt. Dessen sich genau bewußt zu werden, zu diesem Endzweck zu allererst einen Blick auf unseren eigenen Verstand zu werfen, unsere eigenen Kräfte zu prüfen und genau zu erwägen, für welche Aufgaben sie geeignet erscheinen: dies vorerst festzusetzen ist der erste Schritt dazu, um verschiedene Untersuchungen zu einem befriedigenden Abschluß zu bringen; wird derselbe hingegen unterlassen, dann, so fürchtet LOCKE, beginnen wir am unrichtigen Ende. Vergebens suchen wir, das Nötige um einen ruhigen und sicheren Besitz von Wahrheiten, welche uns zumeist angehen, zu tun, wenn wir gleich unsere Gedanken über den weiten Ozean des Seins schweifen lassen, gleichsam als ob diese ganze, grenzenlose Ausdehnung das natürliche und unbezweifelte Besitztum unseres Verstandes, nicht selbst seiner Entscheidung oder seinem Fassungsvermögen versagt wäre. Sind dagegen die Fähigkeiten unseres Verstandes wohl erwogen, die Tragweite unseres Erkennens einmal ermittelt und der Gesichtskreis gefunden, welcher zwischen den hell erleuchteten und den dunklen Teilen der Dinge, zwischen dem, was von uns zu begreifen, und dem, was dies nicht ist, die Grenzen feststellt, so würden die Menschen vielleicht mit weniger Bedenken sich einerseits bei einem  eingestandenen Nichtwissen  beruhigen und ihre Gedanken und Reden andererseits mit mehr Vorteil und Befriedigung verwerten.

Eingestandenem Nichtwissen,  "avowed ignorance",  rede hiernach LOCKE seiner ganzen Denkrichtung entsprechend das Wort; seinen Widersachern dagegen macht er eine  "learned ignorance"  zum Vorwurf.

Wo man diese Widersacher zu suchen hat, ergibt sich teilweise schon aus dem bisher Angeführten. Hiernach sind als solche all diejenigen zu betrachten, welches es nicht, wie LOCKE selbst, für nötig erachten, in erster Linie die eigenen Fähigkeiten zu prüfen, welche ohne eine solche vorhergehende Prüfung gleich ihre Gedanken über den weiten Ozean des Seins schweifen lassen, welche überdies bei den Nachforschungen an Substanzen nicht auf die empfangenen Eindrücke achten, sondern ihre Gedanken auf Namen oder Arten beschränken, die man in den Namen gesetzt vermutet. Ihr Erkennen dreht sich also vorwiegend um Worte, und gegen Wortklaubereien richtet LOCKE ein eigenes Buch seines berühmten "Versuches", das dritte, "Of words" betitelt.

Der Mensch, hören wir hier, kann artikulierte Laute bilden, welche wir Worte nennen, und diese zu allgemein verständlichen Zeichen innerer Vorstellungen machen. Jene beziehen sich zunächst und unmittelbar auf die Vorstellungen dessen, der sie gebraucht, werden aber öfters stillschweigend zuerst auf die Vorstellungen im Geist anderer Personen und zweitens sogar auf die wirklichen Dinge bezogen. Die Worte sind ferner ihrer Bedeutung nach völlig willkürlich, zum größten Teil endlich, die Eigennamen ausgenommen, allgemein; sie bezeichnen nicht insbesondere dieses oder jenes Einzelding, sondern vielmehr Arten und Gattungen oder, wenn man die lateinischen Namen lieber hat,  species  und  genera  der Dinge. Deren Wesen und Bedeutung erhellt sich deutlich aus der Weise ihres Entstehens. Danach möchte LOCKE behaupten: die Menschen bilden abstrakte Vorstellungen, ordnen sie in ihrem Verstand mittels Namen, welche mit ihnen verbunden sind, machen sich dadurch fähig, Dinge zu betrachten und darüber zu reden, als ob sie in Bündeln wären, zwecks der leichteren und bequemeren Mehrung und Mitteilung ihrer Kenntnis; solche würde nur langsam vorwärts schreiten, wären die Wörter und Gedanken einzig auf Einzeldinge eingeschränkt.

Hieraus entnimmt LOCKE den rechten Gebrauch der Wörter, die naturgemäßen Vorzüge und Mängel der Sprache, die Vorsichtsmaßregeln schließlich, welche man gebrauchen soll, um die Unannehmlichkeiten von Dunkelheit oder Unsicherheit in der Bedeutung der Wörter zu vermeiden. Ohne dergleichen Vorsicht ist es unmöglich, mit einiger Klarheit oder Ordnung bezüglich einer Erkenntnis zu verhandeln; da sich dieselbe um Sätze, und zwar meistenteils allgemeine, dreht, so hat sie eine größere Verbindung mit den Wörtern, als vielleicht vermutet wird.

Nicht überall jedoch beachtet man dies in gebührender Weise; stellenweise macht man von den Wörter nicht den rechten, sondern einen schlechten Gebrauch. Von diesem Mißbrauch handelt eigens das zehnte Kapitel des dritten Buches. Der erste und handgreiflichste Mißbrauch sind diesem zufolge Wörter ohne irgendwelche oder ohne klare Vorstellungen, dann weiter eine unbeständige, schwankende Verwendung derselben, gesuchte Dunkelheit bei richtiger Verwendung. Das Letztere ist dann der Fall, wenn man althergebrachte Wörter in neuen ungebräuchlichen Bedeutungen verwendet oder aber neue und zweideutige Ausdrücke einführt, entweder ohne eine nähere Bestimmung oder sonst in einem Zusammenhang, daß ihr gewöhnlicher Sinn verwischt wird. Die peripatetische Philosophie allerdings hat sich am meisten auf diese Weise hervorgetan, jedoch sind andere Schulen nicht völlig frei davon geblieben. Daher gibt es kaum einige unter ihnen, welche nicht mehr oder weniger mit Schwierigkeiten belastet sind. Diese freilich sind sie bemüht gewesen, durch Dunkelheit und Zweideutigkeit der Ausdrücke zu verdecken; ein solches Verfahren, gleichsam ein Nebel vor den Augen der Menge, mag wohl verhindern, daß die schwachen Seiten entdeckt werden. Einem solchen Mißbrauch, die Bedeutung der Wörter zu vermengen, haben Logik und die freien Wissenschaften, wie sie in den Schulen behandelt worden sind, Ehre und Ansehen verliehen; die bewunderte Disputierkunst hat der natürlichen Unvollkommenheit der Sprachen ihrerseits viel hinzugefügt; es ist davon mehr Gebrauch gemacht worden, die Bedeutung der Wörter zu verwirren, als um die Kenntnis und das wahre Sein der Dinge aufzudecken. Wer in eine derartige Sorte gelehrter Schriften hineinschaut, wird finden, daß die Wörter dort bei weitem dunkler, unzuverlässiger und unbestimmter als in der gewöhnlichen Umgangssprache sind.

Eine solche Geschicklichkeit im Disputieren, im Grunde genommen völlig nutzlos und das gerade Gegenstück zur richtigen Weise des Erkennens, ist bisher unter den löblichen und geachteten Namen Tiefsinn und Scharfsinn durchgegangen, hat den Beifall der Schulen und die Aufmunterung eines Teiles der gelehrten Welt besessen. Kein Wunder! denn die Philosophen des Althergebrachten, die disputier- und streitsüchtigen Philosophen, solche, wie sie LUKIAN witzig und zutreffend schildert, und die Schulmänner fanden, indem sie nach Ruhm und Ansehen um ihrer großen und allumfassenden Kenntnis halber, die sich freilich einen großen Teil leichter vorgeben als wirklich erwerben läßt, trachteten, - sie fanden darin ein gutes Auskunftsmittel, ihr Nichtwissen durch ein absonderliches und unlösliches Gewebe von Wortwirrwarr zu verdecken und sich selbst die Bewunderung anderer durch unbegreifliche Ausdrücke zu verschaffen. Und doch zeigt sich auf jeder Seite der Geschichte, daß diese tiefsinnigen Doktoren nicht weiser, noch auch nützlicher, als ihre Nachbarn waren, sondern herzlich wenig Vorteil für das menschliche Leben oder die menschlichen Gesellschaften, in denen sie lebten, brachten; es sei denn der Vorteil, daß sie neue Wörter bildeten, wo sie neue Dinge, um diesen jene zuzuweisen, nicht hervorbrachten, oder daß sie die Bedeutung der althergebrachten verwirrten, bwz. verdunkelten und auf diese Weise alle Dinge in Frage stellten, ein Verfahren sicherlich, welches für das Menschenleben nutzbringend oder der Empfehlung und Belohnung wert erscheint!

In Wahrheit freilich nützt diese Art Gelehrsamekti der Gesellschaft herzlich wenig; denn ungeachtet dieser gelehrten Disputanten, dieser allwissenden Doktoren verdankten gerade dem nicht schulmäßig gebildeten Staatsmann die Regierungen der Welt ihren Frieden, ihren Schutz und ihre Freiheiten; und von der literaturunkundigen und verachteten Mechanik (ein Name der Ungunst) empfinden sie die Fortschritt der nützlichen Künste. Nichtsdestoweniger behauptete so ein  gekünsteltes Nichtwissen  und  gelehrtes Geschwätz  in diesen letzten Zeitaltern einen mächtigen Vorrang.

Jenes gekünstelte Nichtwissen und dieses gelehrte Geschwätz ist eine Eigentümlichkeit derjenigen, welche keinen Weg zum Gipfel des Ansehens und der Herrschaft, welche sie erlangt, leichter fanden, als den, die geschäftigen und unwissenden Menschen mit schwer verständlichen Worten zu belustigen oder die geistvollen und mußereichen in unentwirrbare Erörterungen über unbegreifliche Ausdrücke zu verwickeln und sie beständig in diesem endlosen Labyrinth eingeschlossen zu halten.

Aus dem Gesagten ergibt sich gleichzeitig, daß dieses kunstvolle Nichtwissen im wesentlich dasselbe wie der zweite Ausdruck gelehrtes Geschwätz, bedeutet. Beide Ausdrücke werden sodann weiterhin mit noch einem dritten und vierten Synonym gebraucht; denn der folgende Paragraph beginnt so: Solches  gelehrtes Nichtwissen  und  diese Kunst,  sogar forschungsbegierige Menschen von  der  wahren Erkenntnis fern zu halten, ist in der Welt weit ausgebreitet worden. Das gelehrte Nichtwissen ist demzufolge nichts weiter, als die Kunst, die Wahrheitsfreunde ingesamt, die beschränkten wie die talentvollen und die mußereichen so gut wie die viel beschäftigten, vom richtigen Weg zum wahren Erkennen abzulenken, ist ebenso, wie das früher genannte gekünstelte Nichtwisen und gelehrte Geschwätz, die charakteristische Eigentümlichkeit der Philosophen des Althergebrachten, der disputier- und streitsüchtigen Philosophen, der pedantischen Schulphilosophaster.

LOCKE selbst, schulmäßig ebensowenig dressiert, wie BACON von VERULAM, der Staatsmann, welcher so viel Nutzen und Frommen der menschlichen Gesellschaft getan hat, will für seine Person von einem gelehrten Nichtwissen durchaus nichts wissen und doch steht er augenscheinlich in der hier einzig behandelten Frage nach der Tragweite unseres Erkennens ganz auf demselben Standpunkt, wie jene Denker, welche gegenüber den Wortwissern ihren eigenen Standpunkt durch "docta ignorantia" bezeichneten, wie ein GASSENDI in Frankreich und vor diesem noch ein CUSANUS in Deutschland.


Schlußwort

Eine seltsame Umbildung hat der Begriff "docta ignorantia" im Verlauf eines Jahrtausends durchmachen müssen. Zuerst bezeichnet er die höchste Stufe menschlichen Erkennens, zuletzt die denkbar größte Verirrung desselben; für das christliche Altertum und Mittelalter ist "docta ignorantia" ein ganz außergewöhnliches Gnadengeschenkt GOttes, für die Neuzeit das Ergebnis eines eigenen, vorwiegend höchst ehrenwerten Ringens. "Docta ignorantia" ist, ganz allgemein ausgedrückt, gelehrtes Nichtwissen, aber in einem sehr verschiedenen Sinn; um mich eines kleinen, aber doch wohl leicht verständlichen Wortspiels zur Bezeichnung dieser Verschiedenheit zu bedienen, möchte ich mich so ausdrücken: Bei AUGUSTINUS, BONAVENTURA und den geistesverwandten Mystikern bezeichnet "docta ignorantia" ein Wissen  verleugnendes,  bei CUSANUS und GASSENDI ein Wissen  leugnendes  und schließlich bei LOCKE ein  Wissen  heuchelndes Nichtwissen. Diese verschiedenen Deutungen des einen Ausdrucks aber stehen trotz ihrer Verschiedenheit nachweislich nicht unvermittelt nebeneinander, und ein solcher Nachweis läßt uns eine bisher nicht geahnte Beziehung zwischen den behandelten Autoren ahnen. Hierin liegt schließlich der  allgemeine  Wert solcher Spezialuntersuchungen.
LITERATUR Johann Uebinger - Der Begriff der docta ignorantia in seiner geschichtlichen Entwicklung, Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. VIII, Neue Folge, Bd. 1, Würzburg 1895