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Kritik der kantischen Philosophie [ 3/3 ]
Die Prüfung der Freiheits- und Entwicklungslehre. 1. Schopenhauers Kritik der kantischen Philosophie SCHOPENHAUER hat in seiner auf die zweite Ausgabe des Hauptwerks gegründeten "Kritik der kantischen Philosophie" diese als die höchste Erscheinung gewürdigt, welche die Geschichte der Philosophie hervorgebracht hat. Verglichen mit den früheren Systemen, verhalte sich die kantische Lehre zu jener alten Metaphysik vom Wesen der Dinge (Gott, Welt und Seele), wie die wahre Weltanschauung zur falschen oder wie die neuere Chemie zu den Alchemisten; und selbst die tiefsinnigen und idealistische gerichteten Systeme der alten Zeit, die, wie die indische Religion und die platonische Philosophie, zu der Einsicht gelangt wären, daß unsere Sinnenwelt nur vorgestellt und phänomenal ist, verhielten sich zur kantischen Lehre, wie die unrichtig begründete Wahrheit zur richtig begründeten, oder wie die heliozentrische Weltsicht einiger Pythagoräer zu der des KOPERNIKUS. Indessen ermangelt die kantische Philosophie sowohl der Vollendung als auch der Einstimmigkeit. Ihre beiden Hauptverdienste sind von zwei Hauptfehlern begleitet. KANTs größtes Verdienst besteht in der "Unterscheidung der Erscheinung vom Ding-ansich" woraus "die gänzliche Heterogenität [grundsätzliche Verschiedenheit - wp] des Realen und Idealen" und das bloß vorgestellte oder phänomenale (also nicht wahre) Sein unserer Sinnen einleuchtet. Sein zweites Verdienst besteht in der
Der zweite Hauptfehler, welcher der idealistischen Grundansicht der Vernunftkritik auf das Äußerste widerstreitet, besteht in der falschen Einführung des Dings-ansich als der äußeren Ursache unserer Empfindungen. Nicht die Anerkennung eines Dings-ansich zur gegebenen Erscheinung ist falsch, sondern die Art seiner Ableitung, die der zweiten Ausgabe der Kritik mit ihrer "Widerlegung des Idealismus" zur Last fällt.
Ich habe hier nicht das Interesse, SCHOPENHAUERs Kritik in Anbetracht der kantischen Erkenntnislehre näher zu verfolgen, da dies zu einer Prüfung seiner eigenen Lehre führen müßte, die gemäß ihrer Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft, zwischen der anschauenden Erkenntnis des ersten und der abstrakten Erkenntnis der anderen sich genötigt sah, KANTs Lehre von den Kategorien des Verstandes und den Postulaten der Vernunft gänzlich zu verwerfen. In den beiden Hauptpunkten, die den Charakter des kantischen Systems ausmachen, nämlich in der Lehre von der Idealität aller Erscheinungen (Objekte) und von der Realität des Dings-ansich, das von allen Erscheinungen völlig unabhängig und unterschieden ist, ist er mit KANT einverstanden und hat gemäß dieser Richtschnur sein eigenes System, "die Welt als Wille und Vorstellung" auszubilden gesucht. In jener seiner Ansicht von den Grundlagen der kantischen Philosophie müssen wir ihm beistimmen; auch darin, daß die Vermengung der Erscheinungen und der Dinge-ansich diesen Grundlagen widerstreitet; auch darin, daß die Dinge ansich, wenn sie als Dinge außerhalb unserer selbst und als äußere Ursachen unserer Empfindungen gelten sollen, mit den Erscheinungen vermengt werden; auch darin, daß in der Widerlegung des Idealismus, wie sie die zweite Ausgabe der Kritik ausgeführt hat, die Dinge außerhalb unserer selbst als etwas von aller Vorstellung Unabhängiges und demnach als Dinge ansich figurieren. Wenn aber SCHOPENHAUER, wie es der Fall ist, nicht bloß die äußere Kausalität der Dinge-ansich, sondern deren Ursächlichkeit überhaupt für unvereinbar mit der kantischen Lehre hält, weil nach der letzteren der Begriff der Kausalität überhaupt auf die ansich nicht anwendbar ist, so können wir ihm weder darin beistimmen, daß eine solche Ansicht von dem ihm bezeichneten Widerspruch enthält, noch darin, daß die erste Ausgabe der Kritik von diesem Widerspruch, wenn es einer wäre, frei zu sprechen ist. Daß die Dinge ansich das übersinnliche Substratum oder verborgene Urgrund unserer Vernunftbeschaffenheit, also auch der unserer Empfindungen und Sinnenwelt sind, ist eine Lehre, die KANT selbst für "die beständige Behauptung seiner Kritik" erklärt hat. Es ist ihm nicht eingefallen, die zeitliche oder sinnliche Kausalität auf die Dinge-ansich anzuwenden; ihre Ursächlichkeit ist die zeitlose oder intelligible, sowie ihre Realität nicht das zeitliche, sondern zeitlose Sein ist. Wenn SCHOPENHAUER keine andere, als die zeitliche Kausalität gelten lassen will, so ist das seine Sache und gehört in die Darstellung und Prüfung seiner Lehre, mit der wir jetzt nichts zu tun haben. Er tadelt KANT, weil er den Dingen ansich Kausalität zuschreibt. Warum lobt er ihn, daß er die Realität derselben bejaht und gelehrt hat? Ihm selbst ist es sauer genug geworden und doch nicht gelungen, dem Ding-ansich (Willen) zugleich das Ursein zuzusprechen und die Ursächlichkeit abzusprechen. Nachdem ich gezeigt habe, in welchen Punkten, was die Differenz der beiden Ausgaben der Vernunftkritik und den Widerstreit in der kantischen Erkenntnislehre betrifft, ich mit SCHOPENHAUER übereinstimme, muß ich wünschen, daß man in eben dieser Frage diejenigen Punkte nicht übersehen soll, worin ich von ihm abweiche. Erkenntnis- und Freiheitslehre. Die kantische Erkenntnislehre, mit jenem nachgewiesenen Widerspruch behaftet, widerstreitet der Freiheitslehre. Ohne denselben begründet sie die Möglichkeit der Freiheit, und zwar unter allen Systemen sie allein, denn es ist kein Zweifel, daß demgemäß dieser Lehre das von allen Erscheinungen völlig unterschiedene, von Zeit und Raum völlig unabhängige Ding ansich nichts anderes ist und sein kann, als die Freiheit oder der Wille. Ich habe diesen Punkt bereits so ausführlich erörtert und klar gestellt, daß weder neue Begründungen zu geben noch einzelne kantische Sätze zur Bestätitung anzuführen sind. Die drei kritischen Hauptwerke dürfen uns als die einleuchtenden Urkunden dieser Lehre gelten: die "Kritik der reinen Vernunft" in ihrer Lehre vom intelligiblen und empirischen Charakter, die "Kritik der praktischen Vernunft" in ihrer Lehre von der Realität der Freiheit und vom Primat des Willens, die "Kritik der Urteilskraft" in ihrer Lehre von der natürlichen Zweckmäßigkeit und den inneren Naturzwecken, wie vom moralischen Endzweck und Urgrund der Welt. Nachdem KANT den Zusammenhang seiner Erkenntnis- und Freiheitslehre oder, was dasselbe heißt: die Identität zwischen Ding-ansich und Willen so einleuchtend und ausführlich dargelegt hat, kann ich unmöglich mit SCHOPENHAUER meinen, daß ihm diese Sache nur dunkel, gleich einer Ahnung, vorgeschwebt und er das Ding-ansich als Willen nicht mit der Überzeugung des Philosophen erkannt hat, sondern wie "der gute Mensch, der in seinem dunklen Drang sich des rechten Weges wohl bewußt ist".
Zwischen der folgerichtigen Erkenntnislehre KANTs und seiner Freiheitslehre ist kein Widerstreit, sondern der genaueste und tiefste Zusammenhang, den entdeckt und erleichtet zu haben, das unsterbliche Verdienst und die originale Geistestag kennzeichnet, welche die kantische Philosophie zu dem macht, was sie ist. Die Freiheitslehre forderte eine mit der Glückseligkeitslehre völlig unvermischte, über jede Art der eudämonistischen Lebensansich, darum auch über allen Streit zwischen Optimismus und Pessimismus völlig erhabene Moral, die KANT, indem er Tugend und Glückseligkeit voneinander geschieden hat, auch ausgeführt, aber in seiner Lehre vom höchsten Gut, indem er Tugend und Glückseligkeit miteinander verbunden hat, nicht festgehalten, sondern im Grunde verleugnet hat. Nachdem in der Sittenlehre der eudämonistische Lebenszweck von der Freiheit und Willenslauterkeit völlig ausgeschlossen war, durfte er durch die Lehre vom höchsten Gut und von der Fortdauer der Seele nicht wieder eingeführt werden. Ich habe, um die Unsterblichkeitslehre unseres Philosophen klar zu stellen und die wahre von der falschen zu unterscheiden, schon früher diesen Widerstreit in seiner Freiheitslehre auseinandergesetzt und erspare mir daher alle Wiederholung, indem ich auf jene Erörterungen zurückweise. (26) Erkenntnis- und Entwicklungslehre Daß KANT die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der Dinge schon vor der "Kritik" gefordert und zu seiner Aufgabe gemacht hat, daß er dieselbe durch die Vernunftkritik begründet und ihre Grundzüge in seiner Ansicht von der Natur und Gesittung,m von der organischen, sozialen und moralischen Welt ausgeführt hat, ist in einem der vorhergehenden Abschnitte nachgewiesen worden. Auch habe ich gezeigt, daß seiner Lehre gemäß die Weltentwicklung als Erscheinung, und zwar als zweckmäßige Erscheinung zu fassen ist, daß sie in ihrer Einheit wie in ihrem tiefsten Grund nichts anderes als die fortschreitende Offenbarung der Freiheit ist und sein kann. Darum galt mir KANTs Entwicklungslehre als eine Vereinigung seiner Erkenntnis- und Freiheitslehre, und die Weltentwicklung selbst als eine Vereinigung der Erscheinung und des Dings-ansich: als eine solche Vereinigung, die weder beide vermengt, noch auch die Unerkennbarkeit des Dings-ansich aufhebt, denn dieses, als der innerste Zweck des Dings, ist in der Erscheinung, als dem Objekt unserer Erfahrung, durch keinerlei noch so genaue Zergliederung anzutreffen. Es gibt demnach einen Gesichtspunkt der Beurteilung, unter welchem die kantische Entwicklungslehre mit der Erkenntnislehre zunächst nicht streitet. Wir müssen die Entwicklung der Dinge teleologisch vorstellen und universell fassen; wir müssen ihre Geltung auf das gesamte Weltall ausdehnen, aber ihre Erkennbarkeit auf die moralische Ordnung der Dinge einschränken, da uns alle Zwecke bloß aus dem Willen und dieser nur aus der eigenen praktischen Vernunft einleuchtet. Daher bleibt, wie die Zwecke überhaupt, auch die Entwicklung der Dinge theoretisch unerkennbar. Da nun alle Erscheinungen Gegenstände unserer Erfahrung oder wissenschaftlichen (theoretischen) Erkenntnis sind, und die Entwicklung wohl Erscheinung ist, aber kein Erkenntnisobjekt sein soll: so tritt uns hier zwischen der kantischen Erkenntnis- und Entwicklungslehre ein Widerstreit entgegen, welcher die letztere selbst trifft und darin besteht, daß der Entwicklung der Charakter der Erscheinung zugesprochen und der wissenschaftlicher Erkennbarkeit abgesprochen wird. Die kantische Philosophie lehrt die Unerkennbarkeit des Dings-ansich und die Erkennbarkeit der Erscheinung: sie erschüttert diese ihre Grundlehre, sobald sie genötigt ist, entweder jenes für erkennbar oder diese für unerkennbar gelten zu lassen. Zu einer solchen Nötigung wird sie durch die Entwicklungslehre gebracht. Ohne die Erkenntnis des Zwecks oder des Dings-ansich, welches der Entwicklung der Dinge zugrunde liegt, ist diese eine unverständliche, unerkennbare, also streng genommen überhaupt keine Erscheinung. Wenn uns der innere Zweck der Dinge nicht einleuchtet, so erscheint uns in der Natur der Dinge auch keine Entwicklung. Daher findet sich die kantische Entwicklungslehre vor folgendes Dilemma gestellt: entweder muß der einleuchtende, erkennbare, d. h. phänomenale Charakter der Entwicklung verneint oder die Erkennbarkeit des Dings-ansich bejaht werden, und zwar nicht bloß die praktische und moralische Erkennbarkeit, sondern auch die theoretische und wissenschaftliche. Erscheinungen und den Dingen ansich 1. Die Erkennbarkeit der menschlichen Vernunft Die wissenschaftliche Geltung der Entwicklungslehre fordert diese Bejahung. Daher läßt sich die kantische Erkenntnislehre nicht in der Verfassung festhalten, welche ihr die Vernunftkritik gegeben hat, zufolge deren nur die sinnlichen Erscheinungen Erkenntnisobjekte sind, alle theoretische Erkenntnis auf das Gebiet der Erscheinungen oder Sinnesobjekte, alle praktische dagegen auf das Gebiet der Freiheit oder der Ideen eingeschränkt bleibt, und jede weitere Erkenntnis für unmöglich gilt. Die Vernunftkritik selbst widerstreitet diesem Resultat, denn sie muß eine Erkenntnis einräumen, die weder praktisch (moralisch) ist, noch sinnliche Dinge oder Erscheinungen zu Gegenständen hat: diese Erkenntnis ist sie selbst, sofern sie auf dem Weg ihrer Forschung die Bedingungen der Erfahrung ergründet und einsieht. Sie will in ihrer transzendentalen Ästhetik und Analytik die Einrichtung oder Organisation der menschlichen Vernunft erkannt haben: diese Erkenntnis ist keine praktische, denn ihr Objekt ist nicht die Freiheit; auch sind die Gegenstände dieser Erkenntnis keine Erscheinungen, denn Raum und Zeit sind, wie die Vernunftkritik lehrt, nicht Erscheinungen, so wenig wie die produktive Einbildung, der reine Verstand und das reine Bewußtsein; diese Erkenntnis ist nicht Erfahrung, denn ihrer Gegenstände sind diejenigen Bedingungen, welche aller Erfahrung vorausgehen und dieselbe machen. Wenn nun alle Erkenntnis, die zunächst nur Einsichten, nicht aber Handlungen bezweckt, theoretisch und wissenschaftlich genannt werden muß, so liefert die kantische Vernunftkritik eine solche Erkenntnis, die weder empirisch noch praktisch, wohl aber theoretisch ist und den Charakter der Wissenschaft in Anspruch nimmt. Sie ist Erkenntnislehre und würde es nicht sein, wenn ihre Lhre von der Erkenntnis keine Erkenntnis wäre; sie begründet die Erfahrungserkenntnis, indem sie zeigt, wie dieselbe entsteht, und würde dieses ihr Ziel verfehlen, wenn sie selbst Erfahrung wäre, denn das hieße die Erfahrung durch die Erfahrung begründen, also nicht begründen, sondern voraussetzen, wie die dogmatische Philosophie getan hat. Man möge mir nicht einwednen, daß ja KANT die induktive Methode der Erfahrungswissenschaft gebrauch hat, um seine Erkenntnislehre zu begründen, also die Vernunftkritik selbst auf dem Weg der Erfahrung entstanden ist. Man täusche sich nicht über die Sache durch ein zweideutiges Spiel mit dem Wort Erfahrung! Als solche im genauen Verstand gilt unserem Philosophen nur diejenige Erkenntnis, deren Objekte Erscheinungen sind, wogegen die Vernunftkritik zu einer solchen Erkenntnis führt, deren Gegenstände keine Erscheinungen sind, sondern die subjektiven Bedingungen aller Erscheinung. Ein anderes ist die Tatsache der Erfahrung, ein anderes deren Begründung. Was durch Erfahrung begründet wird,ist empirisch erkannt; dasjenige dagegen, wodurch die Erfahrung selbst begründet wird, ist eben deshalb keine Sache der empirischen, sondern der transzendentalen Erkenntnis, welche beide Erkenntnisarten unser Philosoph unterscheiden mußte, wie er sie unterschieden hat. Wenn nach ihm alle Erkenntnis teils theoretisch, teils praktisch (moralisch) ist, so hat die transzendentale den Charakter der theoretischen Erkenntnis, aber nicht den der empirischen. Daher muß ich erklären, daß die Vernunftkritik mit ihren eigenen Einsichten über jene Grenze hinausgeht, welche sie selbst aller theoretischen Erkenntnis als unüberwindbare Schranke gesetzt hat. Die Einsicht in jene subjektiven Bedingungen, woraus unsere Erscheinungen (Erfahrungsobjekte) und deren Erkenntnis entsteht, war der transzendentale Idealismus; die dadurch begründete Einsicht, daß wir keine anderen Erkenntnisobjekte als die sinnlichen Erscheinungen haben können, war der empirische Realismus. Wir wissen, welcher notwendige Zusammenhang zwischen beiden besteht: sie verhalten sich, wie Grund und Folge. Nichts ist aber gedankenloser, als wenn in der Beurteilung der kritischen Philosophie, wie heutzutage in vielen Schriften zu finden ist, der Charakter des transzendentalen Idealismus, sei es aus Unkenntnis oder Unverstand, ganz außer Acht gelassen und die kantische Lehre zum Empirismus erklärt wird. Die Vernunftkritik trägt die Aufgabe in sich, aus dem Wesen unserer Vernunft, das uns nur vermöge der tiefsten Selbsterkenntnis einleuchtet, die Bedingungen der Erfahrung, die KANT als "Erkenntnisvermögen" bezeichnet hat, abzuleiten und damit die Erkenntnislehre zu einer wirklichen Entwicklungslehre der Erkenntnis auszubilden. Diese Aufgabe bleibt in der kantischen Philosophie selbst ungelöst, aber wir haben gezeigt, wie die Vernunftkritik schon die Anlage dazu enthält und ihre Untersuchungen dergestalt ordnet, daß sie uns den Entwicklungsgang der menschlichen Erkenntnis von der Wahrnehmung bis zur Wissenschaft und dem Fortschritt der Wissenschaften in seinen Grundzügen darstellt. (27) Nun ist die Erkenntnislehre selbst eine wissenschaftliche Erkenntnis, und die Entwicklungslehre gründet sich auf den Begriff des Zwecks, ohne welchen keinerlei Entwicklung als solche einleuchtet: daher darf dieser Begriff nicht bloß als ein moralisches Prinzip zur Erkenntnis der sittlichen Ordnung der Dinge und nicht bloß eine Maxime der Reflexion zur Beurteilung der organischen Welt angesehen werden, sondern er ist ein Erkenntnisprinzip, welches für die gesamte erkennbare Weltordnung, die natürliche wie die moralische, gilt. Naturzwecke und der blinden Intelligenz. Prüfen wir den Grund, warum KANT die Erkennbarkeit des Zwecks auf die moralische Welt eingeschränkt und von der natürlichen ausgeschlossen, warum er dem inneren Naturzweck, den er als eine notwendige Idee in unsere Betrachtung der organischen Welt und als Prinzip der teleologischen Urteilskraft in seine Vernunftkritik eingeführt hat, die Erkennbarkei abzusprechen sich genötigt sah. Er urteilte, daß die Zweke nur so weit erkennbar sein, als sie gewußt und gewollt sind, daß nur der Wille und die Intelligenz Zwecke setzen und zweckmäßig haneln können, daß darum die Natur oder die Körperwelt keine Zweck hat, keine erkennbaren, daß darum auch die Zwecke, ohne welche wird die Entstehung und Einrichtung der lebendigen Körper nicht verstehen noch erfahren können, keine in der Natur wirksamen Kräfte, keine erkennbaren Objekte, sondern bloße Ideen sind, die wir haben müssen, weil in den organisierten Körpern die Teile aus dem Ganzen verstanden sein wollen, wir aber mit unserem diskursiven Verstand das Ganze nur aus den Teilen zusammenfügen und begreifen können: daher sind wir unvermögend, ein Ganzes, welches sich selbst teilt und gliedert, anzuschauen und müssen dasselbe, weil wir es nicht als den erzeugenden Grund des Lebens zu erkennen imstande sind, als den Zweck des letzteren vorstellen. Wir müssen das Ganze, das wir vorstellen sollen, aber nicht als Objekt anschauen können, als Idee denken und deshalb die lebendigen Körper teleologisch beurteilen. Hätten wir einen intuitiven Verstand, so brauchten wir keine teleologische Urteilskraft. Zu diesem Vermögen flüchtet gleichsam unsere Vernunft in ihrer Ohnmacht, sie entwickelt dasselbe aus ihren Grundkräften, weil sie es bedarf, um das Unvermögen der letzteren, so gut sie kann, zu ergänzen. In der Art und Weise, wie KANT die reflektierende Urteilskraft überhaupt und insbesondere die teleologische begründet, erscheint dieselbe als eine notwendige Entwicklungsform der menschlichen Vernunft, die eine Aufgabe lösen, ein Erkenntnisbedürfnis befriedigen will und dieses Ziel bei der eigentümlichen Verfassung ihrer intellektuellen Vermögen auf keinem anderen Weg erreichen kann. (28) Die Zwecke in der Natur sind nach kantischer Lehre darum unerkennbar und im Grunde unmöglich, weil sie durch Wille und Intelligenz gesetzt sein müßten, und eine solche bewußtlose Intelligenz, eine solche zugleich zwecktätige und blinde Kraft dem Begriff der Materie widerstreitet, denn der Hylozoismus [Lehre vom belebten Urstoff als Grund aller Dinge - wp], der eine lebendige, aus inneren Ursachen wirksame Materie lehrt, gilt nach der Ansicht unseres Philosophen als der Tod aller Naturphilosophie. Da es nun eine lebendige und organisierte Materie gibt, die wir uns ohne zweckmäßige Einrichtung nicht vorstellen können, so mußte KANT die zwecktätige, ihr zugrunde liegende Kraft aus dem moralischen Urgrund der Dinge, d. h. aus einem göttlichen Willen herleiten und seine teleologische Lebens- und Weltanschauung theistisch begründen. Damit aber werden jene inneren Naturzwecke, deren Idee unsere teleologische Urteilskraft beherrscht und leitet, in göttliche Absichten verwandelt, und das Leben selbst bleibt unerklärt und unerklärlich, wie alle natürliche Entwicklung. Die Unerkennbarkeit der Naturzwecke wird von unserem Philosophen begründet durch die Unmöglichkeit einer bewußtlosen Intelligenz oder eines blinden Willens, deren Realität LEIBNIZ in seiner Lehre von den unbewußten oder kleinen Vorstellungen (perceptions petites) erleuchtet und in seinem Erkenntnissystem zu fundamentaler Bedeutung erhoben hatte. Wir müssen urteilen, daß auch KANT genötigt war, die Erkennbarkeit der Naturzwecke und die unbewußte Wirksamkeit unserer intellektuellen Vermögen gelten zu lassen. Er anerkennt in der menschlichen Natur, was er in der organischen verneint. Wir befördern durch den "Mechanismus der Neigungen", wie KANT das Getriebe unserer natürlichen Lebenszwecke nennt, die sittlichen Lebenszwecke, ohne sie zu erkennen und zu wollen. Unsere natürlichen Interessen erzeugen jenen Kampf ums Dasein, jene fortschreitende Teilung der Arbeit, aus welcher unbewußt und ungewollt die sittlichen Lebensordnungen hervorgehen. Überall, wo der Philosoph die Notwendigkeit der letzteren begründet, legt er das größte Gewicht auf die Realität und Wirksamkeit unserer rein natürlichen und zugleich einleuchtenden Lebenszweck. (29) Daß wir eine gemeinsame Sinnenwelt vorstellen, ist eine Tatsache, die unser reflektierendes Bewußtsein vorfindet, aber nicht macht, die vielmehr aus dem Stoff unserer Eindrücke durch die ordnenden Vorstellungsvermögen der Vernunft hervorgebracht wird, also durch die reflexionslose oder unbewußte Wirksamkeit der Intelligenz entsteht. Der Philosoph erkannte in der produktiven Einbildungskraft dieses gestaltende Grundvermögen, welches unbewußt nach den Gesetzen des reinen Bewußtseins handelt und das Band zwischen Sinnlichkeit und Verstand ausmacht.
und der Schönheit Wenn KANT lehrt, daß alle Erscheinungen aus den subjektiven Bedingungen unserer Vernunft, nämlich dem Stoff der Eindrücke und den formgebenden Vermögen oder den Gesetzen des Vorstellens hervorgehen, so widerstreitet dem seine Ansicht von den organischen Erscheinungen. Jenen Bedingungen gemäß darf es in der gesamten Sinnenwelt keine Objekte geben, die nicht aus solchen Teilen zusammengesetzt sind, die dem Ganzen vorausgehen; daher lehrt auch der Philosoph, daß alle Erscheinungen, insbesondere die Körper, nur mechanisch erkennbar sind. Nun aber gibt es gewisse Objekte, mit denen es sich umgekehrt verhält: hier entsteht nicht das Ganze aus den Teilen, sondern diese aus jenem; jedes dieser Objekte ist ein Ganzes, welches sich teilt, gliedert, entwickelt. Solche Erscheinungen sind die lebendigen Körper. Könnten wir ein Ganzes von seinen Teilen anschauen und diese aus jenem herleiten, so wäre auch der Organismus mechanisch erkennbar, also ein wissenschaftliches Erkenntnisobjekt im genauen Sinn des Wortes. Wir können es nicht, weil uns ein solches Anschauungsvermögen, solcher intuitiver Verstand fehlt: darum müssen wir die Einrichtung und Teile des Organismus aus der Idee des Ganzen herleiten und ihn deshalb teleologisch beurteilen. Nun bemerke man wohl: der Charakter des lebendigen Körpers besteht in einem Ganzen, welches sich teilt, gliedert, entwickelt; nicht dieser Charakter des Organismus, sondern nur die teleologische Vorstellung desselben kommt auf die Rechnung unserer Vernunft. Was demnach die lebendigen Erscheinungen charakterisiert und sie zu dem macht, was sie sind, läßt sich aus den subjektiven Bedingungen unserer Eindrücke und Vorstellungsformen nicht herleiten und ist nicht in der allgemeinen, sondern in der spezifischen Gesetzmäßigkeit oder Eigenart der Erscheinungen selbst begründet. (31) Wenn es lebendige Dinge gibt, so erklärt uns KANT in seiner Kritik der Urteilskraft, warum wir uns dieselben teleologisch vorstellen müssen. Daß es aber lebendige Dinge gibt, oder was dasselbe heißt, daß uns Leben in der Sinnenwelt erscheint, macht uns die Vernunftkritik und der transzendentale Idealismus nicht begreiflich. Im Gegenteil, wenn wir die Art und Weise vergleichen, wie er den Charakter und die Tatsache des Lebens auffaßt, so bleibt es unerklärt und unerklärlich, daß uns überhaupt Leben in der Körperwelt erscheint. Wir müssen daher urteilen, daß entweder das Leben als solches nicht in die Erscheinungswelt gehört, oder daß in ihm etwas erscheint, was die Vernunftkritik nicht aus unseren Erkenntnisvermögen, weder aus der Sinnlichkeit noch aus dem Verstand, herleiten kann, sondern was unabhängig von unseren Vorstellungen und Erscheinungen dem Leben zugrunde liegt und seine Erscheinung ausmacht. Nun ist die Tatsache und Erscheinung des Lebens unleugbar. Der erzeugende Grund desselben, da er unabhängig von unseren Vorstellungen und Erscheinungen besteht, gehört unter die Dinge-ansich, die als Ideen und Zwecke gedacht sein wollen und in Wahrheit Wille sind, das Prinzip der intelligiblen oder moralischen Weltordnung. Wir sind genötigt, jenen erzeugenden Grund des Lebens als inneren Naturzweck, d. h. als unbewußte Intelligenz und blinden Willen vorzustellen und können nun diese Vorstellung nicht mehr für eine bloße Idee halten, die wir der Erscheinung des Lebens hinzufügen, da ohne diese Realität und Wirksamkeit innerer Naturzwecke, d. h. ohne blinden Willen die Tatsache und Erscheinung des Lebens überhaupt nicht stattfinden, also jede Hinzufügung von Seiten unserer Vernunft gegenstandslos sein würde. Jenes Ganze, welches sich differenziert, teilt und gliedert, ist der bestimmte Lebenszweck oder Wille zum Leben, der sich betätigen und zu seinen Funktionen die notwendigen Organe entwickeln muß. Und was von den lebendigen Erscheinungen gilt, muß auch von den ästhetischen gelten. Daß in unserem Vernunftvermögen ein Zustand der Harmonie und Freiheit stattfindet, worin wir, unabhängig von allen Interessen des Begehrens wie des Erkennens, uns rein betrachtend und formgenießend verhalten: das folgt aus der Einrichtung unseres intelligenten Wesens. Das ästhetische Wohlgefallen ist ein rein subjektiver Zustand, ohne Beziehung auf welchen überhaupt nicht von ästhetischen Gegenständen die Rede sein könnte. Daß wir aber in diesem Zustand freier Betrachtung diesen Gegenstand als schön, den anderen als häßlich, den dritten als erhaben empfinden, muß durch die eigentümliche Art der Erscheinungen bedingt sein und läßt sich so wenig, wie der Charakter des Lebens, aus den subjektiven Faktoren herleiten, welche die Erscheinungen und deren allgemeine Gesetzlichkeit begründen. Es muß demnach den Erscheinungen selbst etwas von unseren Vernunftvermögen Unabhängiges zugrunde liegen, das sie zu dem macht, was sie sind, und sich zu der gegebenen Erscheinung verhält, wie in uns der intelligible Charakter zum empirischen. Ich muß hinzufügen, daß mir dieses Etwas aus den Erscheinungen selbst einleuchtet, obwohl ich dasselbe in der Analyse der gegebenen Objekte nicht antreffe. Dieses Etwas ist das Ding-ansich, dessen völlige Unerkennbarkeit unser Philosoph zwar behauptet, aber in seinen fortschreitenden Untersuchungen keineswegs festgehalten, vielmehr in seiner Kritik der praktischen Vernunft wir in der der Urteilskraft in einer Weise gelichtet hat, die er in der Kritik der reinen Vernunft nicht vorausgesehen hat. Wir wissen, daß noch in der zweiten Ausgabe der letzteren er die Möglichkeit derjenigen Prinzipien verneint hat, deren Notwendigkeit er dann entdeckte und seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft zugrunde legte (32). Man muß diese sehr bemerkenswerte Tatsache wohl beachten und in der Beurteilung der kantischen Lehre nicht vergessen, daß sie keineswegs als ein fertiges System aus der Vernunftkritik hervorgegangen ist, sondern sich fortentwickelte und zu Resultaten geführt wurde, die in jenem Werk nicht angelegt waren, auch mit seiner Grundlage nicht übereinstimmten, auch nicht durch den Versuch künstlicher Symmetrien, wie sie der Philosoph gern anzuwenden pflegte, ihr angepaßt werden konnten. Die Erscheinungen, denen wir die Vorstellung der Schönheit, Erhabenheit usw. und die der inneren Zweckmäßigkeit hinzufügen, decken sich nicht mit den Erscheinungen, deren Entstehung uns die Vernunftkritik gelehrt hat: sie sind von eigener Art und enthalten mehr in sich als jene. Nach der Vernunftkritik sind die Dinge ansich das Substratum unserer Vernunftbeschaffenheit wie der Erscheinungen; darum sind sie von den letzteren völlig zu unterscheiden, niemals mit denselben, also auch nie mit den Dingen außerhalb von uns, zu vermengen, sondern als der unerkennbare Urgrund der Dinge zu denken: das ist die Lehre, die sich durch die gesamte Vernunftkritik wie ein roter Faden durchzieht, und es ist schwer zu glauben, daß jemand dieses Werk gelesen hat und den kantischen Charakter dieser Lehre in Abrede stellt. Es konnte dem Philosophen nicht einfallen, das Ding ansich für eine bloße Vorstellung oder für ein bloßes Gedankending, d. h. für die von uns den Erscheinungen hinzugedachte Ursache und für weiter nichts zu halten, wie in vielen heutigen Schriften über KANT zu lesen steht. Wäre das Ding ansich ein bloßes Gedankending und nichts weiter, so wäre dasselbe als solches ja völlig erkennbar, und keineswegs unerkennbar und unerforschlich, wie doch die Vernunftkritik auf das Nachdrücklichste lehrt. Wenn den Dingen ansich der Charakter des wahrhaft Wirklichen oder Realen, als des Urgrundes aller vorstellenden und erscheinenden Dinge nicht zukäme, so hätte ja die Lehre von ihrer Unerkennbarkeit keinen Sinn und wäre nicht bloß bedeutungslos, sondern geradezu ungereimt. Wie kann etwas, das im Grunde gar nicht ist, sondern bloß gedacht wird, im Ernst für unerkennbar gelten? Wer daher meint, daß nach kantischer Lehre von der Realität der Dinge ansich nicht zu reden sein darf, der muß auch behaupten, daß KANT nie von der Unerkennbarkeit derselben geredet hat. Meint er das letztere wirklich: nun so gehört er unter jene zahlreichen Kenner unseres Philosophen, die Bücher über seine Lehre schreiben, und für welche die Vernunftkritik bis heute ein Ding ansich ist! Jeder, der in diesem Werk den grundlegenden Untersuchungen bis zum Schluß der transzendentalen Analytik gefolgt ist, wird nach dem Abschnitt "Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phänomena und Noumena" den Eindruck haben, daß die Dinge ansich unerkennbar sind und bleiben, daß sie das unauflösliche Rätsel in der Welt darstellen, und unsere Erkenntnis sich auf die Sinnlichen Objekte und deren Erfahrung zu beschränken hat. Diese neue Begründung des Empirismus, womit die Zerstörung aller Metaphysik Hand in Hand geht, gilt nun als das Hauptverdienst und die eigentliche Tat der kantischen Kritik. Unter einem solchen Eindruck sind unsere heutigen "Neukantianer" stehen geblieben und auch manche unserer Naturforscher, die den Königsberger Philosophen weniger kennen als loben. Sie übersehen, daß die Begründung des Empirismus nicht Empirismus ist und sein kann, daß dieselbe in der Erforschung der Prinzipien aller Erfahrung und Erfahrungsobjekte bestehen und darum eine Prinzipienlehre oder "Metaphysik der Erscheinungen" zur Folge haben muß, die begründet zu haben KANT als die Aufgabe und Leistung seiner neuen Erkenntnislehre ansah. Er würde sonst nicht seine Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können", geschrieben haben. Wenn wir aber den Gang der Vernunftkritik weiter verfolgen und bis zum Schluß der transzendentalen Dialektik gelangt sind, so hat sich das Dunkel, worin die Dinge-ansich gehüllt waren, schon etwas gelichtet, obwohl ihre Unerkennbarkeit durch Beweise bekräftigt ist. Wir sind belehrt, daß und warum wir uns die Dinge-ansich vorstellen müssen, daß sie zwar keine Erkenntnisobjekte, aber notwendige Ideen sind, die den Urgrund der Dinge, der vorstellenden wie der erscheinenden, den Urgrund allen Daseins, des möglichen und des wirklichen, zu ihrem Thema haben. Wir wissen jetzt auch, was unter diesen Urgründen oder unbedingten Prinzipien vorzustellen ist: nämlich die Seele, die Welt als Ganzes und Gott.' Unter den Weltideen wird uns die transzendentale Freiheit als die einzige dargestellt, die zwar nie Erscheinung und Erkenntnisobjekt, wohl aber der denkbare Urgrund aller Erscheinungen und ihrer naturgesetzlichen Ordnung sein kann. Zuletzt dienen uns die Ideen auch zur Richtschnur der Erkenntnis, sie geben sich als leitende Erkenntnisprinzipien, d. h. als Ziele der Erfahrung, die zwar nie zu erreichen, wohl aber fortwährend zu erstreben sind, um unser Wissen zu ordnen und in demselben die höchste Einheit mit der höchsten Mannigfaltigkeit dergestalt zu vereinigen, daß die Stückwerke der Erfahrungswissenschaften sich immer mehr zusammenfügen und dem Muster eines Erkenntnissystems, das ein Ganzes aus einem Stück bildet, annähern. Wäre dieses Muster erreichbar, so würden alle Wissenschaften zuletzt Glieder eines Ganzen sein, und die Weltordnung würde uns als ein genealogisches System einleuchten, worin alle Erscheinungen in ihren spezifischen Arten von einem einzigen Urgrund abstammen. Dieser Urgrund ist unerkennbar. Daher sollen auch die Ideen, indem sie der Erfahrungswissenschaft "die Grundsätze der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität (Affinität)" vorschreiben, nur als Maximen unserer Erkenntnis, nicht als Prinzipien der Dinge gelten (33). Indessen sind in der Ideenlehre die Dinge-ansich schon so weit aus ihrem Dunkel hervorgetreten, daß sie für unsere Erkenntnis zwar nicht gegenständlich, wohl aber zielsetzend und wegweisend erscheinen. Die Methodenlehre der reinen Vernunft tut einen Schritt weiter: sie eröffnet uns in ihrem "Kanon" die Möglichkeit zu einer Erkenntnis der Dinge-ansich, nicht auf dem Weg der Erfahrung und Wissenschaft, sondern aufgrund sittlicher Gesetze durch unmittelbare Selbsterkenntnis oder moralische Gewißheit. Wenn es solche Gesetze gibt, so haben dieselben eine unbedingte, von aller Erfahrung unabhängige, über alles Wissen, Meinen und Zweifeln erhabene Geltung, die uns unmittelbar einleuchtet. Und so gewiß sie selbst sind, so gewiß machen sie uns auch die Realität der sittlichen Weltordnung und derjenigen Ideen, die deren Kraft, Endziel und Urgrund vorstellen: das sind die Ideen der Freiheit, Unsterblichkeit und Gottheit. So entläßt uns die Vernunftkritik mit der Aussicht auf die Möglichkeit einer Erkenntnis der Dinge-ansich, nur daß wir gehalten werden, diese Erkenntnis nicht theoretisch, sondern praktisch zu nehmen, nicht als objektive, sondern als subjektive oder persönliche Gewißheit anzusehen und nicht als Wissenschaft, sondern als Glauben zu bezeichnen. Die Kritik der praktischen Vernunft realisiert jene Möglichkeit, welche die Methodenlehre der reinen Vernunft in Aussicht gestellt hat: sie konstatiert die Tatsache des Sittengesetzes und erkennt die Realität der Freiheit und der moralischen Weltordnung. Daß unserer theoretischen Vernunft das Ding-ansich zugrunde liegt, lehrt die Kritik der reinen Vernunft. Daß dieses Ding-ansich der Wille ist, lehrt die der praktischen. Gleichviel unter welchem Titel die Erkenntnis des Dings-ansich gelten soll: die Hauptsache ist, daß es nicht bloß als Idee, sondern als Realität und Kraft in den Erleuchtungskreis unserer Vernunft eingeht; wir erkennen, was es ist, und daß die Kulturgeschichte der Menschheit in der Erfüllung der Freiheitsgesetze und der sittlichen Vernunftzwecke besteht, denen unsere natürlichen Lebenszwecke untergeordnet sind und dienen. Die kantische Rechts- und Religionsphilosophie nebst den dazu gehörigen geschichtsphilosophischen Aufsätzen erleuchtet uns die Weltgeschichte als die notwendige Entwicklung und Erscheinung der Freiheit. Und daß nicht bloß die sittliche, sondern auch die sinnliche oder natürliche Weltordnung, daß nicht bloß die kulturgeschichtliche, sondern auch die naturgeschichliche Entwicklung der Welt die Erscheinung des Willens und der Freiheit ist, lehrt uns der Philosoph in seiner Kritik der Urteilskraft. Der Wille ist das Ding-ansich, das der Einrichtung unserer Erkenntnisvermögen zugrunde liegt, unsere intellektuelle Entwicklung macht und in den Dienst der moralischen stellt. Der Wille ist das Ding-ansich, das den Erscheinungen zugrunde liegt und den empirischen Charakter derselben so eigenartig gestaltet, daß wir genötigt sind, ihre Formen (im Zustand unserer freien Betrachtung) ästhetisch und ihr Leben teleologisch zu beurteilen. Hier zeigt sich, daß im empirischen Charakter der Dinge etwas gegeben ist, was sich aus unserer theoretischen Vernunft nicht erklären, in unserer Erfahrung und Analyse der Erscheinungen nicht erkennen läßt und doch unserer Vorstellung notwendig und unwillkürlich einleuchtet. Dieses Etwas ist die Erscheinung der Freiheit und die Freiheit der Erscheinung, mit einem Wort: die natürliche Freiheit, ohne welche es keine Entwicklung, kein Leben, keine Schönheit gibt, ohne welche daher unsere ästhetische wie teleologische Urteilskraft gegenstandslos sein würde. Daß zwischen dem Ding-ansich, welches unseren Erkenntnisvermögen, und dem, welches den Erscheinungen oder der Sinnenwelt zugrunde liegt, eine Übereinstimmung stattfinden muß, hat der Philosoph schon in (beiden Ausgaben) seiner Vernunftkritik angedeutet und in der Kritik der Urteilskraft behauptet, indem er hier zugleich erklärt, worin diese Übereinstimmung besteht. Erst dadurch werden gewisse sehr merkwürdige Sätze erleuchtet, die bei einem gründlichen Studium der Vernunftkritik jedem eindringenden Leser aufgefallen sein und den Eindruck gemacht haben werden, daß der Philosoph mehr sagt, als ihm seine Erkenntnislehre gestattet. Er spricht es als eine Möglichkeit aus, daß den äußeren und inneren Erscheinungen oder, was dasselbe heißt, den Körpern und den Gedanken ein und dasselbe Ding-ansich zugrunde liegt. Hören wir seine eigenen Worte:
Nun lehrt die Kritik der praktischen Vernunft, indem sie den Primat der letzteren begründet, daß dies das Ding-ansich ist, welches unserer theoretischen Vernunft zugrunde liegt und dieselbe beherrscht: sie lehrt X = Wille oder Freiheit, und zwar gibt sie diesen Stz nicht mit einem "vielleicht" oder "es könnte so sein", sondern mit völliger Gewißheit. Wenn nun Y = X, und X = Wille oder Freiheit ist, so muß auch Y, das übersinnliche Substratum der Körperwelt, aufhören ein völlig unbekanntes oder unerkennbares Etwas zu sein: also Y = Wille und Freiheit. Der Philosoph muß zu dieser Gleichsetzung fortschreiten, er tut es in der Einleitung zu seiner Kritik der Urteilskraft, deren ganzes Thema darauf beruth, daß der verborgene Grund der Natur oder Körperwelt mit der Freiheit übereinstimmt, daß Wille und Freiheit auch der Sinnenwelt zugrunde liegen, daß auch diese ein Willensphänomen oder Erscheinung der Freiheit ist. Wenn sie es nicht wäre, gäbe es keine Selbstentwicklung der Körper, keine Erscheinung des Lebens, keine Gegenstände unserer ästhetischen und teleologischen Beurteilung, kein Thema der Urteilskraft, also auch keine Aufgabe zu deren Kritik. Darum sagt der Philosoph in der Einleitung der letzteren:
Je weiter die kantischen Untersuchungen fortschreiten, von der Erkenntnislehre zur Ideenlehre, zur Lehre von der moralischen Freiheit und Weltordnung, zur philosophischen Geschichtslehre, zur Lehre von der natürlichen Freiheit der Erscheinungen (Körper), mit welcher letzteren die Kritik der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft zusammenfällt, umso deutlicher erstellen sich die Dinge-ansich. Und je mehr die kantische Lehre diese aus den Erscheinungen hervorleuchten und die letzteren den Charakter der Willensphänomene gewinnen läßt, umso unverkennbarer prägt sich in ihr selbst der Charakter der Entwicklungslehre aus, umso deutlicher erscheint sie, wie es die Aufgabe des kritischen Denkens verlangt, als die philosophische Begründung und Ausbildung der entwicklungsgeschichtlichen Welterkenntnis. Dies ist der Weg, den die kantische Ideenlehre anweist und nimmt. Es ist daher eine sehr oberflächlich und grundfalsche Auffassung der kantischen Philosophie, wenn man ihre Lehre von den Erscheinungen und von den Dingen ansich so versteht, daß dadurch zum Wohle der Menschheit die Welt zwischen Wissenschaft und Poesie geteilt, mit jener der Empirismus und Materialismus als alleingültige Erkenntnis gerechtfertigt, mit dieser dagegen die Metaphysik auf den Pegasus gesetzt und die Ideenlehre berechtigt oder genötigt wird, ihr Gebiet im Land der Träume zu suchen. Auf diese Art läuft man mit dem Verfasser der Geschichte des Materialismus Gefahr, KANTs Kritik der Vernunft mit SCHILLERs "Teilung der Erde" zu verwechseln. Meine Prüfung der kantischen Grundlehren ist zu dem Ergebnis gelangt, daß auf dem Weg durch die drei kritischen Hauptwerke das System eine Ausbildung gewonnen hat, für welche die erste Grundlage weder berechnet war noch ausreicht. Nachdem das zweite Hauptwerk die erkennende Vernunft vom Gesetz der moralischen Freiheit abhängig gemacht und das dritte in der Schönheit wie im Leben der Erscheinungen den Charakter der natürlichen Freiheit entdeckt hat, sind neue Probleme entstanden, die nicht mehr aufgrund der Unerkennbarkeit der Dinge ansich für unlösbar gelten dürfen. Diese Probleme werden die Themata der nachkantischen Philosophie. ![]()
22) Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Anhang (5. Auflage, 1879), Seite 494-500. 23) Schopenhauer, a. a. O., Seite 513 und 517, 563-566, 610-614. 24) a. a. O., Seite 515-517. 25) a. a. O., Seite 599. 26) vgl. a. a. O., Seite 620-622. 27) vgl. Fischer, "Geschichte der neuern Philosophie", Bd. III (dritte Auflage, Buch II, Kap. XIV, Seite 519f. 28) Fischer, a. a. O., Bd. IV (dritte Auflage) Buch III, Kap. VI, Seite 492-498. 29) siehe oben Kapitel III 30) vgl. Fischer, a. a. O., Bd III (dritte Auflage) Buch I, Kapitel V, Seite 370 31) Über die Lehre von der spezifischen Gesetzmäßigkeit der Natur vgl. a. a. O., Bd. III (dritte Auflage) Buch II, Kap. XIV, Seite 514-518; Bd. IV (dritte Auflage, 1882) Buch III, Kap. I, Seite 403-406. 32) vgl. a. a. O., Bd. IV (dritte Auflage) Buch III, Kap. I, Seite 408f. 33) vgl. a. a. O., Bd. III (dritte Auflage), Buch II, Kap. XIV, Seite 514-518 34) Kr. d. r. V. (Ausgabe A). Vgl. Fischer, a. a. O., Bd. III (dritte Auflage), Seite 447 und 570. 35) Kr. d. r. V. (Ausgabe B). Vgl. oben Kapitel IV. 36) Kritik der Urteilskraft, Einleitung (Sämtliche Werke, Bd. 7, Seite 14). Vgl. Fischer, a. a. O., Bd. IV (dritte Auflage), Seite 397 und 497. Zur Erläuterung des angeführten Satzes vgl. oben Kapitel III. |