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WILHELM MÜNZ
Die Grundlagen der
kantischen Erkenntnistheorie


"Nicht nur der Kausalbegriff war erschüttert, sondern es wurde auch die Gültigkeit all jener Begriffe zweifelhaft, deren wir uns zur Verknüpfung unserer Wahrnehmungen bedienen, ohne uns Rechenschaft geben zu können, woher wir eigentlich die Berechtigung dazu haben. Wir fassen unsere Wahrnehmungen in den verschiedenen Urteilen zur Einheit zusammen und bedienen uns bei diesem Verknüpfungsakt gewisser Begriffe ... d. h. wir sprechen einem Gegenstand etwas zu, oder wir sprechen es ihm ab, wir bezeichnen etwas als möglich oder wir stellen es als notwendig hin. ... Aber mit welchem Recht bringen wir diese Begriffe in Anwendung? Auf welchen Rechtstitel berufen wir uns in letzter Instanz, wenn wir unsere Wahrnehmungen in der angegebenen Weise miteinander in Zusammenhang bringen?"


Vorwort zur zweiten Auflage

Ein Jahrhundert und darüber ist über die "Kritik der reinen Vernunft" dahingegangen. Im ersten Jahrzehnt nach ihrem Erscheinen ein glimmender Funke, im nächsten ein verzehrender Blitz, ist sie in der Folge der Zeiten von den großen Lichtern, die sich an ihrem Feuer entzündet haben, scheinbar verdunkelt und in den Schatten gestellt worden. Als aber diese Lichter, eines nach dem andern, allmählich erloschen, und sich eine öde Nacht auf die philosophischen Gefilde Deutschlands lagerte, da wurde man von Neuem aufmerksam auf den wunderbar leuchtenden Schimmer der Vernunftkritik, der zwar, indem man den neu auftauchenden Lichtern nachging, weit zurückgewichen war, jedoch von seiner weckenden und belebenden Kraft noch nichts verloren hatte. Und man trat ihm näher.

Und wiederun ist die Kr. d. r. V. ein flammender Blitz geworden, der die philosophischen Geister in Deutschland entzündet und auch die ferner Stehenden durch seinen magischen Glanz blendet und anzieht. Nicht nur die neueren Denkrichtungen sind von der Vernunftkritik auf das mächtigste beeinflußt, nicht nur die naturwissenschaftlichen Forschungen der Gegenwart stehen mit den Ergebnissen des wieder aufgelebten Buches im engsten Zusammenhang; sondern es hat auch das allgemeine wissenschaftliche Bewußtsein überhaupt viele Elemente der kantischen Spekulation in sich aufgenommen, in die moderne Weltanschauung hineinverarbeitet und zu einem Gemeingut aller Gebildeten gemacht. Deswegen tritt auch in diesen Kreisen immer lebhafter das Bestreben hervor, den Geist jenes in so vielen Beziehungen bedeutsamen Werkes näher kennen zu lernen, in dessen Aufbau und Gedankengang einen tiefen Einblick zu tun, über die Fragen, die es aufwirft, und über die Ergebnisse, die es in mühevoller, schwieriger Gedankenarbeit erzielt, eine klare, zusammenhängende Übersicht zu gewinnen.

Diesem Bedürfnis zu entsprechen, ist der Zwecke der vorliegenden Schrift, die nunmehr zum zweiten Mal in die Welt hinausgeht. Sie soll dasjenige, was KANT in seiner eigentümlichen, bisweilen überaus kraftvollen und lichten, zumeist aber ziemlich schwerfälligen und dunklen Ausdrucksweise weitläufig gelehrt hat, kurz und klar, in seiner Einfachheit und Wahrheit, dem Leser vorführen.

Aus diesem Grund, um die Kürze und Durchsichtigkeit der Darstellung nicht zu beeinträchtigen, habe ich mich auch in dieser Auflage aller abseits führenden Exkursionen, zu denen man sich bei der Fülle der modernen Kant-Literatur leicht veranlaßt sieht, enthalten und nur dort, wo es mir zur größeren Anschaulichkeit und leichteren Faßlichkeit erforderlich schien, Änderungen und Erweiterungen vorgenommen.

Und so möge denn diese Schrift mit den Beschränkungen, die sie sich auferlegt, ihre Aufgabe erfüllen und in dem engen Kreis ihres Daseins zur Würdigung wahrer Geistesgröße und zur Weckung eines echten idealen Sinnes das Ihrige beitragen.



E i n g a n g .

KANT definiert die Metaphysik (Philosophie) als "die Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft". (1) Diese Grenzen zu bestimmen und das Gebiet innerhalb derselben nach Umfang und Inhalt auszumessen, ist die Aufgabe, die er sich in seinem Hauptwerk stellt, in der "Kritik der reinen Vernunft". (2)

Diese Aufgabe kann aber auf keine andere Weise gelöst werden, als dadurch, daß der Ursprung unserer Vorstellungen untersucht und der menschliche Geist auf seine Erkenntniskraft geprüft wird: als durch die Erkenntnistheorie. Zu diesem Zweck unternimmt es KANT,
    "die reinen Begriffe bis zu ihren ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstand zu verfolgen, bis sie in ihrer Lauterkeit dargestellt werden." (3)
Die Erkenntnistheorie wird darum bei KANT zur grundlegenden Wissenschaft, auf welcher sein ganzes System ruht. - Dieses Verfahren wird im Gegensatz zu jenem, welches ohne weiteres an das Erkennen der Gegenstände ging, dem Dogmatismus, als kritisch bezeichnet werden müssen, indem hier zunächst die Möglichkeit und die Bedingungen des Erkennens untersucht und erst aufgrund dieser erkenntnistheoretischen Untersuchungen zur eigentlichen Welterkenntnis und zum weiteren Ausbau des Systems geschritten wird.

Wenn aber auch KANT innerhalb seiner erkenntnistheoretischen Untersuchungen kritisch verfährt und erst nach dem Vornehmen der schärfsten Analysen zu den einzelnen Resultaten gelangt, so legt er doch dem Ganzen seiner Untersuchungen gewisse Annahmen oder Voraussetzungen zugrunde, die ihm ohne weitere Prüfung als feste und sichere Stützpunkte dienen; sie gelten ihm als gewiß und selbstverständlich, und er enthebt sich darum jeder durchgreifenden Beweisführung für die Richtigkeit und Tragfähigkeit derselben. Diese Voraussetzungen, die ihm als keiner eingehenden Prüfung bedürftig erscheinen, sei es, weil sie nach seiner Meinung schon an und für sich durch eigene Kraft unerschütterlich feststehen, sei es, weil sie, wie er glaubt, bei anderen Denkern ihre genügende Begründung finden, diese Voraussetzungen bilden die Grundlagen der kantischen Erkenntnistheorie; denn sie machen den Untergrund aus, auf welchen KANT seine Untersuchungen basiert.

Wollen wir eine Philosophie in ihrem innersten Wesen erfassen, dann müssen wir bis zu den Gedanken, die der Philosoph als Fundamentalgedanken angesehen hat, bis zu den Voraussetzungen, die er ohne weiteres seinen Spekulationen unterlegen zu können glaubte, vordringen und dann zusehen, wie auf diesem Grund im weiteren Verlauf Gedanke an Gedanke sich reiht und das System in seiner Eigenart sich erhebt. Um den mächtigen Gedankenbau, wie er in der Kr. d. r. V. sich darstellt, nach Plan und Anlage zu verstehen und in demselben uns selbständig orientieren zu können, müssen wir darum die Voraussetzungen, die Grundlagen der kantischen Erkenntnistheorie zu ermitteln suchen und unsere Aufmerksamkeit darauf richten, wie auf diesem Fundament das kritische Lehrgebäude in seiner eigentümlichen Architektonik von des Meisters Hand aufgerichtet und ausgestaltet wird.

Vor allem geht KANT von jener Grundtatsache des Bewußtseins aus, daß wir empfinden und vorstellen und knüpft schweigend an dieselbe seine Erörterungen an. Wohl hängt es von der besonderen Auffassung und tieferen Begründung des einzelnen Philosophen ab, was als ursprüngliche Tatsachen des Bewußtseins hingestellt und was als von ihnen abgeleitet betrachtet werden soll; aber über jene Grundtatsache kann niemand hinwegschreiten. Stets muß der Philosoph, bevor er an seine Betrachtungen geht, sich die Worte zurufen: "Ich empfinde, ich habe Vorstellungen" und so durch Anerkennung dieser Grundtatsache den Anfang zu seinen Forschungen machen. Kein Denker, der nicht in jenen grundlosen Skeptizismus verfallen will, dessen ganze Weisheit in dem einzigen Wort "Nein" besteht, kann die Wirklichkeit der inneren psychischen Akte des Empfindens und Vorstellens bestreiten; denn das hieße so viel wie bestreiten, daß er, der Redende, jetzt eben disputiert und verneint. Daß wir empfinden und vorstellen, ist eine Tatsache, deren Gewißheit mit unserem Ich unzertrennlich verknüpft ist, für deren Wirklichkeit unsere eigene Existenz uns bürgt, und eine größere Bürgschaft gibt es nicht.

KANT geht aber weiter. Wir sind nicht nur empfindende und vorstellende, sondern auch erkennende Wesen. Unsere Vorstellungen sind nicht lediglich subjektive Gebilde, hervorgerufen durch ein bloßes Spiel unserer geistigen Kräfte, sondern sie gewinnen vielmehr dadurch objektive Gültigkeit, daß sie sich auf Gegenstände beziehen, die außerhalb unserer Vorstellungskraft existieren und von uns an ihren Eigenschaften und Merkmalen als bestimmte Gegenstände erkannt werden. Wir haben nicht nur Vorstellungen, sondern wir sind auch imstande, den Inhalt dieser Vorstellungen, die Gegenstände, zu erkennen; das ist eine Tatsache, die unserem Philosophen einen untrüglichen Ausgangspunkt für seine Untersuchungen bietet.

Wer die Tatsache des Erkennens bezweifelt, für den ist die Vernunftkritik nicht geschrieben, der muß beim ersten Satz derselben umkehren. Gleich in jenen berühmten, voraussetzungsreichen Eingangsworten in der Kr. d. r. V. (zweite Ausgabe) spricht KANT von sinnlichen Eindrücken, von Vorstellungen und Erkenntnissen, und ohne mehr als eine schwache psychologische Erklärung hinzuzufügen, wie die Vorstellung entsteht, geht er bald auf die Einzelforschung über (4). KANT hat gerade die wichtigsten grundlegenden Begriffe ununtersucht gelassen; er hat sich nicht die Frage vorgelegt: Wie kann überhaupt eine Wahrnehmung entstehen? Wie ist eine Vorstellung möglich? Sind unsere Erkenntnisse nicht bloße Täuschungen? Er hat es für seinen Zweck als hinreichend erachtet, diese Begriffe in ihrer Tatsächlichkeit konstatiert zu haben. Aber ebensowenig wie man die Gründlichkeit eines Naturforschers in Abrede stellen kann, weil er nicht die Frage aufgeworfen hat, ob der Kristall, der vor ihm liegt, tatsächlich existiert: ebensowenig läßt sich die Erkenntnistheorie KANTs darum erschüttern, weil er die Tatsache, auf welche er dieselbe basierte, unerörtert gelassen hat. Der Naturforscher sagt: Hier vor mir liegt ein Kristall, und ich will die Bedingungen erforschen, unter denen die Kristallbildung vor sich geht, ich will die Gesetze nachweisen, denen dieser Prozeß unterworfen ist. KANT, der Erkenntnistheoretiker, sagt: Wir haben Erkenntnisse und ich will die Gesetze und Bedingungen darlegen, unter denen dieselben stattfinden. KANT bezweifelt nicht die Tatsache des Erkennens als solche, sondern er will lediglich die Momente aufzeigen, welche dieselbe ermöglichen; er will diese Tatsache aus ihrem Grund erklären (5).

Von diesen Voraussetzungen nun, welche die Gewißheit allgemein anerkannter Tatsachen mit sich führen und darum von jeder nicht skeptischen Philosophie unbeantwortet zur Grundlage ihres Forschens gemacht werden können, sind solche Voraussetzungen wohl zu unterscheiden, welche der einzelne Philosoph, je nach dem Bedürfnis seines Systems für sich aufstellt und zurechtlegt, die also dem einzelnen Denker eigen sind und auf allgemeine Anerkennung nicht nur keinen Anspruch erheben dürfen, sondern vielmehr im Gegenteil oft als die schwächsten Stellen des Systems gelten müssen, von denen aus das innerlich noch so wehrhaft gemachte Lehrgebäude mit Erfolg angegriffen werden kan. Voraussetzungen dieser Art sind es, welche die eigentümlichen und darum besonders beachtenswerten Grundlagen der spezifisch kantischen Untersuchungen bilden.

Diese Voraussetzungen werden aber von KANT nicht als scharf fixierte Punkte hingestellt, an welche er die Fäden seiner Untersuchung befestigen will, sondern sie treten bei ihm im Verlauf der Darstellung als etwas Selbstverständliches auf, das in der Form leichter Behauptungen, bei denen man sich nicht lange aufhält, hingeworfen wird, und sind mit dem Knoten des Problems so innig verwoben, daß sie nicht so sehr Voraussetzungen, als vielmehr Bestandteile desselben, nicht so sehr Grundsteine, als vielmehr Bausteine des Gebäudes zu sein scheinen: sie stehen mit der Fassung des kantischen Problems sowohl, als auch mit der Lösung desselben im engsten Zusammenhang. Aufgrund gewisser Voraussetzungen gelangt KANT zur Aufwerfung seines Problems, und aufgrund anderer Voraussetzungen sucht er die Lösung desselben herbeizuführen.

Fassen wir nun zunächst das kantische Problem etwas näher ins Auge.

KANT wurde zu seinen erkenntnistheoretischen Untersuchungen von dem scharfsinnigen englischen Denker DAVID HUME angeregt (6). HUME sagte:
    Du hast die Sinneswahrnehmung A und hierauf die Sinneswahrnehmung B. Weil nun A und B regelmäßig aufeinander zu folgen pflegen, schließt du, daß sie in dem wunderlichen Verhältnis von Ursache und Wirkung zueinander stehen. Aber zu diesem Schluß hast du kein Recht. In der Sinneswahrnehmung A steckt nichts von Ursache, in der Sinneswahrnehmung B nichts von Wirkung. Du hast in jedem einzelnen Fall eben nur eine einzelne, isolierte, bestimmte Wahrnehmung und weiter nichts. Du aber gehst über diese Wahrnehmung hinaus und bringst sie mit einer anderen, die in ihr gar nicht enthalten ist, sondern ihr nur zeitlich folgt oder vorangeht, in den notwendigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Der Kausalnexus liegt also nicht in der Sache, sondern du trägst diesen Begriff hinzu; die Gewohnheit ist es, welche dich zu dem Schluß veranlaßt, daß zwischen zwei Wahrnehmungen, die nebeneinander oder hinterinander einherzugehen pflegen, ein innerer Zusammenhang besteht. Siehe, das ist eben das post hoc, ergo propter hoc [danach, also deswegen - wp]. (7)
Durch diese Einwürfe HUMEs gegen den Kausalbegriff, gegen diesen "angeborensten und notwendigsten Begriff", wie ihn GOETHE einmal treffend bezeichnet, wurde KANT wie er erzählt (8), in seinem dogmatischen Schlummer unterbrochen und seinen Untersuchungen auf dem Feld der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gegeben. KANT merkte es, daß der Angriff HUMEs sich nicht bloß auf den Kausalbegriff beschränkt, sondern daß sich dessen nachhaltige Wirkung auf dem ganzen Gebiet der Metaphysik spürbar macht. Durch die Zerreißung des Kausalnexus mußte überhaupt die Welt des menschlichen Wissens außer Rand und Band geraten und jede weitere Spekulation als unmöglich, ja als töricht erscheinen. Nicht nur der Kausalbegriff war erschüttert, sondern es wurde auch die Gültigkeit all jener Begriffe zweifelhaft, deren wir uns zur Verknüpfung unserer Wahrnehmungen bedienen, ohne uns Rechenschaft geben zu können, woher wir eigentlich die Berechtigung dazu haben. Wir fassen unsere Wahrnehmungen in den verschiedenen Urteilen zur Einheit zusammen und bedienen uns bei diesem Verknüpfungsakt gewisser Begriffe, z. B. des Begriffs der Bejahung, der Verneinung, der Möglichkeit, der Notwendigkeit usw., d. h. wir sprechen einem Gegenstand etwas zu, oder wir sprechen es ihm ab, wir bezeichnen etwas als möglich oder wir stellen es als notwendig hin: wir bilden bejahende, verneinende, problematische, apodiktische Urteile usw. Aber mit welchem Recht bringen wir diese Begriffe in Anwendung? Auf welchen Rechtstitel berufen wir uns in letzter Instanz, wenn wir unsere Wahrnehmungen in der angegebenen Weise miteinander in Zusammenhang bringen?

Geradezu vernichtend aber mußte HUMEs Einwand den alten Dogmatismus treffen, der voll von unbewiesenen Voraussetzungen war, der mit Begriffen operierte, die er niemals auf ihre Rechtmäßigkeit geprüft hatte, der das Wesen der Dinge zu erkennen behauptet hat, ohne jemals seine eigene Erkenntnisfähigkeit untersucht zu haben. KANT, in der Überzeugung, daß jede Spekulation über das Wesen der Dinge eine zwecklose ist, wenn man nicht zuvor das menschliche Erkenntnisvermögen kritisch ergründet hat, um zu sehen, wie weit die Erkenntniskraft überhaupt reicht, wandte sich darum vom Dogmatismus ab (9) und ging an "die Ausführung des humeschen Problems in seiner möglichst größten Erweiterung." (10) Es war ihm darum zu tun, jenes Band wiederum herzustellen, welches HUME zerrissen hatte, jene Begriffe zu sichern, auf welchen die menschliche Erkenntnis beruth, und so Wissenschaft und Spekulation, deren Rechtmäßigkeit durch HUME in Frage gestellt war, neu zu begründen. - HUME hatte gefragt: Was gibt meinen Wahrnehmungen ihren vermeintlichen Zusammenhang? Er antwortete: Die Gewohnheit, und verfiel in den Skeptizismus, "in jenes gegen die reine Vernunft, ohne vorhergegangene Kritik, gefaßte allgemeine Mißtrauen." (11) KANT legte sich dasselbe Problem vor, erweiterte es jedoch zu jener merkwürdigen Frage: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" und suchte, bevor er zur Antwort schritt, das menschliche Erkenntnisvermögen zu analysieren und die Erkenntniskraft kritisch zu prüfen und wurde so der Schöpfer des Kritizismus oder - wie er selbst oft seine Richtung bezeichnet - der Transzendentalphilosophie, d. h. jener Philosophie, die nicht über das innere Wesen der Gegenstände etwas ausmachen will, sondern vielmehr von den Gegenständen als solchen absieht und mit unserer Erkenntnisart von diesen Gegenständen, mit den Bedingungen des menschlichen Erkennens sich beschäftigt. (12)

Wenn KANT es an einer Stelle ausspricht (13): "Es ist ein großer und nötiger Beweis der Klugheit, zu wissen, was man vernünftigerweise fragen soll", so hat er selbst durch die Art seiner Fragestellung diesen seinen Ausspruch am besten bewahrheitet. Die Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? faßt in sich nichts Geringeres, als jene allgemeine Frage: Wie ist Wissenschaft, wie ist menschliche Erkenntnis überhaupt möglich? Wenn man aber über diese allgemeine, unbestimmte Frage, wie sie in vorkantischer Zeit aufgeworfen wurde, zur Tagesordnung übergehen und, unbekümmert um dieselbe, anderweitigen philosophischen Spekulationen nachhängen konnte: so wurde sie durch die präzise und exakte Form, die ihr KANT gegeben hat, zu einer brennenden Tagesfrage, bei der ein Entkommen nicht denkbar ist, zu einer Frage, bis zu deren genügenden Beantwortung, wie KANT meint, alle Metaphysiker von ihren Geschäften suspendiert werden müssen. (14)

Daß aber diese geharnischte Frage nicht ohne weiteres aus dem Haupt des Philosophen hervorgegangen ist, das sieht man ihr an der Genauigkeit an, in der sie gehalten, und der Behutsamkeit, mit der jedes einzelne Wort gewählt ist. Es sind vielmehr gewisse Voraussetzungen, die es KANT ermöglichen, das Problem der menschlichen Erkenntnis, welches so alt ist wie die Philosophie und besonders in der vorkantischen Epoche viele und große Denker lebhaft beschäftigt hatte, in eine ganz neue Fassung zu bringen und es zu einer haarscharfen, unausweichlichen Frage zuzuspitzen.

Was aber mehr als das sagen will, ist der Umstand, daß sich KANT nicht bloß bei der Aufstellung seines Problems auf gewisse Annahmen stützt, sondern daß von ihm auch die Lösung desselben durch gewisse grundlegende Voraussetzungen herbeigeführt wird.

KANT geht von der Tatsache des Erkennens aus. Worin offenbart sich aber diese Tatsache? Im Urteilen; denn eine Erkenntnis besteht darin, daß ein Gegenstand, das Subjekt, durch gewisse ihm zukommende Merkmale, das Prädikat, bestimmt wird, ein Vorgang, welcher in sprachlicher Form ausgedrückt, eben das Urteil ergibt. Eine Untersuchung über das Verhältnis und den Zusammenhang von Subjekt und Prädikat, den Urteilsgliedern, wird also jener Punkt sein, an welchem die kantische Erkenntnistheorie ansetzen wird, um dem Erkenntnisprozeß näher zu kommen. Aus dieser in das Gebiet der Logik einschlagenden Erörtertung ergibt sich nun für KANT, aufgrund gewisser Voraussetzungen, eine Klasse von Urteilen, deren Erklärung sein eigentliches Problem bildet. Um nun das Wesen dieser Urteile genügend aufhellen zu können, müssen die Quellen untersucht werden, aus welchen die menschliche Erkenntnis fließt. Zu diesem Zweck unternimmt es KANT, das Erkenntnisvermögen zu analysieren, und bei diesem Vorhaben akzeptiert er gewisse Lehren der alten Psychologie. Aber in diesem Geist allein kann unser Philosoph trotz der sorgfältigsten Analyse den ersten Anlaß zur Erkenntnis nicht finden. Die Erkenntnis muß vielmehr nach seinem Dafürhalten durch etwas außerhalb des Geistes sich Befindliches hervorgerufen werden. Dieses Etwas, das KANT zum Zustandekommen einer Erkenntnis voraussetzt, von dem er aber weiter nichts zu wissen erklärt, verliert sich in das dunkle Gebiet der Metaphysik.

Die Voraussetzungen, welche KANT seinen erkenntnistheoretischen Untersuchungen zugrunde legt, also die Grundlagen der kantischen Erkenntnistheorie sind demgemäß: 1. logischer, 2. psychologischer, 3. metaphysischer Art. Aus den Grundlagen logischer Art erwächst unserem Philosophen sein Problem; aus den Grundlagen psychologischer und metaphysischer Art ergibt sich ihm die Lösung desselben.

Im Folgenden soll es versucht werden, diese Grundlagen, die in der kantischen Untersuchung vereinzelt auftreten, in ihrem Zusammenhang vorzuführen und in der Art und Weise, wie sie die Schürzung und Lösung des Knotens bedingen, darzulegen. Es soll gezeigt werden, wie der Problem in diesem Boden sich allmählich entwickelt, mit Macht hervorbricht und endlich in merkwürdiger Weise sich auseinanderfaltet. Zu diesem Versuch ermutigt aber das allgemeine Interesse, das von Neuem für die kantische Philosophie rege geworden und seinen lebhaften Ausdruck gefunden hat in der immer lauter werdenden Parole: "Rückkehr zu Kant!"
LITERATUR - Wilhelm Münz, Die Grundlagen der kantischen Erkenntnistheorie (eine Einführung in die Kritik der reinen Vernunft) Breslau 1885
    Anmerkungen
    1) Träume eines Geistersehers. Immanuel Kants sämtliche Werke. Herausgegeben von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert. Leipzig 1838-1842. VII. Teil, Seite 99. - Auf diese Ausgabe beziehen sich im Folgenden alle Zitate.
    2) Die "Kritik der reinen Vernunft" ist zum ersten Mal erschienen im Jahr 1781 (Lessings Todesjahr). - Immanuel Kant (* am 22. April 1724 zu Königsberg in Preußen, † am 12. Februar 1804 als Professor der Philosophie ebendaselbst) stand damals in seinem 57sten Lebensjahr. - Im Jahr 1787 folgte die zweite "hin und wieder verbesserte" Auflage der Kr. d. r. V., welche mancherlei Abweichungen von der ersten aufweist. Über den Wert und die Tragweite dieser angeblichen Verbesserungen gehen die Meinungen der Kantkenner weit auseinander. Der von mir zitierten Ausgabe (Rosenkranz, Leipzig 1838) liegt der Text der ersten Auflage zugrunde. Die Umarbeitungen und neuen Auseinandersetzungen der zweiten Auflage sind derselben am Schluß als "Supplemente" angehängt. - In neuerer Zeit haben, außer Hartenstein und von Kirchmann in ihren Gesamtausgaben von Kants Werken, Karl Kehrbach (Leipzig, in Reclams Universal-Bibliothek) und Benno Erdmann (Leipzig 1878, 3. Stereotypausgabe 1884) genau revidierte Separatausgaben der Kr. d. r. V. besorgt. Kehrbachs Ausgabe bringt die Differenzen zwischen der ersten (1781) und zweiten (1787) Auflage der Vernunftkritik sehr klar zur Anschauung und erweist sich als besonders brauchbar durch die fortlaufende Angabe der Paginierung sowohl dieser beiden Originalausgaben, als auch der von Rosenkranz, von Hartenstein und von Kirchmann veranstalteten Ausgaben.
    3) Kr. d. r. V., Seite 67
    4) Kr. d. r. V., Supplement IV, Seite 695.
    5) Man vgl. Kuno Fischer, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. III, zweite Auflage, Seite 15f, 299f; Bd. V, Seite 6f.
    6) David Hume (1711-1776; sein Hauptwerk: "Inquiry concerning human understanding" erschien zuerst 1748 in London) wird von Kant als philosophischer Kopf sehr hochgeschätzt. Kant bezeichnet ihn als vielleicht den geistreichsten unter allen Skeptikern, als einen einsehenden und schätzbaren Mann (Kr. d. r. V., Seite 589), als einen äußerst scharfsinnigen Mann (ebd. Seite 591), als einen berühmten Mann, der auf das Anspruch erheben kann, was so Manche nicht besitzen, auf eine kritische Vernunft (Prolegomena, Seite 8).
    7) Man vgl. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. (Sämtliche Werke, Dritter Teil, Seite 6f, 30f, 73f; Kr. d. praktischen Vernunft, Sämtliche Werke, Achter Teil, Seite 167.
    8) Prolegomena, Seite 9; vgl. Kr. d. praktischen Vernunft, Seite 170.
    9) Wie tief Kants Abneigung gegen den "alten wurmstichigen" Dogmatismus war, spricht sich recht deutlich in folgenden Worten aus: "So viel" - sagt er - "ist gewiß: Wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsch, womit er vorher aus Not vorlieb nahm, weil seine Vernunft etwas bedurfte und nichts Besseres zu ihrer Unterhaltung finden konnte." (Prolegomena, Seite 143; vgl. Kr. d. r. V., Seite 6). - Es ist merkwürdig zu sehen, wie der gewaltige Mann, der selber lange Zeit unter dem Bann des Dogmatismus gestanden hat und sich schließlich mit Riesenkraft sich gegen denselben erhebt, nicht nur mit treffenden Gedanken, sondern auch mit scharfen Worten die alte Lehre zugrunde zu richten sucht.
    10) Prolegomena, Seite 10.
    11) Kant, Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden. Sämtliche Werke. I. Teil, Seite 452, woselbst Kant die Begriffe Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus erklärt; vgl. hierzu Kr. d. r. V., Supplement II, Seite 682; Prolegomena, Seite 26; ferner Sämtliche Werke, I. Teil, Seite 652.
    12) Von diesem Gesichtspunkt aus ist auch der Titel von Kants Hauptwerk, der Ausdruck "Kritik der reinen Vernunft" zu erklären. Das Wort "Kritik" nimmt Kant vornehmlich in der Bedeutung von Prüfung, Untersuchung. Unter "reiner Vernunft" versteht er das Vernunftvermögen, inwiefern dasselbe unabhängig von jeder Erfahrung und nur aufgrund seiner eigentümlichen, ihm von Natur gegebenen Anlagen und Fähigkeiten, operiert und nach Erkenntnissen strebt. In demselben, bisweilen etwas nuancierten Sin als unabhängig, abgesondert von aller Erfahrung, unvermischt mit jeder Erfahrung, mit nichts Empirischem vermischt, nichts Empirisches enthaltend, erfahrungsfrei, ist das in verschiedenen Verbindungen bei Kant so häufig vorkommene Wort "rein" zu fassen. - Kr. d. r. V. wird also bedeuten: Prüfung des menschlichen Geistes, inwiefern von der Welt, in der er lebt, von den Erfahrungen, die er in derselben gemacht hat, gänzlich und abgesehen und nur die dem Geist innewohnende Denk- und Erkenntniskräfte, also die Natur des menschlichen Verstandes in Betracht gezogen wird. "Nicht die Fakta der Vernunft, sondern die Vernunft selbst soll nach ihrem Vermögen und ihrer Tauglichkeit einer Schätzung unterworfen werden (Kr. d. r. V., Seite 587; man vgl. hierzu ebd. Seite 8, 24, 55, 383; Supplemente VIIa, Seite 710; ferner Prolegomena, Seite 153, Anm.)
    13) Kr. d. r. V., Seite 61
    14) Prolegomena, Seite 31.