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Studien zur Erkenntnistheorie [Rickerts Lehre über die logische Struktur der Naturwissenschaft und Geschichte.] [ 8 / 8 ]
Zweites Kapitel Kritik der Rickertschen Lehre [Fortsetung 2] § 7. Unzweifelhaft hatte RIEHL also recht mit der Behauptung, daß es unmöglich ist, die Wertung gegen die Beziehung auf einen Wert abzugrenzen. Die RICKERTsche Theorie in ihrem vollen Umfang setzt eine bestimmte Bewertung voraus, die sie allen Menschen, oder richtiger gesprochen: dem erkenntnistheoretischen Subjekt a priori beilegt. Eigentlich ist das Beziehen auf einen Wert ein Korrelat des erkenntnistheoretischen Subjekts, denn in ihm sind dieselben zwei widersprechenden Merkmale vereinigt, die, wie schon darauf hingewiesen, dem letzteren eigen sind. Es sind dies die Subjektivität und die Objektivität, das Individuelle und das Überindividuelle. Wäre eine solche Vereinigung möglich, so würde RICKERTs Theorie nahe an die Wahrheit herankommen. Leider ist aber das Gesetz des Widerspruchs vorläufig noch nicht widerlegt, obwohl die Geschichte der Philosophie bedeutende Denker zu verzeichnen hat, die dieses Gesetz nicht anerkennen, wie z. B. HEGEL und EPIKUR. RICKERT selbst gehört nicht zu denjenigen, die dieses Gesetz in Abrede stellen, so daß er dieser möglichen Rechtfertigung beraubt ist. Vielleicht läßt sich dadurch jene seltsame und auf den ersten Blick unverständliche Tatsache erklären, warum RICKERT in seinen Büchern und Aufsätzen der Beweisführung der Richtigkeit seiner Grundsätze verhältnismäßig so wenig Aufmerksamkeit schenkt, dagegen sich sehr viel um die Details bemüht. Ich habe im ersten Teil meiner Arbeit seine Argumentation absichtlich sehr eingehend und möglichst getreu dem Original wiedergegeben. Vielleicht ist dem aufmerksamen Leser schon jetzt das Mißverhältnis zwischen den von RICKERT angewandten Kräften und Mitteln und dem Zweck, den er zu erreichen sucht, aufgefallen. Man sieht sich sogar berechtigt, zu sagen, daß RICKERT oft Dinge beweist, die eigentlich kaum von jemandem bestritten werden, daß er sozusagen offene Türen stürmt und in Fällen schweigt, in denen eine Zurückhaltung wenig angebracht ist. Der entscheidende Punkt im gegebenen Fall ist der, ob es möglich ist, die Objektivität der Wissenschaft im allgemeinen und die Objektivität der Geschichtswissenschaften im Besonderen zu beweisen. RICKERT aber legt in seinen Ausführungen den Schwerpunkt auf die Frage, ob ein Interesse für die individuelle Wirklichkeit bei uns vorhanden ist. Das unterliegt doch keinem Zweifel: Beweise dafür liefern nicht nur die Geschichte, sondern auch die Werke der Kunst und besonders die der Literatur. RICKERT sollte eigentlich, wie SIMMEL, zum Vergleich mit der Geschichte nicht die Naturwissenschaften, sondern die Literatur heranziehen und zeigen, warum diese letztere ins Gebiet der Kunst, die Geschichte aber ins Gebiet der Wissenschaft gehört. Denn unzweifelhaft sind alle RICKERTschen Erwägungen, die die Gesetzmäßigkeit unseres Interesses am Individuellen betreffen (welches Interesse überhaupt höchstens von Pedanten bestritten wird), in vollem Umfang auf die Kunst, auf die Werke eines GOETHE, eines SCHILLER oder eines SHAKESPEARE anzuwenden. Beginnen wir mit dem Moment der Wertung. Selbstverständlich schildert ein Dichter nicht alles, was er sieht, sondern er wählt aus, indem er das Wesentliche vom Unwesentlichen sondert; können irgendwelche Exemplare oder Atome als solche die Aufmerksamkeit des Geschichtsschreibers nicht beanspruchen, so sind sie auch für den Künstler ohne Bedeutung. Der Künstler schildert nur das, was irgendein Interesse hat. Kurz: auch ihn beschäftigt das In-dividuum. Und alles, was RICKERT vom In-dividuum der Geschichte sagt, läßt sich auch auf das In-dividuum in der Kunst anwenden. Dieser Standpunkt wird, nebenbei bemerkt, vorzüglich von PLUTARCH in seiner Einführung in die Biographie des ALEXANDER von Mazedonien beleuchtet. Ebenso ist es über alle Zweifel erhaben, daß die Wirklichkeit, die in Kunstwerken geschildert wird, keineswegs ein bloßes Abbild der empirischen Wirklichkeit ist, sondern eine Widerspiegelung derselben im Bewußtsein des Künstlers. So daß man mit GEORG SIMMEL von Apriori in der Kunst mit dem gleichen Recht sprechen kann, wie von einem historischen Apriori. Und doch wird niemand behaupten, daß ein Drama, ja selbst ein geschichtliches Drama, ein wissenschaftliches Werk ist. Wirft man die Frage auf, warum SCHILLERs "Geschichte des dreißigjährigen Krieges" zu den wissenschaftlichen Werken gezählt werden darf, während "Wallensteins Lager" zweifellos als künstlerisches Werk beurteilt wird, oder warum dieselbe Gegenüberstellung für PUSCHKINs "Pugatschowschen Aufruhr" und seine "Hauptmannstochter" gilt, so erhalten wir in beiden Fällen die gleiche Antwort: die bekannten Worte des Historikers von RANKE nämlich, die SIMMEL und nach ihm RICKERT einer so strengen, erkenntnistheoretischen Kritik untwarfen. von RANKE sagt:
Nehmen wir ein grobes, aber auch ein einleuchtendes Beispiel: Es hätte uns ein Historiker erzählt, daß CÄSAR den BRUTUS getötet oder daß POMPEJUS den CÄSAR besiegt hat. Alle Ausschmückung der Details, alle großen Gedanken, die er in seine Erzählung hineinverflechten würde, die peinlichste Trennung des Wesentlichen vom Unwesentlichen würde sein Werk dann - vielleicht zu einem literarischen - doch niemals zu einem wissenschaftlichen Werk machen. Es hat RANKEs kurze, aber wesentliche Vorschrift übertreten: es hat nicht das, was geschehen ist, wiedergegeben. Dem entgegen könnte eine bloße Aufzählung der nackten Tatsachen, in der Wesentliches und Unwesentliches, Wichtiges und Unwichtiges ungetrennt nebneinander stehen, wissenschaftlichen Wert besitzen, wenn nur dabei alle Ereignisse so erzählt werden, wie sie sich tatsächlich ereignet haben. Obwohl selbst die gewissenhafteste geschichtliche Darstellung niemals ein genaues Spiegelbild der Wirklichkeit sein kann, so wird doch der wissenschaftliche Wert eines geschichtlichen Werkes zuerst durch seine Wahrhaftigkeit bestimmt. Die Wirklichkeit ist nicht in ihrem vollen Umfang aufgenommen. Aber das, was aufgenommen wurde, ist wirklich geschehen. § 8. Im vorigen Paragraphen haben wir zur Entscheidung der Frage, was die Geschichte zur Wissenschaft macht, an einem absichtlichen und groben Beispiel zu zeigen versucht, warum ein Historiker, der behauptet, daß CÄSAR den BRUTUS getötet hat, unwissenschaftlich verfährt. Obwohl es keinem Zweifel unterliegt, daß die Aufgabe der Wissenschaft im Allgemeinen und der Geschichtswissenschaft im Besonderen weit über die Grenzen der einfachen Konstatierung der Tatsachen hinausgeht, hat doch die Gewißheit und Unumstößlichkeit des Wissens als Grundprinzip der Wissenschaftlichkeit immer gegolten und wird auch nicht aufhören als solches zu gelten. Es ist gleich, ob es sich dabei um das Konstatieren einer einzigen Tatsache oder um die Erklärung einer komplizierten Erscheinung oder um die Schilderung einer ganzen Epoche handelt. Mit anderen Worten: das erkenntnistheoretische Problem (und in meiner ganzen Arbeit interessiert micht nur das) ist schon vollständig im einfachen Konstatieren einer Tatsache enthalten. Ein Historiker, der den Anspruch erhebt, ein Gelehrter zu sein, soll sich keine Behauptung gestatten, die ihrer logischen Konstruktion nach nicht auf das Konstatieren von Tatsachen zurückgeführt werden kann. Jedem Historiker sollen und werden stets neue, mit Recht so oft zitierten Worte LEOPOLD von RANKEs als Leitstern dienen (siehe oben). Die Aufgabe eines Historikers besteht hauptsächlich darin, die Ereignisse so zu schildern, wie sie tatsächlich geschehen sind, und sein Verfahren muß dasselbe bleiben, gleichviel ob er von CÄSARs Tod durch BRUTUS oder von den Kreuzzügen, oder von LUTHERs Kampf mit dem Papst spricht. RICKERT gibt das selbst einigermaßen zu und macht im "Gegenstand der Erkenntnis", wie wir wissen, selbst den Versuch, das grundsätzliche erkenntnistheoretische Problem im Problem der Konstatierung von Tatsachen zu finden. Anstatt vom Einfachen auf das Zusammengesetzte überzugehen, analysiert er leider zuerst das, was er als die letzte Aufgabe der Wissenschaft betrachtet, und versucht im Weiteren die von ihm gewonnenen Ergebnisse, zu ihrer Sicherstellung, auf den einfachsten Fall des wissenschaftlichen Wissens, auf das Konstatieren der Tatsachen anzuwenden. Ein Verfahren, das keineswegs als richtig betrachtet werden kann, denn alles spricht dafür, daß bei der Analse eines zusammengesetzten Vorgangs leicht eine falsche Folgerung entstehen kann, die man später auch den einfacheren Vorgängen gewaltsam anzupassen versucht sein wird. Vielmehr hat BERNHEIM recht, indem er sogar in einer der schwierigsten und letzten Aufgabe oder Funktionen des Historikers, in dem, was er "Kombination" nennt, doch nur eine Darstellung der Wirklichkeit erblickt:
Obwohl BERNHEIM mit RICKERT in mancher Beziehung einverstanden ist und ihn ziemlich oft zitiert, ist er aber weit davon entfernt, sich zu RICKERTs erkentnistheoretischen Übergriffen zu bekennen. Er ist, wie auch SIMMEL, der Wissenschaft doch so weit zugetan, daß er es nicht riskiert, ihr jener erkenntnistheoretischen Utopien wegen den im Laufe von Jahrhunderten gesicherten festen Boden zu entziehen, und ihr stattdessen problematische, metaphysische Grundlagen in Form eines transzendenten Sollens zu geben. Es ist wunderbar, sogar rätselhaft, daß der Skeptizismus, der so oft öffentlichen oder heimlichen Schutz bei den Philosophen findet, von den Vertretern der positiven Wissenschaften auf entschiedene Weise abgelehnt wird. BERNHEIM läßt kein einziges Wort darüber fallen, daß die Beziehung auf einen Wert als Grundprinzip der Konstruktion der Geschichtswissenschaften dienen soll. Er ignoriert einfach diesen Teil der Lehre RICKERTs ungeachtet dessen, daß RICKERT selbst in ihm das Wesentliche seiner Aufgabe sieht. BERNHEIM bekennt sich zur Lehre RICKERTs nur insofern, als diese im Streit liegt mit den Vertretern der sogenannten neueren Richtung, die aus der Geschichte alles Individuelle ausschließen und nur allgemeine Gesetze in ihr finden will. Mit anderen Worten: BERNHEIM verwirft alles Selbständige bei RICKERT; denn RICKERT wollte nicht Beweise erbringen für die Gesetzmäßigkeit des wissenschaftlichen Interesses am Individuellen (das haben vor ihm andere, auch BERNHEIM, getan): er wollte aufgrund der Möglichkeit eines Interesses am Individuellen, eine neue Theorie schaffen von der Mehrheit der wissenschaftlichen Methoden und von der absoluten Unmöglichkeit, die Wirklichkeit zu erkennen. Die ganze Bedeutung von RICKERTs Lehre von den Geschichts- und Naturwissenschaften hängt von seiner Erkenntnistheorie ab. Wie ich schon am Anfang meiner Untersuchung betont habe, bin ich der Ansicht, daß jene Lehre mit seiner Erkenntnistheorie steht und fällt. Meine Aufgabe ist nun zu erklären, inwiefern diese Lehre RICKERTs erkenntnistheoretischen Standpunkt rechtfertigt und inwiefern RICKERTs Erkenntnistheorie umgekehrt seine Lehre von den Geschichts- und Naturwissenschaften bestätigt. Das scheint mir auch RICKERTs Grundfrage zu sein. Und ich wiederhole hier, daß RICKERTs Erkenntnistheorie von keinem Vertreter der positiven Wissenschaft anerkannt werden kann. "Es ist eins der wesentlichen Merkmale aller Wissenschaft, daß sie gesichertes Wissen übermittelt", sagt BERNHEIM (53) und dem wird jeder Gelehrte beipflichten, sei er nun ein Historiker oder ein Naturforscher. Erblickt man aber in der Beziehung auf einen Wert das Grundprinzip der Konstruktion der Geschichtswissenschaften, so war die Geschichte nie eine Wissenschaft und wird auch niemals eine werden. Denn sie kann uns nicht jenes von BERNHEIM so oft genannte "gesicherte Wissen" verschaffen, das eigentlich das wesentliche Merkmal jeder Wissenschaft ist. So daß ich - im Gegensatz zu RICKERT - annehmen muß, daß die Geschichte nicht aus dem Grund eine Wissenschaft sein kann, weil sie bei der Auswahl des von ihr zu bearbeitenden Materials aus der Wirklichkeit von der Beziehung auf einen Wert ausgeht. Trotz dieser unumgänglichen Wertung, ist sie eine Wissenschaft. Mit anderen Worten: die wissenschaftliche Bedeutung der Geschichte gründet sich nicht auf das allgemeingültige Beziehen auf einen Wert, sondern liegt ganz wo anders. BERNHEIM, der sich sehr verdienstvoll speziell mit der Lehre von der historischen Methode beschäftigt hat, konnte ohne RICKERTs System auskommen und hat seine Aufgabe doch vorzüglich gelöst. Mir will es scheinen, als ob RICKERT selbst die Hinfälligkeit seiner erkenntnistheoretischen Untersuchungen fühlt, wenn er sich dessen auch nicht bewußt wird. Dadurch läßt sich erklären, warum die Kernfragen von ihm nur beiläufig und sogar oft nur in Form von Anmerkungen berührt werden. Es ist als ob er sich davor scheut, von allgemeinen abstrakten Sätzen zur konkreten Wissenschaft, der Geschichte überzugehen. Nur nebenbei, man möchte fast sagen gegen seinen Willen, versucht er hie und da ein Beispiel der praktischen Anwendung seiner Lehre von der geschichtlichen Methode zu geben. Um z. B. zu beweisen, daß die Wertbeziehung von der Wertung sorgfältig zu unterscheiden ist und infolgedessen nicht zur Subjektivität und Willkür führen kann, sagt er in der Anmerkung zu Seite 633 der "Grenzen":
Ich habe es bereits ausgeführt: würde man die Art und Weise vergleichen, in der ein MOMMSEN, ein SHAKESPEARE, ein PLUTARCH, ein TOLSTOI oder ein TAINE die Geschichte geschrieben hat oder schreiben würde, so käme man zu der Überzeugung, daß der Maßstab, den jeder von ihnen an die Ereignisse anlegt, so verschieden ist, daß Vieles, was dem Einen außerordentlich wichtig erscheint, dem Andern so unbedeutend vorkommt, daß es kaum einer Erwähnung in der Geschichte würdig ist. Dasselbe gilt auch für die bei RICKERT erwähnten Beispiele.
Es kann also nicht Wunder nehmen, daß für jeden dieser Historiker Verschiedenes wichtig und bedeutend ist. Wäre die Wissenschaftlichkeit und die Objektivität der Geschichte in der Tat davon abhängig, was die Menschen als wertvoll betrachten, so hätten wir in diesem Fall drei ganz verschiedene Geschichten der Reformationszeit und dabei wäre es unmöglich zu prüfen, welcher von diesen Geschichtsschreibern objektiv geblieben ist und welcher aus der ungeheuren Masse der Tatsachen eben diejenigen ausgesondert hat, die ausgesondert werden mußten. Ein vielleicht noch eindringlicheres Beispiel wird die Art sein, wie die Geschichte im Mittelalter geschrieben wurde:
Man kann sich täuschen und die Historiker täuschen sich oft, sogar dann, wenn sie alle von BERNHEIM angeführten Vorsichtsmaßregeln anwenden. Hier müssen wir die Erklärung dafür suchen, warum die Geschichte nicht immer zu den Resultaten gelangen kann, die den von der Wissenschaft gestellten Anforderungen vollständig entsprechen. Man muß BERNHEIM beipflichten, wenn er sagt, "daß die Geschichte keine Natur- oder Gesetzeswissenschaft, keine sogenannte exakte Wissenschaft ist." (60) Über das Einmaleins oder über das Gesetz der Strahlenbrechung können keine zweierlei Meinungen bestehen. Aber man streitet und wird endlos darüber streiten, wer - CÄSAR oder BRUTUS, NAPOLEON oder der russische Bauer - im Mittelpunkt der Betrachtungen des Historikers stehen soll. Vielleicht hat die societas historicorum (ich wähle diesen Ausdruck nach dem Vorbild RICKERTs, der von einer societas philosophorum spricht) einige gemeinsame oder übereinstimmende Überzeugungen herausgearbeitet, und es besteht für sie keine Frage, welchen Platz man einem BRUTUS, einem CÄSAR, einem NAPOLEON oder irgendeinem Johann in der Geschichte zuweisen muß. Aber diesen Überzeugungen den Namen "geschichtliche Apriori" zu verleihen, heißt KANT herausfordern. Nach KANT muß jeder, sei er TOLSTOI oder SHAKESPEARE, das Urteil über die Unendlichkeit des Raums und der Zeit oder das Kausalitätsgesetz anerkennen: KANTs Apriori werden so genannt, weil sie allgemeingültig und notwendig sind. Eben darum sind sie auch ursprünglich. Wenn man aber die Apriori teleologisch zu erklären versucht, wie das FICHTE und nach ihm RICKERT und WINDELBAND getan haben, so kommt man unvermeidlich auf den Weg des Glaubens und der Vermutungen, man legt damit den Grundstein zu einem hoffnungslosen Skeptizismus. Die Aufgabe, die sich RICKERT gestellt hat, ist eine sehr gewagte: er hat das in Frage gezogen, was niemand bezweifelte, um nachher die Zweifellosigkeit dessen festzustellen, was seinem inneren Wesen nach keinen Anspruch auf dieses Prädikat erheben kann. Die menschlichen Werte, vielleicht sogar alle Werte überhaupt, waren von jeher schwankend, sie sind es noch heute und werden es voraussichtlich immer bleiben. Jedenfalls brauchen wir bloß in der Geschichte der Philosophie nachzuschlagen, um uns zu überzeugen, daß dort, wo es sich um die Werte handelt, nur die metaphysischen Systeme auf die Gewißheit ihrer Urteile Anspruch zu erheben pflegten und daß es hier kein Mittel gibt, etwas als unbedingt gültig zu beweisen. Auf dem empirischen Gebiet haben wir jedenfalls die uns gegebene Wirklichkeit, die der menschliche Wille zu ändern nicht imstande ist. Ob wir uns HUMEs oder KANTs Deutungen der Kausalität anschließen, ob wir der Ansicht sind, daß die Wirklichkeit der Vernunft Gesetze vorschreibt oder umgekehrt, eins ist sicher: es gibt Gesetze, denen wir uns unbedingt unterordnen müssen, ob wir wollen oder nicht, ob wir unsere transzendente Pflicht erfüllen wollen oder nicht. Und dieses grundsätzliche Problem der Erkenntnistheorie, das Problem der Notwendigkeit, das von allen Philosophen aller Jahrhunderte anerkannt worden ist, wird von RICKERT einfach ignoriert. Völlig versunken in die Aufgabe, den Gegensatz der theoretischen und der praktischen Vernunft zu überwinden, rechnet RICKERT gar nicht mit der Wirklichkeit. Hätte ich seine Theorie in vollem Umfang angenommen, so würde ich mich zu meiner großen Verwunderung gezwungen sehen, von Anfang an all jene Fragen zu stellen, zu deren Lösung die Theorie eigentlich gebildet worden ist. Denn die Wirklichkeit, die nach RICKERTs Überzeugung unerforschlich ist und eben darum in keine Wissenschaft eingeht, ist auch in seine Theorie nicht eingegangen. Also nicht die historischen Apriori schaffen aus der Geschichte eine Wissenschaft. Das, was SIMMEL und RICHTER "historische Apriori" nennen, ist etwas, was die Geschichte der Kunst näher bringt, so daß RICKERT, der die logische Struktur der Natur und Geschichtswissenschaften bestimmen wollte, seine Aufgabe anders hätte auffassen müssen: er hätte schon das, was er "Beziehung auf einen Wert" oder "geschichtliche Apriori" nennt, hervorheben können, aber nicht um zu beweisen, daß in ihnen der Ursprung und das Wesen der Wissenschaftlichkeit der Geschichte zu finden ist, sondern um zu erklären, warum es den Geschichtswissenschaften nicht gegeben ist, diejenige Objektivität zu erlangen, welche die Mathematik und die Naturwissenschaften besitzen. Hätte er die Frage so gestellt, so würde er den von KANT eingeschlagenen Weg nicht verlassen und gewagte Deutungen vermieden haben. Aber das hätte nur dann sein können, wenn der Skeptizismus, ein Nachfolger des Materialismus, nicht so tiefe Wurzeln in ihm geschlagen hätte, wenn er nicht gleich der Mehrzahl der modernen Philosophen überzeugt wäre, daß wir zu keinem festen Wissen gelangen können und uns darum mit einem Surrogat des Wissens begnügen müssen. Dann hätte er wahrscheinlich seine besondere Aufmerksamkeit nicht dem absolut Historischen und dem absolut Naturwissenschaftlichen zugewandt, wie er es jetzt tat, und wäre nicht zu dem Schluß gekommen, daß in diesen beiden Kategorien die logische Tendenz der Wissenschaften am Klarsten ausgeprägt ist; er hätte sein Augenmerk eben auf die Zwischenstadien gerichtet und im relativ Historischen und relativ Naturwissenschaftlichen den Weg ersehen zur Lösung seiner Aufgabe eine wissenschaftliche Methode zu finden. Und müssen wir denn tatsächlich in der extremen Äußerung dieser oder jener Tendenz die Offenbarung ihres Wesens erblicken? Das ist eine vollständig willkürliche Voraussetzung. Eher im Gegenteil: fast jede Theorie, die bis zu den äußersten Konsequenzen durchgeführt wird, verfällt in Widersprüche. Die kantischen Antinomien sind der beste Beweis dafür. SCHOPENHAUER hatte kaum recht, als er behauptete, daß die Thesen der Antinomien Sophismen und die Antithesen Wahrheiten sind. RICKERT hätte sich in seinen Untersuchungen eben vollständig auf die Begriffe des relativ Historischen und relativ Naturwissenschaftlichen konzentrieren sollen, dann würde er nicht zu einem absolut unannehmbaren Schluß gekommen sein, daß die Wirklichkeit die Grenze der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ist. Dann würde er nicht in einem transzendenten Sollen feste Grundlagen für das Wissen suchen, er würde das erkenntnistheoretische Subjekt nicht zu erfinden und die Naturwissenschaften nicht bis auf das Niveau der Geschichte herabzusetzen brauchen. Dann würden die Geschichtswissenschaften jedenfalls mehr den Namen einer Wissenschaft verdienen, als es die Naturwissenschaften nach RICKERT jetzt tun. Im letzten Kapitel meiner Arbeit will ich versuchen, in möglichst kurzen Worten ihren ganzen Inhalt zu rekapitulieren. Als Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie, welcher RICKERTs Anschauungen auf die Natur- und Geschichtswissenschaften bestimmt, dient für RICKERT die Überzeugung, daß die Wirklichkeit absolut irrational ist. Wir können die Wirklichkeit unmittelbar erleben, aber wissen können wir nichts von ihr. Alles, was Wissen genannt wird, kann auf vollständig autonome Urteile in Bezug auf die Wirklichkeit zurückgeführt werden, diese Urteile aber sagen von der Wirklichkeit selbst nichts aus. Dementsprechend geben uns die zwei Hauptzweige der Wissenschaft, die Natur- und die Geschichtswissenschaften gar kein Wissen von der Wirklichkeit: die Wirklichkeit existiert an und für sich, so wie auch die Wissenschaften an und für sich existieren. Der Begriff der Wahrheit ist aus demselben Grund vollständig autonom und beruth nicht auf dem Begriff des Wirklichen. Im Gegenteil: begrifflich geht der erstere Begriff dem letzteren voraus. Die Wahrheit ist ein selbständiger menschlicher Wert, wie das Gute oder das Schöne. Wer nach diesem Wert strebt, kann in seinen Besitz gelangen, wenn er sich freiwillig gewissen Normen unterwirft. Man würde aber in einem großen Irrtum befangen sein, wenn man glauben wollte, es gelänge durch die Annahme dieser Normen tiefer in die Wirklicheit einzudringen. Das Einzige, was man erzielen kann, ist das Recht zu der Behauptung, daß man seine höchste sittliche Pflicht erfüllt hat. Die Wirklichkeit aber wird für uns ebenso unzugänglich bleiben, wie für einen Menschen, der sich niemals für die Wahrheit interessiert hat, der sich den Normen nicht unterwerfen und seine sittliche Pflicht nicht erfüllen wollte. Es kann sogar sein, daß ein solcher Mensch näher an die Wirklichkeit herankommt als ein Mensch, der seine höchste Pflicht erfüllt hat. Denn, wie wir uns erinnern, zeigt RICKERT einen Weg, in die Wirklichkeit einzudringen: man soll möglichst viel von ihr erleben. Zwar wird man dabei in der Wirklichkeit keine strenge Ordnung und Gesetzmäßigkeit finden, im Gegenteil: man wird immer mehr und mehr über die Ungesetzmäßigkeit und Unordnung erstaunen müssen. Das ist aber nach RICKERT kein Wissen: Eines echten Wissens kann sich nur der rühmen, der sich für die Wirklichkeit ansich nicht interessiert, sondern nur nach der Erfüllung seiner höchsten Pflicht strebt. Diese fordert von uns, die Welt und das Leben so vorzustellen, daß sie ganz und gar in unser Erkennen eingehen können. Das ist das Ziel des wissenschaftlichen Erkennens. Da ein und dasselbe Ziel auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann, so können auch die Wissenschaften, oder mit anderen Worten: das Erkennen, verschieden konstruiert werden. Wir wollen die unendliche intensive und extensive Mannigfaltigkeit der Welt umfassen. Auf welche Weise können wir das erreichen? Dafür gibt es nach RICKERT zwei Wege:
2. die geschichtliche Methode, die aufgrund der historischen Begriffsbildung die Welt und das Leben vereinfacht, indem sie das Wesentliche vom Unwesentlichen sondert. Und das ist eben die wissenschaftliche Erkenntnis, d. h. das höchste echte Wissen. Dagegen ist das Wissen, zu dem man auf dem Weg der unmittelbaren Erlebnisse gelangt, ein unvollkommenes, oder sogar überhaupt kein Wissen. Außer den historischen und den naturwissenschaftlichen Methoden kann es auch andere Methoden geben. Die Hauptaufgabe jeder dieser Methoden besteht darin, den nicht zu realisierenden Gedanken vom Erkennen der Wirklichkeit ein für allemal aufzugeben und autonome erreichbare Ziele aufzustellen. Das sind RICKERTs Grundideen, kurz zusammengefaßt. Für mich steht es außer Zweifel, daß TSCHELPANOW vollständig recht hatte, diese Ideen mit dem Namen Skeptizismus zu bezeichnen. Meinem Dafürhalten nach kann ein erklärter Skeptiker nicht weiter gehen, als es RICKERT getan hat. Ich halte es nicht für notwendig, den Skeptizismus, als wissenschaftliche Theorie, hier zu bekämpfen: RICKERT selbst erkennt es an, daß der Skeptizismus als Theorie unhaltbar ist. Meine Aufgabe war nur die, die skeptischen Elemente in der Lehre RICKERTs ans Licht zu bringen. Dieses Unternehmen war umso schwieriger, als RICKERT nicht nur mit dem Skeptizismus nicht sympathisiert, sondern denselben sogar bekämpft. Er ist in diesem Bestreben so aufrichtig, daß er die Sympathien hervorragender Philosophen (wie z. B. die VOLKELTs), die im Übrigen nicht mit ihm einverstanden sind, auf seiner Seite hat. Eben darum habe ich RICKERTs Lehre so ausführlich dargestellt und versucht, sie kritisch zu beleuchten. Und wie ich hoffe, ist es mir gelungen nachzuweisen, daß die Argumente, durch die er seine Erkenntnistheorie zu verteidigen sucht, keineswegs als richtig anerkannt werden können. Man kann nicht zugeben, daß unsere Urteile vollständig autonom und von der Wirklichkeit unabhängig sind. Das Bestreben, die Wahrheit sowie das Gute und das Schöne aus einer einzigen Quelle abzuleiten, ist vielleicht an und für sich ganz löblich, denn unleugbar strebt der Menschenverstand zur Einheit und forscht nach ihr. Aber man darf die Wirklichkeit selbst aus solchen Gründen nicht vergewaltigen. Wäre es nicht RICKERTs Wille gewesen quand même [trotz alledem - wp] zu einem Einheitsprinzip zu gelangen, so würde er seine Erkenntnistheorie nicht konstruiert und auf die Möglichkeit des Erkennens der Wirklichkeit nicht verzichtet haben. Vielmehr: wenn er recht hätte, wenn die Wirklichkeit nur auf dem Weg der unmittelbaren Erlebnisse erkannt werden könnte, die heutzutage existierende Wissenschaft dagegen uns bloße Schemen gibt, so müßte ein Philosoph, der vor die Alternative gestellt wäre, diesen oder jenen Weg zu wählen, dem ersteren den Vorzug geben. Ich werde also nicht müde zu wiederholen, daß RICKERTs Berufung auf KANT absolut unberechtigt ist. KANTs Satz, daß der Verstand der Natur die Gesetze vorschreibt, berechtigt nicht zu einem teleologischen Standpunkt. Und dann lag, wie ich bereits gezeigt habe, KANT der Gedanke fern, der Folgerichtigkeit wegen die Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren. Eine Erkenntnistheorie, die ihre Bestimmung erfüllen will, sollte noch mehr als irgendeine andere Wissenschaft mit der Wirklichkeit rechnen und keine problematischen Voraussetzungen als ihre Grundlage annehmen. Es ist besser, ein unvollendetes System zu schaffen, als eine falsche Theorie in allen ihren Einzelheiten auszuführen. RICKERT ist zu sehr Systematiker, um den Bau seiner Theorie unvollendet zu lassen. Einem unvollendeten System zieht er einen Irrtum, sogar den Skeptizismus vor! Und so führt sein Bestreben, seine Ansichten bis zu ihren letzten Konsequenzen durchzuführen, ihn zu dem Schluß, daß es vollkommen unmöglich ist, irgendetwas zu wissen, daß es zwar eine sehr große Anzahl von Natur- und Geschichtswissenschaften gibt, daß wir aber trotzdem eigentlich nichts wissen können und, wie RICKERT meint, sogar nichts wissen wollen. Wir schaffen nur Systeme, um eine Weltanschauung zu bekommen! So wie es für einige ein "art pour l'art" [Kunst um der Kunst willen - wp] gibt, gibt es für RICKERT eine "science pour la science". Dies ist das Resultat, zu dem einer der hervorragendsten Vertreter der neueren Philosophie gelangt ist. Mir scheint es, daß sogar diejenigen, die ich durch meine Ausführungen bisher nicht zu überzeugen vermochte, vor der Notwendigkeit dieser letzten Konsequenz zurückschrecken werden. Die Erkenntnistheorie RICKERTs führt jedoch zu diesem Endresultat, da der Skeptizismus, der offen ausgesprochene, wie auch der sorgfältig versteckte, in sich selbst den Todeskeim trägt. ![]()
51) Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 1903, dritte und vierte Auflage, Seite 571. 52) Bernheim, a. a. O., Seite 35 53) Bernheim a. a. O., Seite 167. 54) Bernheim, a. a. O., Seite 675 55) Bernheim a. a. O. Seite 28. 56) bei Bernheim, a. a. O. Seite 226 57) Bernheim, a. a. O. Seite 577 58) Bernheim, a. a. O. Seite 534 59) ebd. Seite 171 60) Bernheim, a. a. O, Seite 141 |