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Kritik der kantischen Philosophie [ 2/4 ]
Die Prüfung der kantischen Grundlehren Wir haben durch die Feststellung und Verknüpfung der Grundlehren KANTs die richtige Vorstellung vom Charakter des Systems gewonnen, wie dasselbe im Geist seines Urhebers gegenwärtig war. Es enthält Themata genug, die der Philosoph bloß in Umrissen entworfen oder gar nicht ausgeführt hat, Probleme genug, die er teils ungelöst gelassen, teils für unlösbar erklärt hat. Die Mängel aufzufinden und zu ergänzen, ist die Arbeit der Schüler, die das Werk des Meisters vervollständigen und ausbilden wollen, ohne an seine Prinzipien zu rühren .Dagegen ist der Versuch, das System über seine Schranken hinauszuführen und da fortzuschreiten, wo KANT stehen geblieben war und der Philosophie Halt geboten hatte, eine Aufgabe, die durch die Fortbildung und Umgestaltung der kantischen Lehre gelöst sein will. Um aber eine solche Aufgabe zu begründen, müssen wir prüfen, ob die Prinzipien seiner Lehre in der Form, wie der Philosoph sie beurkundet hat, feststehen, ob ihre Grundzüge miteinander übereinstimmen und keiner derselben sich oder den anderen widerstreitet. 1. Der Widerstreit in der Vernunftkritik Wir fassen vor allem die Erkenntnislehre ins Auge, die das eigentliche Thema der Vernunftkritik ausmacht. Und hier ist unsere erste Frage: ob der Charakter des transzendentalen oder kritischen Idealismus, durch dessen Begründung KANT den Ruhm des KOPERNIKUS der Philosophie erworben hat, in der Vernunftkritik selbst unwidersprochen feststeht? Die fundamentale Geltung dieses neuen Lehrbegriffs ist außer Frage, nicht ebenso die konsequente Festhaltung. Damit berühren wir, wie der kundige Leser sogleich bemerkt, den Punkt, worin zwischen der ersten und der zweiten Ausgabe der Vernunftkritik jene vielbesprochene und bestrittene Hauptdifferenz besteht, die ich in der Schlußabhandlung der dritten Auflage des dritten Bandes meiner "Geschichte der neuern Philosophie" bereits zum Gegenstand einer sehr ausführlichen und genauen Erörterung gemacht habe. Die gegenwärtige Aufgabe, die es mit der Beurteilung der kantischen Lehre zu tun hat, nötigt mich, auf diesen so wichtigen Punkt zurückzukommen, indem ich zugleich auf den erwähnten Abschnitt hinweise (1). Es ist gut, die Frage selbst so kurz und präzise wie möglich zu fassen. Der transzendentale Idealismus lehrt: alle unsere Erscheinungen oder Erfahrungsobjekte sind bloße Vorstellungen und nichts davon Unabhängiges. Daß es die inneren Erscheinungen sind, steht außer Frage. Es handelt sich aber nur um die äußeren: diese sind die Dinge außerhalb von uns, die Erscheinungen im Raum, also die Körper oder Materie. KANT mußte lehren und hat in der unzweideutigsten Weise, namentlich in den "Paralogismen der reinen Vernunft", wie sie in der ersten Ausgabe der Vernunftkritik enthalten sind, gelehrt: daß die Materie eine bloße Vorstellung ist. Er hat in der zweiten Ausgabe der Vernunftkritik eine "Widerlegung des Idealismus" gegeben und darin gelehrt, daß die Materie keine bloße Vorstellung ist. Dies ist der Punkt, um den es sich handelt. Wir sehen in der Lehre KANTs einen Widerspruch vor uns, den keine Auslegungskunst aus dem Sinn und Buchstaben der urkundlichen Stellen wegzuschaffen vermag. Hier sind die urkundlichen Stellen. Die erste Ausgabe der Vernunftkritik lehrt in den "Paralogismen der reinen Vernunft" und in der "Betrachtung über die Summe der reinen Seelenlehre" Folgendes:
"Ich verstehe aber unter dem transzendentalen Idealismus aller Erscheinungen den Lehrbegriff, nach welchem wir sie insgesamt als bloße Vorstellungen und nicht als Dinge ansich ansehen."
"Nun sind aber äußere Gegenstände (Körper) bloß Erscheinungen, folglich auch nichts anderes, als eine Art meiner Vorstellungen, deren Gegenstände nur durch diese Vorstellungen etwas sind, von ihnen abgesondert aber nichts sind." "Es wird klar gezeigt, daß, wenn ich das denkende Subjekt wegnehme, die ganze Körperwelt wegfallen muß, als die nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres Subjekts und eine Art Vorstellungen desselben." (2)
Der Widerspruch der beiden Ausgaben liegt ganz offen zutage. Die zweite, worin der Text der Vernunftkritik endgültig festgestelle sein soll, enthält die Begründung des transzendentalen Idealismus und zugleich eine solche Widerlegung des Idealismus, welche jene schnurstracks zuwiderläuft: hier findet sich demnach ein Widerstreit der kantischen Vernunftkritik der Erkenntnislehre mit sich selbst, und zwar in buchstäblicher Fassung. Die neue Widerlegung des Idealismus in der zweiten Ausgabe der Kritik wurde, wie die Anmerkungen und der Anhang in den Prolegomena durch jene Mißverständnisse hervorgerufen, die gleich in der ersten Rezension des kantischen Hauptwerks aufgetreten waren und den transzendentalen Idealismus der neuen Lehre mit dem dogmatischen der alten, insbesondere mit dem von BERKELEY, verwechselt hatten. (4) Gegen solche falsche Auffassungen wollte unser Philosoph sein Werk schützen und deshalb die Sache des neuen Idealismus von der des alten durch einen bündigen und demonstrativen Beweis gänzlich trennen. Der erste begründet die Erscheinungen und die Erfahrung, der andere dagegen gründet sich auf die Tatsachen der inneren Erfahrung: darum bezeichnet KANT diesen dogmatischen Idealismus als den "empirischen" oder "psychologischen". Er fand denselben in zwei Hauptformen entwickelt. Aufgrund unserer inneren Erfahrung, die nichts als Vorstellungen in uns liefert, hatte der empirische Idealismus das Dasein der Dinge außerhalb von uns entweder für zweifelhaft oder für unmöglich erklärt; jenes war durch DESCARTES, dieses durch BERKELEY geschehen: daher nannte unser Philosoph die Lehre des ersten den "problematischen", die des anderen den dogmatischen Idealismus". BERKELEY hatte eine grundfalsche Vorstellung vom Raum, den er, wie Farbe, Geschmack usw. unter unsere Empfindungen rechnete und deshalb eine von den Eindrücken unabhängige Raumvorstellung für etwas Unmögliches und völlig Imaginäres ansah. Er hielt für Vorstellungsstoff, was Vorstellungsform war. Darum verneinte er das Dasein der Dinge außerhalb von uns. Mit Recht sagt KANT: "Der Grund zu diesem Idealismus ist von uns in der transzendentalen Ästhetik gehoben." (5) Es blieb also nur übrig, DESCARTES zu widerlegen. Zu diesem Zweck sollte bewiesen werden, daß unsere innere Erfahrung nur möglich ist unter der Voraussetzung der äußeren, die in der Vorstellung der Dinge außerhalb von uns besteht. Da aber alle Vorstellungen in uns sind, auch die der Dinge außerhalb von uns, so mußte bewiesen werden, daß diese Vorstellungen nur möglich sind unter der Voraussetzung des Daseins der Dinge außerhalb von uns, daß
Gewiß ist diese Widerlegung des Idealismus ein sehr merkwürdiges Beispiel, wie leicht in der Verteidigung seiner Sache selbst ein so mächtiger Denker, wie KANT, die eigene Position preisgibt, um nur den Schein jeder Gemeinschaft mit gewissen verwandten Standpunkten, die er bekämpft, los zu werden. KANT und BERKELEY lehren, daß der Raum in uns ist und die Dinge außerhalb von uns unsere Erscheinungen oder Vorstellungen und nichts davon Unabhängiges sind. Trotz dieser Übereinstimmung sind die Lehren beider aber grundverschieden. Nach BERKELEY ist der Raum eine Empfindung, wie Farbe und Geschmack; nach KANT ist er eine von allen Empfindungen unabhängige Anschauung. Nach BERKELEY ist der Raum ein gegebener Vorstellungsstoff, wie alle unsere Eindrücke; nach KANT ist einer notwendige Vorstellungsform oder ein Grundgesetz unseres Vorstellens. Daher war BERKELEYs Idealismus durch KANTs transzendentale Ästhetik widerlegt und die Verwechslung beider Standpunkte von Grund auf unberechtigt und falsch. KANT wies mit Recht auch diese Widerlegung zurück und hätte es dabei bewenden lassen sollen. Aber er mochte mit dem dogmatischen Idealismus BERKELEYs gar nichts gemein haben, und nun bewies er, daß die Dinge außerhalb von uns keineswegs bloße Vorstellungen sind und die Materie etwas von unseren Vorstellungen Unabhängiges. BERKELEY hatte die Materie zu einem Unding erklärt; jetzt bewies KANT deren Realität, als ob die Materie ein Ding-ansich wäre. BERKELEY hatte gesagt: der Raum ist in uns; jetzt bewies KANT, daß er außerhalb von uns ist. Und so war, wie es im Sprichwort heißt, das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Kant gegen Jacobi. Indessen hatte sich der Philosoph mit seiner Widerlegung des Idealismus im Text der zweiten Ausgabe der Vernunftkritik noch nicht genug getan; er fand sich veranlaßt, auch die Vorrede zu diesem Werk mit einer längeren Anmerkung zu versehen, die jene Widerlegung erneuern, auf das Deutlichste bekräftigen und einen Gegner aus dem Feld schlagen sollte, der erst in jüngster Zeit aufgetreten war. Dieser Gegner war FRIEDRICH HEINRICH JACOBI mit seinen "Briefen über die Lehre Spinozas" und seinem "Gespräch über David Hume" ; jene waren zwei Jahre nach den "Prolegomena" (1785), dieses in dem selben Jahr als die zweite Ausgabe der Vernunftkritik (1787), aber einige Monate früher erschienen. Nun hatte JACOBI behauptet, daß wir das Dasein der Dinge außerhalb von uns nie zu beweisen vermögen, sondern desselben nur durch Glauben gewiß sein können, da uns ein solches Dasein bloß durch eine unmittelbare Erfahrung einleuchtet. Er hatte diesen seinen Stanpunkt nicht bloß allem Dogmatismus, sondern auch allem Idealismus der Philosophie entgegengesetzt, da der letztere genötigt ist, die Dinge außerhalb unserer selbst für bloße Vorstellungen in uns zu halten. Dieser Vorwurf gilt auch gegen den transzendentalen Idealismus. Natürlich versteht JACOBI unter den Dingen außerhalb unserer selbst das von allen unseren Vorstellungen unabhängige Dasein der Dinge, d. h. die Dinge-ansich. Nun will KANT den Gegenbeweis führen: er will das Dasein der Dinge außerhalb von uns in dem Sinne demonstrieren, in welchem JACOBI die Unbeweisbarkeit desselben behauptet. So entsteht jene Anmerkung, die er seiner Vorrede vielleicht noch nachträglich einverleibt hat. (7) Man sieht voraus, daß er seinen Standpunkt zum zweiten Mal preisgibt: er wird beweisen, daß die Dinge außerhalb von uns Dinge-ansich sind. Wirklich hat ihn der Angriff JACOBIs dergestalt aus dem Häuschen gebracht, daß er den Idealismus mit einem Schlag fallen läßt.
Wir wissen, daß nach der Lehre unseres Philosophen aller Stoff unserer Erkenntnisse in unseren Eindrücken oder Empfindungen besteht, die wir nicht machen, sondern empfangen, die uns gegeben werden, und zwar durch die Dinge-ansich. Jetzt belehrt uns die neue Anmerkung: daß es die Dinge außerhalb von uns sind, "von denen wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unseren inneren Sinn her haben". Demnach figuirieren die Dinge außerhalb von uns als Dinge ansich. Nach der Lehre unseres Philosophen ist unter unseren Erkenntnisobjekten die einzige Substanz, weil der einzig beharrliche Gegenstand die Materie, die als das raumerfüllende Dasein äußere Erscheinung oder Vorstellung und nichts anderes ist. Jetzt wird uns in der neuen Anmerkung sehr nachdrücklich und mit gesperrter Schrift das völlige Gegenteil eingeschärft:
Nun wird uns von Neuem die Abhängigkeit der inneren Erfahrung von der äußeren und die Abhängigkeit dieser vom Dasein der Dinge außerhalb von uns demonstriert. Dann heißt es:
2. eine bloße Erscheinung oder Vorstellung: sie ist demnach die einzige, beharrliche Vorstellung und als solche mit der Vorstellung von etwas Beharrlichem im Dasein völlig einerlei. Wenn man die Vorstellung und den Gegenstand der Vorstellung so unterscheidet, wie KANT in seiner Widerlegung des Idealismus und in der Anmerkung seiner Vorrede lehrt, so ist der transzendentale Idealismus und zugleich jede Möglichkeit, die Übereinstimmung zwischen Vorstellung und Gegenstand, d. h. die Erkenntnis, zu erklären und die Vernunftkritik zu verstehen, aufgegeben. Darum hat SIGISMUND BECK diese Art der Unterscheidung zwischen Vorstellung und Gegenstand für einen unmöglichen Standpunkt erklärt, die Vernunftkritik verstehen und beurteilen zu können. Denn die Vorstellung kann mit ihrem Gegenstand nur dann übereinstimmen, wenn ihr Gegenstand auch Vorstellung ist. Diesen Standpunkt, für welchen der Gegenstand der Vorstellung kein von ihr unabhängiges Ding, sondern das notwendige Produkt des Vorstellens ist, nannte BECK "den einzig möglichen", um die Vernunftkritik zu verstehen und richtig zu beurteilen. Unter demselben hat er die Werke KANTs kommentiert, und zwar, wie er auf dem Titel seiner Schriften ausdrücklich sagt: "Auf Anraten Kants". Dies ist eine sehr bemerkenswerte Tatsache, die man nicht übersehen oder ungekannt lassen darf, wenn man die Frage nach der wahren Lehre KANTs und den ihr widersprechenden Stellen in seinen Werken untersuchen und entscheiden will. BECK hat die Widersprüche sehr wohl gekannt und auf eine zu leichte Art wegzuschaffen gesucht, indem er den Philosophen um der lieben Verständlichkeit willen bisweilen die Sprache des Dogmatismus und des gewöhnlichen Bewußtseins annehmen läßt. Wenn KANT vom Gegenstand der Vorstellung als einem von der letzteren Ding redet, so spricht er, wie etwa KOPERNIKUS vom Aufgang oder Untergang der Sonne, er redet nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, ohne seinen Standpunkt zu ändern. Ich aber finde, daß KANT an den Stellen, die ich geprüft habe, seinen Standpunkt mit dem des gewöhnlichen Bewußtseins vertauscht, denn er lehrt, daß man das Dasein der Dinge außerhalb unserer selbst in dem Sinn beweisen kann, in welchem dasselbe der dogmatische Idealismus verneint und der gemeine Verstand voraussetzt. KANT hatte in einer dem transzendentalen Idealismus völlig entsprechenden Weise das Dasein der Dinge außerhalb von uns dargelegt und zwar so, daß dadurch die Tatsache der äußeren Dinge, wie sie dem gewöhnlichen Bewußtsein erscheint, völlig erklärt wurde. Er hatte gezeigt, daß und warum das Dasein der Dinge außer uns jedem menschlichen Bewußtsein unmittelbar einleuchtet, was nie der Fall sein könnte, wenn jene Dinge etwas anderes als Erscheinungen oder Vorstellungen wären.
EMIL ARNOLDT ist ein so gründlicher, durch eine Reihe lehrreicher Forschungen bewährter Kenner des Lebens (10) wie der Lehre unseres Philosophen, daß seine Untersuchungen die aufmerksamste Beachtung verdienen. In seiner eingehenden Beurteilung meines Werkes hat derselbe auch diejenigen Punkte hervorgehoben, worin er meine Auffassungen nicht teilt; darunter betrifft der wichtigste den dargelegten Widerstreit in der kantischen Erkenntnislehre. In der Ansicht vom Charakter und der fundamentalen Bedeutung des transzendentalen Idealismus bin ich einverstanden, auch ist ARNOLDT "nicht gewillt, die philosophische Differenz der beiden Ausgaben der Vernunftkritik wegzureden", er räumt ein, daß die zweite einer falschen Auffassung jener kantischen Lehre Vorschub leisten kann und wohl auch tatsächlich geleistet hat, daß die erste Ausgabe wegen der energischen und unzweideutigen Art, womit sie die Idealität der Körperwelt lehrt, der zweiten vorzuziehen ist. (11) Dagegen bestreitet ARNOLDT, daß die Differenz der beiden Ausgaben die Grundlagen der kantischen Erkenntnislehre betrifft, und daß insbesondere jene "Widerlegung des Idealismus", die der Philosoph in der zweiten Ausgabe ausgeführt hat, dem transzendentalen Idealismus zuwiderläuft. Vielmehr hat KANT an dieser Stelle zur Widerlegung von DESCARTES nur beweisen wollen, daß unsere innere Erfahrung von der äußeren abhängt und durch die letztere vermittelt ist; dieser Beweis scheint ihm gelungen und bildet das eigentümliche Verdienst, das seiner neuen "Widerlegung des Idealismus" zukommt (12). Ich muß den scharfsinnigen Erörterungen ARNOLDTs folgende Gründe entgegenstellen:
2. Daß unsere innere Erfahrung von der äußeren abhängt und durch dieselbe vermittelt wird, ist in Kants neuer Widerlegung des Idealismus nicht das Ziel, sondern bloß eine Station der Beweisführung. Das Ziel ist die Abhängigkeit der äußeren Erfahrung vom Dasein der Dinge außerhalb von uns, d. h. die Unabhängigkeit der äußeren Dinge von unserer Vorstellung. Dann gelten die Dinge außerhalb unsrer selbst als Dinge-ansich, dann werden die Erscheinungen und Dinge-ansich vermengt, was dem transzendentalen Idealismus und der gesamten Erkenntnislehre Kants auf das Äußerste widerstreitet. EMIL ARNOLDT verneint den Widerstreit der beiden Ausgaben und sucht ihre Verschiedenheit graduell zu fassen.
In einem vortrefflichen, mit genauer Sachkenntnis und eindringendem Urteil geschriebenen Aufsatz über meine "Geschichte der Philosophie und insbesondere mein Werk über KANT hat JOHANNES WITTE auch die kritische Frage berührt, die uns soeben beschäftigt. Er ist darin meiner Ansicht, daß "die veränderte Darstellung der zweiten Ausgabe nicht für eine verbesserte zu halten ist", aber er verneint, daß sie den Grundlehren der ersten widerstreitet, und möchte die Differenz beider darauf einschränken, daß "die zweite den idealistischen Charakter der ersten in undeutlicher Weise abschwächt". Ich muß ihm entgegnen, daß dieser Ausdruck zu unbestimmt und seine nähere Auslegung nicht richtig ist. Was KANT in den angeführten Stellen nach Tendenz und Wortlaut zu beweisen sucht, ist nicht, wie WITTE meint, die Unabhängigkeit der äußeren Dinge von der bloßen subjektiven oder individuellen Vorstellung, sondern von der Vorstellung als solcher. Darüber läßt jene der Vorrede zur zweiten Ausgabe eingefügte Anmerkung, die nach der Absicht des Philosophen der im Text befindlichen "Widerlegung des Idealismus" sekundieren soll, nicht den mindesten Zweifel. Auch nicht die "Widerlegung" selbst, nach welcher
2. weil nach Kants ausdrücklicher Lehre unter allen erkennbaren Dingen kein anderes Dasein beharrt als die Materie.
Es ist immer dankenswert und förderlich, die Einwürfe gründlicher Forscher zu erfahren, um durch deren Prüfung die eigene Ansicht berichtigen oder, wie es in der vorliegenden wichtigen Frage mir gelungen sein möge, bestätigen zu können. Aber es ist ein sehr unerfreuliches Geschäft, Gegner zurückweisen zu müssen, die weder von der Sache noch von der Art und Weise, wie ich dieselbe behandle, das Mindeste verstehen, doch mit unwissender und dreister Geschwätzigkeit ins Wesen hinein reden und sich eine Polemik anmaßen, wie sie eines unserer Wochenblätter einem ungenannten Schreiber gegen mich gestattet hat. (15) Völlig objektiv, wie ich stets zu verfahren pflege, untersuche ich jenen Widerstreit, der zwischen den beiden Ausgaben der Vernunftkritik in Frage steht und die kantische Erkenntnislehre betrifft. Nur von dieser Frage, die eine Darstellung der kantischen Philosophie nicht umgehen kann, ist die Rede, nicht von meinem Standpunkt, nicht von FICHTE, SCHELLING oder sonst wem. Es gehört ein ungemeiner Grad von Konfusion und ein ungemeiner Mangel an Wahrheitssinn dazu, um Dinge zu vermengen, die miteinander nichts zu tun haben, und in eine Frage zu mischen, in die sie gar nicht gehören, und von welcher ich selbst sie ganz fern gehalten habe. Auf diese Art erläßt man sich die schwierige Aufgabe der Untersuchung und erleichtert sich das Geschäft oder Schreiberei. Folgende Sätze haben gar nichts mit der Sache zu tun:
"Mit Trauer sehen ja längst die Verehrer Kants den lichtvollen Darsteller desselben auf den Wegen eines Fichte und Schelling wandeln." "Wir halten es für nötig und wichtig, die Jugend über den sonst so großen Geschichtsschreiber in Bezug auf die entscheidenden Fundamentalwahrheiten aufzuklären und sie zu bitten, keinem Lehrer zu glauben, der behauptet, daß Kant sich sachlich selbst widersprochen hat." (16) Es wird genügen, noch an einem zweiten Beispiel schlagend nachzuweisen, welche Unkenntnis der kritischen Philosophie und welche gänzliche Unfähigkeit zum Verständnis derselben unser Anonymus mit seinen leeren und schwülstigen Phrasen zur Schau trägt. Jeder Kenner der Vernunftkritik weiß, daß und warum KANT die Standpunkte des transzendentalen Idealismus und empirischen Realismus einerseits und die Standpunkte des transzendentalen Realismus und empirische Idealismus andererseits als notwendig zusammengehörige betrachtet hat, daß er die beiden ersten in seiner Lehre vereinigt und die beiden anderen, die dem Dogmatismus angehören, widerlegt haben will. Der transzendentale Idealismus lehrt die Entstehung unserer gemeinsamen Erscheinungswelt; der empirische Realismus lehrt, daß es deshalb keine anderen Erkenntnisobjekte gibt als die Erscheinungen oder sinnlichen Dinge: daher gehörden die beiden Standpunkte notwendig zusammen, und ihre zwei Namen bezeichnen nur verschieene Seiten derselben Vorstellungsart. Ebenso verhält es sich mit den beiden anderen. Der transzendental Realismus lehrt, daß die Dinge außerhalb von uns unabhängig von unseren Vorstelungen oder Dinge-ansich sind; der empirische Idealismus lehrt, daß wir eben deshalb die Dinge außerhalb von uns nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar, d. h. durch Schlußfolgerungen, vorstellen, daher ihres Daseins weniger gewiß sein können, als unseres eigenen Denkens, oder, was dasselbe heißt: daß die Existenz unseres denkenden Wesens (Seele) allein gewiß, dagegen das Dasein der Dinge außerhalb unserer selbst ungewiß oder zweifelhaft ist. Wer die äußeren Dinge für Dinge-ansich hält, muß ihr Dasein für zweifelhaft halten, da er sich dessen nicht unmittelbar gewiß sein kann. Anders ausgedrückt: wer "transzendentaler Realist" ist, muß zugleich "empirischer Idealist" sein. Diese beiden Standpunkte streiten nicht miteinander, sondern sind identisch, und ihre Namen bezeichnen nur verschiedene Seiten derselben Vorstellungsart. Wenn es sich mit dem Dasein der Dinge außerhalb von uns so verhält, wie der transzendentale Realist behauptet, dann muß es sich mit unserer Vorstellung dieser Dinge und mit der Gewißheit ihres Daseins so verhalten, wie der empirische Idealist lehrt: diese beiden Standpunkte bedürfen keiner Versöhnung, weil sie nicht miteinander streiten, sondern notwendig zusammengehören und den Charakter jenes dogmatischen Rationalismus ausmachen, den DESCARTES begründet und KANT durch den kritischen widerlegt hat (17). So steht die Sache. Und nun lassen die Grenzboten ihren Philosophen mit lächerlicher Emphase, wie sie leeren Köpfen wohltut, wörtlich folgenden Unsinn verkünden:
2. Standpunkte versöhnt haben, die er widerlegt hat, und er soll 3., um einen Streit zu schlichten, der nach seiner Einsicht und Lehre keiner ist noch je einer war, seine gewaltige Kraft daran gesetzt haben, und noch dazu die ganze!" Ich komme auf das Ergebnis meiner Prüfung der kantischen Erkenntnislehre zurück und muß dasselbe für unwiderlegt halten. Nach der Grundlehre KANTs sind die Dinge-ansich von den Erscheinungen, also auch von den Dingen außerhalb unser auf das genaueste zu unterscheiden und jede Vermengung beider auf das sorgfältigste zu verhüten. Dagegen hat KANT im Text und in der Vorrede der zweiten Ausgabe der Vernunftkritik eine solche Widerlegung des Idealismus gegeben, daß die Dinge außerhalb von uns als unabhängig von der Vorstellung, folglich als Dinge-ansich gelten, also die letzteren mit den Erscheinungen vermengt werden. Es entspricht der kantischen Lehre und ist durch den Geist, wie durch den Wortlaut derselben geboten: daß wir den Dingen-ansich Realität und Ursächlichkeit zuschreiben. Dagegen widerstreitet es dieser Lehre ebensosehr, den Dingen-ansich eine theoretische Erkennbarkeit (empirische Realität) und äußere Kausalität beizulegen. Sie sind die Ursachen unserer sinnlichen Eindrücke oder unseres empirischen Erkenntnisstoffs, aber nicht äußere Ursachen, denn diese sind äußere Dinge oder Erscheinungen, die aus den Empfindungen entstehen, also dieselben unmöglich erzeugen. Es ist daher eine grundfalsche und verkehrte Auffassung der kantischen Fundamentallehre, wenn man nach ihr die Dinge ansich für die äußeren Ursachen unserer Sinnesempfindungen hält. Eins solche Auffassung ist durch den transzendentalen Idealismus absolut verneint, aber durch die spätere "Widerlegung des Idealismus" nicht gehindert, ja so weit ermöglicht worden, daß sie bei den Kantianern gewöhnlichen Schlags die landläufige wurde. Diese Ansicht ist es, die FICHTE in seiner Bestreitung der Kantianer und später SCHOPENHAUER in seiner Kritik der kantischen Philosophie als unkantisch und widersinnig nicht stark genug verwerfen konnten. FICHTE sagte:
Nachdem ich gezeigt habe, daß und warum die kantische Philosophie die Realität und Ursächlichkeit der Dinge-ansich behauptet, muß es mir einen seltsamen Eindruck machen, in einer "gekrönten Preisschrift" über diese Philosophie zu lesen:
Wenn KANT nicht das von allen Vorstellungen und Erscheinungen unabängige Sein der Dinge-ansich behauptet hätte, so würde unter den nachkantischen Metaphysikern ein Mann wie HERBART, dieser entschiedene Gegner allen Idealismus und Monismus, sich nimmermehr als einen "Kantianer" bezeichnet haben und überzeugt gewesen sein, daß "Kant den wahren Begriff des Seins" besessen hat. Wer die Möglichkeit des ontologischen Beweises vom Dasein Gottes so, wie KANT in seiner Vernunftkritik widerlegt hat, war nach HERBART "der Mann, die alte Metaphysik zu stürzen". (21) ![]()
1) Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 3, dritte Auflage 1882, Buch II, Kapitel XVI, Seite 558-576. 2) Kr. d. r. V. (Sämtliche Werke, Bd. II, Seite 667, 675-676, 684) 3) ebd. Seite 224. Vgl. meine "Geschichte der neuern Philosophie", Bd. III, 1882, Seite 573-575. 4) a. a. O., Bd. III, Seite 72-76 und 553-554. 5) Kr. d. r. V.: Widerlegung des Idealismus, Werke Bd. II, Seite 223). Vgl. Transzendentale Ästhetik, Abschnitt I (Werke II, Seite 67-68. Anmerkung der ersten Ausgabe). 6) vgl. Fischer, a. a. O., Bd. I, Teil I (3. Auflage) Seite 324-326. 7) Kr. d. r. V., Vorrede zur zweiten Auflage (Werke II, Seite 31-32). 8) Kr. d. r. V. (erste Ausgabe). Kritik des vierten Paralogismus der transzendentalen Psychologie (Werke, Bd. II, Seite 676). 9) Kr. d. r. V. (zweite Ausgabe): Beschluß der Auflösung des psychologischen Problems (Werke II, Seite 326-327). 10) Arnoldt hat durch seine jüngsten biographischen Forschungen unter anderem zuerst festgestellt, daß Kant nie an der theologischen Fakultät eingeschrieben war, und daß seine pädagogischen und geselligen Beziehungen zum gräflich Kayserling'schen Haus in Rautenburg und in Königsberg nach Familienverhältnissen zu unterscheiden sind, welche die bisherige Überlieferung nicht kannte. (Emil Arnoldt, Kants Jugend und die fünf ersten Jahre seiner Privatdozentur, Königsberg 1882m, Seite 26, 54-57) - Ich mache diese beiläufige Erwähnung, um in Betreff der theologischen Studien Kants meine eigene Darstellung zu berichtigen (a. a. O., Bd. III, Seite 51, vgl. Vorrede, Seite VIII). Einige Jahre früher hatte auch Benno Erdmann in einer Schrift über Martin Knutzen erklärt: "Nur das eine ist vermutlich richtig, daß Kant sich an der theologischen Fakultät hat einschreiben lassen." (Seite 135) Aber gerade dieses eine, worauf bei jener biographischen Frage alles ankommt, ist falsch. Indessen hat dies den Verfasser der genannten Schrift nicht gehindert, gegen Arnoldt das Verdienst der Priorität laut und wiederholt in Anspruch zu nehmen, ja sogar die Selbständigkeit der Forschung des letzten mit einer in jedem Sinn schreienden Ungerechtigkeit zu verdächtigen (Deutsche Literaturzeitung, Nr. 12, 1882. Vgl. Altpreußische Monatsschrift, Bd. XIX, Seite 175-176, Julius Jacobson, Herrn Professor Benno Erdmanns Polemik gegen Emil Arnoldt). 11) Emil Arnoldt, Kant nach Kunos Fischers neuer Darstellung, ein kritischer Bericht, Königsberg 1882, Seite 31-32, 41-42. 12) Arnoldt, a. a. O., Seite 32-42 13) Arnoldt, a. a. O., Seite 32 14) Johannes Witte, Kuno Fischers Behandlung der Geschichte der Philosophie und sein Verhältnis zur Kantphilologie, Altpreußische Monatsschrift, Bd. XX, Seite 129-151, insbesondere Seite 145-148. 15) Die Grenzboten, Nr. 41 (1882, viertes Quartal): Kant und Kuno Fischer, Seite 10-17. 16) a. a. O., Seite 11 und 17. 17) Vgl. meine "Geschichte der neuern Philosophie, Bd. III (3. Auflage), Seite 450-456. 18) Die Grenzboten, Nr. 41, a. a. O., Seite 16. 19) Johann Gottlieb Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Nr. 6, Werke Bd. 1, Abtlg. 1, Seite 486. 20) Kurd Laßwitz, Die Lehre Kants von der Idealität des Raums und der Zeit usw. Seite 132, Anm. Soeben ist von August Classen in Hamburg (Grenzboten Nr. 42 (drittes Quartal, 1883) durch parallele Anführung einzelner wie zusammenhängender Stellen nachzuweisen gesucht worden, daß der preisgekrönte Preisbewerber an der Schrift eines anderen "Albrecht Krause, Populäre Darstellung der Kritik der reinen Vernunft" (Lahr 1881) ein vielfaches Plagiat verübt hat. Die Sache hat meine Aufmerksamkeit erregt, da ich zwischen jener populären Darstellung der Vernunftkritik und dem anonymen Artikel "Kant und Kuno Fischer" in den Grenzboten gewisse ungünstige Ähnlichkeiten der Schreib- und Denkart bemerkt hatte. Das völlige Mißverständnis und die grundfalsche Auffassung der kantischen Lehre von den Dingen ansich hat Herr Laßwitz mit dem populären Darsteller und dem Anonymus gemein, wobei er auch letzteren gegen mich anführt. Eine Preisschrift, die den Namen verdient, sollte freilich nicht eine Anzahl Stellen enthalten, die durch ihren Wortlaut an das Werk eines andern erinnern und den Verfasser unerlaubter Entlehnungen verdächtig machen können. Indessen sind Inhalt und Umfang der bezeichneten Stellen nicht bedeutend genug, um darauf gegen das ganze Buch die Anklage eines Plagiats zu gründen. Ich halte die letztere schon darum für ungerechtfertigt, weil ungeachtet der Mängel und Irrtümer, die Laßwitz mit Krauses populärer Darstellung teilt, seine Schrift Vorzüge hat, die jener fehlen. 21) Siehe weiter unten "2. Das Erkenntnisproblem". |