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KUNO FISCHER
Kritik der kantischen Philosophie
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"Es ist ein sehr unerfreuliches Geschäft, Gegner zurückweisen zu müssen, die weder von der Sache noch von der Art und Weise, wie ich dieselbe behandle, das Mindeste verstehen, doch mit unwissender und dreister Geschwätzigkeit ins Wesen hinein reden und sich eine Polemik anmaßen."

"Es gehört ein ungemeiner Grad von Konfusion und ein ungemeiner Mangel an Wahrheitssinn dazu, um Dinge zu vermengen, die miteinander nichts zu tun haben, und in eine Frage zu mischen, in die sie gar nicht gehören, und von welcher ich selbst sie ganz fern gehalten habe. Auf diese Art erläßt man sich die schwierige Aufgabe der Untersuchung und erleichtert sich das Geschäft oder Schreiberei."

Die Prüfung der
kantischen Grundlehren

Wir haben durch die Feststellung und Verknüpfung der Grundlehren KANTs die richtige Vorstellung vom Charakter des Systems gewonnen, wie dasselbe im Geist seines Urhebers gegenwärtig war. Es enthält Themata genug, die der Philosoph bloß in Umrissen entworfen oder gar nicht ausgeführt hat, Probleme genug, die er teils ungelöst gelassen, teils für unlösbar erklärt hat. Die Mängel aufzufinden und zu ergänzen, ist die Arbeit der Schüler, die das Werk des Meisters vervollständigen und ausbilden wollen, ohne an seine Prinzipien zu rühren .Dagegen ist der Versuch, das System über seine Schranken hinauszuführen und da fortzuschreiten, wo KANT stehen geblieben war und der Philosophie Halt geboten hatte, eine Aufgabe, die durch die Fortbildung und Umgestaltung der kantischen Lehre gelöst sein will. Um aber eine solche Aufgabe zu begründen, müssen wir prüfen, ob die Prinzipien seiner Lehre in der Form, wie der Philosoph sie beurkundet hat, feststehen, ob ihre Grundzüge miteinander übereinstimmen und keiner derselben sich oder den anderen widerstreitet.


I. Die Prüfung der Erkenntnislehre
1. Der Widerstreit in der Vernunftkritik

Wir fassen vor allem die Erkenntnislehre ins Auge, die das eigentliche Thema der Vernunftkritik ausmacht. Und hier ist unsere erste Frage: ob der Charakter des transzendentalen oder kritischen Idealismus, durch dessen Begründung KANT den Ruhm des KOPERNIKUS der Philosophie erworben hat, in der Vernunftkritik selbst unwidersprochen feststeht? Die fundamentale Geltung dieses neuen Lehrbegriffs ist außer Frage, nicht ebenso die konsequente Festhaltung. Damit berühren wir, wie der kundige Leser sogleich bemerkt, den Punkt, worin zwischen der ersten und der zweiten Ausgabe der Vernunftkritik jene vielbesprochene und bestrittene Hauptdifferenz besteht, die ich in der Schlußabhandlung der dritten Auflage des dritten Bandes meiner "Geschichte der neuern Philosophie" bereits zum Gegenstand einer sehr ausführlichen und genauen Erörterung gemacht habe. Die gegenwärtige Aufgabe, die es mit der Beurteilung der kantischen Lehre zu tun hat, nötigt mich, auf diesen so wichtigen Punkt zurückzukommen, indem ich zugleich auf den erwähnten Abschnitt hinweise (1).

Es ist gut, die Frage selbst so kurz und präzise wie möglich zu fassen. Der transzendentale Idealismus lehrt: alle unsere Erscheinungen oder Erfahrungsobjekte sind bloße Vorstellungen und nichts davon Unabhängiges. Daß es die inneren Erscheinungen sind, steht außer Frage. Es handelt sich aber nur um die äußeren: diese sind die Dinge außerhalb von uns, die Erscheinungen im Raum, also die Körper oder Materie. KANT mußte lehren und hat in der unzweideutigsten Weise, namentlich in den "Paralogismen der reinen Vernunft", wie sie in der ersten Ausgabe der Vernunftkritik enthalten sind, gelehrt: daß die Materie eine bloße Vorstellung ist. Er hat in der zweiten Ausgabe der Vernunftkritik eine "Widerlegung des Idealismus" gegeben und darin gelehrt, daß die Materie keine bloße Vorstellung ist. Dies ist der Punkt, um den es sich handelt. Wir sehen in der Lehre KANTs einen Widerspruch vor uns, den keine Auslegungskunst aus dem Sinn und Buchstaben der urkundlichen Stellen wegzuschaffen vermag.

Hier sind die urkundlichen Stellen. Die erste Ausgabe der Vernunftkritik lehrt in den "Paralogismen der reinen Vernunft" und in der "Betrachtung über die Summe der reinen Seelenlehre" Folgendes:
    "Wir haben in der transzendentalen Ästhetik unleugbar bewiesen, daß Körper bloße Erscheinungen unseres äußeren Sinnes und nicht Dinge ansich sind."

    "Ich verstehe aber unter dem transzendentalen Idealismus aller Erscheinungen den Lehrbegriff, nach welchem wir sie insgesamt als bloße Vorstellungen und nicht als Dinge ansich ansehen."
Es heißt vom transzendentalen Idealisten:
    "Weil er die Materie und so gar deren innere Möglichkeit bloß für Erscheinung gelten läßt, die, von unserer Sinnlichkeit abgetrennt, nichts ist, so ist sie bei ihm nur eine Art Vorstellungen (Anschauung), welche äußerlich heißen, nicht als ob sie sich auf ansich äußere Gegenstände bezögen, sondern weil sie Wahrnehmungen auf den Raum beziehen, in welchem alles außer einander, er selbst der Raum aber in uns ist. Für diesen transzendentalen Idealismus haben wir uns schon im Anfang erklärt."

    "Nun sind aber äußere Gegenstände (Körper) bloß Erscheinungen, folglich auch nichts anderes, als eine Art meiner Vorstellungen, deren Gegenstände nur durch diese Vorstellungen etwas sind, von ihnen abgesondert aber nichts sind."

    "Es wird klar gezeigt, daß, wenn ich das denkende Subjekt wegnehme, die ganze Körperwelt wegfallen muß, als die nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres Subjekts und eine Art Vorstellungen desselben." (2)
Nach der Lehre unseres Philosophen ist die Substanz nur durch ihre Beharrlichkeit und diese nur an derjenigen Erscheinung erkennbar, welche zu aller Zeit den Raum erfüllt: daher ist die Materie die einzig erkennbare Substanz, weil unter allen Objekten das allein beharrliche. Nun lehrt die zweite Ausgabe der Vernunftkritik in ihrer Widerlegung des Idealismus wörtlich:
    "Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein Ding außer mir und nicht durch die bloße Vorstellungen eines Dings außer mir möglich." (3)
Was demnach die Dinge außer uns, d. h. die Körper oder die Materie betrifft, so lehrt KANT in der ersten Ausgabe der Kritik: daß die äußeren Gegenstände (Körper) nur durch unsere Vorstellung etwas sind, von ihnen abgesondert aber nichts sind; dagegen in der zweiten Ausgabe: daß die Wahrnehmung der Materie nur durch ein Ding außer mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dings ausßer mir möglich ist. Er lehrt dort: daß die Dinge außer uns bloße Vorstellungen, hier dagegen: daß sie nicht bloße Vorstellungen sind. Er lehrt dort: daß die Dinge außer uns bloß durch unsere Vorstellung etwas, von ihnen abgesondert aber nichts sind; er lehrt hier: daß sie keineswegs durch unsere Vorstellungen der Dinge außer uns und diese selbst voneinander verschieden, die letzteren folglich von unseren Vorstellungen unabhängige Gegenstände, d. h. Dinge ansich sein müssen. Da nun die Dinge außer uns im Raum sind, so muß auch der Raum etwas von unserer Vorstellung Unabhängiges sein, was soviel heißt, als den transzendentalen Idealismus von Grund auf verneinen und mit vollen Segeln in den alten Dogmatismus zurückkehren. In seiner Begründung des transzendentalen Idealismus erscheint KANT als der KOPERNIKUS der Philosophie, in seiner Widerlegung des "psychologischen Idealismus" dagegen als PTOLEMÄUS oder als eine Mischung aus beiden, wie TYCHO de BRAHE.

Der Widerspruch der beiden Ausgaben liegt ganz offen zutage. Die zweite, worin der Text der Vernunftkritik endgültig festgestelle sein soll, enthält die Begründung des transzendentalen Idealismus und zugleich eine solche Widerlegung des Idealismus, welche jene schnurstracks zuwiderläuft: hier findet sich demnach ein Widerstreit der kantischen Vernunftkritik der Erkenntnislehre mit sich selbst, und zwar in buchstäblicher Fassung.


2. Die Entstehung des Widerstreits.

Die neue Widerlegung des Idealismus in der zweiten Ausgabe der Kritik wurde, wie die Anmerkungen und der Anhang in den Prolegomena durch jene Mißverständnisse hervorgerufen, die gleich in der ersten Rezension des kantischen Hauptwerks aufgetreten waren und den transzendentalen Idealismus der neuen Lehre mit dem dogmatischen der alten, insbesondere mit dem von BERKELEY, verwechselt hatten. (4)

Gegen solche falsche Auffassungen wollte unser Philosoph sein Werk schützen und deshalb die Sache des neuen Idealismus von der des alten durch einen bündigen und demonstrativen Beweis gänzlich trennen. Der erste begründet die Erscheinungen und die Erfahrung, der andere dagegen gründet sich auf die Tatsachen der inneren Erfahrung: darum bezeichnet KANT diesen dogmatischen Idealismus als den "empirischen" oder "psychologischen". Er fand denselben in zwei Hauptformen entwickelt. Aufgrund unserer inneren Erfahrung, die nichts als Vorstellungen in uns liefert, hatte der empirische Idealismus das Dasein der Dinge außerhalb von uns entweder für zweifelhaft oder für unmöglich erklärt; jenes war durch DESCARTES, dieses durch BERKELEY geschehen: daher nannte unser Philosoph die Lehre des ersten den "problematischen", die des anderen den dogmatischen Idealismus".

BERKELEY hatte eine grundfalsche Vorstellung vom Raum, den er, wie Farbe, Geschmack usw. unter unsere Empfindungen rechnete und deshalb eine von den Eindrücken unabhängige Raumvorstellung für etwas Unmögliches und völlig Imaginäres ansah. Er hielt für Vorstellungsstoff, was Vorstellungsform war. Darum verneinte er das Dasein der Dinge außerhalb von uns. Mit Recht sagt KANT: "Der Grund zu diesem Idealismus ist von uns in der transzendentalen Ästhetik gehoben." (5)

Es blieb also nur übrig, DESCARTES zu widerlegen. Zu diesem Zweck sollte bewiesen werden, daß unsere innere Erfahrung nur möglich ist unter der Voraussetzung der äußeren, die in der Vorstellung der Dinge außerhalb von uns besteht. Da aber alle Vorstellungen in uns sind, auch die der Dinge außerhalb von uns, so mußte bewiesen werden, daß diese Vorstellungen nur möglich sind unter der Voraussetzung des Daseins der Dinge außerhalb von uns, daß
    "die Vorstellung der Materie nur durch ein Ding außerhalb von mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dings außerhalb von mir möglich ist."
Genau diese Richtung nahm aus diesem Grund die "Widerlegung des Idealismus" in der zweiten Ausgabe der Kr. d. r. V. an. Um das Dasein der Dinge außerhalb von uns zu beweisen, machte KANT die innere Erfahrung abhängig von der äußeren und diese abhängig vom Dasein der Dinge außerhalb von uns, d. h. er machte das Dasein der Dinge außerhalb von uns unabhängig von unserer Vorstellung und diese abhängig von jenem: er ließ die Dinge außerhalb von uns, die Körper und die Materie Dinge ansich sein. Und so zerstörte KANT an dieser Stelle den transzendentalen Idealismus, indem er ihn verteidigen und gegen alle Verwechslung mit dem empirischen schützen wollte. Um die Sache des ersten von der des anderen gründlich zu trennen, riß er sie vom letzteren in dem Punkt los, worin beide übereinstimmen. Denn sie stimmen darin überein, daß alle unsere Erkenntnisobjekte Erscheinungen oder Vorstellungen und als solche in uns sind. Um nun zu zeigen, daß er beweisen kann, was DESCARTES nicht zu beweisen vermochte, führt er einen Beweis, den jener geführt hatte, und zwar auf demselben Weg: er demonstriert, daß unsere Vorstellung der Körper nur möglich ist unter der Bedingungen des von unseren Vorstellungen unabhängigen Daseins der Körper. Genau so hatte DESCARTES bewiesen, daß die Materie oder die ausgedehnte Substanz ein von allem Denken und Vorstellen unabhängiges Ding-ansich ist, und der Raum das von allem Denken und Vorstellen unabhängige Attribut dieses Dings (6).

Gewiß ist diese Widerlegung des Idealismus ein sehr merkwürdiges Beispiel, wie leicht in der Verteidigung seiner Sache selbst ein so mächtiger Denker, wie KANT, die eigene Position preisgibt, um nur den Schein jeder Gemeinschaft mit gewissen verwandten Standpunkten, die er bekämpft, los zu werden. KANT und BERKELEY lehren, daß der Raum in uns ist und die Dinge außerhalb von uns unsere Erscheinungen oder Vorstellungen und nichts davon Unabhängiges sind. Trotz dieser Übereinstimmung sind die Lehren beider aber grundverschieden. Nach BERKELEY ist der Raum eine Empfindung, wie Farbe und Geschmack; nach KANT ist er eine von allen Empfindungen unabhängige Anschauung. Nach BERKELEY ist der Raum ein gegebener Vorstellungsstoff, wie alle unsere Eindrücke; nach KANT ist einer notwendige Vorstellungsform oder ein Grundgesetz unseres Vorstellens. Daher war BERKELEYs Idealismus durch KANTs transzendentale Ästhetik widerlegt und die Verwechslung beider Standpunkte von Grund auf unberechtigt und falsch. KANT wies mit Recht auch diese Widerlegung zurück und hätte es dabei bewenden lassen sollen. Aber er mochte mit dem dogmatischen Idealismus BERKELEYs gar nichts gemein haben, und nun bewies er, daß die Dinge außerhalb von uns keineswegs bloße Vorstellungen sind und die Materie etwas von unseren Vorstellungen Unabhängiges. BERKELEY hatte die Materie zu einem Unding erklärt; jetzt bewies KANT deren Realität, als ob die Materie ein Ding-ansich wäre. BERKELEY hatte gesagt: der Raum ist in uns; jetzt bewies KANT, daß er außerhalb von uns ist. Und so war, wie es im Sprichwort heißt, das Kind mit dem Bad ausgeschüttet.


3. Die erneute Widerlegung des Idealismus.
Kant gegen Jacobi.

Indessen hatte sich der Philosoph mit seiner Widerlegung des Idealismus im Text der zweiten Ausgabe der Vernunftkritik noch nicht genug getan; er fand sich veranlaßt, auch die Vorrede zu diesem Werk mit einer längeren Anmerkung zu versehen, die jene Widerlegung erneuern, auf das Deutlichste bekräftigen und einen Gegner aus dem Feld schlagen sollte, der erst in jüngster Zeit aufgetreten war. Dieser Gegner war FRIEDRICH HEINRICH JACOBI mit seinen "Briefen über die Lehre Spinozas" und seinem "Gespräch über David Hume" ; jene waren zwei Jahre nach den "Prolegomena" (1785), dieses in dem selben Jahr als die zweite Ausgabe der Vernunftkritik (1787), aber einige Monate früher erschienen. Nun hatte JACOBI behauptet, daß wir das Dasein der Dinge außerhalb von uns nie zu beweisen vermögen, sondern desselben nur durch Glauben gewiß sein können, da uns ein solches Dasein bloß durch eine unmittelbare Erfahrung einleuchtet. Er hatte diesen seinen Stanpunkt nicht bloß allem Dogmatismus, sondern auch allem Idealismus der Philosophie entgegengesetzt, da der letztere genötigt ist, die Dinge außerhalb unserer selbst für bloße Vorstellungen in uns zu halten. Dieser Vorwurf gilt auch gegen den transzendentalen Idealismus.

Natürlich versteht JACOBI unter den Dingen außerhalb unserer selbst das von allen unseren Vorstellungen unabhängige Dasein der Dinge, d. h. die Dinge-ansich. Nun will KANT den Gegenbeweis führen: er will das Dasein der Dinge außerhalb von uns in dem Sinne demonstrieren, in welchem JACOBI die Unbeweisbarkeit desselben behauptet. So entsteht jene Anmerkung, die er seiner Vorrede vielleicht noch nachträglich einverleibt hat. (7) Man sieht voraus, daß er seinen Standpunkt zum zweiten Mal preisgibt: er wird beweisen, daß die Dinge außerhalb von uns Dinge-ansich sind. Wirklich hat ihn der Angriff JACOBIs dergestalt aus dem Häuschen gebracht, daß er den Idealismus mit einem Schlag fallen läßt.
    "Der Idealismus mag in Anbetracht der wesentlichen Zwecke der Metaphysik für noch so unschuldig gehalten werden (das er in der Tat nicht ist), so bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns (von denen wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unseren inneren Sinn her haben) bloß auf Glauben annehmen zu müssen und, wenn es jemand einfällt, es zu bezweifeln, ihm keinen genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können."
Er habe bereits den Idealismus bereits widerlegt und sich von dem Vorwurf desselben gereinigt, aber in den Ausdrücken jenes Beweises findet sich "einige Dunkelheit", die jetzt gänzlich verschwinden soll. Und nun wird die Widerlegung des Idealismus in veränderter Form so geführt, daß wir nicht länger zweifeln können, wie die Dinge außerhalb von uns jetzt als Dinge-ansich figurieren. Sonst würde auch sein Beweis gegen JACOBIs Glaubensphilosophie gar nichts ausrichten können.

Wir wissen, daß nach der Lehre unseres Philosophen aller Stoff unserer Erkenntnisse in unseren Eindrücken oder Empfindungen besteht, die wir nicht machen, sondern empfangen, die uns gegeben werden, und zwar durch die Dinge-ansich. Jetzt belehrt uns die neue Anmerkung: daß es die Dinge außerhalb von uns sind, "von denen wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unseren inneren Sinn her haben". Demnach figuirieren die Dinge außerhalb von uns als Dinge ansich.

Nach der Lehre unseres Philosophen ist unter unseren Erkenntnisobjekten die einzige Substanz, weil der einzig beharrliche Gegenstand die Materie, die als das raumerfüllende Dasein äußere Erscheinung oder Vorstellung und nichts anderes ist. Jetzt wird uns in der neuen Anmerkung sehr nachdrücklich und mit gesperrter Schrift das völlige Gegenteil eingeschärft:
    "Dieses Beharrliche aber kann nicht eine Anschauung in mir sein, denn alle Bestimmungsgründe meines Daseins, die in mir angetroffen werden können, sind Vorstellungen und bedürfen als solche selbst ein von ihnen unterschiedenes Beharrliches, worauf in Beziehung der Wechsel derselben, folglich mein Dasein in der Zeit, darin sie wechseln, bestimmt werden kann."
Es ist demnach kein Zweifel, daß an dieser Stelle, um allen Idealismus zu widerlegen und das Dasein der Dinge außerhalb unser zu beweisen, die Materie als etwas von unseren Vorstellungen Unabhängiges, d. h. als Ding-ansich gelten muß.

Nun wird uns von Neuem die Abhängigkeit der inneren Erfahrung von der äußeren und die Abhängigkeit dieser vom Dasein der Dinge außerhalb von uns demonstriert. Dann heißt es:
    "Man kann hierzu noch die Anmerkung fügen: die Vorstellung von etwas Beharrlichem im Dasein ist nicht einerlei mit der beharrlichen Vorstellung, denn diese kann sehr wandelbar und wechselnd sein, wie alle unsere und selbst die Vorstellungen von der Materie, und bezieht sich doch auf etwas Beharrliches, welches also ein von allen meinen Vorstellungen unterschiedenes äußeres Ding sein muß" usw.
Nach der Lehre unseres Philosophen ist die Materie
    1. das einzige beharrliche Objekt und

    2. eine bloße Erscheinung oder Vorstellung: sie ist demnach die einzige, beharrliche Vorstellung und als solche mit der Vorstellung von etwas Beharrlichem im Dasein völlig einerlei.
Soll dieses beharrliche Etwas, wie die neue Anmerkung lehrt, "ein von allen meinen Vorstellungen unterschiedenes und äußeres Ding" sein, so ist die Materie ein Ding-ansich. Mit demselben Recht werden wir gemäß jener Anmerkung nun auch die Raumvorstellung und die Vorstellung des Raums voneinander unterscheiden und den Raum für den von unserer Raumvorstellung verschiedenen und unabhängigen Gegenstand derselben, d. h. für ein Ding-ansich oder die Eigenschaft eines Dings-ansich erklären müssen. Und so wird der Raum bei KANT wieder, was er bei DESCARTES gewesen war.

Wenn man die Vorstellung und den Gegenstand der Vorstellung so unterscheidet, wie KANT in seiner Widerlegung des Idealismus und in der Anmerkung seiner Vorrede lehrt, so ist der transzendentale Idealismus und zugleich jede Möglichkeit, die Übereinstimmung zwischen Vorstellung und Gegenstand, d. h. die Erkenntnis, zu erklären und die Vernunftkritik zu verstehen, aufgegeben. Darum hat SIGISMUND BECK diese Art der Unterscheidung zwischen Vorstellung und Gegenstand für einen unmöglichen Standpunkt erklärt, die Vernunftkritik verstehen und beurteilen zu können. Denn die Vorstellung kann mit ihrem Gegenstand nur dann übereinstimmen, wenn ihr Gegenstand auch Vorstellung ist. Diesen Standpunkt, für welchen der Gegenstand der Vorstellung kein von ihr unabhängiges Ding, sondern das notwendige Produkt des Vorstellens ist, nannte BECK "den einzig möglichen", um die Vernunftkritik zu verstehen und richtig zu beurteilen. Unter demselben hat er die Werke KANTs kommentiert, und zwar, wie er auf dem Titel seiner Schriften ausdrücklich sagt: "Auf Anraten Kants". Dies ist eine sehr bemerkenswerte Tatsache, die man nicht übersehen oder ungekannt lassen darf, wenn man die Frage nach der wahren Lehre KANTs und den ihr widersprechenden Stellen in seinen Werken untersuchen und entscheiden will. BECK hat die Widersprüche sehr wohl gekannt und auf eine zu leichte Art wegzuschaffen gesucht, indem er den Philosophen um der lieben Verständlichkeit willen bisweilen die Sprache des Dogmatismus und des gewöhnlichen Bewußtseins annehmen läßt. Wenn KANT vom Gegenstand der Vorstellung als einem von der letzteren Ding redet, so spricht er, wie etwa KOPERNIKUS vom Aufgang oder Untergang der Sonne, er redet nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, ohne seinen Standpunkt zu ändern. Ich aber finde, daß KANT an den Stellen, die ich geprüft habe, seinen Standpunkt mit dem des gewöhnlichen Bewußtseins vertauscht, denn er lehrt, daß man das Dasein der Dinge außerhalb unserer selbst in dem Sinn beweisen kann, in welchem dasselbe der dogmatische Idealismus verneint und der gemeine Verstand voraussetzt.

KANT hatte in einer dem transzendentalen Idealismus völlig entsprechenden Weise das Dasein der Dinge außerhalb von uns dargelegt und zwar so, daß dadurch die Tatsache der äußeren Dinge, wie sie dem gewöhnlichen Bewußtsein erscheint, völlig erklärt wurde. Er hatte gezeigt, daß und warum das Dasein der Dinge außer uns jedem menschlichen Bewußtsein unmittelbar einleuchtet, was nie der Fall sein könnte, wenn jene Dinge etwas anderes als Erscheinungen oder Vorstellungen wären.
    "Nun sind alle äußeren Gegenstände (Körper) bloß Erscheinungen, folglich auch nichts anderes, als eine Art meiner Vorstellungen, deren Gegenstände nur durch diese Vorstellungen etwas sind, von ihnen abgesondert aber nichts sind. Also existieren ebensowohl äußere Dinge, als ich selbst existiere, und zwar beide auf das unmittelbare Zeugnis meines Selbstbewußtseins, nur mit dem Unterschied, daß die Vorstellung meines Selbst, als des denkenden Subjekts, bloß auf den inneren, die Vorstellungen aber, welche ausgedehnte Wesesn bezeichnen, auch auf den äußeren Sinn bezogen werden. Ich habe in Absicht auf die Wirklichkeit äußerer Gegenstände ebenso wenig nötig zu schließen, als in Anbetracht der Wirklichkeit des Gegenstandes meines inneren Sinnes (meiner Gedanken), denn sie sind beiderseitig, nichts als Vorstellungen, deren unmittelbare Wahrnehmung (Bewußtsein) zugleich ein genugsamer Beweis ihrer Wirklichkeit ist." (8)
Diese höchst wichtige und erleuchtende Erklärung steht in der ersten Ausgabe der Vernunftkritik, sie ist in der zweiten weggelassen und in den Ausführungen, die an ihre Stelle getreten sind, keineswegs durch einen Satz von ähnlicher Bedeutung ersetzt worden, obwohl auch hier am Schluß der Kritik der rationalen Psychologie bemerkt wird, daß sich die äußeren und inneren Gegenstände,
    "nur sofern eines dem anderen als äußerlich erscheint, voneinander unterscheiden, und das, was der Erscheinung der Materie als Ding-ansich zugrunde liegt, vielleicht so ungleichartig, nicht sein dürfte." (9)
Als ob er das Dasein der Dinge außerhalb von uns noch gar nicht aus dem kritischen Gesichtspunkt erleuchtet und nicht mit siegreicher Klarheit dargetan hätte, daß und warum wir nicht nötig haben, auf die Wirklichkeit äußerer Gegenstände zu schließen, gibt KANT in der zweiten Ausgabe der Kritik eine Widerlegung des Idealismus, worin das Dasein der Dinge außerhalb unserer selbst syllogistisch bewiesen wird. Der Syllogismus lautet in kürzester Fassung: unsere innere Erfahrung ist abhängig von der äußeren, diese vom Dasein der Dinge außerhalb von uns, also sind die letzteren unabhängig von unserer inneren Erfahrung und nicht bloße Vorstellungen.


4. Einwürfe und deren Prüfung.

EMIL ARNOLDT ist ein so gründlicher, durch eine Reihe lehrreicher Forschungen bewährter Kenner des Lebens (10) wie der Lehre unseres Philosophen, daß seine Untersuchungen die aufmerksamste Beachtung verdienen. In seiner eingehenden Beurteilung meines Werkes hat derselbe auch diejenigen Punkte hervorgehoben, worin er meine Auffassungen nicht teilt; darunter betrifft der wichtigste den dargelegten Widerstreit in der kantischen Erkenntnislehre. In der Ansicht vom Charakter und der fundamentalen Bedeutung des transzendentalen Idealismus bin ich einverstanden, auch ist ARNOLDT "nicht gewillt, die philosophische Differenz der beiden Ausgaben der Vernunftkritik wegzureden", er räumt ein, daß die zweite einer falschen Auffassung jener kantischen Lehre Vorschub leisten kann und wohl auch tatsächlich geleistet hat, daß die erste Ausgabe wegen der energischen und unzweideutigen Art, womit sie die Idealität der Körperwelt lehrt, der zweiten vorzuziehen ist. (11) Dagegen bestreitet ARNOLDT, daß die Differenz der beiden Ausgaben die Grundlagen der kantischen Erkenntnislehre betrifft, und daß insbesondere jene "Widerlegung des Idealismus", die der Philosoph in der zweiten Ausgabe ausgeführt hat, dem transzendentalen Idealismus zuwiderläuft. Vielmehr hat KANT an dieser Stelle zur Widerlegung von DESCARTES nur beweisen wollen, daß unsere innere Erfahrung von der äußeren abhängt und durch die letztere vermittelt ist; dieser Beweis scheint ihm gelungen und bildet das eigentümliche Verdienst, das seiner neuen "Widerlegung des Idealismus" zukommt (12). Ich muß den scharfsinnigen Erörterungen ARNOLDTs folgende Gründe entgegenstellen:
    1. der transzendentale Idealismus lehrt die volle und gleiche Unmittelbarkeit der inneren und äußeren Erfahrung. Es heißt dieser Lehre widersprechen, wenn die äußere Erfahrung als das Mittel und die Bedingung der inneren gelten soll; sie kann eine solche Bedingung nicht sein, da sie selbst auch innere Erfahrung ist, sie ist ein Teil oder eine besondere und notwendige Sphäre der letzteren.

    2. Daß unsere innere Erfahrung von der äußeren abhängt und durch dieselbe vermittelt wird, ist in Kants neuer Widerlegung des Idealismus nicht das Ziel, sondern bloß eine Station der Beweisführung. Das Ziel ist die Abhängigkeit der äußeren Erfahrung vom Dasein der Dinge außerhalb von uns, d. h. die Unabhängigkeit der äußeren Dinge von unserer Vorstellung. Dann gelten die Dinge außerhalb unsrer selbst als Dinge-ansich, dann werden die Erscheinungen und Dinge-ansich vermengt, was dem transzendentalen Idealismus und der gesamten Erkenntnislehre Kants auf das Äußerste widerstreitet.
Dies ist der Punkt, um den es sich handelt. Ich behaupte daher, daß der transzendentale Idealismus in der ersten wie in der zweiten Ausgabe der "Kritik", verglichen mit der neuen "Widerlegung des Idealismus" und mit der Anmerkung in der Vorrede der zweiten Ausgabe, sich zu diesen letzteren Ausführungen verhält, wie A zu Nicht-A. Um mich zu widerlegen, muß man demnach beweisen: daß KANT die Unabhängigkeit der äußeren Dinge (Körper) von unseren Vorstellungen in der ersten Ausgabe der Kritik nicht durchgängig verneint und an den angeführten Stelen der zweiten keineswegs bejaht und zu beweisen gesucht hat.

EMIL ARNOLDT verneint den Widerstreit der beiden Ausgaben und sucht ihre Verschiedenheit graduell zu fassen.
    "Die erste beweist mit größerem Nachdruck, daß die Körper, mit geringerem, daß die Seelen Erscheinungen sind; sie nähert sich dem Spiritualismus. Die zweite beweist mit größerem Nachdruck, daß die Seelen, mit geringerem, daß die Körper Erscheinungen sind; sie verteidigt dem Spiritualismus gegenüber, den sie beseitigt, die relative Berechtigung des Materialismus, den sie nicht minder beseitigt."
Wenn man nur wüßte, wie weit in beiden Fällen "der größere" wie "der geringere Nachdruck" reichen soll, da doch KANT in der ersten Ausgabe mit allem Nachdruck die Körper für bloße Erscheinungen erklärt und in beiden Ausgaben mit allem Nachdruck verneint hat, daß die Seelen Erscheinungen oder erkennbare Objekte sind! (13)

In einem vortrefflichen, mit genauer Sachkenntnis und eindringendem Urteil geschriebenen Aufsatz über meine "Geschichte der Philosophie und insbesondere mein Werk über KANT hat JOHANNES WITTE auch die kritische Frage berührt, die uns soeben beschäftigt. Er ist darin meiner Ansicht, daß "die veränderte Darstellung der zweiten Ausgabe nicht für eine verbesserte zu halten ist", aber er verneint, daß sie den Grundlehren der ersten widerstreitet, und möchte die Differenz beider darauf einschränken, daß "die zweite den idealistischen Charakter der ersten in undeutlicher Weise abschwächt". Ich muß ihm entgegnen, daß dieser Ausdruck zu unbestimmt und seine nähere Auslegung nicht richtig ist. Was KANT in den angeführten Stellen nach Tendenz und Wortlaut zu beweisen sucht, ist nicht, wie WITTE meint, die Unabhängigkeit der äußeren Dinge von der bloßen subjektiven oder individuellen Vorstellung, sondern von der Vorstellung als solcher. Darüber läßt jene der Vorrede zur zweiten Ausgabe eingefügte Anmerkung, die nach der Absicht des Philosophen der im Text befindlichen "Widerlegung des Idealismus" sekundieren soll, nicht den mindesten Zweifel. Auch nicht die "Widerlegung" selbst, nach welcher
    "die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein Ding außer mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dings außer mir möglich ist."
Nun interpretiert WITTE: "Die Wahrnehmung dieses Beharrlichen (d. h. meines Daseins in der Zeit)" usw. Diese Auslegung scheint mir aus zwei Gründen unmöglich:
    1. weil "mein Dasein in der Zeit" nicht beharrlich ist, und

    2. weil nach Kants ausdrücklicher Lehre unter allen erkennbaren Dingen kein anderes Dasein beharrt als die Materie.
Wenn KANT nach WITTEs Ansicht unter "Ding" stets einen "vorgestellten Gegenstand" oder die Vorstellung eines Dings versteht, so sagt er uns in der obigen Stelle:
    "Die Wahrnehmung dieses Beharrlichen ist nur durch ein Ding (d. h. durch die Vorstellung eines Dings) außer mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dings außer mir möglich!"
Man sieht, daß keinerlei Auslegungskunst den Widerspruch wegreden kann, den ich festgestellt und in seiner Entstehung erklärt habe. Und ich dürfte wohl gegen die Meinung geschützt sein, die ein so einsichtsvoller und gerechter Beurteiler, wie WITTE, nicht hegen sollte, als ob irgendwelche Voreingenommenheit für die Lehre eines anderen Philosophen, wie etwa HEGELs, auf meine Würdigung KANTs dem mindesten Einfluß ausgeübt hat. (14)

Es ist immer dankenswert und förderlich, die Einwürfe gründlicher Forscher zu erfahren, um durch deren Prüfung die eigene Ansicht berichtigen oder, wie es in der vorliegenden wichtigen Frage mir gelungen sein möge, bestätigen zu können. Aber es ist ein sehr unerfreuliches Geschäft, Gegner zurückweisen zu müssen, die weder von der Sache noch von der Art und Weise, wie ich dieselbe behandle, das Mindeste verstehen, doch mit unwissender und dreister Geschwätzigkeit ins Wesen hinein reden und sich eine Polemik anmaßen, wie sie eines unserer Wochenblätter einem ungenannten Schreiber gegen mich gestattet hat. (15) Völlig objektiv, wie ich stets zu verfahren pflege, untersuche ich jenen Widerstreit, der zwischen den beiden Ausgaben der Vernunftkritik in Frage steht und die kantische Erkenntnislehre betrifft. Nur von dieser Frage, die eine Darstellung der kantischen Philosophie nicht umgehen kann, ist die Rede, nicht von meinem Standpunkt, nicht von FICHTE, SCHELLING oder sonst wem. Es gehört ein ungemeiner Grad von Konfusion und ein ungemeiner Mangel an Wahrheitssinn dazu, um Dinge zu vermengen, die miteinander nichts zu tun haben, und in eine Frage zu mischen, in die sie gar nicht gehören, und von welcher ich selbst sie ganz fern gehalten habe. Auf diese Art erläßt man sich die schwierige Aufgabe der Untersuchung und erleichtert sich das Geschäft oder Schreiberei. Folgende Sätze haben gar nichts mit der Sache zu tun:
    "Jedem Verehrer Kants muß es hochwillkommen sein, daß endlich der große Meister der Geschichte der Philosophie sich mit dem Meister der Philosophie zu messen beginnt in Rücksicht auf den eigentlichen Kern der Erkenntnisse."

    "Mit Trauer sehen ja längst die Verehrer Kants den lichtvollen Darsteller desselben auf den Wegen eines Fichte und Schelling wandeln."

    "Wir halten es für nötig und wichtig, die Jugend über den sonst so großen Geschichtsschreiber in Bezug auf die entscheidenden Fundamentalwahrheiten aufzuklären und sie zu bitten, keinem Lehrer zu glauben, der behauptet, daß Kant sich sachlich selbst widersprochen hat." (16)
Wie rührend und besorgt! Hoffentlich wird die liebe Jugend sein Flehen erhören und ihm mehr glauben, als mir, da er so schön darum bittet. Ich habe schon an einer früheren Stelle gezeigt, daß er nicht weiß, was KANT gelehrt hat, denn er läßt in Betreff der Dinge-ansich den Philosophen das Gegenteil von dem behaupten, was derselbe urkundlich gelehrt hat und lehren mußte.

Es wird genügen, noch an einem zweiten Beispiel schlagend nachzuweisen, welche Unkenntnis der kritischen Philosophie und welche gänzliche Unfähigkeit zum Verständnis derselben unser Anonymus mit seinen leeren und schwülstigen Phrasen zur Schau trägt. Jeder Kenner der Vernunftkritik weiß, daß und warum KANT die Standpunkte des transzendentalen Idealismus und empirischen Realismus einerseits und die Standpunkte des transzendentalen Realismus und empirische Idealismus andererseits als notwendig zusammengehörige betrachtet hat, daß er die beiden ersten in seiner Lehre vereinigt und die beiden anderen, die dem Dogmatismus angehören, widerlegt haben will. Der transzendentale Idealismus lehrt die Entstehung unserer gemeinsamen Erscheinungswelt; der empirische Realismus lehrt, daß es deshalb keine anderen Erkenntnisobjekte gibt als die Erscheinungen oder sinnlichen Dinge: daher gehörden die beiden Standpunkte notwendig zusammen, und ihre zwei Namen bezeichnen nur verschieene Seiten derselben Vorstellungsart. Ebenso verhält es sich mit den beiden anderen. Der transzendental Realismus lehrt, daß die Dinge außerhalb von uns unabhängig von unseren Vorstelungen oder Dinge-ansich sind; der empirische Idealismus lehrt, daß wir eben deshalb die Dinge außerhalb von uns nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar, d. h. durch Schlußfolgerungen, vorstellen, daher ihres Daseins weniger gewiß sein können, als unseres eigenen Denkens, oder, was dasselbe heißt: daß die Existenz unseres denkenden Wesens (Seele) allein gewiß, dagegen das Dasein der Dinge außerhalb unserer selbst ungewiß oder zweifelhaft ist. Wer die äußeren Dinge für Dinge-ansich hält, muß ihr Dasein für zweifelhaft halten, da er sich dessen nicht unmittelbar gewiß sein kann. Anders ausgedrückt: wer "transzendentaler Realist" ist, muß zugleich "empirischer Idealist" sein. Diese beiden Standpunkte streiten nicht miteinander, sondern sind identisch, und ihre Namen bezeichnen nur verschiedene Seiten derselben Vorstellungsart. Wenn es sich mit dem Dasein der Dinge außerhalb von uns so verhält, wie der transzendentale Realist behauptet, dann muß es sich mit unserer Vorstellung dieser Dinge und mit der Gewißheit ihres Daseins so verhalten, wie der empirische Idealist lehrt: diese beiden Standpunkte bedürfen keiner Versöhnung, weil sie nicht miteinander streiten, sondern notwendig zusammengehören und den Charakter jenes dogmatischen Rationalismus ausmachen, den DESCARTES begründet und KANT durch den kritischen widerlegt hat (17). So steht die Sache. Und nun lassen die Grenzboten ihren Philosophen mit lächerlicher Emphase, wie sie leeren Köpfen wohltut, wörtlich folgenden Unsinn verkünden:
    "Kant setzte seine ganze gewaltige Kraft daran, den Streit zwischen empirischem Idealismus und transzendentalem Realismus zu schlichten." (18) usw.
Also KANT soll
    1. den Streit zweier Standpunkte geschlichtet haben, die nach seiner Einsicht und Lehre völlig harmonieren, er soll

    2. Standpunkte versöhnt haben, die er widerlegt hat, und er soll

    3., um einen Streit zu schlichten, der nach seiner Einsicht und Lehre keiner ist noch je einer war, seine gewaltige Kraft daran gesetzt haben, und noch dazu die ganze!"
Es ist unmöglich, mehr Unsinn in weniger Worten zu sagen. Wenn unser Anonymus seine Leser noch um etwas bitten will, so mag er denselben etwas abbitten; nämlich seine ganze Sudelei, die das erbärmlichste Zeug ist, das je über KANT geschrieben worden ist.

Ich komme auf das Ergebnis meiner Prüfung der kantischen Erkenntnislehre zurück und muß dasselbe für unwiderlegt halten. Nach der Grundlehre KANTs sind die Dinge-ansich von den Erscheinungen, also auch von den Dingen außerhalb unser auf das genaueste zu unterscheiden und jede Vermengung beider auf das sorgfältigste zu verhüten. Dagegen hat KANT im Text und in der Vorrede der zweiten Ausgabe der Vernunftkritik eine solche Widerlegung des Idealismus gegeben, daß die Dinge außerhalb von uns als unabhängig von der Vorstellung, folglich als Dinge-ansich gelten, also die letzteren mit den Erscheinungen vermengt werden. Es entspricht der kantischen Lehre und ist durch den Geist, wie durch den Wortlaut derselben geboten: daß wir den Dingen-ansich Realität und Ursächlichkeit zuschreiben. Dagegen widerstreitet es dieser Lehre ebensosehr, den Dingen-ansich eine theoretische Erkennbarkeit (empirische Realität) und äußere Kausalität beizulegen. Sie sind die Ursachen unserer sinnlichen Eindrücke oder unseres empirischen Erkenntnisstoffs, aber nicht äußere Ursachen, denn diese sind äußere Dinge oder Erscheinungen, die aus den Empfindungen entstehen, also dieselben unmöglich erzeugen. Es ist daher eine grundfalsche und verkehrte Auffassung der kantischen Fundamentallehre, wenn man nach ihr die Dinge ansich für die äußeren Ursachen unserer Sinnesempfindungen hält. Eins solche Auffassung ist durch den transzendentalen Idealismus absolut verneint, aber durch die spätere "Widerlegung des Idealismus" nicht gehindert, ja so weit ermöglicht worden, daß sie bei den Kantianern gewöhnlichen Schlags die landläufige wurde. Diese Ansicht ist es, die FICHTE in seiner Bestreitung der Kantianer und später SCHOPENHAUER in seiner Kritik der kantischen Philosophie als unkantisch und widersinnig nicht stark genug verwerfen konnten. FICHTE sagte:
    "Solange Kant nicht ausdrücklich erklärt: die Empfindung ist in der Philosophie aus einem ansich außerhalb von uns vorhandenen transzendentalen Gegenstand zu erklären,' solange werde ich nicht glauben, was jene Ausleger uns von Kant berichten. Tut er aber diese Erklärung, so werde ich die Kritik der reinen Vernunft eher für das Werk des sonderbarsten Zufalls halten, als für das eines Kopfs." (19)
Doch es ist eine ebenso grundfalsche und verkehrte Ansicht von der kantischen Lehre, wenn man nach ihr den Dingen-ansich, weil sie die äußeren Ursachen unserer Empfindungen nicht sein können, alle Realität und Ursächlichkeit überhaupt abspricht und sie für nichts weiter gelten lassen will, als für bloße unwirksame Begriffe. Ich habe aus dem Geist und Buchstaben des kantischen Systems ausführlich nachgewiesen, daß unser Philosoph die Realität und Ursächlichkeit der Dinge-ansich gelehrt hat und lehren mußte, nur ist diese Realität nicht die empirische und diese Sinnlichkeit nicht die sinnliche und äußere, sondern die übersinnliche und intelligible: nämlich die Kausalität des Willens. Ist etwa nach KANT der Wille und die Freiheit nicht Ding-ansich und zugleich Realität und Wirksamkeit? Das Ding-ansich ist nach KANTs ausdrücklicher Lehre die Ursache unserer Empfindungen; das Ding-ansich ist nach KANTs ausdrücklicher Lehre Wille. Wie kann der Wille Ursache unserer Empfindungen, unserer Sinnlichkeit und Vernunftbeschaffenheit überhaupt sein? Wie? So steht die Frage, die nach KANT unauflöslich bleibt, und in der SCHOPENHAUER das Rätsel der Welt gesehen hat, das er durch seine Lehre vom Willen auflösen wollte. Und die organische Entwicklungsgeschichte unserer Tage, die von DARWIN herkommt, rechnet in der erleuchtenden Art und Weise, wie sie das Verhältnis von Funktion und Organ faßt, mit diesem Faktor, den SCHOPENHAUER den Willen zum Leben genannt hat.

Nachdem ich gezeigt habe, daß und warum die kantische Philosophie die Realität und Ursächlichkeit der Dinge-ansich behauptet, muß es mir einen seltsamen Eindruck machen, in einer "gekrönten Preisschrift" über diese Philosophie zu lesen:
    "selbst Kuno Fischer ist von dem Vorwurf einer mißverständlichen Deutung Kants nicht frei, indem er von einer Realität der Dinge-ansich redet."
Aber da ich sehe, daß sich der Verfasser zu seiner Unterstützung auf den Anonymus der Grenzboten beruft und selbst seinen Lesern verkündet, daß in der kantischen Philosophie "das Ding-ansich immer nur der unklare Wiederschein unseres Verstandes ist", so wundere ich mich nicht mehr über seinen "Vorwurf", sondern nur noch über seine "Preisrichter". (20)

Wenn KANT nicht das von allen Vorstellungen und Erscheinungen unabängige Sein der Dinge-ansich behauptet hätte, so würde unter den nachkantischen Metaphysikern ein Mann wie HERBART, dieser entschiedene Gegner allen Idealismus und Monismus, sich nimmermehr als einen "Kantianer" bezeichnet haben und überzeugt gewesen sein, daß "Kant den wahren Begriff des Seins" besessen hat. Wer die Möglichkeit des ontologischen Beweises vom Dasein Gottes so, wie KANT in seiner Vernunftkritik widerlegt hat, war nach HERBART "der Mann, die alte Metaphysik zu stürzen". (21)

LITERATUR - Kuno Fischer, Kritik der kantischen Philosophie, München 1883
    Anmerkungen
    1) Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 3, dritte Auflage 1882, Buch II, Kapitel XVI, Seite 558-576.
    2) Kr. d. r. V. (Sämtliche Werke, Bd. II, Seite 667, 675-676, 684)
    3) ebd. Seite 224. Vgl. meine "Geschichte der neuern Philosophie", Bd. III, 1882, Seite 573-575.
    4) a. a. O., Bd. III, Seite 72-76 und 553-554.
    5) Kr. d. r. V.: Widerlegung des Idealismus, Werke Bd. II, Seite 223). Vgl. Transzendentale Ästhetik, Abschnitt I (Werke II, Seite 67-68. Anmerkung der ersten Ausgabe).
    6) vgl. Fischer, a. a. O., Bd. I, Teil I (3. Auflage) Seite 324-326.
    7) Kr. d. r. V., Vorrede zur zweiten Auflage (Werke II, Seite 31-32).
    8) Kr. d. r. V. (erste Ausgabe). Kritik des vierten Paralogismus der transzendentalen Psychologie (Werke, Bd. II, Seite 676).
    9) Kr. d. r. V. (zweite Ausgabe): Beschluß der Auflösung des psychologischen Problems (Werke II, Seite 326-327).
    10) Arnoldt hat durch seine jüngsten biographischen Forschungen unter anderem zuerst festgestellt, daß Kant nie an der theologischen Fakultät eingeschrieben war, und daß seine pädagogischen und geselligen Beziehungen zum gräflich Kayserling'schen Haus in Rautenburg und in Königsberg nach Familienverhältnissen zu unterscheiden sind, welche die bisherige Überlieferung nicht kannte. (Emil Arnoldt, Kants Jugend und die fünf ersten Jahre seiner Privatdozentur, Königsberg 1882m, Seite 26, 54-57) - Ich mache diese beiläufige Erwähnung, um in Betreff der theologischen Studien Kants meine eigene Darstellung zu berichtigen (a. a. O., Bd. III, Seite 51, vgl. Vorrede, Seite VIII). Einige Jahre früher hatte auch Benno Erdmann in einer Schrift über Martin Knutzen erklärt: "Nur das eine ist vermutlich richtig, daß Kant sich an der theologischen Fakultät hat einschreiben lassen." (Seite 135) Aber gerade dieses eine, worauf bei jener biographischen Frage alles ankommt, ist falsch. Indessen hat dies den Verfasser der genannten Schrift nicht gehindert, gegen Arnoldt das Verdienst der Priorität laut und wiederholt in Anspruch zu nehmen, ja sogar die Selbständigkeit der Forschung des letzten mit einer in jedem Sinn schreienden Ungerechtigkeit zu verdächtigen (Deutsche Literaturzeitung, Nr. 12, 1882. Vgl. Altpreußische Monatsschrift, Bd. XIX, Seite 175-176, Julius Jacobson, Herrn Professor Benno Erdmanns Polemik gegen Emil Arnoldt).
    11) Emil Arnoldt, Kant nach Kunos Fischers neuer Darstellung, ein kritischer Bericht, Königsberg 1882, Seite 31-32, 41-42.
    12) Arnoldt, a. a. O., Seite 32-42
    13) Arnoldt, a. a. O., Seite 32
    14) Johannes Witte, Kuno Fischers Behandlung der Geschichte der Philosophie und sein Verhältnis zur Kantphilologie, Altpreußische Monatsschrift, Bd. XX, Seite 129-151, insbesondere Seite 145-148.
    15) Die Grenzboten, Nr. 41 (1882, viertes Quartal): Kant und Kuno Fischer, Seite 10-17.
    16) a. a. O., Seite 11 und 17.
    17) Vgl. meine "Geschichte der neuern Philosophie, Bd. III (3. Auflage), Seite 450-456.
    18) Die Grenzboten, Nr. 41, a. a. O., Seite 16.
    19) Johann Gottlieb Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Nr. 6, Werke Bd. 1, Abtlg. 1, Seite 486.
    20) Kurd Laßwitz, Die Lehre Kants von der Idealität des Raums und der Zeit usw. Seite 132, Anm. Soeben ist von August Classen in Hamburg (Grenzboten Nr. 42 (drittes Quartal, 1883) durch parallele Anführung einzelner wie zusammenhängender Stellen nachzuweisen gesucht worden, daß der preisgekrönte Preisbewerber an der Schrift eines anderen "Albrecht Krause, Populäre Darstellung der Kritik der reinen Vernunft" (Lahr 1881) ein vielfaches Plagiat verübt hat. Die Sache hat meine Aufmerksamkeit erregt, da ich zwischen jener populären Darstellung der Vernunftkritik und dem anonymen Artikel "Kant und Kuno Fischer" in den Grenzboten gewisse ungünstige Ähnlichkeiten der Schreib- und Denkart bemerkt hatte. Das völlige Mißverständnis und die grundfalsche Auffassung der kantischen Lehre von den Dingen ansich hat Herr Laßwitz mit dem populären Darsteller und dem Anonymus gemein, wobei er auch letzteren gegen mich anführt. Eine Preisschrift, die den Namen verdient, sollte freilich nicht eine Anzahl Stellen enthalten, die durch ihren Wortlaut an das Werk eines andern erinnern und den Verfasser unerlaubter Entlehnungen verdächtig machen können. Indessen sind Inhalt und Umfang der bezeichneten Stellen nicht bedeutend genug, um darauf gegen das ganze Buch die Anklage eines Plagiats zu gründen. Ich halte die letztere schon darum für ungerechtfertigt, weil ungeachtet der Mängel und Irrtümer, die Laßwitz mit Krauses populärer Darstellung teilt, seine Schrift Vorzüge hat, die jener fehlen.
    21) Siehe weiter unten "2. Das Erkenntnisproblem".