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AUGUST CLASSEN
Kuno Fischer und sein Kant

"Man muß bedenken, daß er (Kant) die philosophische Sprache für die »Kritik der reinen Vernunft« erst zu schaffen und oft schwer zu ringen hatte, um den dem Gedanken völlig entsprechenden Ausdruck zu finden. Dazu kam, daß er seine Behauptungen den verschiedenartigsten Gegnern gegenüber verteidigen mußte, und daß, so oft er vom Ding-ansich redete, er fast immer polemisch falsche Auffassungen und entgegenstehende Irrlehren abzuwehren hatte. So kam es, daß er in der Anpassung seiner Ausdrücke an den Gedankengang und die Fassungsweise des Gegners bisweilen so weit ging, daß er in seinem eigenen Sprachgebrauch buchstäblich, wenn auch nie dem Sinn nach, inkonsequent wurde. Indessen kann der Einsichtige leicht durch ein tieferes Eingehen auf den Zusammenhang diese scheinbaren Inkonsequenzen aufheben."

Der berühmte Historiker der Philosophie, dem jeder, der in Deutschland Philosophie studiert hat, wohl zweifellos einen großen Teil dessen verdankt, was er gelernt hat, KUNO FISCHER, hat gleichsam als Vorläufer zum nächsten Band seines großen historischen Werkes eine "Kritik der kantischen Philosophie" erscheinen lassen, weil er wünschte, der unmittelbaren Gegenwart zu dienen, und "die Irrtümer, die von vielen Seiten in der heutigen Tagesliteratur über KANT verbreitet werden, zu berichtigen". Damit zielt er besonders auf das Werk von ALBRECHT KRAUS "Die Gesetze des menschlichen Herzens", welches er in der Vorrede als "ein unreifes, konfuses Buch" charakterisiert, von einem Dilettanten geschrieben und von Dilettanten angepriesen, und noch heftiger fällt er über den Artikel "Kant und Kuno Fischer" her, der anonym in der Nummer 40 des Jahrgangs 1882 dieser Blätter erschienen ist. Nun haben wir freilich vorausgesehen, daß der berühmte Professor bei jenem Angriff des Anonymus, der ihm vorwirft, er habe KANT in einer der Grundlehren seines Hauptwerkes falsch verstanden, zornig werden würde, aber daß dieser Zorn ihn derart in seinem Gleichgewicht erschüttern würde, daß er gar nicht mehr klar und ruhig schreibt und wie in Berserkerwut auf alles rings umher mit Keulen losschlägt, hätten wir doch nicht vermutet. Diese überraschende Tatsache ist es, die mir noch einmal die Feder in die Hand drückt; denn ich habe wenigstens keinen Grund, die richtig empfangenen Keulenschläge oder Fußtritte auf mir sitzen zu lassen.

Zuerst muß ich einen sehr merkwürdigen Umstand hervorheben, der mir rätselhaft geblieben ist. Unser Anonymus in den "Grenzboten" hatte geschrieben: Der Grund, daß wir Sinnesempfindungen haben können, sind "Gegenstände, deren Bedingung zur Möglichkeit der Erfahrung der transzendentale Gegenstand heißt." Dieser Satz ist kantisch völlig korrekt und tadellos. Aber KUNO FISCHER zitiert: "deren Bedeutung zur Möglichkeit der Erfahrung der transzendentale Gegenstand heißt", und sagt dann: "Diese Behauptung ist völlig sinnlos und ein Zeugnis der Konfusion und des geschwätzigen Unverstandes, der das ganze Geschreibsel kennzeichnet." Nun erinnere ich mich, daß im Korrekturbogen jenes anonymen Artikels dieser sinnentstellende Druckfehler enthalten war, aber er ist richtig korrigiert worden. Wie kommt nun KUNO FISCHER dazu, nach dem Korrekturbogen und nicht nach dem Artikel, wie er wirklich veröffentlich ist, zu zitieren? Jedenfalls ist zu konstatieren, daß dieser Fußtritt nicht den Anonymus, sondern höchstens den Setzer des Korrekturbogens trifft. Auf jeden Fall deutet der sonderbare Umstand auf eine ungewöhlich feindselige Stimmung des großen Historikers gegen unseren Anonymus, welche sich nicht durch einen bloßen Streit um die Deutung eines kantischen Ausdrucks erklärt; nur wenn der Angriff auf KUNO FISCHERs Darstellung des Lehrbegriffs vom Ding-ansich zu gleicher Zeit die Wurzeln seines eigenen philosophischen Systems träfe, dann würde diese hochgradige Erbitterung dem Verständnis nähergerückt sein.

Daß dies nun freilich im striktesten Sinn der Fall ist, geht aus dieser neuesten Schrift auf das Deutlichste hervor.
    "Die nachkantische Philosophie gestaltet sich", so heißt es Seite 103, "in ihren fortschreitenden Entwicklungsformen zu einer Erkenntnis des Dings-ansich, und es ist leicht vorauszusehen, daß in dieser Fortschreitung die Frage nach den Dingen-ansich und ihrer Erkennbarkeit ein Thema von eminenter und entscheidender Wichtigkeit sein wird."
Das ist in der Tat die Richtung, welche wir gelegentlich in diesen Blättern als das Hauptunglück der deutschen Philosophie bezeichnet haben. Dieses Spekulieren über den letzten Grund der Welt und der umliegenden Ortschaften ist die Ursache geworden für den gegenwärtigen Zustand, in welchem die Philosophie, die die Königin der Wissenschaften sein sollte, so gut wie gar nichts mehr gilt, und ihren Einfluß auf Wissenschaft und praktisches Leben geradezu verloren hat. Noch jüngst wurden wir an diesen Zustand schmerzlich erinnert durch die Tatsache, daß der italienische Arzt BUFFALINI in seinem Testament einen Preis von 5000 Francs bestimmen konnte für die beste Beantwortung der Frage, welches die Bedeutung der experimentellen Methode für alle Wissenschaften ist, unter der Voraussetzung, daß alle apriorische und spekulative Erkenntnis (also auch die gesamte deutsche Philosophie) falsch ist, und die experimentelle Methode allein in allen Wissenschaften Wahrheit enthalten (sic!) kann. Und zwar soll diese Frage alle zwanzig Jahre neu beantwortet werden.

Freilich ist es wahr, daß KANT selbst den Weg zu all diesen Irrgängen mit ihren traurigen Resultaten geebnet hat, da er in der "Kritik der praktischen Vernunft", unwiderleglich dargelegt hat,
    "daß keinem Begriff seine objektive Realität anders gesichert werden kann, als sofern er in einer ihm korrespondierenden Anschauung (die für uns jederzeit sinnlich ist) dargestellt werden kann, folglich über die Grenze der Sinnlichkeit, folglich auch der möglichen Erfahrung hinaus, es schlechterdings keine Erkenntnis, d. h. keine Begriffe, von denen man sicher ist, daß sie nicht leer sind, geben kann. ... Die Behauptung der Kritik steht immer fest, daß keine Kategorie die mindeste Erkenntnis enthält oder hervorbringen kann, wenn ihr nicht eine korrespondierende Anschauung, die für uns Menschen immer sinnlich ist, gegeben werden kann, folglich mit ihrem Gebrauch in Absicht auf theoretische Erkenntnis der Dinge niemals über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinausreichen kann."
Wenn nun jemand dennoch behaupten wollte, daß er von den Dingen-ansich etwas weiß, wie z. B. Professor EBERHARD in Halle behauptet hatte, daß die Urgründe des Zusammengesetzten notwendig im Einfachen gesucht werden müssen, so antwortet KANT:
    "Man würde ihm dieses eingeräumt, aber zugleich hinzugesetzt haben: daß dieses zwar von unseren Ideen, wenn wir uns die Dinge ansich denken wollen, von denen wir aber nicht die mindeste Erkenntnis bekommen können, keineswegs aber von Gegenständen der Sinne (den Erscheinungen) gilt, welche allein die für uns erkennbaren Objekte sind, folglilch die objektive Realität jenes Begriffs gar nicht bewiesen ist. ... Mit einem Wort: die Kritik hatte behauptet, daß ohne einem Begriff die korrespondierende Anschauung zu geben, sich seine objektive Realität niemals erhellt."
Da er nun überzeugt war, das ganze menschliche Erkenntnisvermögen in seiner Kritik der reinen Vernunft vollständig analysiert zu haben, so fehlte seinem ganzen System nur noch das Wichtigste, die begründung der religiösen Erkenntnis. Der Weg zur Erkenntnis des Übersinnlichen war geradezu durch seine Kritik verschlossen. Wie allen ernsten und ehrlichen Forschern nach Wahrheit war ihm aber die wichtigste Aufgabe von jeher gewesen, die Religion und Moral, die Freiheit des menschlichen Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes zu beweisen; und nun hatte die exakteste Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens ergeben, daß wir nach den Gesetzen der Vernunft weder ein Recht haben, diese Ideen zu leugnen, noch sie durch Vernunftgründe für bewiesen zu halten. Trotzdem behielten diese Ideen auch für KANT das höchste Interesse, denn von ihnen hing offenbar alle Gesetzgebung und Ordnung, alles Handeln im praktischen Leben ab; nur durch ihren Einfluß konnte man Religion, Moral und Rechtspflege, die doch dem dringendsten Bedürfnis der Menschheit entgegenkommen, erklären. Darum konnte er die Aufgabe, auch auf diesem Gebiet soviel Licht wie möglich zu schaffen, nicht beiseite lassen. Aber weil er überzeugt war, daß die Prinzipien der theoretischen Vernunft hierzu nicht ausreichen, so suchte er diese übersinnlichen Ideen auf einem anderen Weg zu begründen, und zwar durch das praktische Bedürfnis im Leben. Die Methode ist insofern wieder dieselbe wie in der Kr. d. r. V., als er von den gegebenen Tatsachen ausgeht und nach den transzendentalen Bedingungen forscht, welche diese Tatsachen möglich machen. Bei der Untersuchung des Erkenntnisvermögens ging er von den Tatsachen aus, daß in der Mathematik wie in der Naturwissenschaft apriorische Erkenntnisse vorliegen, die so sicher sind, daß sie nicht bloß durch Erfahrung geschaffen sein können; darum suchte und fand er die Anschauungs- und Denkformen im menschlichen Geist, welche allein es möglich machen, daß diese Erkenntnisse unzweifelhaft sicher sind und für die Welt der realen Dinge (d. h. der Erscheinungen) gelten. Jetzt gin er aus von der Tatsache des moralischen Gesetzes in unserem Bewußtsein, und fand die Bedingung der Möglichkeit für dasselbe in der Idee der Freiheit, der Unsterblichkeit und dem Dasein Gottes.

Dieser Weg mußte natürlich bei KANT selbst großen Bedenken erregen; denn es kam darauf an, zu beweisen, daß übersinnliche Ideen, die in keiner menschlichen Anschauung gegeben werden konnten, dennoch objektive Realität haben. Den Prinzipien der reinen Vernunft durfte und sollte in keiner Weise widersprochen werden. Aber es war dort auch stets in der vorsichtigsten Weise der Weg offen gehalten, der hier eingeschlagen werden mußte. Es war nie behauptet, daß das Übersinnliche nicht existiert, sondern immer nur, daß es nach den Gesetzen der Vernunft auf theoretischem Weg nicht zu erkennen ist, daß man seine Realität theoretisch und spekulativ nicht beweisen kann; ob man es vielleicht auf einem anderen Weg beweisen kann, wie durch das Bewußtsein des moralischen Gesetzes, blieb damals gänzlich unberührt. Das Ding-ansich, das übersinnliche Substrat der Erscheinungen wird niemals weggeleugnet, sondern immer nur gesagt, daß es niemals erkannt werden kann, es sei in der Wirklichkeit nirgends anzutreffen und könne nirgends angetroffen werden, man könne nichts von ihm wissen und seine objektive Realität nicht beweisen, denn dazu gehört immer die Anschauung durch die Sinne, und dieses Kriterium der Realität fehlt dem Ding-ansich, welches nur von uns gedacht, aber niemals angeschaut wird, nach dem also auch in der Erfahrung niemals gefragt wird, wenigstens nicht mit Fug und Recht, nach den Grundsätzen der Kritik. Die objektive Realität des Dings-ansich, insofern es als Urgrund der Welt gedacht wird, hat KANT auch in der "Kritik der praktischen Vernunft" nicht bewiesen, denn daß er es nicht wie SCHOPENHAUER und mit ihm KUNO FISCHER für identisch mit dem menschlichen Willen erklärte, sagte er in der Entgegnung an EBERHARD: "Seele und das uns gänzlich unbekannte Substrat der Erscheinungen, welche wir Körper nennen, sind ganz verschiedene Wesen." Das Ding-ansich bleibt, man mag sich drehen und wenden wie man will, ein bloßes Geschöpf unserer Gedanken, und da eine Erkenntnis immer nur aus Anschauung und Gedanken oder Begriffen entspringt, so bleibt es unerkennbar.

Höchst auffallenderweise schreibt nun KUNO FISCHER:
    "Wie kann etwas, das im Grunde gar nicht ist, sondern bloß gedacht wird, im Ernst für unerkennbar gelten? Wer daher meint, daß nach kantischer Lehre von der Realität der Dinge-ansich nicht zu reden sei, der muß auch behaupten, daß Kant nie von der Unerkennbarkeit derselben geredet hat. Meint er das letztere wirklich, nun so gehört er unter jene zahlreichen Kenner unserer Philosophen, die Bücher über seine Lehre schreiben, und für welche die Vernunftkritik bis heute ein Ding-ansich ist."
Ich antworte durch ein Beispiel. Ich hatte den wohlbegründeten Gedanken, daß in Heidelberg ein sehr weiser und bedeutender Philosoph lebt. Nun kann ich aber durch Wahrnehmung und Erfahrung davon nichts erkennen. Ist denn nun diese Unerkennbarkeit etwa ein Beweis dafür, daß er doch Realität hat und existiert?

Die ungeheure Verwirrung, die dadurch leicht angerichtet werden konnte, wenn man die Ergebnisse der "Kritik der praktischen Vernunft" für spekulative Erkenntnisse der theoretischen Vernunft hielt, hat KANT sehr wohl vorausgesehen und gefürchtet, und hat daher eine unendliche Mühe darauf verwandt, stets von Neuem einzuschärfen, daß man die Erkenntnis nach den Prinzipien der theoretischen Vernunft niemals mit solchen nach den Prinzipien der praktischen Vernunft verwechseln darf. Diese letzteren sind nur aus dem praktischen Bedürfnis, aus dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes, aus der Notwendigkeit, Regeln für das praktische Handeln zu haben, gewonnen und gesichert, und wenn nun doch entgegen dem Grundsatz der theoretischen Vernunft einige Kategorien, wie die der Realität und Kausalität, mit Ideen in Verbindung gebracht werden, die nicht durch sinnliche Anschauung gegeben sind,m so ist das durchaus nicht zum Zweck der Erweiterung unserer Erkenntnisse über das Wesen dieser Ideen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit), sondern nur zum Zweck des praktischen Gebrauchs, um praktische Regeln für das moralische Handeln geben zu können. Die Kategorie der Kausalität läßt uns nicht etwa die Freiheit erkennen in ihrem Wesen oder in ihrer Wirklichkeit, diese steht ohnehin fest, weil ohne sie kein moralisches Gesetz sein kann. Die Kausalität bezeichnet nur die Art, wie sich der freie Wille äußert als Ursache für unsere Handlungen. Die Realität, die sich mit dem Gedanken eines freien, selbstbewußten Wesens in uns verbindet, ist nicht der theoretische Grund dafür, daß wir uns in unserem Innern als ein Wesen für sich fühlen, sondern wir legen diesem geistigen Wesen in uns nur deswegen Realität bei, weil sonst die Freiheit und das Wollen und Handeln unmöglich wären.

Ganz besonders scharf hebt KANT die Gefahren, die aus der Verwirrung beider Vermögen, der spekulativen und der praktischen Vernunft, entstehen müßten, in dem Kapitel "Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen" hervor. Die praktische Vernunft hat ihre eigenen Prinzipien a priori und kann sich diese nicht von der spekulativen vorschreiben lassen, weil diese Prinzipien (das Bewußtsein des moralischen Gesetzes) ganz außerhalb des Gebietes der spekulativen Vernunft liegen, und deren Kräfte also gar nicht ausreichen, darüber zu urteilen.
    "Weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauch allein vollständig ist",
deshalb hat die praktische Vernunft den Primat über die spekulative. Aber sie hat auch der letzteren keine Vorschriften zu machen, denn beide gehören im Grunde zur reinen Vernunft überhaupt, die doch nur eine ist, nur in verschiedener Absicht zu gebrauchen. Wenn also die spekulative Vernunft der praktischen untergeordnet ist und, so gut sie kann, sich mit den Sätzen in Einvernehmen setzen muß, die zwar nicht auf ihrem Boden gewachsen, aber doch durch das praktische Bedürfnis wohl begründet sind, so hat sie auch wieder das größte Interesse daran, den Mißbrauch der praktischen Vernunft, wenn dieselbe sich anmaßen sollte, ihre Grundsätze für spekulative Erkenntnisse auszugeben, zu verhindern. Sie würde sonst, wenn die Grenzen, die sie sich selbst gesetzt hat, aufgehoben werden, "allem Unsinn und Wahnsinn der Einbildungskraft" preisgegeben. Der Vernunft würde die Ungeheuer der Theosophen und Mystiker aufgedrängt, "und es wäre ebensogut, gar keine zu haben,m als sie auf solche Weise allen Träumereien preiszugeben ... Das Interesse der spekulativen Vernunft besteht in der Einschränkung des spekulativen Frevels."

Wie vollständig anders gestaltet sich dieser ganze Gedankengang in der neuesten Schrift KUNO FISCHERs! Er versteht unter dem Primat der praktischen Vernunft, welchen Kant so vorsichtig ausgesprochen hatte, ohne den Interessen der theoretischen Vernunft das Geringste zu vergeben, vielmehr die Beherrschung der theoretischen Vernunft durch die praktische (Seite 94). Er meint, die Lehre KANTs von der Unerkennbarkeit der Dinge-ansich werde durch die Erkenntnisse der praktischen Vernunft erschüttert (Seite 82), und es ergebe sich mit Notwendigkeit aus den Modifikationen, welche die kantische Lehre in ihren verschiedenen Stadien durchmacht, das Problem, die Erkennbarkeit des Dings-ansich begreiflich zu machen, "und zwar nicht bloß durch die praktische und moralische Erkennbarkeit, sondern auch die theoretische und wissenschaftliche." Er gesellt sich in der Lösung dieses Problems völlig zu SCHOPENHAUER, so vieles er sonst auch an ihm zu tadeln hat; die Dinge-ansich treten uns mit dem Charakter der Wesenseinheit und Erkennbarkeit entgegen,
    "denn die Übereinstimmung zwischen dem übersinnlichen Substratum unserer sinnlichen Vernunft und dem der Sinnen- oder Körperwelt gründet sich zuletzt auf ihre Wesensgleichheit: sie sind Wille und Freiheit. Damit fällt von den Dingen-ansich der Schleier, der sie, wie es schien, in ein undurchdringliches Dunkel einhüllte." (Seite 95)

    "Die Erforschung dieser Wurzel und die Herleitung all der Vermögen, die Kant als Urkräfte hingestellt und der Erscheinungswelt zugrunde gelegt hat, aus dem Wesen der Vernunft selbst ist die Grundfrage, die sich nach dem Abschluß der kritischen Philosophie erhebt, aus ihren Ergebnissen hervorgeht und die Richtung der folgenden Untersuchungen bestimmt." (Seite 102)

    "Kant hatte durch die Beobachtung und Zergliederung der Erkenntnistatsachen die Gesetze unseres Vorstellens und Erkennens entdeckt, wie Kepler die Gesetze der Planetenbewegung durch die Beobachtung und Berechnung ihrer Phänomene. Nachdem Kepler diese Gesetze induktiv entdeckt hatte, erschien Newton, um sie aus einer Grundkraft und einem Grundgesetz zu deduzieren. Wie sich in der Begründung der Bewegungsgesetze unserer Himmelskörper Newton zu Kepler, ähnlich verhält sich in der Begründung der Vorstellungsgesetze unserer Vernunft die nachkantische Philosophie zu Kant." (Seite 102)
Von einem so hohen Standpunkt kommt nun KUNO FISCHER ganz natürlich dazu, die "Kritik der reinen Vernunft" so darzustellen, als sei sie nichts als die dienende Vorbereitung für die "Kritik der praktischen Vernunft", un in allen Fällen, wo sich im buchstäblichen Wortlaut scheinbar Widersprüche finden, diese im Interesse der praktischen Vernunft zu Ungunsten der theoretischen zu beseitigen oder hervorzuheben. Denn das Interesse, "den spekulativen Frevel einzuschränken", liegt ihm gänzlich fern.

Aus seinem lebhaften Interesse für die Erkennbarkeit des Dings-ansich erklärt es sich allein, daß er bei der Beurteilung der Vernunftkritik die kantische Ausdrucksweise eigentümlich modifiziert. KANT hatte in der transzendentalen Ästhetik gesagt:
    "Unsere Erörterungen lehren demnach die Realität (d. h. die objektive Gültigkeit) des Raumes in Anbetracht all dessen, was äußerlich als Gegenstand uns vorkommen kann, aber zugleich die Idealität des Raumes in Anbetracht der Dinge, wenn sie durch die Vernunft ansich erwogen werden, d. h. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen."
Ganz analog führt er bei der Zeit aus, daß sie empirische Realität und transzendentale Idealität habe. Nur die absolute Realität wird dem Raum wie der Zeit abgesprochen. Wenn die Philosophie von LEIBNIZ und WOLFF den Unterschied unserer Erkenntnisse durch Sinnlichkeit und durch den Verstand nur als einen logischen Unterschied wie den zwischen verworrener und deutlicher Erkenntnis bestimmt hatte, so kam es KANT darauf an, zu zeigen, daß der Unterschied zwischen beiden Erkenntnisquellen nicht logisch, sondern transzendental ist. Er zeigte, daß die Rezeptivität ein ganz anderes transzendentales Vermögen ist als die Spontaneität, und daß sie andere Formen (Raum und Zeit) hat als diese (Kategorien). Daraus folgt, daß alle Gegenstände, die uns jemals in irgendeiner Erfahrung entgegentreten, sich den Formen unseres Anschauungsvermögens unterwerfen müssen. Der Verstand mit seinen Funktionen muß freilich auch noch hinzutreten, um das durch die Sinne passiv Aufgenommene zu unserer Erkenntnis zu bringen. Aber Erkenntnisse durch den Verstand allein gibt es nicht, also sind alle Gegegenstände der Erfahrung nur Erscheinungen und keine Dinge-ansich im Sinne der Philosophie von LEIBNIZ und WOLFF.

KUNO FISCHER dagegen redet bei der Besprechung der transzendentale Ästhetik vom empirischen Realismus gar nicht, sondern nur vom transzendentalen Idealismus, welcher durch sie begründet wird. Er tut so, als wenn bei KANT in der transzendentalen Ästhetik auch schon von der transzendentalen Logik die Rede wäre.
    "Unsere Objekte", sagt er, "sind soweit vollkommen erkennbar, als sie unsere Produkte sind, d. h. soweit wir dieselben zu erzeugen und diese Erzeugung in unserem Bewußtsein zu erhellen vermögen: nur soweit reicht die Erkennbarkeit der Dinge ... daher sind alle unsere Erscheinungen Vorstellungen, sie bestehen im Vorgestelltsein und sind durchgängig ideal ... das Sein aller Gegenstände in Raum und Zeit besteht im Vorgestelltsein."
Dazu führt er aus KANT eine Stelle aus dessen "Kritik der teleologischen Urteilskraft" an, wo er gar nicht von der Entstehung und Erkenntnis der Erscheinungen im allgemeinen redet, sondern von der Beurteilung lebendiger organischer Wesen: "Denn nur soviel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zustande bringen kann." Diese Stelle hat ihrem Zusammenhang nach keinen anderen Sinn, als daß wir in der Erkenntnis organischer Körper nicht weiter kommen können, als Gesetze der Chemie und Physik herrschen, während uns der Grund der zweckmäßigen Konstruktion des Ganzen verborgen bleiben muß. KUNO FISCHER verwertet dieselbe aber für die Lehre, die nur FICHTE, KANT aber niemals vorgetragen hat, daß wir selbst alle Erscheinungen überhaupt erzeugen. Auf diese Weise versucht er den Leser zu überzeugen, daß in der transzendentalen Ästhetik gar nichts vom empirischen Realismus vorkommt. Alle Gegenstände der Erfahrung sollen lediglich und durchgängig ideal sein; die Realität erhalten sie nur durch die Erkenntnis, daß Dinge-ansich ihnen zugrunde liegen. Diese Erkenntnis vom Dasein der Dinge-ansich nennt er den kantischen Realismus!

Der Zweck dieser gänzlich verschobenen Darstellung ist klar. Die Erkenntnis der Phänomene wird zur Erkenntnis eines bloßen Scheins und keiner realen Dinge, das Interesse für die Erkenntnis der Dinge ansich, von der KANT gar nichts wissen wollte, wird gewaltig gesteigert. Die Folge dieses Mißverständnisses, welches bereits von FICHTE herrührt, ist dann auch begreiflicherweise die gewesen, daß die Naturwissenschaft sich gänzlich von der Philosophie, die ihr das Wissenswerteste als unerkennbar darstellte, abwandte, daß KANT dem deutschen Volk höchstens noch durch die "Kritik der praktischen Vernunft" bekannt geblieben ist und daß die Philosophie sich unbeschränkt auf das Studium des Dings-ansich werfen konnte. Die Lehre vom Ding-ansich mußte daher bei KUNO FISCHER einen völlig anderen Charakter annehmen als bei KANT. Bei ihm steigert sich der Respekt vor diesem unerkennbaren Wesen vom Begriff des Dings-ansich zum Urgrund der Welt, zum Willen, zur Freiheit bis hinauf zu Gott, bis eine Steigerung nicht mehr möglich ist. Bei KANT dagegen ist das Ding-ansich im Sinne der Lehre von LEIBNIZ und WOLFF ein leerer Begriff ohne Gegenstand, Nichts,
    "wie die Noumena, die nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden können, obgleich auch darum nicht für unmöglich ausgegeben werden müssen, oder wie etwa gewisse neue Grundkräfte, die man sich denkt, gern ohne Widerspruch, aber auch ohne Beispiel aus der Erfahrung gedacht werden, und also nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden müssen." (Amphibolie der Reflexionsbegriffe)
Ich gebe zu, daß sich bei KANT im Sprachgebrauch für das Ding-ansich Schwankungen zeigen, und daß sich an manchen Stellen buchstäblich Widersprüche nachweisen lassen, die sich erst dann aufklären, wenn man sie aus dem Zusammenhang und dem Sinn des Ganzen herauszudeuten versteht. Man muß bedenken, daß er die philosophische Sprache für die "Kritik der reinen Vernunft" erst zu schaffen und oft schwer zu ringen hatte, um den dem Gedanken völlig entsprechenden Ausdruck zu finden. Dazu kam, daß er seine Behauptungen den verschiedenartigsten Gegnern gegenüber verteidigen mußte, und daß, so oft er vom Ding-ansich redete, er fast immer polemisch falsche Auffassungen und entgegenstehende Irrlehren abzuwehren hatte. So kam es, daß er in der Adaption [Anpassung - wp] seiner Ausdrücke an den Gedankengang und die Fassungsweise des Gegners bisweilen so weit ging, daß er in seinem eigenen Sprachgebrauch buchstäblich, wenn auch nie dem Sinn nach, inkonsequent wurde. Indessen kann der Einsichtige leicht durch ein tieferes Eingehen auf den Zusammenhang diese scheinbaren Inkonsequenzen aufheben. Im allgemeinen hält er auch im Sprachgebrauch daran fest, daß ein Ding-ansich im überlieferten Sinn der Schule nicht existiert; denn dieser Begriff entspringt aus der Voraussetzung eines Vermögens, welches wir nicht haben, d. h. eines intuitiven Verstandes, welcher im Gegensatz zur Sinnlichkeit als einer niederen und verworrenen Auffassungsweise die Dinge so erkennt, wie sie ansich, d. h. unabhängig von unserer Sinnlichkeit, sein sollen. Wenn die Naturwissenschaft die Gegenstände der Erfahrung als Gegenstände ansich betrachtet, ohne sich um den ersten Grund ihrer Möglichkeit als Erscheinungen zu bekümmern, wenn wir z. B. den Regenbogen eine bloße Erscheinung bei einem Sonnenregen nennen, diesen Regen aber die Sache ansich, so ist das nicht unrichtig; aber es sind dann immer Dinge, Gegenstände oder Sachen im empirischen Sinn, und erst wenn wir weiter fragen, wie das Empirische überhaupt zustande kommt, ob es ansich und unabhängig von unserer Vorstellung existiert, oder ob es den Formen der Sinnlichkeit unterworfen werden kann und folglich nur Erscheinung ist, ist diese Frage von der Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand transzendental, und es wird der Begriff eines transzendentalen Gegenstandes notwendig. Das ist nun das vieldeutige Wort, für welches darum so schwer ein einheitlicher Sinn festzuhalten ist, weil es nichts Erfahrungsmäßiges, sondern etwas Transzendentales bezeichnet, d. h. eine Bedingung zur Möglichkeit der Erfahrung überhaupt. Hier kann man nicht wie beim Ding-ansich sagen, daß es gar nichts ist, sondern nur, daß es nichts Empirisches ist, wohl aber für die Möglichkeit der Erfahrung notwendig vorausgesetzt werden muß. Da also dieser transzendentale Gegenstand ebenso wie das transzendentale Substrat aller Erscheinungen oder das transzendentale Objekt nur von uns gedacht und nicht angeschaut, unser Verstand bei diesem Begriff nicht durch die Sinnlichkeit in gewissen Grenzen gehalten wird, so ist es leicht, ihm verschiedenartige Eigenschaften beizulegen, je nachdem man in verschiedenen Beziehungen von ihm Gebrauch machen will. Im Allgemeinen hält KANT jedoch daran fest, daß man von dem, was kein Gegenstand der Erfahrung, sondern nur ein Gedanke in uns ist, gar nichts aussagen kann, daß es uns gänzlich unbekannt bleiben muß, und wir gar nicht sagen können, was es tun oder lassen kann, ob es einheitlich zusammengesetzt ist, ob es die Ursache für Erscheinungen sein kann oder nicht. Setzt er es in Beziehung zu den Erscheinungen äußerer Sinne, so gebraucht er vorzugsweise den Ausdruck transzendentales Objekt oder Substrat , ausnahmsweise und nur bei polemischen Gelegenheiten, wie in der Entgegnung gegen EBERHARD, nennt er es auch Gegenstand ansich. Den Ausdruck transzendentaler Gegenstand gebraucht er vorzugsweise dann, wenn er die Beziehung auf unser Erkenntnisvermögen hervorheben will, wo es dann die transzendentale Form der Gegenständlichkeit überhaupt bedeutet. Durchaus konsequent durchgeführt aber ist die Unterscheidung des transzendentalen Gegenstandes von Dingen außerhalb von uns selbst, d. h. von Gegenständen, welche im Raum anzutreffen sind.

Diese von KANT in der ersten wie in der zweiten Auflage festgehaltene Konsequenz ist es nun, die KUNO FISCHER leugnet; weil er vom empirischen Realismus KANTs eine ganz falsche Vorstellung hat, darum kann er die scheinbaren Widersprüche im buchstäblichen Ausdruck der ersten und zweiten Auflage nicht begreifen. In der ersten Auflage, wo es darauf angekommen ist, die transzendentalen Realisten zu bekämpfen, d. h. diejenigen Philosophen, welche alle Gegenstände der Erfahrung als Ding-ansich und von unserer Sinnlichkeit unabhängig erkennen wollten, lehrte KANT, daß alle äußeren Dinge nur dadurch für uns erkennbar werden, daß sie unsere Vorstellungen werden, folglich sich den Gesetzen unserer Sinnlichkeit und unseres Verstandes unterwerfen müssen. Alles, was wir auf dem Gebiet der Erfahrung überhaupt erkennen, muß unsere Vorstellung sein, und kann niemals ein Ding-ansich sein im Sinne des transzendentalen Realismus. Berechtigt ist nur der empirische Realismus, welcher aber wohl weiß, daß alle äußeren Dinge als unsere Vorstellungen betrachtet werden müssen und welcher deswegen mit dem transzendentalen Idealismus Hand in Hand geht. Diese Lehre wurde nun mißverstanden bis auf den heutigen Tag und mit dem empirischen Idealismus, der überhaupt das Dasein aller äußeren Dinge bezweifelt, verwechselt. Wenn jemand KANT so versteht wie heutzutage noch KUNO FISCHER, daß er meint, die Gegenstände der Erfahrung seien durchgängig nur ideal, und ihr ganzes Dasein bestehe im Vortgestelltsein durch die menschliche Vernunft, dann ist KANT für ihn dem subjektiven oder empirischen Idealismus verfallen. Um diese Mißverständnisse und diese Gegner zu widerlegen, fügte KANT der zweiten Auflage seiner Vernunftkritik die Widerlegung des Idealismus ein, womit er natürlich den subjektiven oder empirischen und nicht den transzendentalen Idealismus gemeint hat. Da kam es ihm darauf an, zu zeigen, daß seine Meinung niemals gewesen ist, die realen Dinge der Erfahrung seien nur Produkte unseres Vorstellungsvermögens, sondern sie seien wirkliche reale Dinge außerhalb von uns, ohne welche wir gar keine Erfahrung, nicht einmal durch den inneren Sinn, geschweige denn durch den äußeren Sinn, machen könnten. Da er so ganz verschiedene Gegner, den transzendentalen Realismus und den subjektiven Idealismus, zu bekämpfen hatte, die Worte aber, auf die es hauptsächlich ankommt, Vorstellung wie auch Dinge außerhalb von uns, in sehr verschiedenem Sinn gebraucht werden können, so ist es kein Wunder, daß man Sätze aus den verschiedenen Kapiteln einanander gegenüberstellen kann, die sich buchstäblich widersprechen, ohne daß der Sinn, wenn man ihn recht versteht, sich widerspricht. KUNO FISCHER aber glaubte durch eine solche Zusammenstellung den Beweis führen zu können, daß sich KANT in der Sach selbst widersprochen hat.

Die frappante Stelle aus der ersten Auflage, die FISCHER anführt, heißt:
    "Denn weit gefehlt, daß nach demselben (Vernunftbegriff) einige Furcht übrig bliebe, daß, wenn man die Materie wegnähme, dadurch alles Denken und selbst die Existenz denkender Wesen aufgehoben werden würde, so wird vielmehr klar gezeigt, daß, wenn ich das denkende Subjekt wegnehme, die ganze Körperwelt wegfallen muß, die nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres Subjekts und eine Art Vorstellungen desselben."
Demgegenüber bringt er die Stelle der zweiten Auflage:
    "Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen (der Materie) nur durch ein Ding außerhalb meiner und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dings außerhalb meiner möglich."
Hieran schließt er folgende Erörterung:
    "Was demnach die Dinge außerhalb von uns, d. h. die Körper oder die Materie betrifft, so lehrt Kant in der ersten Ausgabe der Kritik: daß die äußeren Gegenstände (Körper) nur durch unsere Vorstellung etwas sind, von ihnen abgesondert aber nichts sind; dagegen in der zweiten Ausgabe: daß die Wahrnehmung der Materie nur durch ein Ding außerhalb von mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dings außerhalb von mir möglich ist. Er lehrt dort: daß die Dinge außerhalb von uns bloße Vorstellungen, hier dagegen: daß sie nicht bloße Vorstellungen sind. Er lehrt dort, daß die Dinge außerhalb von uns bloß durch unsere Vorstellung etwas, von ihnen abgesondert aber nichts sind; er lehrt hier: daß sie keineswegs durch unsere Vorstellungen, sondern von ihnen abgesondert etwas sind, also unsere Vorstellungen der Dinge außerhalb von und diese selbst voneinander verschieden, die letzteren folglich von unseren Vorstellungen unabhängige Gegenstände, d. h. Dinge ansich sein müssen. Da nun die Dinge außerhalb von uns im Raum sind, so muß auch der Raum etwas von unserer Vorstellung Unabhängiges sein, was soviel heißt, als den transzendentalen Idealismus von Grund auf verneinen und mit allen Segeln in den alten Dogmatismus zurückkehren."
Wenn KUNO FISCHER in dieser Darstellung in jeder Hinsicht Recht hätte, so wäre KANT im Verhältnis zu den großen Meistern, die nach ihm gekommen sind und ihn verbessert haben, ein schülerhafter Stümper gewesen. Wenn aber der ganze scheinbare Widerspruch in KANT nur auf einem Mißverständnis seiner Worte beruth, dann - ja dann dürfte sich das Verhältnis wohl umkehren, denn es handelt sich immer um den Kern seiner ganzen Lehre.

Der Beweis nun, daß dieses Mißverständnis in des Wortes verwegenster Bedeutung wirklich stattgefunden hat, ist nicht schwer zu führen. In jenen zuerst von KUNO FISCHER angeführten Stellen aus den "Paralogismen der reinen Vernunft" wendet sich KANT gegen diejenigen, die nach dem Grundsatz des transzendentalen Realismus überall Gegenstände ansich erkennen wollen, wie sie unabhängig von unserer Vorstellung wirklich sind. Er setzt sehr ausführlich und deutlich auseinander (Seite 374), wie alles Wirkliche und Reale außerhalb von uns, das uns jemals in der Erfahrung vorkommen kann, im Raum ist, und daher nie anders als unter den Bedingungen unserer Sinnlichkeit betrachtet werden kann. Dabei macht er (Seite 373) auf die Doppelsinnigkeit des Ausdrucks "außerhalb von uns" aufmerksam, je nachdem man es in einem transzendentalen Sinn auf Dinge-ansich anwendet oder im empirischen Sinn auf äußere Erscheinungen, und verspricht für die nächsten Untersuchungen es allein gebrauchen zu wollen für Dinge, die im Raum anzutreffen sind, also in einem empirischen Sinn. Dann bleibt er sich vollkommen konsequent, wenn er denen, welche verlangen, eine erkennbare Substanz für die Seele nachgewiesen zu haben, um den Gefahren des Materialismus entgehen zu können, mit den oben zitierten Worten antwortet: das sei gar nicht notwendig, dann allein schon der Vernunftbegriff, den er gegeben hat, ist eine genügende Abwehr gegen den Materialismus, da ja doch die ganze wirkliche, reale Körperwelt nichts ist ohne die erkennende Vernunft. Hätte er wirklich noch hinzugesetzt, die Körperwelt, so wie wir sie erfahren und erkennen, so wäre ein Mißverständnis kaum noch möglich gewesen .Denn was sind die Eigenschaften aller Körper, wenn wir sie nicht empfinden und wahrnehmen nach den Gesetzen in uns? Darum aber ist die Körperwelt doch nicht weniger wirklich und real.

Weil man aber aus dieser Abhängigkeit des Realen von unserer Sinnlichkeit immer den falschen Schluß gezogen hat, daß das Reale oder die Erscheinung im Raum lediglich das Produkt unserer Vorstellung ist, so sagt nun KANT in der zweiten Auflage: Jetzt werden ich euch einen ganz bündigen Beweis liefern, daß die Erscheinungen im Raum trotzt ihrer Abhängigkeit von meinen Vernunftformen doch vollständig reale, beharrliche Dinge außerhalb von mir, d. h. im Raum sind. Ihr könnt nämlich nicht einmal das, was DESCARTES allein für das unzweifelhaft Gewisse gehalten hat, das Denken, irgendwie bestimmen als etwas, was in der Zeit geschieht, wenn ihr die Zeit nicht messen könnt an der Anschauung äußerer Dinge, seien es Sonne, Mond und Sterne oder andere Zeitmesser. Eure subjektiven Vorstellungen genügen nicht dazu, denn ihr könnt auch unwirkliche Dinge und eingebildete Traumwesen vorstellen. Nur allein wenn eure Vorstellungen wirklich empfundeneund wahrgenommene Dinge außerhalb von euch enthalten, dann könnt ihr auch die Zeit eures eigenen Denkens und Seins bestimmen. Also nur weil das Wort Vorstellung ein viel weiterer Begriff ist als äußere Dinge und auch alles Mögliche, Wahres wie Falsches, unter sich begreifen kann, darum sagt KANT, daß die Vorstellung eines Dings allein nicht genügt, um uns die Gewißheit von etwas Wirklichem zu geben. Es muß ein wirkliches Ding da sein, welches ich vorstelle, sonst bleibt auch die innere Anschauung gänzlich verworren und unbestimmt.

Daraus macht nun KUNO FISCHER (Seite 61) Folgendes:
    "Um das Dasein der Dinge außerhalb von uns zu beweisen, machte Kant die innere Erfahrung abhängig von der äußeren und diese abhängig vom Dasein der Dinge außerhalb von uns, d. h. er machte das Dasein der Dinge außerhalb von uns unabhängig von unserer Vorstellung (!) und diese abhängig von jenem: er ließ die Dinge außerhalb von uns, die Körper und die Materie Ding-ansich sein. Und so zerstörte KANT an dieser Stelle den transzendentalen Idealismus, indem er ihn verteidigen und gegen alle Verwechslung mit dem empirischen schützen wollte."
Der arme Kant! Würde er noch leben, so würde er verdient haben, eine Strafarbeit für seinen Lehrer zu machen. Schlagender kann man die Verwechslung zwischen Ding-ansich und äußeren Dingen im kantischen Sprachgebrauch doch wohl nicht zur Schau tragen, als es FISCHER an dieser Stelle tut. Aber unserem Anonymus, der ihm dasselbe nachgewiesen hat, wirft er eine Lüge ins Gesicht, weil er selbst sehr gut weiß, daß die beiden Begriffe verschieden sind und nicht verwechselt werden dürfen. KANT wirft er diese Verwechslung kühn vor, und selbst fühlt er sich völlig unschuldig!

Noch ein Satz ist es bei unserem Anonymus, der KUNO FISCHER ganz besonders mißfallen hat. Er sagt:
    "Nun lassen die Grenzboten ihren Philosophen mit lächerlicher Emphase, wie sie leeren Köpfen wohltut, wörtlich folgenden Unsinn verkünden: »Kant setzte seine ganze gewaltige Kraft daran, den Streit zwischen empirischem Idealismus und transzendentalen Realismus zu schlichten.« Also Kant soll erstens den Streit zweier Standpunkte geschlichtet haben, die nach seiner Einsicht und Lehre völlig harmonieren, er soll zweitens Standpunkte versöhnt haben, die er widerlegt hat, und er soll drittens, um einen Streit zu schlichten, der nach seiner Einsicht und Lehre keiner ist, noch je einer war, seine gewaltige Kraft daran gesetzt haben, und noch dazu die ganze! Es ist unmöglich, mehr Unsinn in weniger Worten zu sagen. Wenn unser Anonymus seine Leser noch um etwas bitten will, so mag er denselben etwas abbitten: nämlich seine ganze Sudelei, die das erbärmlichste Zeug ist, das je über Kant geschrieben wurde."
Vorher bemerkt er noch (Seite 72):
    "Wer transzendentaler Realist ist, muß zugleich empirischer Idealist sein. Diese beiden Standpunkte streiten nicht miteinander, sondern sind identisch, und ihre Namen bezeichnen nur verschiedene Seiten derselben Vorstellungsart."
Nun bezeichnet "transzendentaler Realismus" zunächst die Vorstellungsweise, welche am wirklichen Dasein der Dinge außerhalb von uns unabhängig von unserer Vorstellung nicht zweifelt, sondern dasselbe von vornherein als sicher ansieht; und empirischer Idealismus bedeutet zunächst die Vorstellungsweise, welche das Dasein der Dinge außerhalb von uns bezweifelt und wirkliche Dinge für bloßen Schein hält. Daß diese beiden Denkweisen identisch sind, ist eine Behauptung, die wir aus Höflichkeit nicht gerade Unsinn nennen wollen, die aber jedenfalls sehr kühn ist. Daß sie beide in ein und demselben Individuum vorkommen, beweist doch noch lange nicht, daß sie miteinander harmonieren und identisch sind, wie es beim transzendentalen Idealismus und empirischen Realismus der Fall ist. KANT sagt (Seite 372):
    "Also ist der transzendentale Idealist ein empirischer Realist und gesteht der Materie als Erscheinung eine Wirklichkeit zu, die nicht gleich geschlossen werden darf, sondern unmittelbar wahrgenommen wird. Dagegen kommt der transzendentale Realismus notwendig in Verlegenheit und sieht sich genötigt, dem empirischen Idealismus Platz einzuräumen, weil" usw.
Das heißt: wenn einer anfänglich ohne Kritik das Dasein der Dinge außerhalb unserer selbst für selbstverständlich hält und nun vielleicht infolge einiger Sinnestäuschungen zum Nachdenken kommt, so wird er empirischer Idealist, weil er keine Mittel und Wege kennt, die Wirklichkeit der äußeren Dinge zu beweisen und vom täuschenden Schein zu unterscheiden. So kommt es, daß derselbe Mensch zuerst den einen Standpunkt und später den anderen einnimmt, und beide vielleicht noch einmal wechselt, ohne irgendeine Sicherheit zwischen entgegengesetzten Denkweisen hin und her schwankend, bis er einmal von KANT (aber nicht durch seine Nachfolger!) lernt, daß diese Gegensätze beide falsche Vorstellungsweisen sind, die nur aufgehoben werden können durch den transzendentalen Idealismus und empirischen Realismus, welche beide miteinander wirklich notwendig verbunden sind. Das hatte mit vollem Recht unser Anonymus gesagt. Wo bleibt nun der Unsinn und die Sudelei? Es mag unangenehm sein, wenn man einen Eimer Wasser ausgegossen hat, um den Gegner zu ertränken, und dasselbe tropfenweise wieder auf das eigene Haupt zurückbekommt. Aber wer kann das in diesem Fall verhindern?

Der ganze Streit dreht sich im Grund um die Frage, ob die "Kritik der reinen Vernunft" noch heute das ist oder vielmehr werden kann - denn sie ist es noch nie gewesen -, was sie im Sinne KANTs sein sollte, d. h. ein Wegweiser für alle Wissenschaften, um Irrtum abzuwehren und Wahrheit sicher zu fördern und zu schützen, oder ob sie ein überwundener Standpunkt ist. Wenn die schülerhaften Denkfehler, die KUNO FISCHER KANT vorwirft, sich wirklich bei ihm finden, dann bliebe uns nichts übrig,m als uns der neuen Sonne, der Philosophie des Dings-ansich, zuzuwenden. Dann würde aber doch vielleicht diese Sonne eher erkalten, als man gehofft hat, und es würde in kurzer Zeit wenig mehr von wirklicher Philosophie in den Wissenschaften geredet werden, denn sie wäre dann eine Fachwissenschaft geworden wie andere auch, an der sich wahrscheinlich immer noch einige Spezialisten ergötzen würden, die dann das Recht hätten, jeden selbständigen Denker einen Dilettanten zu schelten. Sollten sich aber umgekehrt die Spekulationen über das Ding-ansich als Irrwege herausstellen, dann wird, wie wir hoffen, KANT noch einmal wieder lebendig aus dem Schutt der Professorenweisheit auferstehen, die unnatürliche Trennung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft, die man in der englischen Wissenschaft nicht einmal kennt, und die nur durch die sogenannten großen Idealisten in Deutschland verschuldet ist, wird ein Ende nehmen, und auf allen Gebieten des Lebens wie der Wissenschaft wird durch den erneuten Einfluß KANTs der Skeptizismus schwinden. Dazu ist freilich zunächst erforderlich, daß die wirklichen unverschuldeten Mängel im kantischen System überwunden werden. So namentlich müssen die Gegenstände der praktischen Vernunft nach denselben Prinzipien behandelt werden, die in der "Kritik der reinen Vernunft" niedergelegt sind, denn nur so kann die Quelle der transzendentalen Spekulationen verstopft werden. Aus dem großen stürmischen Meer des Scheins müssen die transzendentalen Ideen gerettet werden auf die Insel, in welcher nach KANT allein Wahrheit gefunden werden kann. Daß das möglich ist, wenn man die Tatsachen des Gefühls und des Willens nicht als Dinge-ansich, sondern als Erscheinungen eines inneren Sinnes betrachtet, die mit Hilfe der Kategorien einer exakten Erkenntnis wohl zugänglich sind, das ist der Sinn des ersten Werkes von ALBRECHT KRAUSE, welches voraussichtlich noch einmal ein ganz andere Rolle spielen wird, als KUNO FISCHER erwartet. Denn der Wagen dieser Untersuchungen ist bereits in so feste, sichere Geleise eingefahren, daß der Zorn eines philosophischen Professors ihn nicht mehr umblasen wird.
LITERATUR - August Classen, Kuno Fischer und sein Kant, Grenzboten, Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, 42. Jahrgang, drittes Quartal, Leipzig 1883