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JOSEF KLEIN
Die Fehler Berkeleys und Kants
in der Wahrnehmungslehre


"Wie man meist im Spiegel auf die Bilder sieht, ohne dem Spiegel selbst seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, so interessieren auch den naiven Menschen die Dinge, nicht das Zustandekommen der Vorstellungen von denselben. Erst für den Psychologen ist das Zustandekommen der Wahrnehmungen, die Repraesentatio und Perceptio, ein Gegenstand der Untersuchung. Der gewöhnliche erwachsene Mensch pflegt sich um diese seelischen Akte nicht weiter zu kümmern. Für ihn sind die Dinge so, wie sie ihm erscheinen."

"Wenn es ohne Augen keine Farbe, ohne Tastsinn nichts Tastbares gibt, dann kann auch keine Welt ohne den Menschen existieren, dann ist die Welt nicht die Ursache der menschlichen Vorstellungen, sondern die Welt wird eher zu einem Produkt des Menschen. Der Mensch wird mit zum Maß aller wahrnehmbaren Dinge. Der Mensch ist dann nicht mehr abhängig von der Welt, sondern die Welt wird abhängig vom Menschen."

"Nach unserer Ansicht bleiben, wenn alle in der Materie lebenden Wesen ausgestorben sind, die Pyramiden, die Alpen usw., mit einem Wort viele ausgedehnten Dinge mit denen ihnen zukommenden Eigenschaften, d. h. die Dinge-ansich, zurück. Nach Kant ist das anders."

"Kant hatte vor dem Ding ansich zeitlebens eine heilige Scheu und hütete sich daran zu rühren, aber indem er es für unzeitlich, unräumlich, unsubstanziell, auch nicht durch sonst eine Kategorie faßbar erklärte, raubte er dem Außending gewissermaßen allen Lebenssaft und verflüchtigte es zu monströsen Unbegriff, zu einem leeren Abstraktum."


I. George Berkeley (1864-1753)

stimmt mit uns darin überein, daß die Empfindungen und Vorstellungen in der Seele des Menschen sind; er bezeichnet eigentümlicherweise die Empfindungen als einfache Ideen, die Vorstellungen als zusammengesetzte Ideen, Ideenkomplexe.

BERKELEY unterscheidet sich aber von uns vor allem in der Auffassung bezüglich der Ursache der Empfindungen. Wir stellen betreffs aller Empfindungen ohne Ausnahme die Behauptung auf, daß die nächste Ursache (causa proxima) aller Empfindungen eine Veränderung des die Seele tragenden materiellen Körpers ist. Dies bestreitet BERKELEY, weil es für ihn eine Materie überhaupt nicht gibt.
    "Es besteht zwar", sagt er, " eine auffallend verbreitete Meinung, daß Häuser, Berge, Flüsse, mit einem Wort alle sinnlichen Objekte eine natürliche reale Existenz haben, mit wie großer Zuversicht und mit wie allgemeiner Zustimmung aber auch immer dies behauptet werden mag, so wird doch, wenn ich nicht irre, ein jeder, der den Mut hat, es in Zweifel zu ziehen, finden, daß dasselbe einen offenen Widerspruch involviert." (1)
Die Ansicht BERKELEYs wird aus Folgendem deutlich werden.

Der Scholastiker nennt die zur Lichtempfindung notwendige materielle Veränderung des Sehnervenapparates die nächste Ursache (causa proxima) der Lichtempfindung, nennt die außerhalb von uns befindlichen Lichtquellen, welche die Netzhaut verändern, wie die Fixsterne und die Sonne, die entfernteren Ursachen der Lichtempfindung (causa remota) und bezeichnet Gott den Urheber der Sonne und der Fixsterne als die causa ultima aller Lichtempfindung. BERKELEY dagegen bestreitet, da er ja alle Materie leugnet, sowohl die Existenz einer causa proxima wie auch die einer causa remota der Empfindungen und nimmt nur die causa ultima als Veranlassung derselben an. Es existiert für ihn überhaupt nur eine und zwar die letzte Ursache, jene Ursache, auf welche wir bei all unseren Forschungen auf dem Gebiet der Erkenntnis am Schluß stoßen, die aber wirklich die erste Ursache, die causa prima, alles gewordenen Seienden ist, - Gott.

Um zu dieser Ansicht, nach Leugnung aller Materie, zu gelangen, war für BERKELEY noch in Frage gekommen, nachzuforschen, ob die Seele des Menschen die Empfindungen nicht aus sich selbst zu produzieren vermag. Diese Möglichkeit lehnt er aber ab, indem er sagt:
    "Aber was für eine Macht ich auch immer über meine Gedanken haben mag, so finde ich doch, daß die Ideen, die ich gegenwärtig durch die Sinne perzipiere, nicht in gleicher Abhängigkeit von meinem Willen stehen. Wenn ich bei vollem Tageslicht meine Augen öffne, so steht es nicht in meiner Macht, ob ich sehen werde oder nicht, noch auch, welche einzelnen Objekte sich meinen Blicken darstellen werden, und so sind gleicherweise auch beim Gehör und den anderen Sinnen die ihnen eingeprägten Ideen nicht Geschöpfe meines Willens. Es gibt also (materielle Dinge als Ursachen existieren nach Berkeley ja nicht) einen anderen Willen oder Geist, der sie hervorbringt." (2)
Diese Auffassung, daß der göttliche Geist ohne Zwischenursachen (causae secundae) die Empfindungen und Wahrnehmungen bewirkt, bringt BERKELEY in den größten Gegensatz zu ARISTOTELES und den Scholastikern in der Wahrnehmungslehre und zwar wesentlich in zwei Punkten, welche wir näher betrachten wollen, da sie für die Erklärung der Wahrnehmung von ausschlaggebender Bedeutung sind.

a) Die Aristoteliker unterscheiden scharf die Dinge selbst von den Vorstellungen der Dinge. Auch schon vom schlichten und wenig gebildeten Menschen werden Phantasie und Erinnerungsvorstellungen nicht mit den Dingen verwechselt, weil jene auf Wunsch und Willen des Menschen, also willkürlich hervorgerufen werden können.

Mit den Wahrnehmungsvorstellungen, welche immer erst unter Beihilfe präsenter Sinnesempfindungen entstehen, ist es dagegen anders. Diese sind an die Gegenwart von wirklichen Dingen geknüpft und sind außerdem meist der Willkür entzogen. Wie man meist im Spiegel auf die Bilder sieht, ohne dem Spiegel selbst seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, so interessieren auch den naiven Menschen die Dinge, nicht das Zustandekommen der Vorstellungen von denselben. Erst für den Psychologen ist das Zustandekommen der Wahrnehmungen, die Repraesentatio und Perceptio, ein Gegenstand der Untersuchung. Der gewöhnliche erwachsene Mensch pflegt sich um diese seelischen Akte nicht weiter zu kümmern. Für ihn sind die Dinge so, wie sie ihm erscheinen.

Der Unterschied zwischen den Wahrnehmungsvorstellungen und den Dingen pflegt erst dann merklich zu werden, wenn man auf den Wahrnehmungsakt genauer zu achten anfängt. Die beste Gelegenheit hierzu pflegt sich beim Sehen und zwar dann einzustellen, wenn zwischen repraesentatio und perceptio ein längerer zeitlicher Zwischenraum liegt. Häufiger und vielleicht noch deutlicher ist beim Sehen der Unterschied zu bemerken, wenn in er durch den Gesichtssin vermittelten subjektiven Raumvorstellung das Seelenbild von einem äußeren Gegenstand den dieses Bild veranlassenden Gegenstand im Tastraum nicht deckt, was bei allen Spiegelbildern zutrifft. Wenn Du Dich vor diesen meinen Spiegel stellst, so habe ich zwei Vorstellungsbilder von Dir in meiner durch den Gesichtssinn vermittelten subjektiven Raumvorstellung, einmal das Bild hinter den Spiegel, das sich nicht mit Dir deckt, und dann das direkte Bild von Dir, das Deinen tastbaren Körper einhüllt. Im Spiegelbild tritt durch die räumliche Trennung der Unterschied zwischen Vorstellung und Ding klar zutage. Das für gewöhnlich stattfindende zeitliche und räumliche Zusammenfallen der subjektiven Vorstellungsbilder des Gesichts mit den Tastbildern und mit den Dingen im objektiven Raum ist Grund, daß die Vorstellungen und die Dinge-ansich nicht streng genug auseinandergehalten werden. Während so der naive Mensch nur die Außendinge, wenig von den Wahrnehmungen, noch weniger von den Vorstellungen kennt, kennt BERKELEY, ganz im entgegengesetzten Lager stehend nur die Vorstellungen. Er kennt keine materiellen Dinge; nach ihm gibt es ja nur Vorstellungen in der Seele des Menschen, die durch die causa ultima, durch Gott, erzeugt werden. Diese Vorstellungen sind nämlich nach BERKELEY die Dinge. Da er die Empfindungen Ideen, die Vorstellungen Ideenkomplexe nennt, so findet er sich in der eigentümlichen Lage, daß er seine Ideenkomplexe kleidet und in sich abends in seinen Ideen schlafen legen muß. Die Welt hört auf, ein Kosmos zu sein, die Naturwissenschaften werden zur Chimäre [Mischwesen - wp]. Wenn diese Meinungen mit dem gesunden naiven Menschenverstand auch in einem direkten Widerspruch stehen, so ist doch BERKELEY felsenfest von der Richtigkeit seiner extravaganten Ansichten überzeugt.
    "Einige Wahrheiten", sagt er, "liegen so nahe und sind so einleuchtend, daß man nur die Augen des Geistes zu öffnen braucht, um sie zu erkennen. Zu diesen rechne ich die wichtige Wahrheit, daß der ganze himmlische Chor und die Fülle der irdischen Objekte, mit einem Wort, all die Dinge, die das große Weltgebäude ausmachen, keine Subsistenz außerhalb des Geistes haben, daß ihr Sein perzipiert worden oder erkannt worden ist, daß sie also, solange sie nicht wirklich durch mich erkannt sind, oder in meinem Geist oder im Geist irgendeines andern geschaffenen Wesens existieren, entweder überhaupt keine Existenz haben oder im Geiste eines ewigen Wesens existieren müssen, da es etwas völlig Undenkbares ist, wenn irgendeinem Teil derselben eine vom Geist unabhängige Existenz zugeschrieben wird." (3)
Trotz dieser angeblich leichten Begreiflichkeit ist es den meisten Sterblichen leider nicht gelungen, ihr geistiges Auge so weit zu öffnen, wie es sich BERKELEY wünscht.

Die Dinge sind nämlich etwas mehr als die Vorstellungen.

b) Der zweite Punkt, in dem sich BERKELEY wesentlich von ARISTOTELES unterscheidet, ist der folgende:

Der Sehfähige, der in einen dunklen Keller tritt, in welchem er nichts zu sehen vermag, wird dadurch noch nicht blind. Er behält vielmehr seine Sehfähigkeit, welche wieder in Tätigkeit tritt, sobald eine Lichtquelle die zum Sehen nötigen Veränderungen in der Netzhaut herbeiführt. Ebenso wird das Gesehene, falles es nicht mehr wahrgenommen wird, nicht zu einem Nichts. Es bleibt vielmehr das Sichtbar zurück, das unter dem Einfluß des Lichts und der Gegenwart eines Sehfähigen wieder zu einem Gesehenen werden kann. Bei BERKELEY ist das anders, da seine Vorstellungen die Dinge sind, so müssen die Dinge aufhören, sobald die Vorstellungen aufhören. Dinge-ansich gibt es nach ihm ja nicht. Wenn mit dem Aufhören des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Tastens das Sicht-, Hör-, Riech-, Schmeck- und Tastbare aufhört überhaupt zu sein, wenn es ohne Augen keine Farbe, ohne Tastsinn nichts Tastbares gibt, dann kann auch keine Welt ohne den Menschen existieren, dann ist die Welt nicht die Ursache der menschlichen Vorstellungen, sondern die Welt wird eher zu einem Produkt des Menschen. Der Mensch wird mit zum Maß aller wahrnehmbaren Dinge. Der Mensch ist dann nicht mehr abhängig von der Welt, sondern die Welt wird abhängig vom Menschen. Man sagt, daß BERKELEY, der Bischof der anglikanischen Hochkirche war, das Bestreben gehabt hat, durch seine Lehre den Menschen in nähere Verbindung und größere Abhängigkeit von Gott zu bringen. Und in der Tat sagt er im Schlußkapitel seines Werkes über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis:
    "Denn was im Grunde doch den Vorrang vor allen anderen Wissenschaften verdient, ist die Betrachtung Gottes und unserer Pflicht. Diese zu befördern, war die Hauptabsicht und das Ziel meiner Arbeit, und ich würde diese für durchaus unnütz und fruchtlos halten, wenn ich meine Leser nicht mit einem frömmeren Gefühl der Gegenwart Gottes erfüllen und durch die Aufzeigung der Falschheit und Leerheit jener unfruchtbaren Spekulationen, welche die Hauptbeschäftigung der Gelehrten ausmachen, sie geneigter machen kann zur ehrfurchtsvollen Annahme der heilsamen Wahrheiten des Evangeliums, deren Erkenntnis und Ausübung die höchste Vollendung des menschlichen Wesens ist." (4)
Wenn einem geistlichen Seelenführer dieser Schlußsatz vielleicht Ehre machen, und es vielleicht in etwas nachgesehen werden könnte, daß er selbst vor der Leugnung des Kosmos nicht zurückgeschreckt ist, nach dem Motto si error est, tamen pietatis error est [Es ist ein Fehler zu sagen, daß es ein Fehler ist. - wp] So haben BERKELEYs Ansichten doch noch gefährlichere Konsequenzen.

Wenn Gott die Vorstellungen in der Menschenseele (nach BERKELEY die Dinge) wirkt, wenn er die Bewegungen dieser Vorstellungen (nach BERKELEY die bewegten Dinge) bewirkt, was veranlaßt nun BERKELEY, anzunehmen, daß Gott nicht auch jene Bewegungen der Vorstellungen bewirkt, aufgrund derer der naive Mensch ein Wesen beseelt zu nennen pflegt. Wenn nach BERKELEY nur Gott und die Seele etwas für sich Seiendes sind, dann muß doch Gott in der Seele BERKELEYs die Vorstellungen und zwar auch jene Bewegungsvorstellungen veranlassen, welche sonst den naiven Menschen zwingen, die Existenz von Seelen anzunehmen; denn daß die Seele des MÜLLER oder gar die des SCHULZE die Einwirkung Gottes auf die Seele BERKELEYs derartig modifizieren könnte, daß BERKELEY veranlaßt wird, den MÜLLER als beseelt anzusehen, - das muß doch wohl als unmöglich angesehen werden. Wenn nun aber Gott den bewegten Vorstellungen noch jene Bewegungsvorstellungen hinzufügt, aus welchen man auf Leben und Seele schließt, was, frage ich, kann BERKELEY veranlassen, der einen Art der Vorstellungen (seinen Dingen) keine für sich bestehende Existenz zu lassen, in der anderen Art, in den Lebewesen, aber ein für sich bestehendes Sein (Seelen) anzunehmen? Wie kommt also BERKELY zur Annahme fremder Seelen? Wenn die Kölner Domtürme keine reale Existenz haben, wenn die vor ihnen fahrenden Eisenbahnwagen keine reale Existenz haben, weshalb sollen dann die in den letzteren fahrenden, sich bewegenden Menschen, meine nach BERKELEY von der causa ultima veranlaßten Vorstellungen mehr als meine Vorstellungen sein?

Die Ansicht von der Veranlassung der Empfindung durch Gott führt also nicht allein zum Akosmismus, sondern führt konsequent auch zum Solipsismus [Selbstbezüglichkeit - wp], sowohl zur Leugnung der Welt als auch zur Leugnung aller anderen Seelen außer der eigenen.

Diese Konsequenz zu ziehen, mußte allerdings der Bischof der anglikanischen Hochkirche, der Seelenführer sein wollte und sollte, vermeiden. Deshalb führt er ohne weiteres andere Seelen in sein System, - eine Größe in seine Rechnung ein, von der man zwar nicht weiß, woher sie kommt, die aber sehr geeignet ist, die schlimmsten Absurditäten zu verdecken, die bei folgerichtigem Denken aus BERKELEYs Empfindungslehre fließen.

Sehr richtig sagt EDUARD von HARTMANN:
    "Da andere Ichs nur durch ihre Leiber auf mich wirken können, so ist jeder Schluß auf die transzendente Relatität anderer Ichs falsch, wenn er nicht durch den Schluß auf die transzendente Realität meines und anderer Leiber vermittelt und auf diesen gegründet ist."

II. Immanuel Kant (1724-1804)

hat bis zum heutigen Tag in Deutschland einen Einfluß auf die Physiologie und die Wahrnehmungslehre ausgeübt, wie kein anderer Philosoph der Neuzeit. Seine Ansichten über die Wahrnehmungslehre, die er eine wahre Wissenschaft nennt und für welche er mit Recht den Namen Aesthetik in Anspruch nimmt, sind in seinem Hauptwerk "Die Kritik der reinen Vernunft" niedergelegt, und zwar in dem Kapitel, betitelt "Die transzendentale Ästhetik". Beruth der Kardinalfehler BERKELEYs in dessen Ansichten über die Entstehung der Empfindungen, so beruth der Kardinalfehler KANTs in einem Irrtum bezüglich der Entstehung der Vorstellungen.

Bevor wir an die Erörterung der kantischen Ästhetik treten, müssen wir nochmals daran erinnern, daß der Tastsinn die Grundlage aller Sinneswahrnehmungen ist, daß die anderen Sinne sich auf ihm aufbauen, daß eine richtige Kenntnis der anderen Sinne zu gewinnen ohne Kenntnis von ihm ein fruchtloses Bemühen sein und bleiben muß. Wir werden daher den Tastsinn immer in erster Linie unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden haben.

Wenn ein Eisengießer einen Gegenstand aus Eisen herstellen will, so bedarf er dazu zweier Formen. Diese Formen werden in den Gießereien aus gut bindendem Sand gebildet, so daß, im Falle der Gießer eine eiserne Kugel machen will, in jeder Form eine konkave Mulde entsprechend der halben Eisenkugel vorhanden sein muß. Dann werden die beiden Sandhälften mit den sie umgebenden Rahmen aneinandergeschlossen und durch eine oben angebrachte Öffnung, welche mit dem Hohlraum der Formen in Verbindung steht, das flüssig glühende Eisen hineingegossen, bis der ganze Hohlraum ausgefüllt ist. Man läßt dann den Guß abkühlen, nimmt die Formen auseinander, und die eiserne Kugel ist fertig. Wie der Former mittels der Formen und der glühenden Materie die eiserne Kugel macht, so bildet der Mensch mittels zweier lebendiger Formen, mittels der Hände und mittels der Materie sich das äußere Ding oder den Gegenstand nach. Jedoch ist der Mensch in einer glücklicheren Lage als der Former. Wenn die beiden Formen auch wiederholt in der Eisengießerei benutzt werden könnten, so bringt man durch sie doch nur immer einen Gegenstand von derselben Größe und Gestalt hervor, während durch die Hände des Menschen sehr verschieden geformte Dinge nachgebildet werden können. Der Mensch sich kann zwischen der Spitze seines Daumens und Zeigefingers ein Sandkörnchen nachbilden und dasselbe wahrnehmen und kann auch mit seinen gespreizten Händen schnell ein Tastbild zum andern fügen, zur Gesamtvorstellung eines großen Gegenstandes, z. B. eines Klaviers, eines Ofens usw. gelangen. Doch vergessen wir nicht, etwas sehr Wichtiges hinzuzufügen: Der Blinde, welcher sich richtige Tastvorstellungen machen will, muß nicht nur zwei lebende Formen, Hände haben, sondern die Seele desselben - denn die Seele ist ja genau genommen das Wahrnehmende im Menschen - muß außer der richtigen Vorstellung der Hände auch die richtigen Vorstellungen von den jedesmaligen Veränderungen der Hände haben, wenn sie aus den Eindrücken, welche die Hände von den verschiedenen Dingen der Außenwelt erhalten, sich jedesmal eine richtige Vorstellung des getasteten Dinges machen soll.

Gesetzt ich bin seit längerer Zeit total auf beiden Augen erblindet. In meinem Schlafzimmer befindet sich ein großes Waschbecken und ein kleiner Seifennapf; beide haben eine ähnliche Form. Nehmen wir nun an, mir, dem Blinden, würden im Schlaf meine beiden Hände auf das Zehn- bis Zwanzigfache ihres jetzigen Umfanges wachsen, und Du würdest mir beim Erwachen das Waschbecken zum Betasten vorhalten, ohne daß ich das Gewicht desselben prüfen dürfte, so würde ich unzweifelhaft das Waschbecken für den Seifennapf halten und umgekehrt, wenn in der Nacht meine Hände auf die Größe von ein Paar Säuglingshänden eingeschrumpft wären, so würde ich den mir vorgehaltenen Seifennapf für das Waschbecken ansehen. Es geht aus dem Beispiel hervor, daß die Kenntnis der beiden Hände für die Seele, die richtige Tastvorstellungen haben will, durchaus nötig ist.

Würde nun, wenn meine Hände so exzessiv groß oder klein blieben, mein Urteil, das Urteil des Blinden, über die Dinge der Außenwelt immer in unzutreffendes bleiben? Würden die Tastwahrnehmungen mittels meiner so veränderten Hände mich dauernd täuschen? Ist auf die Tastwahrnehmung so wenig zu geben?

DESCARTES, der, mit der alten Philosophie brechend, alles zu bezweifeln anfängt, hält die Sinneswahrnehmungen für höchst unsicher. Man dürfe, sagt er, den Sinnen nicht trauen, wie man niemandem traut, der uns auch nur einmal im Leben getäuscht hat. DESCARTES hatte im Feldzug beobachtet, daß Leute, denen ein Bein amputiert wurde, noch Schmerzen in dem Bein zu haben glaubten, obgleich ihnen das Bein bereits abhanden gekommen war. Dies nahm ihn sehr gegen die Zuverlässigkeit des Tastsinnes ein. Es lag in diesen Fällen, die nicht zu bezweifeln sind, eine Täuschung vor, die man eine Sinnestäuschung zu nennen pflegt. Es schmerzten den Amputierten die Nerven, welche früher die Empfindungen in den Zehen und unteren Extremitäten vermittelten. Was Wunder, wenn in solchen Fällen die noch nicht an den neuen Zustand gewohnte Seele besonders im Halbschlaf - gleichsam wie ein Gefangener, der, im Traum eine erträumte Freiheit genießend, aufzuwachsen fürchtet - anfangs noch in der angenehmen Jllusion befangen zu sein vorzieht und vor der offenen Kenntnisnahme eines so schmerzlichen Verlustes zurückschreckt. Würde DESCARTES sich die Mühe gemacht haben, nach Verlauf eines Vierteljahres bei jenen Unglücklichen nachzufragen, so würde er erfahren haben, daß ihnen im wachen Zustand nur der Amputationsstumpf schmerzt, nicht mehr das fehlende Bein. Die Amputierten würden ein anderes Urteil gewonnen haben. So ist es auch mit den Menschen, denen aus der Stirnhaut eine künstliche Nase gemacht worden ist. Setzt sich auf eine solche künstliche Nase eine Fliege, so sucht sie der Operierte zu verscheuchen, indem er sich nach der Stirn faßt. Hat er mehrmals diesen Fehler gemacht und erfahren, daß das Jucken, das er bis dahin an der Stirn zu haben glaubte, durch Kratzen an der neuen Nase zu verscheuchen ist, so bildet er sich unter den veränderten Verhältnissen wieder ein neues richtigeres Urteil und verfällt nicht mehr in den alten Irrtum, sondern verlegt das Jucken des Fliegenstiches dorthin, wo er sich schon einmal mit Erfolg gekratzt hat. Es scheint also nicht wunderbar, sondern ganz natürlich, daß Vorstellungen, die plötzlich veränderten Verhältnissen nicht mehr entsprechen, wieder derart von der Seele korrigiert werden können, daß sie die veränderte Wirklichkeit in richtiger Weise nachbilden.

Wie aber ist das möglich?

Kehren wir wieder zu unserem früheren Beispiel zurück. Nur eine kleine Veränderung wollen wir vornehmen. Wie, wenn unserem Blinden während des Schlafens nur die rechte Hand vergrößert worden wäre, würde derselbe am nächsten Morgen seine linke Hand betastend das stattgefundene Wachstum seiner rechten Hand erkennen, oder würde er vielmehr annehmen, daß die linke Hand über Nacht kleiner geworden ist? Ja, wenn dem Blinden die rechte Hand während der Nacht gewachsen, die linke eingeschrumpft wäre, würde er wieder richtige Vorstellungen mittels seiner so veränderten Hände gewinnen können?

Leser: Allerdings würde er wieder sowohl die Vergrößerung der rechten als auch die Verkleinerung der linken Hand wahrzunehmen imstande sein, selbst wenn der Blinde schlafend in eine ihm ganz unbekannte Umgebung und unter ganz veränderte Verhältnisse gebracht worden wäre; denn er würde ja seinen eigenen ihm bekannten Körper mitbringen, an dem er wieder die richtige Vorstellung seiner Hände erlangen und damit wieder die Fähigkeit gewinnen würde, sich auch richtige Vorstellungen über die Außenwelt zu machen. Es würde das wohl einige Zeit dauern, aber er würde es nach meiner Ansicht unzweifelhaft an seinem eigenen Körper wieder erlernen.

Verfasser: Sehr richtig! Der Körper, in welchem die Seele des Blinden lebt, und die Vorstellung des eigenen Körpers, welche der Blinde vor dem Schlaf hatte, haben sich ja nicht verändert. Dadurch hat die Seele etwas Festes, Zuverlässiges, auf das sie sich beim Erwerb ihrer Kenntnisse über die plötzlich veränderten Hände stützen kann und wodurch sie in den Stand gesetzt wird, die rechte Hand als vergrößert, die linke als verkleinert wahrzunehmen. Wenn allerdings beide Hände vergrößert und auch der ganze Körper in demselben Maß gewachsen wäre, so würde die Seele vielleicht von den Veränderungen am eigenen Körper nichts merken, alle Dinge der Außenwelt aber würden derselben verkleinert vorkommen. Wenn solche Beispiele nun in der Tat im Leben auch nicht beobachtet werden, so nehmen doch alle Erwachsenen in ihrem Leben zumindest etwas ähnliches wahr. Wie klein erschienen mir, als ich als Erwachsener den Ort, wo ich die schönsten Tage meiner Kindheit verlebte, wiedersah, die Hügel, an denen ich auf meinem Handschlitten heruntergefahren bin, wie klein erschienen mir die Fenster, die Räume, in denen ich die glücklichen Tage meiner Kindheit verlebte.

Die Tastwahrnehmungen der äußeren Dinge sind Urteile aufgrund von Empfindungen, aber dieselben sind nicht Urteile aufgrund präsenter Empfindungen allein, sondern sind Urteile der wahrnehmenden Seele, die einmal aufgrund präsenter Empfindungen, zum zweitenmal aufgrund früherer Vorstellungen beruhen, welche die Seele ihrerseits aufgrund früherer Empfindungen über den eigenen Körper erworben hat. Wir müssen daher bei allen Tastwahrnehmungen der uns umgebenden Dinge zwei Teile in der Wahrnehmung unterscheiden, den früheren und den späteren Teil. Der frühere Teil besteht in der Vorstellung, welche die Seele vom eigenen Körper, den eigenen Händen usw. gewonnen hat; der spätere Teil besteht in den präsenten Empfindungen, welche die Seele mit den früheren Vorstellungen zu einem neuen Urteil über die Dinge der Außenwelt verarbeitet. Wenn durch eine Amputation oder durch eine andere plötzliche Veränderung die altgewohnten früheren Vorstellungen über den eigenen Körper nicht mehr der Wirklichkeit entsprechen, so bedarf die Seele einer gewissen Zeit, um sich den neuen Verhältnissen anzupassen, um Kenntnis vom veränderten Körper zu nehmen, und dann macht die Seele anfangs leicht Fehler, wie ja auch der unaufmerksame Mensch, der Jahre lang über eine Schwelle gegangen ist und nie angestoßen hat, zu stolpern pflegt, wenn die Schwelle entfernt ist. Wir haben es also bei dieser Art von Täuschungen nicht mit Fehlern der Sinne oder gar der präsenten Empfindungen, sondern mit falschen Urteilen der wahrnehmenden Seele aufgrund der früheren Vorstellungen zu tun.

Wir könnten also als Resultat unserer Untersuchung aussprechen, daß die sensitive Seele des Menschen sich mittels der Empfindungen zuerst Vorstellungen über den eigenen Körper und dessen Teile erwirbt, und dann erst, auf Grundlage der räumlich ausgedehnten Vorstellungen von diesen, der Körper und seine Hände, Füße usw. als Mittel benutzt werden können, mittels deren die Seele in den Stand gesetzt wird, aufgrund der von außen auf den Körper wirkenden Reize über die Außendinge zu urteilen.

Daß der eigene Körper des Menschen immer als Maß für die Dinge der Außenwelt benutzt worden ist, lehrt schon die Sprache, geht schon daraus hervor, daß die Maße Zoll (digitus), Fuß (pes), Elle (ulna) von einzelnen Körperteilen entnommen sind. Da bei den Menschen diese Körperteile verschiedene Größe haben, und auch beim einzelnen Menschen wegen Wachstum und Abnahme nicht gleich bleiben, so hat man sich veranlaßt gesehen, im Handel und sonstigem Verkehr ausgedehnte Gegenstände aus haltbaren, schwer veränderlichen Metalen, Eisen usw. als Grundlage der Masse anzunehmen, und man hat sich schließlich zu einem Einheitsmaß, dem Meter, vereinigt. Nach diesen Erörterungen können wir nun an die Lehre KANTs herantreten.

Wie wir gesehen haben, nehmen wir durch den Gesichtssinn und den Tastsinn die uns umgebenden Dinge dadurch wahr, daß sich die Seele räumlich ausgedehnte Gesichts- und Tastbilder nachzubilden vermag, und zwar bauen sich die Gesichtsbilder auf den Tastbildern auf. KANT selbst scheint, wenn wir EDUARD von HARTMANN glauben wollen, noch gar nicht bekannt gewesen zu sein, daß uns eine direkte räumliche Vorstellung von den äußeren Dingen nur durch diese beiden Sinne möglich ist. Wenn dies bei einem Philosophen von solcher Bedeutung auch einigermaßen befremdend wirken muß, so muß man gleichwohl von HARTMANN zustimmen, denn an keiner Stelle seiner transzendentalen Ästhetik ist von dieser für die Wahrnehmungslehre wichtigen Kenntnis auch nur eine Spur zu entdecken.

Wenngleich KANT hier nicht sehr auf der Höhe zu sein scheint, so ist doch nur anzuerkennen, wenn er in der transzendentalen Ästhetik, I. Abschnitt "von dem Raume" an erster Stelle, mit unseren vorher geäußerten Gedanken über die Tastwahrnehmungen der uns umgebenden Dinge übereinstimmend, Folgendes äußert, das im Grunde genommen den Grundstein seiner Wahrnehmungslehre und einen Stützpunkt seiner ganzen Philosophie bildet:
    "Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von den äußeren Erfahrungen abgezogen wurde. Denn damit gewisse Empfindungen auf etwas außerhalb von mir bezogen werden (d. h. auf etwas in einem anderen Ort des Raumes, als in dem, in dem ich mich befinde), ingleichen damit ich sie außerhalb von mir und nebeneinander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen kann, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zugrunde liegen. Demnach kann die Vorstellung des Raumes nicht aus den Verhältnissen der äußeren Erscheinung durch Erfahrung erborgt sein, sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch eine gedachte Vorstellung allererst möglich." (5)
So wahr und richtig dieser Satz ist, wenn er mit der richtigen - im Druck dieser Schrift angedeuteten - Betonung gelesen wird, so falsch sind jedoch alle Schlüsse, die KANT daraus zieht. Zum leichteren und besseren Verständnis wollen wir die kantischen Gedanken in die Form eines Syllogismus bringen:
    1. Der Mensch bedarf bei den Wahrnehmungen der uns umgebenden Dinge der aus den Empfindungen gebildeten subjektiven räumlichen Vorstellungen.

    2. Da diese räumlichen Vorstellungen aber nicht von den speziellen äußeren Dingen (erborgt sein) direkt gewonnen werden können, vielmehr zur Wahrnehmung derselben bereits eine räumliche Vorstellung erforderlich ist,
so muß, so lautet der Schluß KANTs, die Vorstellung des Raumes a priori im Gemüt bereit liegen oder mit anderen Worten: muß die Raumvorstellung angeboren sein und kann niemals durch Erfahrung gewonnen werden.

Wenn in diesem Syllogismus (6) die beiden Prämissen richtig wären, so wäre der Schluß KANTs, der den Schwerpunkt seiner ganzen Wahrnehmungslehre bildet, auch richtig; er ist aber grundfalsch; denn es ist für die Seele noch eine andere Möglichkeit vorhanden, ohne die äußeren Körper eine Raumanschauung durch Erfahrung zu gewinnen, und diese Möglichkeit bietet im Gegensatz zum äußeren Körper für die Seele - der eigene Körper.

Der Unterschied zwischen unseren und KANTs Ansichten springt in die Augen. Unserer Ansicht nach nimmt unser menschlicher Körper einen bestimmten Teil im objektiven Raum ein. Dadurch, daß wir unseren Körper kennen lernen, lernen wir auch den Raum kennen, den unser Körper einnimmt. Sind wir soweit gediehen, daß wir uns unseren räumlichen mittels des Tastsinnes wahrgenommenen Körper auch in der Erinnerung vorstellen können, so sind wir auch zur Wahrnehmung der räumlichen uns umgebenden Dinge aufgrund präsenter Empfindungen befähigt.

Ganz anders KANT! Nach KANT gibt es keinen objektiven Raum, nach ihm gibt es nur eine subjektive Raumanschauung. Hören wir ihn selbst in seinen aus obigem Trugschluß gezogenen Konsequenzen:
    a) Der Raum stellt gar keine Eigenschaft irgendwelcher Dinge-ansich dar, d. h. keine Bestimmung derselben, die an den selbst haften würde und welche bliebe, wenn z. B. alle Lebewesen abgestorben wären oder, wie KANT sagt, wenn man von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung abstrahiert.

    b) Der Raum ist nichts anderes als die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein äußere Anschauung möglich ist

    c) Wir können nur vom Standpunkt eines Menschen von einem Raum, von einem ausgedehnten Wesen usw. reden. Sehen wir von dieser subjektiven Bedingung ab, so bedeutet die Vorstellung vom Raum gar nichts.
Für viele dürften diese Äußerungen genügen zum Nachweis, daß KANT weder ausgedehnte äußere Körper noch einen ausgedehnten eigenen Körper anerkennt. Gleichwohl dürften jedoch von den Studierenden der Medizin Einwände gegen die Richtigkeit unserer Darstellungen gemacht werden. Wir werden deshalb gut tun, die Unterschiede zwischen KANT und uns noch etwas näher zu erörtern.

Nach unserer Ansicht bleiben, wenn alle in der Materie lebenden Wesen ausgestorben sind, die Pyramiden, die Alpen usw., mit einem Wort viele ausgedehnten Dinge mit denen ihnen zukommenden Eigenschaften, d. h. die Dinge-ansich, zurück. Nach KANT ist das anders. Zwar geht er nicht so weit wie BERKELEY, der gar keine Dinge ansich annimmt; aber das kantische "Ding ansich" ist doch ein so eigenartiges Ding, daß es seit seiner Entdeckung die größten Beanstandungen erfahren hat.

Während nach BERKELEY Gott in den Seelen die Empfindungen bewirkt, nimmt KANT zwar zu diesem Zweck Gott nicht in Anspruch, er nimmt vielmehr hierfür eine wirkende Ursache an; da aber diese Ursache selbst nicht ausgedehnt ist, so müssen ihm die vielen Dinge ansich zu einem Kraftpunkt, zu dem einen kantischen "Ding ansich" zusammenschrumpfen. Wo KANT sich diesen unräumlichen Kraftpunkt gedacht hat, scheint in seinem System bisweilen zweifelhaft. Wir wolen zu seinen Gunsten annehmen, er sei außerhalb der menschlichen Seele gelegen. FICHTE machte mit dem äußeren "Ding ansich" aber kurzen Prozeß, indem er dieses Kraftzentrum in die Seele selbst verlegte, womit er in der Wahrnehmungslehre den Gipfel moderner Torheit erklommen hat. Nach BERKELEY bildet Gott gleichzeitig mit den Empfindungen auch die räumlichen Vorstellungen, nach KANT bewirkt das "Ding-ansich" nur die Empfindungen, die allgemeinen Raumanschauungen dagegen hat die Seele a priori angeboren in sich und sollerst dadurch imstande sein, aus den vom "Ding ansich" bewirkten Empfindungen die räumlichen speziellen Vorstellungen zu bilden.
    "So realistisch sich Kant gegen über Berkeley gebärdet", sagt Dr. Josef Müller, mit Recht, "so außerordentlich hat er doch für den Idealismus gewirkt, und trotz seines Widerstrebens wird man Kant immer als Idealisten bezeichnen. Zwar hatte er vor dem Ding ansich zeitlebens eine heilige Scheu und hütete sich daran zu rühren, aber indem eres für unzeitlich, unräumlich, unsubstanziell, auch nicht durch sonst eine Kategorie faßbar erklärte, raubte er dem Außending gewissermaßen allen Lebenssaft und verflüchtigte es zu monströsen Unbegriff, zu einem leeren Abstraktum." (7)
Hätte KANT in seiner transzendentalen Ästhetik nur an einigen Beispielen seine Ansichten erläutert, und sich nur die Frage vorgelegt und erörtert, weshalb den Menschen die Kölner Domtürme größer erscheinen als die vor denselben haltenden Droschken, so hätte er in den Augen seiner Leser sehr schlecht abgeschnitten; er wäre, wie man zu sagen pflegt, mit seinem Latein am Ende gewesen; denn es würde ihm nicht gelungen sein, seinem Leser hierfür irgendeinen halbverständlichen Grund anzugeben, ohne sich selbst zu widersprechen. Deshalb hat er die Beispiele absichtlich vermieden, um auf dem Gebiet der weiteren Begriffsarchitektonik nicht gehindert zu sein; denn mit Worten läßt sich trefflich streiten, aus Worten ein System bereiten. Dagegen ist es etwas anderes, wenn man die Begriffe mit den Anschauungen in eine angemessene Verbindung bringen, wenn man die Begriffe aus den Anschauungen herleiten will. KANT wußte sehr schön zu sagen, daß PLATO die Sinnenwelt verließ, weil sie dem Verstand so vielfältige Hindernisse legt. Er spottet über sich selbst und weiß nicht wie. Würde KANT Beispiele herangezogen haben, so hätte er unmöglich den oben erwähnten, so folgenreichen Fehlschluß machen können, aber er beurteilt sein eigenes Tun trefflich, indem er sagt:
    "Es ist aber ein gewöhnliches Schicksal, der menschlichen Vernunft in der Spekulation, ihr Gebäude so früh wie möglich zu machen und hinterher allererst zu untersuchen, ob auch der Grund dazu gut gelegt ist. Alsdann aber werden allerlei Beschönigungen gesucht, um uns wegen dessen Tüchtigkeit zu trösten oder auch eine solche späte oder gefährliche Prüfung lieber ganz abzuweisen." (8)
Hätte KANT den von uns empfohlenen Weg eingeschlagen und darüber nachgeforscht, ob und wie sich die Raumanschauung mittels des Tastsinns am eigenen Körper gewinnen läßt, so würde ihm nicht entgangen sein, daß die Tastwahrnehmung der äußeren Dinge nichts weiter sind, als synthetische Wahrnehmungsurteile, die eines apriorischen, d. h. eines früheren Elements bedürfen, das uns aber gleichfalls durch die Erfahrung mittels angeborener Seelenkräfte gegeben wurde. Vielleicht würde KANT aufgrund der Analogie zu der Ansicht gekommen sein, daß, wie der menschliche Körper der Seele zum Maß der außerhalb von uns seienden wahrnehmbaren Dinge dient, so auch der der Seele des Menschen zukommende Verstand in ähnlicher Weise auch ein Maß für das außerhalb von uns Seiende Intelligible zu werden vermag. Vielleicht wäre ihm dann auch die Möglichkeit denkbar erschienen, Metaphysik zu treiben, was ihm allerdings unmöglich erscheinen mußte, solange ihm nicht der menschliche Körper als Maß für die wahrnehmenden Dinge erschien.
LITERATUR Josef Klein, Die Fehler Berkeleys und Kants in der Wahrnehmungslehre, Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, Bd. 27, Fulda 1914
    Anmerkungen
    1) GEORGE BERKELEY, Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, übersetzt von ÜBERWEG, Berlin 1869, Kap. IV, Seite 22
    2) BERKELEY, a. a. O., Kap. XXIX, Seite 35
    3) BERKELEY, a. a. O., Kap. VI, Seite 24
    4) BERKELEY, a. a. O., Kap. CLVI, Seite 107.
    5) KANT, Kritik der reinen Vernunft (Ausgabe KEHRBACH, zweite Auflage, Leipzig, Seite 51
    6) Dieser Syllogismus ist falsch; es handelt sich hier um eine quaternio terminorum, insofern die in der ersten Prämisse enthaltenen Raumvorstellungen nicht dasselbe sind, was man in der zweiten Prämisse unter Raumvorstellung versteht.
    7) JOSEF MÜLLER, System der Philosophie.
    8) KANT, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., Einleitung, Seite 38.