ra-2HegelL. BrentanoF. CuhelA. Döring    
 
OSKAR KRAUS
(1872-1942)
Das Bedürfnis
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"Ribot,  der mit Recht jene psychologische Richtung bekämpft, die  alles  durch innere Selbstbeobachtung ergründen will, verfällt selbst in den entgegengesetzten Fehler: statt den physiologischen Mechanismus  mit  zur Erklärung heranzuziehen, versucht er alles physiologisch zu erklären. Leider ohne das zu Erklärende selbst richtig zu erfassen. Ich konstatiere nur, daß er in dem Bewußtsein, die ansich  unwesentliche Begleiterscheinung  eines Nervenprozesses sieht, daß er lehrt, innerlich und psychologisch sei das rein logische Urteil vom Willensakt  in nichts verschieden - höchstens darin, daß der letztere durch eine Handlung zur Ausdruck kommt und somit ein zur Ausführung gebrachtes Urteil ist.


II.
Güter und Nutzleistungen

Die Mittel zur Bedürfnisbefriedigung

§ 33.

Die Verwirrung und Unklarheit bezüglich des Gutsbegriffes ist erst durch die Forscher der österreichischen Schule zum großen Teil behoben worden.

Die namhaftesten Werke sind im Artikel "Gut" von WIESER im Handwörterbuch der Staatswissenschaften angeführt; daselbst sind auch die gegenwärtigen Ansichten über diese Frage zusammengefaßt.

Auf ethischem Gebiet hat FRANZ BRENTANO in seinem "Ursprung sittlicher Erkenntnis" die Frage: was ist ein Gut im Sinne der Ethik? in endgültiger Weise vollauf gelöst. Bezüglich der Frage: was ist ein Gut im Sinne der Wirtschaftslehre? haben MENGER und BÖHM-BAWERK etwas ähnliches geleistet. Ersterer indem er in seinen "Grundsätzen" das erste Mal präzise sagt, unter welchen Bedingungen ein Ding zum Gut wird, der andern, indem er in seinen "Rechten und Verhältnissen" lehrt, welche Dinge prinzipiell vom Gutsbegriff auszuschließen sind. Der Gutsbegriff galt die längste Zeit als Grundbegriff der Wirtschaftslehre. Erst in neuester Zeit hat man ihn auf dem Begriff des Bedürfnisses aufzubauen empfohlen; so namentlich WIESER; ich werde seine Weisung befolgend den Begriff des Gutes aus dem Begriff des Bedürfnisses entwickeln; auch hier werde ich dem Bedürfnis nach einer scharfumgrenzten wissenschaftlichen Terminologie in erster Linie Rechnung tragend, mich nach Möglichkeit innerhalb des Sprachgebrauchs halten.

Die Frage ist: Soll die gegenwärtige Fassung des Gutsbegriffes unverändert beibehalten werden? Welcher Gesichtspunkt soll bei einer Klassifikation der Güter der vorzüglich maßgebende sein?


§ 34.

Ein effektives Bedürfnis - wissen wir - ist jeder Wille gerichtet auf Verwirklichung eines Gewünschten.

Im Werden des Gewünschten besteht die Bedürfnisbefriedigung.

Ein Mittel zur Bedürfnisbefriedigung ist offenbar das, wodurch das Geliebte gewirkt wird.

Das Geliebte wird gewirkt, durch das von einem Ding ausgehende Wirken. Zum Beispiel Sättigung wird gewirkt durch das von der Nahrung ausgehende Wirken; Belehrung wird gewirkt durch das vom Lehrenden ausgehende Wirken.

Jedes Wirken geht von einem Ding aus, das die Fähigkeit hat, unter bestimmten Umständen auf eine bestimmte Art zu wirken.

Ein solches Ding ist Bedürfnisbefriedigungsmittel der Möglichkeit nach z. B. das Brot - es wirkt die Sättigung nur, wenn es gegessen wird; der Lehrende - er wirkt Belehrung nur, wenn man ihn hört.

ARISTOTELES würde ein solches Ding Bedürfnisbefriedigungsmittel  dynamei  nennen. Das Wirken des Dinges (oder das wirkende Ding) ist Bedürfnisbefriedigungsmittel der Wirklichkeit nach -  entelechia  oder  energeia,  würde Aristoteles sagen.


§ 35.

Die Nationalökonomen haben unter Gut nie etwas anderes als "Bedürfnisbefriedigungsmittel" verstanden. Dagegen haben sie nicht immer jedes "Befriedigungsmittel" ein "Gut" genannt. Was lehrt uns der Sprachgebrauch?

Als Güter gelten ihm "Sachen", d. h. unbeseelte, unpersönliche Wesenheiten: Mineralien, Pflanzen, Tierfelle, Kunstprodukte usw. usw., aber auch beseelte, persönliche Wesen, wie Haustiere, Vieh und Wild - selbst der Mensch ist in Sklavenstaaten ein Gut wie jedes andere. Andererseits pflegt man z. B. das Wirken einer Lokomotive, die uns befördert, eines Pferdes, das unseren Wagen zieht, das Wirken der Nahrung wohl selten ein Gut zu nennen; mitunter geschieht es allerdings, daß auch z. B. die menschliche Arbeit ein Gut genannt wird.

Wofür sollen wir uns entscheiden? Ein Blick auf die wirtschaftliche Natur des Menschen wird uns darüber belehren. Wie sorgt der Mensch für seine Zukunft? Indem er sich die Möglichkeit fortgesetzter Bedürfnisbefriedigung sichert. Zu diesem Zweck erlangt und bewahrt er Dinge, die ihm diese Möglichkeit gewähren.

Denn wer den Zweck will, muß die Mittel wollen; die Bedürfnisbefriedigung ist gesichert, wenn das Mittel zur Bedürfnisbefriedigung gesichert ist. Solcher Mittel aber gibt es zwei Arten  dynamei  und  energeia.  Man sichert sich das Werden des Gewünschten, indem man sich die Kräfte des Gewirktwerdens sichert, d. h. das Mittel  dynamei.  Einen Menschen, der für die Befriedigung einer großen Anzahl mannigfacher Bedürfnisse die Möglichkeit, die Mittel, das Vermögen besitzt, einen solchen Menschen nennen wir  vermögend, bemittelt  oder  begütert.  Die Bedürfnisbefriedigungsmittel  dynamei  wird man treffend als "Güter" bezeichnen.


§ 36.

Nur solche Dinge nennen wir "Güter", die wirken können - also nur reale Dinge, Realitäten. Denn nur diese haben das Vermögen, unter bestimmten Umständen auf bestimmte Art zu wirken. Daher ist von vornherein auszuscheiden: jeder Mangel, jede Bloße Möglichkeit, daher auch jede Fähigkeit und Kraft, als bloßes Vermögen zu wirken; ferner alle Beziehungen von nicht realem untereinander, z. B. die Beziehungen der mathematischen Wahrheiten; überhaupt jede Beziehung (Relation), durch welche zu dem Fundament - d. h. zu den Terminis, zwischen welchen die Relation besteht oder wird - nichts Reales hinzukommt, z. B. die Beziehungen der Ähnlichkeit, Gleichheit, Verschiedenheit, der Entfernung in Zeit und Raum, aber auch alle  Verhältnise des Rechts Denn dadurch, daß z. B. eine Sache zu mir in das Eigentumsverhältnis tritt, kommt weder zu  mir,  noch zur  Sache  eine reale Bestimmung hinzu. (Vgl. BÖHM-BAWERK, Rechte und Verhältnisse). (1)


§ 37.

Nur reale Dinge können die Gutsqualität erlangen; sie  können  Güter werden, aber sind nicht schon Güter. Damit sie es werden, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein, die sich analytisch aus der Betrachtung der Begriffe des Bedürfnisses und des Bedürfnisbefriedigungsmittels  dynamei  ergeben. MENGER hat vier Erfordernisse aufgestellt, BÖHM-BAWERK glaubte einen fünften Punkt hinzufügen zu müssen; seinen Zusatz habe ich unter die 4. Bedingung einbegriffen. Damit eine Realität ein Gut werde, muß vorhanden sein:
    1. Ein Bedürfnis, d. h. der Wille, gerichtet auf die Verwirklichung eines Gewünschten.

    2. Eine Realität, welche das Vermögen, die  dynamis  besitzt, das Gewünschte unter gewissen Bedingungen zu verwirklichen.

    3. Die Kenntnis dieser Realität, ihres Vermögens und der Bedingungen seitens des Bedürfenden.

    4. Die Macht des Bedürfenden, die gewissen Bedingungen an der betreffenden Realität herbeizuführen (Verfügungsmacht und Gebrauchskunst nach BÖHM-BAWERK).

§ 38.

Nur dann ist also eine Realität ein Gut, wenn alle diese vier Erfordernisse erfüllt sind, und  jede  Realität kann ein Gut werden, wenn diese Bedingungen zutreffen. So weit die menschliche Erfahrung reicht, gibt es zwei Gattungen fundamental verschiedener Realitäten:
    1. unbeseelte, physische, unpersönliche oder Sachen im eigentlichen Sinne.

    2. beseelte, psychische, persönliche oder Individuen im eigentlichen Sinne.
Die unpersönlichen Realitäten können nur zu unbeseelten Gütern werden. Die psychischen Realitäten, als solche, können nur zu beseelten Gütern werden. Wie der Nationalökonom den Psychologen um die Definition, Analyse und fundamentale Klassifikation der Bedürfnisse befragen muß, so muß er bei der Untersuchung des Gutsbegriffes nicht minder auf den Metaphysiker hören. Was speziell die Klassifikation anbelangt, so geben beide - der Psychologe wie der Metaphysiker -  den aus dem Wesen der Dinge fließenden Einteilungsgrund an.  Der Nationalökonom mag dann beliebig andere, den Interessen seiner Wissenschaft entsprechendere Gesichtspunkte wählen und andere Gruppierungen vornehmen, wenn er nur nicht hierbei eben gegen den wesentlichen Einteilungsgrund verstößt.

Zum Beispiel pflegen die Nationalökonomen auch die Tiere zu den Sachgütern zu zählen, eine Auffassung, die der Philosoph als solcher nicht teilen wird, die aber durch das Interesse der nationalökonomischen Disziplin gerechtfertigt sein mag; betrachtet ja auch der Jurist das Tier als  Rechtsobjekt  und in diesem Sinne als Sache, so darf auch der Nationalökonom, wenn er das Tier als Sachgut bezeichnet, darunter an das Tier als  Wirtschaftsobjekt  denken. Umso auffallender ist es aber, daß viele Nationalökonomen den Menschen  prinzipiell  aus den Güterlisten streichen wollen. Denn der Mensch ist ja auch heute noch nicht in allen Staaten Wirtschaftssubjekt, so wenig als er überall Rechtssubjekt ist (Sklavenstaaten). Andererseits darf ich daran erinnern, daß gewisse Tiere auch heute nicht überall Wirtschaftsobjekte sind (Indien). Die Wirtschaftslehre gilt doch nicht für europäische Kulturstaaten allein! -


§ 39.

Man beachte doch, daß ein Ding nur in dem Fall zum Gut wird, wenn die oben aufgezählten Erfordernisse erfüllt sind. Von den beseelten Wesen gilt das ja nicht weniger als von den leblosen: wenn kein Bedürfnis vorhanden ist, wenn das Lebewesen die Fähigkeiten und Kräfte nicht besitzt, deren Tätigkeit begehrt wird, wenn dem Bedürfenden die Bedingungen, unter denen die Betätigung eintritt, nicht bekannt sind, oder wenn er sie nicht herbeiführen kann, entsteht kein Gut.

Vorerst geschieht es aber sehr häufig, daß bei beseelten Wesen, Tieren und Menschen die letzte Bedingung nicht zutrifft: Der Bedürfende ist nämlich häufig nicht imstande, die gewissen Bedingungen, unter denen die Realität das Geliebte wirkt, herbeizuführen.

So bildet schon beim Tier und besonders beim Menschen der Wille des Subjekts eine unübersteigliche Grenze der Verfügungsmacht. Jeder Wille ist frei vom Zwang, d. h. niemand kann gezwungen werden das zu wollen, was er nicht will, auch der Hypnotisierte nicht. Sofern aber meine Bedürfnisbefriedigung davon abhängt, den fremden Willen meinem Willen dienstbar zu machen, sofern kann das erfolgreich widerstrebende Subjekt den Gutscharakter nicht erlangen.

Zweitens verhindern gegenüber dem Tier und besonders gegenüber dem Mitmenschen ethische Erwägungen häufig die uneingeschränkte Benutzung des fremden Subjekts.

Der Wunsch wird nicht zum Willen, und zwar nicht wegen der Unmöglichkeit der Verwirklichung des Gewünschten (siehe Anmerkung 11), sondern aus ethischen Beweggründen.

Insbesondere steht beim Menschen die Staatsgewalt dem fremden Willen häufig schützend zur Seite und verhindert den Bedürfenden in die Sphäre des fremden Willens auf eigenmächtige Weise einzugreifen. Daher kommt es, daß in Kulturstaaten der Mensch von Rechtswegen kein wirtschaftliches Gut werden soll und auch größtenteils nicht ist. Aber noch existieren Sklavenstaaten. Noch gibt es ein europäisches Sklavenleben, noch blüht auch in zivilisierten Staaten der Mädchenhandel. Noch gibt es Mörder, Räuber und kapitalistische Ausbeuter. Wenn der Mensch nicht wirtschaftliches Gut werden könnte, wozu dann Gesetze, die es verhindern sollen?

Daher gilt prinzipiell: Der Mensch  kann  wirtschaftliches Gut werden wie jede Realität, aber er wird es tatsächlich seltener in zivilisierten Staaten. Nur dann könnte man sagen: der Mensch wird prinzipiell niemals wirtschaftliches Gut, wenn eine Naturnotwendigkeit den Menschen unfähig machen würde, die Gutsqualität zu erlangen. Dies ist nicht der Fall. Nur bei Wesen, denen Sittlichkeit Naturnotwendigkeit wäre, wäre es ausnahmslos undenkbar, daß ein fühlendes Wesen als bloßes Mittel zum Zweck behandelt würde; und nur  ein  psychisches Wesen kann ich mir denken, bei welchem jede Möglichkeit a priori ausgeschlossen wäre, es fremden Wünschen dienstbar zu machen: dieses Wesen wäre Gott, wenn man darunter ein unendlich vollkommenes Wesen versteht; niemand könnte imstande sein die Bedingungen seines Wirkens herbeizuführen, weder durch Gebet, noch durch sonst eine Handlung.

Robinson  ist ein Liebling der Nationalökonomen; nun: warum hat er sich denn vor den Kannibalen gefürchtet? Er hätte doch ganz unbesorgt sein können im Bewußtsein, er könne prinzipiell kein wirtschaftliches Gut werden und könne daher nicht geschlachtet und gefressen werden?

Also kein Naturgesetz existiert, das den Menschen von der Gutsqualität ausschließen würde; wohl aber ein Sittengesetz, das verbietet, ihn als bloßes Mittel zum Zweck zu behandeln, möge dieser Zweck ein selbstischer oder ein idealer sein; aber die Gesetze der Moral, so hochstehend sie auch sind, sie bleiben Gebote, Gesetze im Sinne einer Norm, sie sind jedoch keine Gesetze im Sinne einer letzten Notwendigkeit.


§ 40.

Nur die Bedürfnisbefriedigungsmittel  dynamei  zählen wir zu den Gütern. Die Mittel  energeia - das vermittelnde Wirken schließen wir, obzwar es im eminenten Sinne real ist, von Gutsbegriffen aus und zwar aus  terminologischen Gründen. 

Wir entwerfen folgende

Tafel der Bedürfnisbefriedigungsmittel
(Wirtschaftsobjekte)

I.
Mittel der Möglichkeit nach (dynamei)

Güter
A. Beseelte oder persönliche Güter:
z. B. Tiere, Menschen
B. unbeseelte, unpersönliche oder Sachgüter: z. B. Mineralien, Pflanzen, Tier- oder Menschenleichen, bzw. Teil davon und Sachen im eigentlichen Sinn.


II.
Mittel der Wirklichkeit
nach (entelecheia oder energeia)


Leistungen (2)
A. Leistungen beseelter Wesen:
1. geistige Leistung; z. B. des Gelehrten, des Poeten.
2. physische ("mechanische") Arbeitsleistung; z. B. des Taglöhners.
[NB. Die physische Arbeit läßt sich in Wirklichkeit von der geistigen nicht zu trennen; die hier gegebene Einteilung richtet sich nach dem mehr oder minder.
3. physiologische Nutzleistung: z. B. der Kuh, die gemolken wird, der Amme, die säugt, des Schafes, das geschoren wird.
B. Leistungen unbeseelter Wesen:
(z. B. des fließenden Wassers, der Maschine ("mechanische Arbeit")
[NB. Aber auch die Nutzleistung des Stuhles, auf dem wir sitzen, des verzehrten Brotes etc. Denn auch dies sind Leistungen unbeseelter Wesen, vermöge der ihnen innewohnenden Eigenschaften und Kräfte (vgl. Böhm-Bawerk).]

§ 41.

Zu den "geistigen Leistungen" können alle psychischen Tätigkeiten gehören. Wenn einer ein Bedürfnis nach Erkenntnis hat, so kann er es befriedigen vorerst durch eigenes Nachdenken; dann ist dieses das Mittel und der Erkenntnisakt das Begehrte; er kann aber auch einem anderen das Nachdenken überlassen; dann wird der Erkenntnisakt des anderen Bedürfnisbefriedigungsmittel für den einen, allerdings nicht der Erkenntnisakt allein, sondern auch äußere Willenshandlungen (z. B. Sprechen, Schreiben), die ihn vermitteln. Gehört auch der Wille selbst hierher? Zweifellos. Wenn eines anderen Handlung mein Bedürfnis befriedigt, so muß diese Handlung eben vom anderen gewollt sein. Die Befriedigung des Lernbedürfnisses des Schülers ist dem Lehrer Ziel seines Lehrbedürfnisses. Wir kommen demnach zu dem Resultat: "auch mein Wille ist ein Bedürfnisbefriedigungsmittel, d. h. also:  mein Bedürfnis ist zugleich das Mittel seiner Befriedigung."  Das ist nur scheinbar paradox; in der Tat verhält es sich so. Es offenbart sich eben eine wunderbare Teleologie in der Tatsache, daß der Wille schon den Keim seiner Befriedigung in sich trägt. In § 11 habe ich dies bereits angedeutet. Nur habe ich dort den eigenen Willen nicht "Mittel" genannt; aus terminologischen Gründen einerseits; andererseits, um den Leser nicht zu verwirren.


§ 42.

Ich komme nun auf den eingangs erwähnten Begriff des Mangels zurück; bei jedem Bedürfnis ist ein Mangel vorhanden.

1. mangelt das Gewünschte. In  meiner  Definition ist  dieser  Begriff des Mangels eingeschlossen. Man kann ihn auch ausdrücklich einbeziehen: "Jeder Wille, gerichtet auf Verwirklichung eines  mangelnden  Geliebten ist ein Bedürfnis", ohne daß der Sinn der Definition geändert wird. Dies steht nur in einem scheinbaren Widerspruch zu dem oben Gesagten. Denn HERMANN hat an den Begriff des Mangels, wie ich ihn hier fasse, nicht gedacht. Seine Definition ist, wie SAX sagt, "nur eine Ahnung des wahren Sachverhalts." Nun verstehen wir auch, was SAX meinen kann , wenn er fortfährt: "Es frägt sich ja erst, was denn ein Mangel sein soll und worin der konkrete Mangel besteht? Eben im  Vorhandensein eines unbefriedigten bedürfnisses."  Was heißt das? Es kann nur folgenden Sinn haben: Nichvorhandensein eines Gewünschten = Mangel des Gewünschten; darin besteht der konkrete Mangel.

2. Aber noch ein anderer Mangel liegt regelmäßig vor: es mangelt eine Veränderung, Wirkung, durch welche das Geliebte bewirkt wird. Daß der Bedürfende  diesen  Mangel  nicht kennen  muß, ist ebenso klar, wie daß ein solcher Mangel stets  vorhanden  sein muß und er ihn kennen  kann;  selbstverständlich ist diese Kenntnis vorteilhaft. Dieser Mangel des Bedürfnisbefriedigungsmittels  energeia  ist es, an den HERMANN und andere vorzugsweise gedacht haben.

3. mangelt meist das Befriedigungsmittel  dynamei;  aus diesen Mangel hat HERMANN im Auge gehabt.


Noch einige Worte über zwei den "Willen" behandelnde Monographien.

G. H. SCHNEIDER hat seinem oben zitierten Werk "Der tierische Wille" einen "menschlichen" folgen lassen. Gleichzeitig erschien RIBOTs "Les maladies de la volonté" (Der Wille, deutsch nach der 8. Auflage des Originals von PAPST, Berlin 1893).

Ohne mir über die Bedeutung der physiologischen Seite des letztgenannten Werkes ein Urteil anmaßen zu wollen, kann ich nicht umhin, die psychologischen Ergebnisse als durchaus verfehlt zu bezeichnen. Der Verfasser, der mit Recht jene psychologische Richtung bekämpft, "die  Alles  durch innere Selbstbeobachtung ergründen will", verfällt selbst in den entgegengesetzten Fehler: statt den physiologischen Mechanismus  mit  zur Erklärung heranzuziehen, versucht er  Alles  physiologisch zu erklären. Leider ohne das zu Erklärende selbst richtig zu erfassen. Ich konstatiere nur, daß er in dem Bewußtsein, "die ansich  unwesentliche Begleiterscheinung  eines Nervenprozesses" sieht, daß er lehrt, "innerlich und psychologisch" sei das "rein logische Urteil vom Willensakt  in nichts verschieden  - höchstens darin, daß der letztere durch eine Handlung zur Ausdruck kommt und somit ein zur Ausführung gebrachtes Urteil ist."

Die Absurdität erreicht den Gipfel in der Behauptung, bei gewissen Kranken, sei der  brennende Wunsch zum Handeln, den sie zu hegen glauben  nichts als eine Wahnvorstellung ihres Bewußtseins - eine Jllusion. Im Folgenden bezeichnet er den Willen als das Werk eines glücklichen Zufalls, und sagt uns im Resumé, der Wille bringe selbst nicht die geringste Wirkung hervor: das "Ich will" konstatiere eine Sachlage, aber es schaffe keine solche - der Wille bewirke in keiner Weise eine Handlung.

Beachtenswerter ist die Arbeit SCHNEIDERs, obgleich auch diese in vielen Punkten, leider in prinzipiellen, der Kritik nicht standhält. Eine solche zu liefern ist hier nicht der Ort; implizit ist sie im Text mitenthalten; der psychologisch-deskriptiven Seite der Frage, welcher SCHNEIDER kaum in einem höheren Maß gerecht wurde als RIBOT, ist ja meine Abhandlung vorzüglich zugewandt, auch ausdrücklich nahm ich auf SCHNEIDER Bezug; die unerhörte Erweiterung des Instinktbegriffs erwähnte ich schon.

Er nennt den "instinktiven Trieb" - "Wille im weiteren Sinn", den "zweckbewußten Trieb" - "Wille im engeren Sinne". Außerdem nennt er das "Wollen aufgrund einer zweckbewußten Wahl" - ein "Wollen im engsten Sinne". -

Die  Definition  bezeichnet MAX MÜLLER als die einzige Medizin, die man der Wissenschaft verordnen kann; was für ein gewissenloser Arzt wäre da SCHNEIDER! Er verwässert die Arznei auf ungebührliche Weise. Die Prägung solider Begriffe ist eine der nächsten und wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft; aber die terminologische Valutaregulierung wird stets von neuem zu Schanden gemacht, wenn ausgeprägte Termini willkürlich eingeschmolzen werden zu gestaltlosen Schlacken. "Instinkt" und "Wille" sind fundamental verschieden und nie füreinander eingesetzt worden. Gelegentlich bei der Besprechung von SCHOPENHAUERs Willensbegriffs sagt ebenderselbe SCHNEIDER Seite 109 eben desselben Buches: "Dieser spekulativen Ausdehnung des Willensbegriffs kann ich mich nicht anschließen, weil derselben der Sprachgebrauch entgegensteht." Gegenwärtig hat dieser Willensbegriff auch nur noch wenig Anhänger.

SCHNEIDER braucht nur, seiner Neigung folgend, diesen Satz auf seinen eigenen Willensbegriff  auszudehnen  und er hat mir aus der Seele gesprochen. Denn auch sonst dehnt er, ein moderner  Prokrustes,  die armen Begriffe mit Vorliebt über ihr normales Maß hinaus. So z. B. den  Reflexbegriff;  doch überlasse ich das Amt des  Theseus  in diesem Fall den Physiologen. Ich will mich nur noch bemühen, den  Zweckbegriff  zu retten. SCHNEIDER argumentiert nämlich folgendermaßen (III. und XI. Kapitel seines menschlichen Willens): - Nach dem bisher allgemein angewendeten Zweckbegrif ist ein Zweck durch ein zwecksetzendes Wesen bedingt. In der Natur spricht man von Zweckmäßigkeit und Zweck. Als zwecksetzendes Wesen ist bisher stets die Gottheit betrachtet worden. Die (sogenannte) "neuere Philosophie" will nichts von Gott wissen.

Daher muß sie entweder von Zweck nur bei zweckbewußten Handlungen zwecksetzender Wesen sprechen, von denen sie etwas weiß ("Tiere und Menschen") oder wenn sie in der Natur überhaupt von Zweck reden will (z. B. von der Zweckmäßigkeit der vegetabilischen Organisation), so darf sie nicht mehr "mit dem alten Zweckbegriff operieren". Ohne den Zweckbegriff kommt man aber in der Naturwissenschaft nicht aus; daher muß man den alten Zweckbegriff ein bißchen  ausdehnen;  und zwar so lange, bis ihn niemand mehr erkennt. Das ist ganz einfacht: "man muß den Zweckbegriff so verändern, daß man nicht mehr die  vorgestellte,  beabsichtigte Enderscheinung, sondern die Enderscheinung einer kausalen Erscheinungsreihe  überhaupt  als Zweck betrachtet" (a. a. O., Seite 33); "... und so betrachtet man jetzt, besonders seit DARWIN, allgemeiner jede Enderscheinung einer kausalen Erscheinungsreihe als Zweck."

Ist denn auch eine solche Begriffsveränderung in der Philosophie berücksichtigt, und kann dieser neuere Zweckbegriff in die Philosophie aufgenommen werden?"

Diese Frage wirft SCHNEIDER auf, um sie mit Zuversicht so zu beantworten: "Ganz gewiß; denn einmal entspricht derselbe ganz und gar dem allgemeineren Gebrauch des Wortes zweckmäßig, und dann ist die Enderscheinung der unbewußten Tätigkeiten ganz dieselbe, als wie die der zweckbewußten Handlungen, in beiden Fällen ist das Ziel der letzte Zweck die Arterhaltung." - Wie? Es ist allgemeinerer Sprachgebrauch, jeden Erfolg "Zweck" zu nennen? Wenn einer durch das Herabfallen eines Steines schwer verletzt ist, so sagt er meist: "das Herabfallen des Steines hat den Zweck gehabt, mich zu verletzen"? - In den zweckbewußten Handlungen  bezweckt  das Individuum die Arterhaltung? Beim Essen bezweckt z. B. das Kind nicht seinen Hunger zu stillen, sondern die Art zu erhalten? Oder ist nicht richtiger die Arterhaltung ein von ihm gar nicht gewollter Erfolg? Der nur dann Ziel oder Zweck ist, wenn ein anderes Wesen die Arterhaltung durch sein Gesättigtwerden mitbezweckt?

Der Leser möge entschuldigen, daß ich mich so lange bei dieser handgreiflichen und plumpen Begriffsverfälschung aufgehalten habe; ich tat es, weil sie typisch ist für eine ganze Gattung moderner "Philosophen", und um zu zeigen, bis zu welchem Grad erstaunlichster Verblendung die (von KARL ERNST von BAER so genannte) Teleophobie einen sonst normalen Menschen führen kann.

Die Distinktion ist doch so einfach: Entweder ist z. B. der wunderbare Befruchtungsapparat der  Orchis pyramidalis,  der Instinkt der Biene oder des Säuglings, das menschliche Auge oder Gehirn usw.  wirklich zweckmäßig  oder nicht.

Ist er  wirklich zweckmäßig,  so heißt das soviel, als er ist ein zweckmäßiges Mittel zu gewissen anderen Zwecken, also selbst bezweckt;  bezweckt = irgendwie  gewollt  von einer Intelligenz.

Ist er nicht wirklich zweckmäßig, nicht als solcher bezweckt, dann ist er nur  scheinbar zweckmäßig,  es erweckt den  Schein, als ob  dieser wunderbare Mechanismus zweckmäßig wäre, ist es aber nicht; vielmehr ist er bloß ein zufälliges Produkt blind waltender Naturgesetze; das Gebiet wirklicher Zwecke beginnt in diesem Fall bei den uns bekannten, zwecksetzenden, wollenden Wesen, d. h. zum Beispiel beim Menschen.

Mein Standpunkt gegenüber "der  darwinistischen  Ethik" SCHNEIDERs erhellt sich aus dem Text. Ich setze ihr und jeder anderen die  "Brentanosche Ethik"  entgegen. -

Schließlich - mit Übergehung mancher wesentlicher Punkte noch eine Bemerkung:

Im 20. Kapitel (der Ausdruck der Gemütsbewegung und die Sprache), Seite 482 heißt es: "Freilich bin ich mit  Wundt  der Ansicht, daß die beiden genannten Forscher  (Steinthal und Lazarus) ein zu einseitiges Gewicht auf die unwillkürliche Äußerung von Lautreflexen legen. Ich muß  Wundt  vollkommen zustimmen, wenn er meint, daß eine Scheidung der unwillkürlichen Sprachprozesse von der die Willkür voraussetzenden Gedankenmitteilung erforderlich ist."

Dies könnte den Schein erwecken, als sei die Opposition gegen den Nativismus, d. h. die Meinung von STEINTHAL, LAZARUS u. a., die Entstehung der Sprache lasse sich nur erklären durch die Annahme, daß beim Urmenschen durch die Anschauungen, die er empfing, völlig unwillkürlich und vermöge eines fertigangeborenen psychophysischen Mechanismus eine Anzahl onomatopoetischer (durch sich selbst verständlicher) Laute und Gebärden ("Sprachreflexe") ausgelöst wurden, als sei - sage ich - die Oppositioin gegen diese Lehre von WUNDT ausgegangen. Dem ist nicht so. In der ersten Auflage seiner physiologischen Psychologie läßt auch nicht das geringste Zeichen einen Widerspruch erkennen. Auf Seite 853 und 854 wird die Sprache ausdrücklich als Reflex der Apperzeption bezeichnet. Ein Jahr nach dem Erscheinen von WUNDTs Werk veröffentlichte ANTON MARTY seinen "Ursprung der Sprache". In vollem Gegensatz zum Nativismus, aber auch gewissen empiristischen Theorien widersprechend, führte MARTY den Ursprung der Sprache zurück auf das Verlangen nach Verständigung und die dadurch motivierten  absichtlichen  (aber  planlosen)  Bildung von anfangs nachahmenden Bezeichnungsmitteln.

Seitdem hat WUNDT zuerst in einer Besprechung von KUSSMAULs Buch "Störungen der Sprache" (1878), dann in der zweiten Auflage seiner physiologischen Psychologie (1880), insbesondere auch in den "Essays" (1885) Modifikationen seiner Ansicht vorgenommen, Modifikationen, die übrigens einander mitunter widersprechen und, reich an Halbheiten, sich von der durchsichtigen Klarheit und scharfen Präzisierung von MARTYs Theorien nicht gerade vorteilhaft unterscheiden. MARTY ist daher auch fernerhin im II, III bis VII. Artikel seiner Abhandlung "über Sprachreflex, Nativismus und absichtliche Sprachbildung" (in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie) den Ansichten WUNDTs entgegengetreten. Die Bezugnahme WUNDTs auf MARTYs Werk (Seite 439 der zweiten Auflage der physiologischen Psychologie) dürfte schließlich einem jeden zur Evidenz beweisen, daß WUNDT, sofern er überhaupt STEINTHAL und LAZARUS opponiert, durch MARTYs "Ursprung der Sprache" hierzu veranlaßt wurde. - SCHNEIDER aber erwähnt MARTYs Buch mit keiner Silbe.
LITERATUR Oskar Kraus, Das Bedürfnis - ein Beitrag zur beschreibenden Psychologie, Leipzig 1894
    Anmerkungen
    1) Mit BÖHM-BAWERK nenne ich  nur  Realitäten "Güter". Dabei bin ich mir wohl bewußt vom Sprachgebrauch insofern abzuweichen, als ich den Begriff enger fasse, wie ich ja auch beim Bedürfnisbegriff nicht anders vorgehen konnte. Eine präzise Terminologie ist oft nicht auf anderem Weg zu erreichen. - Von "Gütern" spricht man nicht selten auch dort, wo man nicht Realitäten, sondern nur gewisse nicht reale Bedingungen im Auge hat, unter denen allein ein gewisses Wirken möglich ist; insbesondere rechtliche Verhältnisse rechnet man im gewöhnlichen Sprachgebrauch aus diesem Grund zu den "Gütern" oder "Nützlichkeiten". Das Besitzverhältnis, in dem ich zu einer Sache stehe, ist die Bedingung die ermöglicht, daß ich durch die Sache gewisse Wirkungen ausübe. Doch diese Bedingung, die mitunter selbst ein "Gut" genannt wird, nenne ich nicht ein "Gut", sondern eben nur Bedingung für das "Gutsein" einer Realität. - Dasselbe gilt von den Fähigkeiten und Kräften, wie sich aus § 38 erhellt.
    2) Die menschliche Arbeit ist demnach kein "Gut" zu nennen, nicht "weil sie ein persönliches Ereignis ist, dem gegenüber auch das Gefühl seine Rechte und Pflichten hat", sondern aus anderen Gründen, worunter das Bedürfnis eines guten, wissenschaftlichen Sprachgebrauchs der vorzüglichste ist; auch WIESER ist durch diese Erwägung dazu bestimmt worden, die Arbeit aus der Güterlist zu streichen. - Ich bemerke in Bezug auf BÖHM-BAWERK (Rechte und Verhältnisse, Seite 21): "Der Seelenfrieden" ist kein Gut, aber nicht deshalb weil er immer Selbstzweck ist, denn für einen andern braucht fremder Seelenfrieden durchaus nicht Selbstzweck zu sein - er kann Mittel zu anderen - z. B. egoistischen Zwecken sein (Mittel  energeia).  Dasselbe gilt von "Tugend, Glück, Zufriedenheit". Ferner ebd. Seite 28: "Amusement" ist nicht deshalb kein Gut, weil es der "Zustand erfüllter Befriedigung" ist, sondern weil es ein Zustand seelischer Betätigung ist, also nur zu einem Mittel  entelechia  werden kann. Schließlich a. a. O. Seite 31 heißte es: "Ebenso werden zu nützlichen Leistungen, die man sich oder anderen darbietet, befähigenden, persönlichen Eigenschaften, Geschicklichkeit, Talente, Kräfte, Gewandtheit etc. als entbehrlich, weil neben der Aufzählung der Leistungen selbst pleonastisch [unnötige Verdopplung - wp] erscheinen." Wir wissen, alle diese Dinge sind niemals Güter, weil sie nicht real sind. Sie sind bloße Dispositionen, Möglichkeiten; es gilt dasselbe von ihnen, wie von den Rechten und Verhältnissen.